Wandern lieb' ich für mein Leben. Geschichten und Gedichte aus der freien Natur -  - E-Book

Wandern lieb' ich für mein Leben. Geschichten und Gedichte aus der freien Natur E-Book

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Beschreibung

Zum Wandern braucht man nicht viel mehr als große Lust dazu. Durch die Haustür und los. Wenn sich dort ein besonders herrlicher Naturraum auftut, schön, aber der ist gar nicht zwingend notwendig. Zu allen Zeiten liebten bedeutende Köpfe der Literatur die Fortbewegung auf eigenen Füßen. Denn wandern regt alle Sinne an, befreit von Sorgen, führt an fremde Orte und zu ganz neuen Erfahrungen. Davon dichten und berichten die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der hier versammelten Auswahl. Mit Texten von Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine, Stefan Zweig, Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky und vielen anderen.

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Wandern lieb ich für mein Leben

Geschichten und Gedichte aus der freien Natur

Ausgewählt von Jan Strümpel

Anaconda

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Adobe Stock / Anja Kaiser

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

ISBN 0391-9-783-641-31837-6

www.anacondaverlag.de

Vorwort

Für viele Menschen gehört Wandern mit zum Schönsten im Leben. Raus in die Natur, eine Auszeit nehmen, dem Körper und der Seele Gutes tun, entschleunigen! Wandern geht überall und braucht gar keine besonders prächtigen Kulissen oder Ziele. Man tut es mit andern oder allein, und schon lange vor dem Aufkommen von Karohemd und Funktionskleidung hat es vielen Menschen Freude gemacht. Wandern ist eine sehr persönliche Sache und genau das, was man selbst dafür hält. Denn noch niemandem ist es gelungen, eine belastbare Definition des Wanderns vorzulegen. Man kann es ganz gut vom Flanieren abgrenzen (was eher in städtischem Umfeld passiert), so halbwegs vom Spazierengehen, aber selbst einem so schlichten Kriterium wie »Wandern ist, wozu du deinen Rucksack mitnimmst« halten manche entgegen, sie würden ihren Rucksack auch zum Einkaufen benutzen.

Auf jeden Fall hat Wandern etwas mit dem Zurücklegen längerer Strecken zu tun, und heute verbinden wir diese Aktivität mit Erlebnis und Genuss. Das war nicht immer so, denn in früheren Zeiten wanderten Menschen auch und sogar überwiegend aus reiner Notwendigkeit, um von A nach B zu kommen, wenn sie sich kein Verkehrsmittel leisten konnten. Der legendäre »Taugenichts« von Joseph von Eichendorff kennt zwar die schönsten Wanderlieder, doch als ihm zwei vornehme Damen eine Mitfahrgelegenheit in ihrem Wagen anbieten, springt er sofort hinten auf. »Wer war froher als ich!«, kommentiert er noch, der bequeme Kerl.

Wir Heutigen haben vom Wandern eine andere Vorstellung. Froh sind wir bei einem Gipfelerlebnis, wenn wir unterwegs eine große Freiheit empfinden oder uns nach einer körperlichen Anstrengung als Mensch ganz neu erleben. Solche Erfahrungen machen auch viele derjenigen, die in den hier versammelten Texten aufbrechen. Mit hoffentlich festem Schuhwerk gehen sie hinaus in die Welt und schildern, was ihnen dort begegnet: eine herrliche Landschaft, ganz neue Perspektiven, faszinierende Beobachtungen, eine tiefe Einsicht, aber auch unerwartete Mühsal, nervige Mitmenschen und echtes Schietwetter.

Die Gedichte und Geschichten in diesem Band sind literarische Zeugnisse aus einer Zeit, als Wandern noch kein Massenphänomen war und es gar keine speziell markierten Wanderwege gab oder Hütten mit Kaiserschmarrn im Angebot. Hier berichten Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit feiner Beobachtungsgabe von ihren sehr persönlichen Outdoor-Erfahrungen. Wozu natürlich auch die Rast gehört. Dazu gesellen sich Gedichte, die das Wandern auf vielfältige Weise zum Thema haben.

Die Prosa umfasst kleine Lesestücke, Tagebucheinträge und Auszüge aus längeren Erzählwerken. Einige Überschriften stammen nicht von den Autoren selbst, sondern wurden aus dem jeweiligen Text extrahiert. In wenigen Fällen erschien ein kurzer Hinweis zum Kontext hilfreich. Die Gedichte sind allesamt ungekürzt wiedergegeben.

Und damit los, die Natur wartet, unterhalb von Gipfeln oder auf dem Deich, in der echten Schweiz und der sächsischen Schweiz, im Spessart und Harz, an der Mosel und in der Mark Brandenburg, an jedem vermeintlich unscheinbaren Ort, der beim Wandern seinen Zauber enthüllt.

Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Wer zu viel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen.

Johann Gottfried Seume, Mein Sommer

Ich sing mein Lied und wander’ so,

Bald bin ich hier, bald anderswo.

Ein Schüttelreim von Erich Mühsam

Die Herrlichkeit der Welt ist immer adäquat der Herrlichkeit des Geistes, der sie betrachtet. Der Gute findet hier sein Paradies, der Schlechte genießt schon hier seine Hölle.

Heinrich Heine, Gedanken und Einfälle

Karl Mayer

Wanderlust

Wer geht dort sonnig über den Steg

Auf Schattengrund, am Waldgeheg?

Wie lustig nimmt sich Wandern aus,

Wie trüb und eng ist es zu Haus!

Eduard Mörike

Wanderlied

Entflohn sind wir der Stadt Gedränge:

Wie anders leuchtet hier der Tag!

Wie klingt in unsre Lustgesänge

Lerchensang

hier und Wachtelschlag!

Nun wandern wir und lassen gerne

Herrn Griesgram zu Haus;

Ein frischer Blick dringt in die Ferne

Nur immer hinaus!

Wir wandern, bis der späte Abend taut,

Wir rasten, bis der Morgen wieder graut.

Man lagert sich am Schattenquelle,

Wo erst das muntre Reh geruht;

Aus hohler Hand trinkt sich der helle

Kühle Trank

wohl noch eins so gut,

Nun wandern wir und lassen gerne

Herrn Griesgram zu Haus;

Ein frischer Blick dringt in die Ferne

Nur immer hinaus!

Wir wandern, bis der späte Abend taut,

Wir rasten, bis der Morgen wieder graut.

Joseph von Eichendorff

Wandern lieb’ ich für mein Leben

Wandern lieb’ ich für mein Leben,

Lebe eben wie ich kann,

Wollt’ ich mir auch Mühe geben,

Passt’ es mir doch gar nicht an.

Schöne alte Lieder weiß ich,

In der Kälte, ohne Schuh’

Draußen in die Saiten reiß’ ich,

Weiß nicht, wo ich abends ruh’.

Manche Schöne macht wohl Augen,

Meinet, ich gefiel’ ihr sehr,

Wenn ich nur was wollte taugen,

So ein armer Lump nicht wär’. –

Mag dir Gott ein’n Mann bescheren,

Wohl mit Haus und Hof versehn!

Wenn wir zwei zusammen wären,

Möcht’ mein Singen mir vergehn.

Anastasius Grün

Zwei Heimgekehrte

Zwei Wanderer zogen hinaus zum Tor,

Zur herrlichen Alpenwelt empor.

Der eine ging, weil’s Mode just,

Den andern trieb der Drang in der Brust.

Und als daheim nun wieder die zwei,

Da rückt die ganze Sippe herbei,

Da wirbelt’s von Fragen ohne Zahl:

»Was habt ihr gesehn? Erzählt einmal!«

Der eine drauf mit Gähnen spricht:

»Was wir gesehn? Viel Rares nicht!

Ach, Bäume, Wiesen, Bach und Hain,

Und blauen Himmel und Sonnenschein!«

Der andere lächelnd dasselbe spricht,

Doch leuchtenden Blicks, mit verklärtem Gesicht:

»Ei, Bäume, Wiesen, Bach und Hain,

Und blauen Himmel und Sonnenschein!«

Jean-Jacques Rousseau

Vom Reisen zu Fuß

Ich kann mir nur eine Art zu reisen vorstellen, die noch angenehmer ist als das Reisen zu Pferde, und das ist das Reisen zu Fuß. Man bricht auf, wenn man will, macht eine Rast, wenn es einem beliebt, man betätigt sich so viel oder so wenig, wie es einem gerade gefällt. Man betrachtet die ganze Gegend, macht mal nach rechts und mal nach links einen kleinen Umweg, schaut sich alles, was einem besonders gefällt, genauer an und macht an allen Aussichtspunkten halt. Erblicke ich einen Fluss, so gehe ich an seinem Ufer entlang; einen dichten Wald, wandere ich unter seinen schattigen Bäumen weiter; eine Grotte, dann besichtige ich sie; einen Steinbruch, dann untersuche ich seine Geologie. Wenn mir ein Plätzchen besonders gefällt, verweile ich dort ein bisschen. Und sobald ich mich dort zu langweilen anfange, setze ich meinen Weg fort. Ich bin weder von Pferden noch von einem Postillion abhängig. Ich brauche mir auch keine festgebauten Wege und bequemen Straßen auszusuchen. Ich komme überall durch, wo ein Mensch auch nur durchkommen kann; ich sehe alles, was ein Mensch sehen kann. Und da ich nur von mir selber abhängig bin, genieße ich all die Freiheit, die ein Mensch nur genießen kann. Wenn schlechtes Wetter mich aufhält und wenn mich Langweile überkommt, dann nehme ich Pferde. …

Zu Fuß reisen heißt reisen wie Thales, Platon und Pythagoras. Es fällt mir schwer zu begreifen, wie ein Philosoph sich entschließen kann, auf irgendeine andere Art und Weise zu reisen, und sich selbst die Gelegenheit entgehen lassen kann, sich die Reichtümer genauer anzuschauen, über die seine Füße hinwegschreiten und die die Erde ihm in Hülle und Fülle vor Augen führt. Wer auch nur ein wenig die Landwirtschaft liebt, wie will der denn nicht die klimatisch besonderen Erzeugnisse der Gegend kennenlernen, die er gerade durchstreift, und auch erfahren, wie man sie anbaut? Und wer auch nur ein wenig Interesse an der Naturgeschichte hat, wie kann ein solcher sich denn entschließen, durch ein Gelände hindurchzugehen, ohne es zu untersuchen, an einem Felsen vorbeigehen, ohne ein Stück Stein abzubrechen, an Hügeln, ohne Pflanzen zu sammeln, an Kieseln, ohne nach Fossilien zu suchen? Eure Philosophen in der Stadt studieren die Naturgeschichte in Vitrinen; sie haben kleine Probeexemplare, Schnickschnack, von dem sie die Namen kennen, haben aber keine Vorstellung von dem, was Natur wirklich ist. …

Wie viele verschiedene Vergnügen auf einmal kann man durch diese angenehme Art des Reisens doch genießen, ohne die Gesundheit dazuzurechnen, die sich kräftigt, und die Gemütsstimmung, die heiter wird! Diejenigen Leute, die in guten und bequemen Wagen reisen, habe ich immer in Gedanken versunken, schlecht gelaunt, mürrisch oder leidend gesehen; die aber, die zu Fuß reisen, sind heiter, guter Dinge und mit allem zufrieden. Wie lacht ihnen doch das Herz, wenn sie sich der Herberge nähern! Wie schmackhaft erscheint ihnen auch ein derbes Mahl! Mit wie viel Vergnügen ruhen sie sich am Tisch aus! Wie gut schläft es sich für sie auch in einem schlechten Bett! Wenn man bloß ankommen will, kann man die Postkutsche nehmen. Wenn man aber wirklich reisen will, dann muss man zu Fuß gehen.

Robert Walser

Kleine Wanderung

Ich lief heute durch das Gebirge. Das Wetter war nass, und die ganze Gegend war grau. Aber die Straße war weich und stellenweise sehr sauber. Zuerst hatte ich den Mantel an; bald aber zog ich ihn ab, faltete ihn zusammen und legte ihn auf den Arm. Das Laufen auf der wundervollen Straße bereitete mir mehr und immer mehr Vergnügen, bald ging es aufwärts und bald stürzte es wieder nieder. Die Berge waren groß, sie schienen sich zu drehen. Die ganze Gebirgswelt erschien mir wie ein gewaltiges Theater. Herrlich schmiegte sich die Straße an die Bergwände an. Da kam ich hinab in eine tiefe Schlucht, zu meinen Füßen rauschte ein Fluss, die Eisenbahn flog mit prächtig weißem Dampf an mir vorüber. Wie ein glatter, weißer Strom ging die Straße durch die Schlucht und wie ich so lief, war’s mir, als biege und winde sich das enge Tal um sich selber. Graue Wolken lagen auf den Bergen, als ruhten sie dort aus. Mir begegnete ein junger Handwerksbursche mit Rucksack auf dem Rücken, der fragte mich, ob ich zwei andere junge Burschen gesehen habe. Nein, sagte ich. Ob ich schon von weit her komme? Ja, sagte ich, und zog meines Weges weiter. Nicht lange, und so sah und hörte ich die zwei jungen Wanderburschen mit Musik daherziehen. Ein Dorf war besonders schön mit niedrigen Häusern dicht unter den weißen Felswänden. Einige Fuhrwerke begegneten mir, sonst nichts, und ein paar Kinder hatte ich auf der Landstraße gesehen. Man braucht nicht viel Besonderes zu sehen. Man sieht so schon viel.

Peter Rosegger

Ein kleiner Spaziergang

Es war zu Pfingsten. Da stand am Vorabende des Festes in einer Schneiderwerkstatt des oberen Mürztales ein junger Mensch von der Arbeit auf, zog seinen braunen Sonntagsrock an und sagte: er wolle nun zum Feierabend einen kleinen Spaziergang machen.

Er ging über die Wiese hin gegen das Wäldchen, durch dieses hinaus auf einen Acker und dann am Wege entlang, der nach Mürzzuschlag führt. Weil die Sonne noch hoch am Himmel stand, so dachte der junge Mensch, er könne von Mürzzuschlag aus auch noch ein bisschen der klaren Mürz entlang gehen, wodurch er in ein paar Stunden nach Neuberg kam. Dort blieb er bei einem Bekannten über Nacht, und weil am nächsten Tag das Pfingstfest war und der Spaziergänger das Kirchlein zu Mürzsteg und die berühmte Engschlucht zum Toten Weib noch nicht gesehen hatte, so wanderte er wohlgemut flussaufwärts. Beim Toten Weib begegneten ihm Wallfahrer, welche sagten, dass es nur mehr vier Stunden nach Mariazell sei. Eine bessere Gelegenheit gibt’s doch nicht mehr, den Gnadenort zu sehen. Er wanderte also weiter, denn er war ein schwärmerischer Junge, wie es überhaupt unter den Schneidern ganz seltsame Leute gibt. Der nächste Morgen war ein Pfingstmontag, an dem es nicht regnete. Also meinte der junge Mensch, weil er hier in Mariazell schon so nahe dem eigentlichen Hochgebirge sei, so wolle er es auch einmal ansehen, und ging über Gusswerk bis Weichselboden, das hart unter dem Gewände des Hochschwaben liegt. Von Weichselboden wanderte er in den viele Stunden langen Gebirgsschluchten an der Salza bis Wildalpen und am nächsten Tage zur Enns hinaus, dann durch das Gesäuse, das damals noch keine Eisenbahn hatte, sondern eine menschenleere, sausende Wildnis war, bis Admont. Und wieder am nächsten Tage ging er durch das sonnige Ennstal und an dem grimmigen Grimming vorüber bis Aussee. Dort fragte er einen Mann, warum der Ort Aussee heiße, worauf er die Antwort erhielt: »Heißt Aussee, weil man da schon bald ausse kumt aus Steiermark und ins Österreichische übri.«

Ist der junge Mensch stutzig geworden und hat nachgedacht darüber, wie weit er auf seinem kleinen Spaziergang gekommen und dass er schon fünf Tage lang auf der Wander ist. Was der Meister dazu sagen wird, wenn er sich so lange Pfingsten macht? Nach solchen Erwägungen kehrte er um und eilte auf dem kürzesten Wege, nämlich über das Kammergebirge, die Sölkeralpen, die Murtalalpen, über Deutschlandsberg, Leibnitz, Gleichenberg, Riegersburg, Hartberg und Vorau ins Mürztal zurück. Zu diesem kürzesten Wege brauchte der Bursche neun Tage.

Wilhelm Müller

Wanderschaft

Das Wandern ist des Müllers Lust,

     Das Wandern!

Das muss ein schlechter Müller sein,

Dem niemals fiel das Wandern ein,

     Das Wandern.

Vom Wasser haben wir’s gelernt,

     Vom Wasser!

Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht,

Ist stets auf Wanderschaft bedacht,

     Das Wasser.

Das sehn wir auch den Rädern ab,

     Den Rädern!

Die gar nicht gerne stille stehn,

Die sich mein Tag nicht müde drehn,

     Die Räder.

Die Steine selbst, so schwer sie sind,

     Die Steine!

Sie tanzen mit den muntern Reihn

Und wollen gar noch schneller sein,

     Die Steine.

O Wandern, Wandern, meine Lust,

     O Wandern!

Herr Meister und Frau Meisterin,

Lasst mich in Frieden weiter ziehn

     Und wandern. 

Johann Wolfgang von Goethe

Wanderlied

Von dem Berge zu den Hügeln,

Niederab das Tal entlang,

Da erklingt es wie von Flügeln,

Da bewegt sich’s wie Gesang;

Und dem unbedingten Triebe

Folget Freude, folget Rat;

Und dein Streben, sei’s in Liebe,

Und dein Leben sei die Tat.

Denn die Bande sind zerrissen,

Das Vertrauen ist verletzt;

Kann ich sagen, kann ich wissen,

Welchem Zufall ausgesetzt

Ich nun scheiden, ich nun wandern,

Wie die Witwe, trauervoll,

Statt dem einen, mit dem andern

Fort und fort mich wenden soll!

Bleibe nicht am Boden heften,

Frisch gewagt und frisch hinaus!

Kopf und Arm mit heitern Kräften,

Überall sind sie zu Haus;

Wo wir uns der Sonne freuen,

Sind wir jede Sorge los;

Dass wir uns in ihr zerstreuen,

Darum ist die Welt so groß.

Heinrich Heine

Wandere!

Wenn dich ein Weib verraten hat,

So liebe flink eine andre;

Noch besser wär’ es, du ließest die Stadt –

Schnüre den Ranzen und wandre!

Du findest bald einen blauen See,

Umringt von Trauerweiden;

Hier weinst du aus dein kleines Weh

Und deine engen Leiden.

Wenn du den steilen Berg ersteigst,

Wirst du beträchtlich ächzen;

Doch wenn du den felsigen Gipfel erreichst,

Hörst du die Adler krächzen.

Dort wirst du selbst ein Adler fast,

Du bist wie neugeboren,

Du fühlst dich frei, du fühlst du hast

Dort unten nicht viel verloren.

Wilhelm Heinse

Aufstieg auf die Rigi

Morgens 5 Uhr den 26. August 1780 auf dem höchsten Joche des Rigibergs.

Hier sitz ich oben in den glänzenden Strahlen der neuen Sonne, die über die Glarner Gebirge jugendlich hervorspringt und Jubel und Wonne mir in die Seele leuchtet: erschrecklich tief unter mir, die schroffen und senkrechten Felsen herab, liegt die braune Nacht auf den stillen Seen, wo keine Welle ans Ufer schlägt; weit und breit über die Erde her ziehen Heere von Nebelwolken, weißgraulich, chaotisch und unförmlich, wie die tausendköpfige Mutter Nacht in Person, schwanger von unendlichem unreifem Leben. Darüber blitzen hervor die Schneegipfel der Schweiz wie ungeheure Brillantenblöcke, und fernerhin schimmern und leuchten und funkeln rosenrote Streifwölkchen im himmelreinen Äther. Jetzt vermischt sich gegen Westen Himmel und Erde, und die Welt ist lauter Nebel. Gegen Osten bekämpfen ihn die Strahlen der Sonne, und er senkt sich und fällt. Die Hügel stehn in Tau, und in den Alpen herum weiden die Kühe.

Wenn die zweite Höhe vom ersten Wirtshaus an überstiegen ist, kommt man an einem Einschnitt zwischen zwei hohen Gebirgen durch und hat linkerhand über den Abgrund gegenüber eine halbe Stunde lang eine jähe, oft senkrecht herabsteigende Felsenwand voller kleiner, hoch herab in die Tiefe stürzender Katarakte, mit Fichten überall bewachsen, wo nur ein Keim hat Wurzel fassen können, weswegen sie auch vom Wind hier und dort wie Halme niedergeschlagen oder ausgerissen liegen und hangen und verfaulen, weil niemand hinzukann. Voran steigt ein Felsenjoch gen Himmel in einer ungeheuren Reihe gotischer Kolonnaden. Den ganzen Einschnitt oder Riss durch stürzt sich ein Bach in unzähligen rauschenden Fällen, hier und da mit Erlen eingefasst und Buchen und Fichten. Am Ende dieser Felsenwand noch vor mancher Quellengrotte vorbei kommt man an das Kapuziner-Klösterli –

So etwas hab ich noch nie erfahren, und es lässt sich keinem davon eine Vorstellung machen. Rundum und überall rauscht der ganze Berg, der in einer Menge von Riesengipfeln gen Himmel emporragt, von herabschießenden Bächen, und Quellen rieseln aus dunkeln Schatten unter Felsen hervor, und Katarakte hallen und brausen dazwischen. Das freundliche Leben, denn anders kann ich oft lechzender Wandrer mir das Wasser nicht denken, scheint zu zürnen, dass es nur tote Felsen findet, die es zu keinem neuen Wachstum beseelen kann.

Auf den Wegen liegen an vielen Orten abgerissene und heruntergerollte große Felsenstücke, mit Moos überzogen und mancherlei Kräutern, woraus meistens ziemlich hohe Fichten oben und in der Tiefe Buchen und Gesträuch wachsen. So ist auch kein Tal, wo nicht solche Felsenstücke liegen, die fast alle mit Bäumen bewachsen sind; welches denn der Gegend erst so recht das Schweizerische gibt.

Karl Immermann

Blick ins Tirol

Nun trat ich meine Fußwanderung gen Schwaz an. In weitentlegner Gegend, allein, spät abends, mir selbst und meinen Gedanken überlassen, fühlte ich es nun so ganz und stark, dass ich mir leiblich den Boden erobert hatte, der mir bis dahin ein fabelhafter gewesen war. Neben mir rauschte der Inn gewaltsam fort, um mich standen die Berge, deren Schneehäupter im taghellen Strahle des Mondes silberbläulich glänzten. So wanderte ich durch das einsame Tal und war um elf Uhr in Schwaz, wo der Anblick aus dem Fenster über den Strom nach den Felsen jenseits wieder herrlich war.

Andre Menschen reden viel von den religiösen Empfindungen, welche ihnen die Natur einflöße. Ich habe auch diesmal wieder bemerkt, dass mir diese Stimmung ganz fremd ist. Mir gibt jenes unendliche Konglomerat immer nur ein gewisses sinnlich-ästhetisches Vergnügen, oder es erfüllt mich auch wohl mit einem magischen Grauen. Nur in der Geschichte, im Moralischen, in der Liebe, die ich zu andern hege oder die andre zu mir empfinden, naht mir Gott.

Auch in dieser wunderbaren Szenerie des Alpenlandes bestätigte sich mir jene Erfahrung. Es hat mir keinen einzigen Moment gewährt, den man hätte einen frommen nennen können.

Jene übermächtige, aus allen Schranken tretende Natur kennengelernt zu haben, ist mir zwar unschätzbar, doch ist sie nicht die, welche mich auf die Dauer beglückt, und im Grunde stumpft sich ein so scharfer und seltsamer Reiz bald ab. Einige Male hat mich, wenn die Sonne hinter die Berge gesunken war und die Schneegipfel nun so sonderbar leichenhaft erblassten, eine tiefe Angst und ein Schauder wie vor einem weiten, unermesslichen Nichts ergriffen. Das, dachte ich, ist der Gott des Spinoza, ein allgegenwärtiger, ewiger und allmächtiger Toter.

Der Mensch lebt, um zu lieben und zu hassen, sich auf sich und seinen himmlischen Ursprung zu besinnen, den kleinen Kreis, zu dem sein enges Selbst sich erweitern kann, in Tun und Leiden auszufüllen. Was aber ist der Mensch, menschliches Wesen und Vermögen, den Alpen gegenüber? Freilich mag hier das Gefühl des Ebenenbewohners einen zu bänglichen Maßstab anlegen. Der Alpensiedler schreitet frei und sicher über Stege, auf denen den andern ein Schwindel ergreift. Selbst das Tier verändert in jener Natur sein Wesen. Die bei uns so schwerfälligen Kühe erklimmen mit der Leichtigkeit der Rehe schmale Almen an Abgründen, um ihr Futter zu suchen. Indessen geht auf solchen Wagestegen doch manches Stück verloren. Blieb aber die Herde unvermindert, so schmückt der Hirt jedes Haupt mit einer bunten Krone von Gras und Blumen und lässt rote Bänder von der Spitze derselben flattern, wenn er im Herbste heim zu Tale treibt. So eine gezierte Herde begegnete mir und gewährte den muntersten Anblick.

Was die Alpenlandschaft so eigentümlich macht? Der Stil in den Formen, die Mannigfaltigkeit der Linien, die entschiednen Gegensätze zwischen Ebene, Tal und Gebirg (in der deutschen Gegend liegt alles stumpf und kunterbunt durcheinander), die ganz neuen Farben und Betonungen – besonders die vielfältigen Schattierungen des Blau sind merkwürdig –, die Spiegelklarheit der Gewässer; zu diesem allen die vaste Unermesslichkeit der Massen. Der letzte und höchste Begriff des Berg-Ozeans, in dem man umhertreibt, wird durch die Schneekoppen hervorgebracht, welche das Mittelgebirge überall beherrschen.

Im Gegensatz zu diesen ungeheuren Massen hat nun der Mensch geschnitzelt und gepinselt, was er nur konnte. Die bunten Häuserchen mit ihrem Schnörkelwerk und den Galerien, die immer auf ein Inneres und Äußeres zugleich deuten, sind so verlockend, dass man gleich hineinkriechen möchte. Und die Kirchlein mit den roten und grünen Dächern hätte ich gern in ein Schächtelchen gepackt. Selbst die Gottesäcker sehen aus wie die Weihnachtskästchen. Alle Kreuze und Denkzeichen sind rot, weiß, gelb, grün bemalt, vergoldet oder versilbert.

Die Kunst der Menschen, wenigstens die moderne, liebt, sich von der umgebenden Natur recht genau abzuscheiden. In Ebenen entstehn die großen Dome, im Gebirg jenes Geschnitzelte und die Lust an der Farbe. Es entspringt dies freilich hauptsächlich aus der Notwendigkeit, aber es ist doch auch eine gewisse Wahl und Freiheit dabei. Eine große gotische Kathedrale würde z. B. in Innsbruck ganz unpassend erscheinen.

Die landschaftliche Wirkung wird durch jene Bauart noch sehr vermehrt. Sie hilft die Anmut erhöhen, welche die Gegend trotz aller Größe nie verliert.

Georg Büchner

Aufstieg auf den Großen Belchen / Grand Ballon