Waltraud & Mariechen: Das Leben ist kein Fleischsalat - Volker Heißmann - E-Book

Waltraud & Mariechen: Das Leben ist kein Fleischsalat E-Book

Volker Heißmann

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Beschreibung

Eigentlich passen die beiden gar nicht zusammen: Waltraud, die sich gern vornehm gibt, und das bodenständige Mariechen. Doch auch wenn sie einander ständig missverstehen, meistern die Freundinnen das Leben gemeinsam. Sie reisen und feiern, nehmen am kulturellen Leben teil, bringen sich auf den Stand der modernen Technik und beweisen, dass die Erotik im Alter kein Tabu sein muss. Es gibt vieles, was Jüngere von den rüstigen Damen lernen können: Wie lassen sich Hotelpreise drücken? Worauf sollte man beim Schenken achten? Und was verrät der Inhalt von Badezimmerschränken über die Besitzer? Auch wenn das Leben kein Fleischsalat ist – mit Waltraud und Mariechen ist wenigstens für jede Menge Spaß gesorgt. "Ein umwerfendes Buch!" Badisches Tagblatt

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Volker Heißmann

Martin Rassau

Waltraud & Mariechen. Das Leben ist kein Fleischsalat

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Einleitung

Im Zugabteil

Bad Kissingen

Im Hotel

Grafflmarkt

Beim Zahnarzt

Das Tischwaschbecken

Die neue Frisur

Fliegerpech

Zu Gast bei Mariechen

Hochzeitsmonat

Touristen in Nürnberg

Krankenhausbesuch

Oper Nürnberg

Mallorca, olé

Mörbisch

Die Kaffeefahrt

Beim Italiener

Flecken über Flecken

Klassentreffen

Mariechens Männer

Spaziergang

Geschenke

Kreuzfahrt

Casablanca

Mariechen erzählt von ihrer Geburt

Wie man Bären bindet – Mariechen erinnert sich

Fleischsalat

Nachwort und Dank

Gewidmet Ralph Emmert-Sinzinger, der leider viel zu früh von dieser Welt gehen musste.

Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser,

in der Tat, das Leben ist kein Fleischsalat, das mussten meine Freundin Mariechen und ich immer wieder feststellen. Im Laufe unseres langen Lebens und unserer noch längeren Freundschaft haben wir vieles gemeinsam, aber auch alleine durchgemacht. Jetzt, auf meine alten Tage, habe ich mir gedacht, ich muss einmal niederschreiben, was in unserem Leben so passiert ist. Keine Angst, das wurde kein langer Roman, vielmehr gibt es große und kleine Episoden aus dem Leben zweier rüstiger und fränkischer Witwen.

Und da wir nicht nur in Franken geboren sind, sondern hier auch sehr zufrieden leben, werden Sie unsere Sprache in diesem Buch kennenlernen. Ich hoffe sehr, Sie kommen damit zurecht. Wir haben da nämlich so unsere Eigenheiten, über die man beim Lesen gern mal stolpert. Ein T kennen wir gar nicht, wir sprechen dies immer schön weich aus wie ein D, so wird dann zum Beispiel aus dem Wörtchen «jetzt» ganz schlicht «edz». Zum Einstieg können Sie ja schon mal üben: «DodädidiDoddndoddnhi». («Da würde ich die Torte dorthin tun»). Aber eine Ausnahme gibt es: Beim Senf hängen wir ein knallhartes T hinten an, sodass es ganz scharf heißt «Senft». Sollten Sie das eine oder das andere einmal nicht richtig lesen können, fragen Sie einfach einen Franken. Den werden Sie bestimmt irgendwo in Ihrem Umfeld haben, denn Franken sind eigentlich überall.

Ich wünsche Ihnen ganz viel Vergnügen bei dieser leckeren Lektüre, und nehmen Sie nicht alles zu ernst, was hier steht. Ein bisschen Spaß müssen Sie schon verstehen, nicht umsonst sagen wir immer: «Wer keinen Spaß versteht, der soll sich einen Blumenstock holen, zum Friedhof gehen und warten, bis er dran ist.»

Ihre Waltraud Lehneis nebst Freundin Mariechen Betzold

Im Zugabteil

Mein ganzes Leben hab ich nun in Fürth zugebracht und bin immer stolz auf diese Stadt gewesen. Doch jedes Mal, wenn ich umweltfreundlich die Deutsche Bahn nutze, beginnen meine Zweifel. Denn von der Bahnführung wird meine Heimatstadt gnadenlos ignoriert. Haben die etwa vergessen, dass die erste deutsche Eisenbahn am 7.Dezember 1835 von Nürnberg nach Fürth gefahren ist – und auch wieder zurück? Und das Ganze planmäßig, mit so gut wie keiner Verspätung? Heute, einhundertsechsundsiebzig Jahre später, steht in Fürth ein fast schon verlassener Bahnhof, wo es nicht einmal öffentliche Toiletten gibt. Anscheinend denkt man bei der Bahn: Wo kein Zug hält, muss auch niemand Wasser lassen!

Ignoriert wird auch, dass Fürth in Bayern zu den Großstädten zählt, mit immerhin fast 115000Einwohnern. Und es ist nicht umsonst die sicherste Großstadt des Freistaats, selbst Verbrecher meiden sie. Außerdem, wenn wir schon dabei sind, war unser Fußballverein – die Spielvereinigung – dreimal Deutscher Meister! Gut, das ist schon ein paar Jahre her: 1914, 1926 und 1929, aber da war das Mariechen immerhin schon ein Jahr alt!

Das aber lässt die Deutsche Bahn kalt, lieber mutet sie ihren alten Fahrgästen zu, mühsam mit der U-Bahn nach Nürnberg zu fahren. Erst dort findet man Anschluss an das internationale Schienennetz, sofern man sich im Untergrund zurechtfindet und es schafft, nach oben zu gelangen.

Diese Hürde hatte ich genommen, und so stolzierte ich neulich in das nagelneue Kundencenter, um mir eine Karte nach Bad Kissingen zu kaufen. Der 120km entfernte Kurort gehört zu unseren bevorzugten Ausflugsorten. Ob Mariechen auch den Zug nahm oder mit dem Fahrrad dorthin kam, war mir ganz egal. Irgendwann würde ich sie schon treffen. Als BahnKomfortplus-Besitzerin mit reichlich Vorzügen ausgestattet, musste ich mich nicht an den endlosen Warteschlangen der normalen Schalter einreihen, sondern konnte mich direkt an den BahnKomfort-Counter begeben. Etwas verwundert war ich schon, dass dort keine Menschenseele vor mir war, und damit meine ich nicht andere Kunden der Bahn, sondern Mitarbeiter. Ganz hinten in einem Büro entdeckte ich hin und wieder einen Kaffeebecher tragenden Angestellten, der aber keine Anstalten machte, mich bevorzugt zu behandeln. Erst auf mein lautes und deutliches Rufen: «Komm vor!», reagierte er sehr verschreckt. Nun wurde mir klar, warum es «Bahn Komm Vor plus» heißt!

Überraschenderweise dauerte der Ticketkauf gar nicht so lange, wie ich befürchtet hatte, und so spazierte ich noch sehr vergnügt durch die Unterführung zu meinem Bahnsteig. Nicht nur das Kundencenter war modernisiert, sondern der ganze Bahnhof: Es gab Rolltreppen zu den Bahnsteigen! Endlich hat man an ältere Menschen gedacht, schoss es mir durch den Kopf. Im selben Augenblick sah ich das Hinweisschild: «Auf der Rolltreppe müssen HUNDE getragen werden!»

Trotz Hauptbahnhof kein Zug weit und breit – nicht mal in den Katakomben.

Ich stutzte einen Moment. Wo nehm ich edz verdammt numol su spondan an Hund her? Doch da entdeckte ich hinter mir eine kleinwüchsige Frau mit Strubbelhaaren, die einen Cockerspaniel hinter sich herzog. Nutzt nix, dachte ich, ich hob ja a Fohrkarddn mit Zugbindung, ich mou edz dou naaf. Und schon hatte ich den Hund samt Leine an mir und fuhr die Rolltreppe nach oben. Die Frau hat sich zwar etwas gewehrt, aber sie hätte ja auch die Leine loslassen können. Ich hab nur BUM, BUM, BUM hinter mir gehört, mehr weiß ich nicht von der Frau, schließlich musste ich mich um den Hund kümmern, der sich, kaum dass wir oben am Bahnsteig waren, losriss und davonlief. Ich rannte keuchend hinterher, erst kurz vor dem Bahnsteigende setzte er sich vor eine Art Telefonzelle und verrichtete mit verkniffenen Augen sein Geschäft.

Egal, schließlich war es nicht mein Hund. Aber diese Zelle, wo anscheinend die Durchsagen für den Bahnhof gemacht wurden, erregte mein Interesse. Ich blickte mich um: Weit und breit kein Mensch zu sehen. Um mir die Wartezeit auf den Zug zu verkürzen, sprang ich in die Zelle, schaltete das Mikrofon ein und rief mit sonorer Bahnhofsvorsteherstimme: «Sehr geehrte Fahrgäste auf Gleis 1–17, bitte beachten Sie: Der Zug fährt heute quer ein!» Plötzlich war ein turbulentes Leben auf den Bahnsteigen, ein Gedrängel und Geschubse, wie man es nur bei den Sommerschlussverkäufen früher gesehen hat. Für eine Weile fühlte ich mich glänzend unterhalten.

Doch auf Züge muss man immer länger warten, als man eigentlich gedacht hat. Nachdem ich vor lauter Langeweile sämtliche Wagenstandsanzeiger auswendig gelernt hatte, lief mir ein Bahnbediensteter über den Weg. Mit meinem Regenschirm erwischte ich ihn am linken Oberarm und zog ihn ganz nah an mich heran.

«Sogns amol», grollte ich, «wäi lang dauerdn edz des, bis der Zug nach Bad Kissingen kummt?»

Er kniff die Augen zusammen und öffnete kaum merklich seinen Mund.

«Konn nimmer lang dauern, die Schienen liegn scho da», brummte er mit fränkischer Freundlichkeit und ging weiter.

Bevor ich ihm noch einige Unverschämtheiten hinterherrufen konnte, rollte der Zug ein. Da Bad Kissingen wahrlich keine Weltstadt ist, hält es die Bahn auch nicht für nötig, auf der Strecke dorthin moderne Züge einzusetzen, sondern belässt es bei schon fast historischen Uraltwaggons mit den alten dreisitzigen pseudoledrigen Bänken, dem obligatorischen Bilderdruck aus fernen Zeiten und der viel zu hohen Gepäckablage. Um meinen Rollkoffer dort hinaufzuwuchten, musste ich Turnübungen vollführen: Ich stieg mit den Knien auf die beiden herunterklappbaren Armlehnen, hielt mich mit einer Hand an der Gepäckstange fest und schmiss ihn mit einer gekonnten Rückhand nach oben. Dabei verlor ich das Gleichgewicht, rutschte ab und schlug mit dem Kopf auf dem bereits ausgeklappten Vesperbrettchen auf. Etwas verdellt, aber sonst unbeschadet rückte ich mein Zebrakleid zurecht und nahm an der Abteiltür Platz. Durch den jahrelangen Einsatz des Zuges war die Polsterung bereits so abgegriffen und speckig, dass ich langsam von der Bank zu rutschen drohte. Nur in einer kerzengeraden, aufrechten Sitzposition gelang es mir einigermaßen, die Stellung zu halten.

Während der Zug aus dem Bahnhof rumpelte und ruckelte, überfiel mich eine angenehme Müdigkeit; ich schloss die Augen und begann einzuschlafen. Das heißt, ich wollte einschlafen, hätte mich nicht ein dumpfer Schlag gegen die Abteiltür sofort wieder geweckt. Erschrocken blickte ich durch die Glastür und sah sie: Mariechen! Mit einer hässlichen blassblauen Handtasche und einem noch viel hässlicheren künstlichen Friedhofsgesteck mit Tannenzapfen und Christrosen. Ohne einen Gruß rumpelte sie an mir vorbei, setzte sich ihre Reisetasche auf den Kopf, stemmte sich in die Höhe und verstaute sie auf der Gepäckablage. Beim Herabsteigen raffte sie ihren Rock, sodass man nicht nur ihre käsigen Schenkel zu sehen bekam, sondern auch die geblümten Damenkniestrümpfe mit dem blauen Abschlussrand. Sie plumpste in ihren Sitz und richtete sich ganz ungeniert die Strümpfe.

«Wou host denn du däi Strümpf her? Sind die nu vom Fasching übrig bliebn?», fragte ich meinerseits statt einer Begrüßung.

«Däi sind edz voll modern! Mit blauen Rand – damit mer sieht, wo däi Strümpf aufhörn!», nuschelte sie ganz überzeugt, während sie weiter herumnestelte.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Mariechen überhaupt sehr seltsam gekleidet war, als ob sie in ihrem Schrank danebengegriffen hätte: Der Rock war mit wild umherfliegenden Schmetterlingen gemustert, und die florale, blütenübersäte Bluse hätte auch Dirk Bach im Dschungelcamp tragen können.

«Wäißt widdä rumläfst», schimpfte ich, «wäi a Gaasbuck im Melkamerla.»1

Mariechen fasste dies keineswegs als Beleidigung auf, sondern hatte mal wieder eine Erklärung auf ihre ganz eigene logische Art. Und während sie ihren Rock leicht anhob, damit man einen leichten Blick auf ihre hautfarbene Unterhose erhaschen konnte, erklärte sie: «Des is doch ganz einfach, däi Schmetterlinge fliegn in den Dschungl zum Wasserfall!»

«Hast du edz a Inkontinenzproblem?»

«Schmarrn!» Sie schüttelte empört den Kopf. «Ich bin doch evangelisch!»

Mit dieser Antwort hatte ich nun wirklich nicht gerechnet und wollte auch nicht weiter auf dem Thema herumreiten. So blickte ich einfach aus dem Fenster. Mariechen kramte in ihrer Handtasche und beförderte allerlei nutzlose Sachen heraus, die sie, ohne näher hinzusehen, neben ihrem Trockengesteck ablegte.

Als wir gerade durch Fürth fuhren, fiel mir etwas ein: «Soch amol, hob ich dich vurgestern net in der Stadt drinna gsehen?»

«Nein!»

Ohne ihren Blick zu heben, leerte sie weiter die Tasche aus. Ich war mir aber ziemlich sicher, sie gesehen zu haben.

«Nadürlich warst du in der Stadt, do am Eck vo der Hirschnapothekn warst, miid zwaa Plastikdüdn miid am langer Ding drin.»

«Was du widdä gsehen hom willst.» Sie schaute ärgerlich hoch. «Dees war ich net. Wall ich wor am Middwoch in der Stadt!»

Irritiert blickte ich wieder aus dem Fenster, dachte einen Moment nach.

«Ja, du Dolln, vurgestern wor doch Middwoch!»

«Gestern war vurgestern Diensdooch.» Mariechen verdrehte kurz die Augen, stopfte alle herausgewühlten Sachen zurück in ihre blassblaue Handtasche und schloss sie.

«Und am Diensdooch ist morgen Middwoch!», versuchte ich, ihrer Logik zu folgen.

«Und übermorgn is Samsdooch. Und», so setzte sie noch hinterher, «ich wor am Middwoch in der Stadt!» Bevor ich darauf reagieren konnte, warf sie mir entgegen: «Und do hob ich dich gsehen, wiesd an mir vorbeigrauscht bisd. Do am Eck vo der Hirschnapothekn! Ich wor dogstandn miid zwaa Plastikdüdn miid am langer Ding drin!»

Es hatte keinen Sinn, weiter nachzufragen. Ich war die Schuldige, die sie nicht gesehen hatte! Doch schon setzte Mariechen nach mit einem ihrer typischen Themenwechsel.

«Und am Samsdooch hom mir mit der Kirch an Ausflug gmacht, mit am ganz uraldn, klapprichn, rotn Reisebus, nauf nach Bamberg, wor fei2arch schäi! Do simmer sogar in den Dom nei.»

«Ihr als Evangelische hobt do neigedurft?», provozierte ich sie.

«Mir hom a gutgehende Ökonomie, do dürfn mir uns scho a weng errodisch verlustieren. Obbä eure katholischn Pfarrer, däi dürfn net, wechem Zölibat!»

«Dürfn dürfns scho, blouß erwischn lassn, dürfn sie sich net!»

Sie ignorierte meinen kleinen Spaß und fing wieder an, ihre Handtasche auszuräumen.

«Dees mit dem Zölibat is doch ircherdwie überholt, vielleicht änderns des ja amol. Ich mein, ob’s die jetztichen Pfarrer nu erlebn, glaub ich zwor net, obbä deren Kinder bestimmt.» Bevor ich da etwas richtigstellen konnte, meinte sie noch leicht empört: «Und der eine Pfarrer scheints richtig nötig ghabt zu hom! Der is mir fei…» Sie beugte sich zu mir rüber und flüsterte geheimnisvoll: «…also der eine Pfarrer ist mir sogar nochglaufn! Wergli, nochgrennt scho fast… bis naus aufs Klo!» Damit setzte sie sich aufrecht hin und erwartete gespannt meine Reaktion.

«Warum gäihst denn du a in der Sakristei aufs Klo?»

«Doch net in der Sakristei! Do im Kirchenschiff hobt doch ihr links und rechts die Klohäusla.»

Ich ahnte Schlimmes.

«Des sind doch die Beichtstühle, da kann mer doch bloß knien!»

Sie nickte leicht mit dem Kopf: «Dees gäiht fei bläid, soch ich dir.»

Ich schluckte. Sollte sie wirklich…? Plötzlich wurde mir auch etwas anderes klar.

«Edz was ich a, wer bei uns in St.Heinrich im Weihwasserbeckn seine Haar gwaschn hot. Do steht ja nu es Fläschla midm Apflschampon!»

Anstatt verschämt zur Seite zu blicken, nahm Mariechen den Hut vom Kopf und schüttelte ihre Haare. Apfelduft wehte mich an.

«Der is fei recht groß, der Salon Heinrich», meinte sie nur und setzte den Hut wieder auf. Dann blätterte sie in der mitgebrachten Musikantenstadlpost.

Mariechen – eine Kirchenschänderin! Wie sollte ich so was dem Herrn Pfarrer erklären? Vielleicht wäre es auch besser, vorerst sonntags eine andere Kirche aufzusuchen, bis Gras über die Sache gewachsen war. Dieser Gedanke beruhigte mich halbwegs. Mein Blick fiel auf das seltsame Trockengesteck, das noch neben Mariechen auf dem Sitz lag. Was wollte sie bloß damit? Ich versuchte es erst mal mit einer unverfänglichen Frage.

«Wo willst denn in Kissingen hin?»

«Zum Friedhof.»

Sie war inzwischen beim Semino-Rossi-Mittelseitenposter angelangt und betrachtete es verzückt. Ich war erstaunt. Hatte ich irgendeine Traueranzeige in der Tageszeitung übersehen? Mir war kein aktueller Todesfall bekannt.

«Soso, zum Friedhof», murmelte ich. «Wer is na gstorbn?»

«Na du!», antwortete sie trocken und nestelte an den Heftklammern, um das Poster aus dem Magazin zu lösen.

Ich glaubte, mich verhört zu haben.

«Iiiich? Ich bin doch net gstorbn, ich leb doch noch!»

Sie kramte nach ihrer Nagelfeile, da sich die Heftklammern ziemlich heftig an das Magazin klammerten.

«Des mahnst du!» Mit einem dumpfen Stöhnlaut gelang es ihr endlich, die Klammern zu öffnen. Sie entnahm das Poster äußerst sorgfältig und strich es auf dem Ausklapptisch glatt.

«Ich bin doch net gstorbn!», wiederholte ich.

«Des wor obbä in der Zeitung gstandn», beharrte Mariechen. «Und zwar in die Fürther Nochrichdn. Bei die Gstorbner!» Nun legte sie das Poster fein säuberlich zusammen. Aufgebracht riss ich es ihr aus der Hand.

«Du bist doch su eine Dolln! Des wor doch vo meine Enkel däi Geburdsdoochsanzeich zu meim Fünfersiebzigstn», schnauzte ich und schmiss ihr den Semino Rossi vor ihre hässlichen Schuhe. Sie blickte mich kurz mit einem messerscharfen Blick an, bückte sich nach dem Poster und streifte es wieder glatt.

«Obbä es war a schwarzer Rand drumrum.»

Auf meinen Einwurf, ich säße ihr doch leibhaftig gegenüber, reagierte sie überhaupt nicht.

«Sei halt net eigschnappt, Mariechen», versuchte ich es im Guten, «blouß wall ich net gstorbn bin. Ich dou dir doch net jedn Gfalln!»

Doch ihre Trotzigkeit blieb, sie schwieg und kümmerte sich nur noch um ihr Poster, das sie überraschenderweise in der Mitte auseinanderriss und in den Abfallkorb warf: «Und den hob ich nu nie leidn könna!»

Bevor die Stimmung im Abteil noch frostiger wurde, versuchte ich, sie etwas abzulenken.

«Der Cloggs-Kuni ihr Geburdsdoochsfeier wor doch arch schäi, oddä? Endli hots amol widdä außerhalb vom Krankenhaus gfeiert.»

Mariechen hatte anscheinend nur darauf gewartet, dass ich dieses Thema ansprach.

«Och, däi Feiern im Kranknhaus hob ich scho bald nimmer sehn könna. Immer host do aus däi Infusionsbeutl trinken müssen. Und dann hots immer vo ihrm Abendessen des Pumpernikl und den Streichkäs aufghobn und uns dann in der Bettpfanna serviert. Ekelhaft wor des, einfach ekelhaft.»

Ich konnte ihr nur zustimmen, besonders elegant waren die Partys am Krankenbett von der Cloggs-Kuni wirklich nie.

«Obbä», schnatterte Mariechen weiter, «su bsonders wors in dera Wirtschaft –… wie hats numol gheißen… ‹Landhotel Drei Kronen› – auch net. Erschd däi weidä Fahrerei, fünfunddreißig Euro hob ich fürs Taxi zahlt. Und dann tuts rum und hat ohgebn, dass mir essen können, was wir wolln. Dabei wor nur ein Gericht auf der Karddn gstandn!»

Mir schoss die Erinnerung und mit ihr der unangenehme Geschmack von damals wieder hoch.

«Strammer Max.»

Mariechen schüttelte vehement den Kopf.

«A Sulzn hots gebn!»

«Strammer Max.» Ich war mir ganz sicher.

«A Sulzn!»

«Strammer Max!»

«A Sulzn!»

Es war besser einzulenken.

«Stimmt! A Sulzn hats gebn. Aber der Kellner hot Max geheißn, und der wor su schwabblerd wäi die Sulzn!»

Zufrieden, recht gehabt zu haben, glotzte Mariechen zu mir rüber und empörte sich weiter.

«Und mei Gschenk hob ich a wieder mitnehma könna! Wall wie ich nei bin ins Restaurant, hob ich mein Hut runter und auf an Tisch glegt, um der Cloggs-Kuni besser gratuliern zu könna. Nochdems mich fünfmal abknutscht hot, is ihr Blick auf den Tisch gfalln, sie hot sich mein Hut gschnappt und gschriea: Ach, is des a arch schäiner Hut, su an wolld ich scho immä hom! Dann hob ich halt des Galama wieder mit heimgnumma.»

«Momentamol? Des Galama host doch mir scho zwaamol gschenkt?»

«Freilich! Weil ich hobs ja scho zwaamol vo der Rumba-Lotte kriegt.»

«Und die Rumba-Lotte hots immer vo der Cloggs-Kuni kriegt.» Allmählich begriff ich. «Des is ja scho fast a Wandergschenk! No wirst es nächstes Jahr du wieder kriegn!»

«Na, scho in am halbn Jahr, weil du fällst ja edz aus!»

Offenbar glaubte sie weiterhin, dass ich bereits gestorben wäre. Ich wusste, wenn sie sich so was mal in den Kopf gesetzt hat, bekommt man sie nicht mehr los davon. Deshalb blieb mir nur ein weiteres Ablenkungsmanöver.

«Ich hob ihr zwei Karddn fürs Kino gschenkt, weißt scho, des große do in Nämberch am Prostitutionsausstellungsplatz, na, wie heißt der Platz? Ach, am Gewerbemuseumsplatz.»

Sie nickte: «Des kenn ich, des heißt Chevapchichi.»

Natürlich meinte sie Cinecittà, aber weil sie noch nie dort war, konnte sie den richtigen Namen eigentlich nicht wissen. Ich wiederum hatte mich in dem Kinokomplex schon mal umgesehen und war ganz begeistert von den Lovechairs genannten Doppelsitzen.

«Ich find däi Lovechairs doddn subbä, wenn’sd a wenng breide Hüftn host, sind däi ideal», schwärmte ich.

Mariechen wollte wissen, warum die Dinger so genannt wurden. Ich beschrieb ihr ausführlich, wie praktisch sie für frischverliebte Paare seien. Sofort kam ihr eine Idee.

«Do gäih ich amol nei und hock mich auf su an Stuhl. Dann wart ich, bis su a jungs Bürschla kommt und zitter a wenig nüber zu dem.» Nach einer kurzen Gedankenpause fiel ihr ein: «Na ja, wenn ich nüberlang, läfft der wahrscheinli glei wech. Ach, drum heißt des ‹Lovechair›, wall däi dann immer glei davolaafn!»

«Bei dir haut doch jeder glei ab!», stichelte ich, etwas überrascht von so viel Selbsterkenntnis. «Reicht ja scho, dasd vier Männer überlebt hast!»

Sie schnaufte hörbar auf und blickte ein wenig traurig vor sich hin.

«Vier Männer hab ich ghabt. Des musst erschdamol gießen!»

Ich machte sie darauf aufmerksam, dass sie doch gar keinen Blumenschmuck auf den Ruhestätten ihrer Männer hatte, wie ich von unseren sonntäglichen Friedhofsspaziergängen wusste. Sie gähnte.

«Ach, des worn doch alle so Körner- und Müslifresser – ircherdwann muss doch des Zeug aufgehen!»

Mariechen war schon immer sehr praktisch veranlagt. Mir fiel das Friedhofsgesteck wieder ein, meine Neugier ließ mich nicht los.

«Für wen is denn des?»

Sie zupfte einige Tannenzweige zurecht, dann betrachtete sie das Gesteck sehr ausgiebig.

Mit 180Sachen donnern die Züge durch Fürth und nehmen nicht einmal Anhalterinnen mit!

«Des is doch für dich! Gfällts dir?»

«Ich brauch doch des nu gor net.» Ich ignorierte ihre Frage. «Obbä wo host denn du des überhaupt her?»

«Vom Südfriedhof», nuschelte sie, während sie aus dem Zugfenster blickte. «Des wor do einfach su rumgstandn. Die Tulpn warn vo der Elisabeth Bruns, die Nelken bei der Fredericke Vombaum, des Tannengrün war bei am aldn Adventsgesteck rumglegn, und die Schale wor hinterm Gebüsch versteckt.»

Mariechen hatte sich das Gesteck ohne irgendwelche Hemmungen zusammengeklaut! Und dann ausgerechnet bei der Elisabeth Bruns, auf deren Beerdigung ich erst einige Tage vorher gewesen war. Daran erinnerte ich mich noch zu genau. «Eine große Kirchgängerin war sie ja nie», hatte der Pfarrer die Trauerfeier eingeleitet, worauf die Graffl-Siggi nach vorne zischte: «Und wenn mers heut net neitragn hätt, wärs widdä net kommen!» Doch bevor ich Mariechen zur Rede stellen konnte, war sie schon längst wieder bei einem anderen Thema beziehungsweise kam auf das alte Thema zurück.

«Du, Waltraud, letztn Sunndooch hom mir fei mid der Gemeinde an Ausflug gmacht, do simmer midm Reisebus nach Bamberg gfahrn…»

Nein, diese Geschichte wollte ich nicht schon wieder hören.

«Ja, und dann seid ihr in Dom nei!», unterbrach ich sie barsch.

Überrrascht guckte sie mich an.

«Woher weißt du denn des?»

Ich rollte mit den Augen und schnappte nach Luft.

«Des host doch scho derzillt!»

«Vielleichd wolld ich wos anders derzilln?» Sie verschränkte beleidigt die Arme. «Obbä bittä, dann derzill ich halt nix mehr!»

Für ein paar Minuten unterhielt uns nur noch das leise Rattern der Zugräder. Mariechen schaffte es tatsächlich, nichts zu sagen, rein gar nichts. Einer der seltenen Momente in ihrem Leben! Nach einiger Zeit fand sie diese Situation wohl doch irgendwie langweilig.

«Langsam krieg ich an Hunger.»

Überraschenderweise hatte unser Zug in die königliche Kurstadt einen Speisewagen dabei, aber davor wollte ich sie lieber warnen.

«Da wartest lieber, bis mir in Kissingen sind, do geh mer dann in a schäins Kaffee. Wall im Speisewagn schmeckts dir bestimmt net. Des is nämlich des original Essen auf Rädern! Do schmeckts ja bei die Malteser nu besser. Des weiß ich, wall ich hob vo dene a Abonnement fürs Middochessn. Kost blouß vierfuchzig pro Mahlzeit und wird frei Haus gliefert.»

Mariechen wurde hellhörig.

«Und des isst du?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Naa, des ess ich doch net, des bring ich einen Stock tiefer zum Borchs-Andreas, wasst scho, der ältere Moh, der nimmer su gut laafe konn. Der zohlt mir dafür immer fuchzehn Euro, wall er mahnt, ich hätt selber kocht. Und für däi fuchzehn Euro geh ich dann in Fürth ins Stadtwappen zur Christa zum Middochessen!»

Mariechen lachte kurz auf.

«Gschäftla host du scho immer gern gmacht. Obbä des Essn auf Rädern hob ich amol ghabt, vo die Johanniter! Vier Wochen lang…» Sie hörte urplötzlich auf zu erzählen und tat so, als sei nichts gewesen. Eigentlich hatte ich einen Schwall von Geschichten erwartet. Aber sie hüstelte nur und blickte stur aus dem Fenster. Ich stupste sie auf ihr Knie und wollte wissen, wie es weiterging. Sie ignorierte mich einfach, zupfte ihr Kleid zurecht und blickte gelangweilt im Abteil umher.

«Was wor denn edz?», fragte ich. «Du hast doch grod erzillt, dass du vier Wochen des Essn vo die Johanniter kriegt host!»

Sie glotzte mich nur blöd an und grummelte: «Ja? Und?»

Ich verstand die Welt nicht mehr: Mariechen, die eigentlich ununterbrochen plappert, wird auf einmal einsilbig und rückt nicht mehr mit der Sprache raus?

«Ich wolld doch blouß wissen, wäi däi Gschicht weitergäiht», flehte ich.

«Du weißt doch sonst auch immer alles!», antwortete sie patzig.

Oh nein, nun war sie eingeschnappt. Ich fürchtete schon das Schlimmste, da konnte sie ihrem Drang zu erzählen nicht mehr widerstehen.

«Also bittä, dann erzill ich die Gschicht halt nuamol. Vier Wochn lang hob ich des Essen auf Rädern ghabt, und dabei hob ich vierzehn Pfund abgnommen. Vierzehn Pfund! Des musst dir amol vorstellen. Doch des Essen auf Rädern is für uns alte Leut nix.» Sie verzog das Gesicht. «Ich konn einfach net essn, wenn ich aufm Fahrrad sitz. Des iss su bläid bei mir daham, ich hob doch zwischen meiner Küchn und dem Wohnzimmer su a depperte Kurvn drin, do hots mich jedsmol gegern Einbauschrank prelld. Däi Birne Helene liegt heut nu hinterm Schrank. Naa, suwos mach ich nimmer mit.»

Ehe ich dazu etwas sagen konnte, rumpelte der Zug bereits in den Bahnhof von Bad Kissingen ein, und ich war beschäftigt, meinen Koffer von der Ablage herunterzuwuchten. Auch Mariechen griff nach ihrem Gesteck und der Reisetasche und drängte sich zur Tür.

«Wo willst denn du edz hi?», rief ich hinter ihr her.