Warriors of Fortune - Anja Gehlert - E-Book

Warriors of Fortune E-Book

Anja Gehlert

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Beschreibung

Es begann als normaler Abend, an dem Beth tanzen gehen und den Alltagsstress vergessen wollte. Niemals hätte sie mit dem gerechnet, was in dieser Nacht noch geschehen sollte. Sie würde eine Entscheidung treffen, welche ihr bisheriges Schicksal neu schreibt. Krampfhaft versucht sie sich an ihr bisheriges, normales Leben zu klammern, doch bald wird ihr klar, dass weder der mysteriöse Krieger, welchen sie rettete, noch dessen Widersacher aus ihrem Leben verschwinden werden. Also muss sie sich allmählich mit der neuen Realität anfreunden und ihre Rolle darin herausfinden. War es immer schon so vorhergesehen, oder kann sie selbst über ihr Leben und somit ihr Schicksal bestimmen?

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Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet. Ich danke meinen Eltern von Herzen dafür, dass sie mich immer unterstützt haben.

Anja Gehlert

Warriors of Fortune

„Nicht sie suchen sich ihr Schicksal aus, es sucht sich sie aus“

© 2020 Anja Gehlert

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-04659-7

Hardcover:

978-3-347-04660-3

e-Book:

978-3-347-04661-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

1000 nach Christi

Die Spuren der Zerstörung wurden ihm mit jeder Faser seines Seins bewusst.

Er konnte sich kaum bewegen, aber so weit sein Auge reichte, sah er tote Menschen, einstürzende Hütten und eine Feuerwand, die immer größer zu werden schien.

Neben den schmerzenden Wunden wurde nun auch die Hitze immer unerträglicher und sein Sichtfeld verkleinerte sich stetig durch den dichten Rauch. Bald konnte er das Feuer nicht mehr sehen, sondern nur noch hören.

Ein andauerndes Knistern und Knacken erfüllte die Luft, während nach und nach die Hütten einstürzten, da die Holzwände und Holzpfeiler wegknickten.

Doch dies waren nicht die einzigen Geräusche, die der Wind ihm überbrachte. Schreie von Menschen, die wie er dem Tode geweiht waren, durchbrachen das Feuer, welches sich seinen Weg immer weiter zu ihm bahnte.

In seinem Mund meinte er etwas Metallisches zu schmecken und schnell wurde ihm klar, dass es sich um sein eigenes Blut handelte. Blut, das er mittlerweile zu würgen begann, während ihm das Atmen mit jeder Sekunde schwerer fiel.

Er konnte noch immer nicht glauben, was sich in der letzten Stunde abgespielt hatte. Sein Freund, Eric, welcher eigentlich einer schweren Krankheit erlag, war nicht gestorben, wie alle es befürchtet hatten.

Als sie dachten, er wäre von ihnen gegangen, schlug er im nächsten Moment seine Augen auf und war nicht mehr der Mensch, der krank im Bett gelegen hatte.

An seiner Stelle hatte sich ein scheinbar anderer von diesem Bett erhoben und brachte von diesem Zeitpunkt an die pure Zerstörung über sein Dorf.

Von dem einst freundlichen Bewohner war nichts als seine Hülle übrig geblieben, in der nur das pure Böse hausen konnte.

Anders konnte er es sich nicht erklären.

Er hatte gegen ihn gekämpft und dadurch ein paar wenigen zur Flucht verholfen. Die Hoffnung, dass es nicht umsonst gewesen war, war alles, was ihm geblieben war.

Sowie die Hoffnung, dass so etwas niemals einem anderen Dorf passieren würde.

Später würde er erfahren, dass seine Hoffnung nichts weiter als eine Hoffnung geblieben war.

Stattdessen würde es noch mehr Dörfer geben, die dieses Schicksal ereilt hatten.

Ein Schicksal, welches sie noch lange verfolgen würde.

Als er Schritte hörte und spürte, dass ein Schatten auf ihn fiel, öffnete er mühsam die Augen. Eric stand über ihm.

Lächelnd betrachtete dieser seine rote Schwertklinge. „Wie konntet ihr nur denken, ihr hättet eine Chance? Ihr schwachen Menschen. Ihr seid es nicht wert, zu leben. Es war herzerfrischend, so viele von euch umzubringen. Auch die Letzten von euch werden nicht mehr lange leben. Du bist jedoch ein besonderes Exemplar. Dich habe ich erst im dritten Anlauf tödlich verletzt und dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Trotz des Wissens um deinen Tod, hast du dich mir immer wieder in den Weg gestellt. Bemerkenswert. Eigentlich mutig und ich brauche bald Objekte wie dich. Aber deine Moral steht dir im Weg. Du bist untauglich. Dennoch belohne ich deinen Mut und bereite dir kein schnelles Ende - wobei das gnädig wäre - aber wie könntest du dann noch den Geruch und den Anblick des Todes und der Zerstörung um dich herum wahrnehmen? Nein, ich möchte dich die letzten Sekunden deines Lebens so genießen lassen.“

Damit drehte sich Eric um und wollte gehen, als die Frage, „Wer bist du?“, schwach hinter seinem Rücken zu hören war. „Nicht mehr der Eric, den du kanntest. In seinen Erinnerungen sehe ich ihn, sein Leben und eure Freundschaft. Aber das ist nur ein Nachhall seiner Seele, welche bereits entschwunden ist.“ Als er sich zu entfernen begann, hörte er zu seinem Erstaunen eine viel treffendere Frage: „Was bist du?“ Ohne sich umzudrehen, antwortete er: „Der Tod aller, die Zerstörung allen Lebens, das pure Böse oder auch ein Vertreter der Hölle auf Erden.“

Die Schritte entfernten sich langsam und schon bald war nichts mehr zu hören außer dem Feuer, das immer noch brannte. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis er tot war. Da sah er plötzlich, wie eine Frau neben ihm erschien, mit langen Haaren und einer weißen strahlenden Kleidung. Das Gegenteil zu den Farben der Zerstörung, die hier Einzug gehalten hatten.

Möglicherweise war er auch schon im Himmel? Wo kam denn sonst die Frau her?

Aber wieso war es ihm dann nicht möglich, sich zu bewegen?

„Bleibe ruhig, du machst es nur schlimmer“, ertönte eine sanfte Stimme neben ihm. Sie musste der Frau gehören.

„Wie?“, brachte er nur noch heraus, da ihm das Sprechen bereits zu schwer fiel, um vollständige Sätze zu formulieren.

„Ich bin hier, um dir eine Möglichkeit zu bieten. Höre mich an. Ich bin die Göttin Fortuna und gebiete über das Schicksal. Die Angst der Menschen war so mächtig, dass ein Durchgang zwischen der Hölle und der Erde entstand. Einige von uns haben versucht, den Durchgang zu verschließen und das formlose Böse aufzuhalten. Es ist uns nicht rechtzeitig gelungen und einige sind gestorben. Es kamen die Mächte des Bösen, Dämonen genannt. Nur die Mächtigsten von ihnen haben es geschafft. Und jetzt hat einer von ihnen in deinem Dorf die Möglichkeit ergriffen und den Körper eines Mannes übernommen. Das macht ihn nur noch gefährlicher.“

Sie hielt inne und bedachte ihre nächsten Worte genau. „Nicht einmal wir Götter konnten sie aufhalten. Ich konnte es nicht verstehen, bis ich es soeben erkannte:

Uns fehlt die Menschlichkeit und somit die Hingabe. Im Gegensatz zu euch kannten wir keinen Schmerz oder Verlust. Deshalb haben wir nicht die Eigenschaften entwickelt, wie ihr sie entwickelt habt. Aber eine Verbindung von unserer Macht mit eurer Hingabe und Leidenschaft kann ihnen Einhalt gebieten. Also biete ich dir Folgendes an:

Macht und ein langes Leben im Kampf gegen diese Dämonen. Ich werde dich und noch weitere unterstützen, soweit ich kann. Bist du damit einverstanden?“

Er hatte ihr zugehört und war nur noch erstaunt. Neben den Schmerzen breitete sich ein neues Gefühl der Hoffnung in ihm aus. Nach der Zerstörung, die er selbst gesehen hatte, war er bereit, ihr jedes Wort zu glauben. Aber warum hatte sie ihn ausgewählt?

„Warum ich?“

Sie nickte auf seine kaum hörbare Frage. „Du hast Mut bewiesen. Kampfgeist und Hingabe, obwohl du wusstest, dass du vermutlich sterben würdest. Du hast dein Leben gegeben und versucht, das der Überlebenden zu retten. Deshalb wähle ich dich. Entscheide dich nun, denn deine Zeit ist schon fast abgelaufen. Möchtest du dein Schicksal ändern und zu einem der Warriors of Fortune werden?“

Er nickte kaum merklich ein „Ja“, da er fast keine Kraft mehr hatte und ihm bereits wieder schwarz vor Augen wurde.

Plötzlich wurde sein Körper von einem warmen hellen Licht eingehüllt und er merkte, wie seine Sicht klarer wurde. Die Göttin kniete neben ihm und hielt ihre Hände über ihn, während sie etwas murmelte, das er nicht verstehen konnte. Dann erschien in einer ihrer Hände ein Messer aus dem Nichts und sie schnitt sich in die Handfläche. Sie legte ihre nun blutende Hand auf seine Wunden, und es begann sich eine eigenartige Wärme und ein Kribbeln in seinem Körper auszubreiten. Ein paar Sekunden später war alles vorbei, und er konnte sich sogar wieder aufsetzen. Erstaunt blickte er an sich herunter und sah, dass der lange tödliche Schnitt auf seinem Oberkörper und auch die anderen Wunden verschwunden waren! Es war also wirklich passiert.

Er blickte zu ihr auf und sie sprach noch ein paar Worte, bevor sie sich vor seinen Augen auflöste: „Erhebe dich, mein Warrior of Fortune, und vollbringe das, was wir Götter nicht konnten. Rette die Menschheit.“

Oh ja, da konnte sie sicher sein. Er würde kämpfen, bis keiner dieser Dämonen mehr übrig war.

Das schwor er sich in dem Moment, als er das brennende Dorf und sein bisheriges Leben hinter sich ließ und fortging.

Heute, 2010

Kapitel 1

„Hey, komm schon! Da läuft gerade unser Lieblingssong!“ Ungeduldig lief Sally hin und her. Sie stand auf diese Musik und seit sie und Elisabeth sich in der Schule gemeinsam durch den Volleyballkurs gequält hatten, waren sie beste Freundinnen.

„Ja, ich bin ja schon fertig!“, schrie Beth nun zurück.

Die Langform ihres Namens hatte sie noch nie gemocht. Deshalb kannte sie mittlerweile keiner mehr unter ihrem echten Vornamen. Nur Sally kannte ihn und wenn sie Beth ärgern wollte, benutzte sie ihn. Als Sally sich umdrehte und sah, dass sich die Tür geöffnet hatte, atmete sie erleichtert aus.

„Na endlich! Ich dachte schon, es vergehen noch 1000 Jahre, ehe du aus dem Klo rauskommst!“

Beth verdrehte die Augen und ging zum Waschbecken, um sich noch schnell die Hände zu waschen. Sie hatte sie noch nicht mal fertig abtrocknen können, da zog ihre Freundin sie schon raus auf den Gang und bewegte sich in Richtung Tanzfläche. Diese war ziemlich gut gefüllt. Kaum dort, mischten sie sich unter die Leute und tanzten zu den „Warriors of the world“. In der ganzen Diskothek hallten die Verse der berühmten Jungs von Manowar von den Wänden zurück. „Like thunder from the sky - Sworn to fight and die - We're warriors - Warriors of The World“. Nachdem die letzten Töne verklungen waren, suchten sich die zwei eine freie Bank und beobachteten die Menge, die noch auf der Tanzfläche geblieben war.

„Also der da drüben ist doch nicht schlecht, oder?“, richtete sich Sally an Beth. Doch Beth war in ihren Gedanken versunken und hörte sie nicht. Ihre Gedanken schweiften um alles Mögliche.

Um ihr Studium und darum, warum ihre Beziehungen nie funktionierten. Nein sie musste sich korrigieren. Die zwei Beziehungen, die sie bis jetzt gehabt hatte, hatten nur 4 und 6 Wochen gehalten. Irgendwas stimmte da nicht. Klar, sie war schüchtern, was die Leute gar nicht glauben wollten, aber dennoch! Sie freute sich für die anderen und war immer gut gelaunt. War sie einmal schlecht gelaunt, dann merkte es niemand, da sie es gekonnt überspielte. All die Jahre hatte sie niemand traurig oder sauer erlebt. Eigentlich ging es ihr ja auch gut. Aber mit 22 Jahren immer noch Single zu sein – und das schon seit Langem – kam ihr nicht normal vor.

„Hey, hast du mir überhaupt zugehört?! Ich sagte gerade, dass der eine Typ da drüben, den du mir vorhin gezeigt hast, schon wieder so hierher starrt!“ riss Sally sie aus ihren Gedanken.

„Was … Ach ja, schon komisch. Der stand da auch schon vor einer Stunde. Und wolltest du nicht schon vor einer Viertelstunde zu deinem Freund kurz mal hinschauen?“

„Stimmt! Ich bin gleich wieder da!“, meinte Sally und schon war sie auf dem Weg zu ihrem Schatz. Als Beth ihren Blick wieder auf die andere Seite der Tanzfläche richtete, konnte sie nur noch die Wand sehen. Der Typ war plötzlich weg. Verwirrt irrten ihre Augen noch eine Weile umher, doch sie konnte ihn nicht mehr sehen. Wie vom Erdboden verschluckt. Schon irgendwie eigenartig, dachte sie, gerade vor einer Sekunde war er noch da gewesen. So schnell konnte er doch nicht aus ihrem Sichtfeld verschwunden sein. Oder etwa doch? Vielleicht hatte er aber auch bemerkt, dass sie und Sally ihn beobachtet hatten und es war ihm unangenehm gewesen. Also war er mal schnell davongeeilt. Sein Gesicht hatte sie nicht genau erkennen können, doch er musste ziemlich gut aussehen. Mit seinen langen welligen dunklen Haaren und den Lederklamotten sah er wirklich nicht übel aus. Er schien auch ziemlich groß zu sein. Sicher mindestens 1,85 m. Und absolut sicher wartete daheim schon sehnsüchtig seine Freundin auf ihn.

Solche Kerle hatten doch immer eine Freundin. Bestimmt eine voll dumme Kuh. Irgendwie war es ja immer so, dass die gut Aussehenden die hässlichen oder zickigen Mädels abkriegten und andersrum. Aber Beth bemerkte fast nie jemand. Es kam sehr selten vor, dass sie jemand ansprach. Und wenn, dann waren es nur Männer, die ihr schon viel zu alt waren und ihr Vater hätten sein können. Das brauchte sie nun wirklich nicht.

„Hi, willst du einen Drink?“, stupste sie jemand an und als sie aufblickte, sah sie ihren Verehrer.

„Nein danke, mein Freund wäre darüber nicht sehr erfreut!“, wehrte sie ihn ab und stand auf, um Sally zu suchen. Das fehlte noch. Natürlich, diese Gruppe hatte sie ja fast schon vergessen. Die total besoffenen Jungs, die meinten, mit ihrer Alkoholfahne unwiderstehlich zu sein. Für diese benutzte sie auch immer ihre freundliche Ausrede, ihr Freund würde es nicht gerne sehen. Sie wollte die Leute einfach nicht mit einer unfreundlichen Äußerung abwimmeln, sondern etwas Nettes sagen.

Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge, um ihre Freundin zu finden. Es war schon kurz vor zwei Uhr nachts, aber es war immer noch viel los. Sie konzentrierte ihren Blick auf die Menschenmenge und versuchte ihre Freundin darin auszumachen. Als sie sie nahe dem Notausgang mit ihrem Freund sah, schlug sie diese Richtung ein. Nach einer Minute hatte sie es geschafft und versuchte das Paar voneinander zu lösen.

„Ach … sorry, hast du lang auf mich gewartet? Ich wollte gleich wieder kommen“, versuchte Sally sich zu entschuldigen.

„Hey, nein, passt schon. Es waren nur fünf Minuten. Ich bin jedenfalls gekommen, um dir zu sagen, dass ich jetzt gehe.“

Schnell verabschiedete sie sich auch noch von Sallys Freund, und als sie ihnen den Rücken zudrehen wollte, konnte sie es sich nicht verkneifen, Sally zuzuflüstern: „Ihr beiden werdet mich doch nicht vermissen, oder? Ich glaube, ihr kennt ja gute Beschäftigungen, falls es euch ohne mich langweilig wird.“

Und mit einem Augenzwinkern machte sie sich auf, in Richtung Eingang, um auf dem Weg nach draußen ihre Lederjacke mitzunehmen.

Pink, grün, weiß, gelb und in vielen anderen Farben schillerte die Tanzfläche. Die jungen Leute blitzten in diesem bunten Farbenmeer. Es schien sie nicht einmal zu verwirren, dass der Wechsel teilweise nicht einmal in Sekunden gemessen werden konnte. Von Zeit zu Zeit wurden sie auch vollständig von dem weißen Kunstnebel verhüllt. Es sah dann aus, als ob sie durch eine Nebelwand liefen.

Sein Blick realisierte all das und schweifte weiterhin über die Meute auf der Tanzfläche. Alle wirkten auf eine gewisse Art und Weise gleich. Klar, sie hatten unterschiedliche Tanzstile, aber sie waren sich alle ähnlich. Sie kamen hierher, um zu der gleichen Musik Spaß zu haben. Sie wollten Abstand vom Alltag bekommen und ihre Sorgen vergessen, falls sie welche hatten. Was man nämlich nicht sehen konnte, war, wie es in ihrem Inneren aussah.

Meistens war es durch ihre Mimik und Gestik leicht erkennbar. Dennoch wusste niemand, um was genau sie sich in diesem Moment Sorgen machten, oder was sie verärgerte. Ob sie in ihrem Job wohl Erfolg hatten? Oder, wenn sie noch zur Schule gingen oder studierten, würde ihr Abschluss erfolgreich sein? Würde der Dozent ihre Arbeit gut bewerten, oder würde es eine Themaverfehlung werden und sie müssten den Kurs erneut belegen? Wann würden sie endlich den passenden Partner finden, wenn es ihn geben sollte? Würde ihr Leben immer so bleiben, oder würde sich etwas in absehbarer Zeit verändern?

Er schaute weiter und richtete seinen Blick auf die Bank auf der anderen Seite des Raumes, wo sich Beth und Sally unterhielten. Vorhin waren sie noch auf der Tanzfläche gewesen, aber jetzt hatten sie ebenfalls die Rollen getauscht und aus den zwei Tänzerinnen waren Beobachterinnen geworden.

Nachdem die zwei Mädchen bemerkt hatten, dass er in ihre Richtung geschaut hatte, musste er sich abwenden. Die zwei waren ihm schon früher aufgefallen. Vor allem die etwas Kleinere. Er schätzte sie auf knapp 1,65 m, was nicht so leicht war, da ihre Stiefel sie noch etwas größer machten. Sie lachte viel, wenn sie mit ihrer Freundin unterwegs war, und wenn sie auf der Tanzfläche war, konnte sie sich auch gut zu der Musik bewegen. Das gefiel ihm. Ebenso wie das Blitzen ihrer Augen, wenn sie dem Mädchen neben ihr etwas ins Ohr flüsterte oder sie sich anhand von Blicken ohne ein Wort verständigen konnten.

Allerdings schien sie von der nachdenklichen Sorte zu sein. Zumindest, wenn er sie alleine sitzen sah. Dann schweifte ihr Blick ins Unergründliche und schien durch die Leute hindurchzuschauen. Fast hätte er sich ein Grinsen verkneifen müssen, als dieser betrunkene Tölpel etwas von ihr wollte und sie ihn freundlich abwies, da sie angeblich vergeben war. Er glaubte jedenfalls, dass es nur eine Ausrede war. Auf ihn machte sie den Eindruck, als wäre sie an niemanden gebunden. Aber sie hatte ihn vorhin bemerkt. Sie konnte ihn nicht genau gesehen haben, da sie mindestens 20 Meter voneinander entfernt waren, und durch die schlechte Beleuchtung wirkte der ganze Laden hier etwas düster. Zumindest mal abgesehen von der erleuchteten Haupttanzfläche, wo die jungen Leute sich gegenseitig anrempelten, um auch noch etwas Platz zum Tanzen zu ergattern. Sie konnte ihn jetzt nicht mehr sehen, da er nun total im Schatten stand.

Er schalt sich selbst, da es nicht so weit hätte kommen dürfen, dass die beiden ihn hier bewusst wahrnahmen. Schließlich war seine oberste Regel, nicht aufzufallen. Obwohl ihm das zugegebenermaßen in dieser Situation schwerfiel. Aber am nächsten Tag hätte sie ihn sowieso schon wieder vergessen und würde sich sicher nicht daran erinnern, dass da irgendjemand gewesen war. Dessen war er sich zumindest in diesem Moment sicher. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es an der Zeit war, zu gehen.

„Komm gut nach Hause, Beth!“, verabschiedete sich der Türsteher noch von ihr.

„Ich … immer doch! Kennst mich ja“, meinte sie mit einem Lächeln.

Sie unterhielt sich noch kurz mit Dave. Er war in ihrem Kurs „Neue Deutsche Literaturwissenschaft“, und musste ebenso wie sie in diesem Hauptseminar eines dieser nervigen Referate halten. Aber so war es nun einmal, ohne Referat kein Schein, und ohne Schein galt der Kurs als nicht bestanden. Hart für manche, aber da musste man durch. Da Dave von weither kam, musste er sich etwas für seine Wohnung hier dazuverdienen. Und was bot sich da besser an, als abends Türsteher zu sein? Er war zwar kein Zwei Meter-Riese, aber er strahlte auf eine besondere Art und Weise Respekt aus, sodass ihm bis jetzt keiner Probleme bereitet hatte.

Danach setzte sie ihren Weg fort und überquerte den riesigen Parkplatz, da ihr Auto auf der anderen Seite stand. Genauer gesagt in der Nähe mehrerer Seitenstraßen. Im Gegensatz zu dem Parkplatz waren diese gar nicht beleuchtet. Als sie an ihrem Auto ankam und ihre Tasche auf die Rückbank warf, meinte sie etwas scheppern gehört zu haben. Sie hielt kurz inne, doch als nach ein paar Sekunden nichts zu hören war, setzte sie sich in ihr Auto.

Gerade wollte sie die Tür zuschlagen, als sie erneut etwas hörte. Es war nicht so ganz eindeutig zu beschreiben. Aber sie war sicher, dass es aus der Seitenstraße nahe ihres Autos gekommen war. Also stieg sie entschlossen wieder aus, schloss ihren Wagen ab und steckte den Schlüssel ein.

Was war, wenn es ein hilfloses Kätzchen war, das vielleicht in eine Tonne gefallen war, und nicht mehr von alleine rauskam? Es war schließlich Anfang Juni und im Frühjahr bekamen viele Katzen ihre Jungen. Und diese jungen Kätzchen waren von Natur aus so neugierig, dass sie öfters in Schwierigkeiten gerieten und ihnen geholfen werden musste. Sie dachte an ein Ereignis vor zwei Jahren und erinnerte sich an das schwarze Kätzchen, dem sie damals geholfen hatte. Es war ebenfalls hier in einer dieser Seitenstraßen in ein Loch gefallen und kam nicht mehr von alleine raus. Es musste damals schon über zwei Tage da dringesteckt haben, da es ganz schwach aussah und sich bis auf ein leises Miauen fast nicht mehr rühren konnte. Sie hatte es herausgehoben und dann auf den Boden gesetzt. Sie dachte damals, dass es zu seinem Besitzer zurücklaufen würde, und war nach Hause gefahren. Aber am nächsten Tag war sie mittags hergekommen, da sie ein so eigenartiges Gefühl gehabt hatte.

Im Nachhinein hatte sie dadurch der kleinen Schwarzen das Leben gerettet, da diese immer noch dasaß, wo sie sie hingesetzt hatte. Sie konnte sie nicht so zurücklassen und hatte sie zum Tierarzt gebracht. Dieser fand heraus, dass sie vermutlich ausgesetzt worden war und konnte noch leichte Schwellungen am Rücken ausmachen. Sie war sogar geschlagen worden! Und als das Kätzchen sie aus den kleinen treuen Augen so hilflos angeblickt hatte, hatte sie es bei sich aufgenommen und aufgepäppelt. Sogar einen Zettel mit Abbildung hatte sie aufgehängt, falls die Kleine jemandem gehören sollte. Doch es hatte sich niemand gemeldet. Innerlich war sie über jeden Tag froh gewesen, der ohne Anruf verstrichen war. Sie hatte als Katzenliebhaberin die Kleine längst in ihr Herz geschlossen. Und sie hätte sie nur hergegeben, wenn sie hätte sicher sein können, dass es nicht der Besitzer gewesen war, welcher ihr die Verletzungen zugefügt hatte.

Bis jetzt waren keine Anrufe eingegangen, und es waren über 2 Jahre vergangen und sie würde ihre Katze jetzt um keinen Preis mehr hergeben. Außerdem waren ihre Zettel auch schon längst abgehängt worden.

Als sie nun ein paar Schritte auf die Seitenstraße zuging, konnte sie jemanden fluchen hören.

„Du verdammter Scheißkerl, dir werde ich es zeigen! Gleich gehen deine Lichter aus!“ Das hörte sich gar nicht gut an, dachte sie bei sich, und als sie beschloss, lieber schnell hinzurennen, bot sich ihr ein schrecklicher Anblick!

Ein Kerl wurde gerade durch die Luft geschleudert und krachte gegen einen Müllcontainer. Wow, der war mindestens zwei Meter durch die Luft geworfen worden! Er prallte ab und kam auf dem Rücken am Boden auf, wo er auch für einen Moment außer Gefecht zu sein schien.

Der andere Kerl, der sich jetzt auf ihn zubewegte, sah wirklich furchteinflößend aus. Seine Augen waren schwarz wie die Nacht, aber die Haut schien fast eingesunken zu sein und er hatte eindeutige Augenringe. So, als ob er tagelang nicht geschlafen hatte. Nur, dass diese einen weißen Farbstich hatten. Waren sie normal nicht eher dunkler? Und sein Mund schien auch nahezu weiß zu sein. Als ob er jegliche Farbe verloren hätte. Und als wäre das nicht schon genug, wirkten seine Gesichtszüge hart und Angst einflößend. Zusätzlich, als wäre er noch nicht ausreichend unheimlich, verzogen sich die Lippen zu einem hinterhältigen Grinsen, welches ihn eiskalt erscheinen ließ, während er auf den Mann am Boden zuging. Außerdem trug er eine schwarze Hose und dazu einen schwarzen Rollkragenpulli. Seine dunkelblaue Jacke war halb geöffnet und etwas in der Innentasche blitzte auf. Beth glaubte ihren Augen nicht trauen zu können, als er blitzschnell ein Messer aus eben dieser Tasche herauszog.

Weder der eine noch der andere schien sie bemerkt zu haben, was eigentlich gut war. Noch hatte sie die Möglichkeit, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Doch für sie kam es nicht in Frage, davonzurennen.

Sie könnte nicht mit dem Wissen leben, dass sie einen Mord zugelassen hatte.

Nicht, wenn sie ihn vielleicht verhindern konnte.

Angesichts des Schaubildes, welches sich ihr bot, war sie sich zumindest des bevorstehenden Mordes sicher.

Also handelte sie.

„Hey!“, rief sie, „Weg von ihm!“

Überrascht wandte ihr der potenzielle Mörder sein Gesicht zu. Nun sah sie, dass auch seine rechte Gesichtshälfte bereits angeschwollen war und Blut von dieser auf seine Jacke tropfte. Sein braunes Haar - oder war es rötlich, sie konnte sich nicht entscheiden, - hing ihm wirr ins Gesicht. Er sah so gleich noch viel schrecklicher aus und einen Moment lang wünschte sie sich woandershin. Außerdem hätte sie nicht geglaubt, dass sein dämliches Grinsen noch mörderischer werden konnte.

Aber sie wurde eines Besseren belehrt.

Nach ihrem Ruf hatte er sich sofort wieder gefasst.

Ebenso wie der Mann auf dem Boden, der sich zu regen begann. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, da es von seinen dunklen Haaren verdeckt wurde. Und dann geschah alles ganz schnell. Während der Mann am Boden seinen Kopf in ihre Richtung drehte, die Haare zur Seite fielen und seine Augen wütend und erstaunt zu funkeln schienen, kam der andere auf sie zu und lachte:

„Na, das wird ja immer besser! Erst muss er zusehen, wie ich dich aufschlitze, und dann schlitze ich ihn auf, während er sich Vorwürfe macht, dass er nicht mal ein Schulkind retten konnte!“

Seine Stimme hatte einen schrecklichen, hallenden Klang. Doch sie ließ sich davon ebenso wenig ablenken wie von seiner Aussage. Sie als Schulkind zu bezeichnen! Das war sein erster Fehler, schwor sie sich! Sie studierte doch bereits im 7. Semester!

Als er nur noch zwei Meter entfernt war, holte er mit dem Messer aus und wollte auf sie einstechen. Doch er hatte sie unterschätzt. Blitzschnell war sie auf die Seite gesprungen und der Stoß ging ins Leere.

Aber seine Verblüffung darüber, dass er sein Ziel verfehlt hatte, hielt nicht einmal eine Sekunde. Beth jedoch war total konzentriert und konnte ihm mit einem gut gezielten Rundkick das Messer, noch während er sich drehte, aus der Hand schlagen. Durch ihre Stiefel mit Blockabsatz hatte ihr Kick noch mehr Kraft und eine härtere Schlagoberfläche als in ihrem Training. Als sie ihren Kick beendet hatte und wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand, befand sie sich auch schon wieder in Kampfstellung. Ihr Vorteil des Überraschungsmomentes war damit jedoch auch schon vorbei, da ihr Gegner nun wusste, dass sie nicht das typische Opfer war. Also setzte sie noch einen kraftvollen Sidekick hinzu, der ebenfalls zu einem Treffer in der Nierengegend wurde.

Trotzdem schien es ihr Gegenüber nicht sonderlich zu beeindrucken. Jedenfalls verzog sich sein Gesicht nicht schmerzerfüllt. Nur seine Augen schienen noch dunkler zu funkeln als zuvor und er holte mit seiner rechten Faust aus, um sie ihr ins Gesicht zu schlagen.

Doch sie konnte die Faust mit einem Rundblock abwehren und als sie die ersten Schmerzen in ihrem Unterarm spürte, war sie umso beruhigter, dass der Schlag nicht ihren Kopf getroffen hatte.

Jedoch hatte sie mit dem Block nur eine weitere Abwehrtechnik angefangen.

Dadurch, dass sie ebenfalls mit ihrem rechten Arm von außen nach innen blockte, drehte sie sich weiter, sodass sie Seite an Seite standen, und sie schlug ihm mit dem ausgestreckten linken Arm so fest ihre Handkante von hinten in den Nacken, dass er nach vorne stolperte. Nun stand er mit dem Rücken zu ihr und sie war erneut in Kampfstellung hinter ihm. Und Fairness hin oder her - hier ging es ja schließlich um ihr Leben - sprang sie mit dem rechten Bein nach oben, um noch mehr Schwung und Kraft für den dazugehörenden gesprungenen Kick mit dem linken Fuß zu bekommen. Sie verlieh ihrem Kick noch zusätzlich Kraft durch ihren geschrienen Kampfschrei.

Jedenfalls waren ihre Trainer davon überzeugt und prägten es ihnen immer so ein. Ihr linker Kick traf ihren Gegner hart am Rückgrat, doch dieser fiel erneut nicht zu Boden. Er hatte sein Gleichgewicht so schnell wiedergefunden, dass er nur nach vorn taumelte und sich gleichzeitig umdrehen konnte. Sein Grinsen war ihm nun vergangen und er kniff wütend die Lippen zusammen. Sie standen sich nun wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Er aufrecht und sie in Abwehrhaltung. Sie blickten sich gegenseitig in die Augen, und sie dachte bei sich, dass sie diesen Blick nie mehr vergessen könnte. Diesen Blick und die in seinen Augen glitzernde Mordlust.

Als Beth nun rechts einen Schritt nach vorne machte und sich gleichzeitig um die eigene Achse drehte, wollte sie ihn erneut mit einem Kick des linken Fußes treffen. Doch ihr Schlag ging ins Leere, denn in dem kurzen Moment, in dem sie ihn nicht sehen konnte, hatte er sich ebenfalls von der Stelle bewegt und war aus ihrer Reichweite herausgesprungen. Als sie ihren Oberkörper ihm zuwandte und erneut zu einem Kick ausholen wollte, folgte ein von ihm ausgeführter Kick, der sie schmerzlich traf. Sie hatte zwar ihre Arme schützend vor ihrem Körper, um mögliche Schläge abwehren zu können, aber der Kick war zu stark. Durch das Leder ihrer Jacke hindurch konnte sie die Wucht nur zu gut spüren. Sie konnte dem Kick mit ihrem Block zwar etwas von seiner Kraft nehmen, sodass er nicht direkt auf ihren Brustkorb traf, aber trotzdem wurden ihre Arme an ihren Oberkörper gedrückt und die Wucht breitete sich auf ihrem Brustkorb so weit und schnell aus, dass sie nach hinten geschleudert wurde. Sie schlug gegen die Wand hinter ihr und sank auf den Boden. Der Stoß hatte ihr den Atem aus ihrer Lunge gezogen und ihr wurde kurz schwarz vor Augen.

Als er sie nach ihrem Ruf gesehen hatte, war er zuerst erstaunt gewesen. Das war das Mädchen, welches ihm auf der Tanzfläche aufgefallen war.

Sie stand unscheinbar am Ende der Gasse in ihren Stiefeln, mit erstaunlicherweise nur wenigen Zentimeter Absatz, dem schwarzen Minirock und der Lederjacke. Hinter ihr der schwache Schein einer Straßenlampe. Ihre langen Haare wurden vom Wind nach hinten geweht. Dennoch drückte ihre Haltung eine selten zu beobachtende Entschlossenheit aus.

Als sich sein Kampfgegner ihr zuwendete und ihr drohte, sah er nur für einen kurzen Moment ein erschrockenes Aufblitzen in ihren Augen. Es verschwand aber wieder so schnell, wie es gekommen war und ihr Blick wurde berechnend. Als sie ihm kurz in die Augen sah, wollte er sie mit seinem Blick dazu bewegen, abzuhauen, aber sie wandte sich nur wieder dem anderen Kerl zu. Sie hätte diese Chance nützen sollen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Er wollte nicht an ihrem Tod schuld sein. Dies machte ihn noch wütender, als er sowieso schon war. Seine Hand hatte er schon fast an seinem linken Stiefel und er wollte gerade sein Wurfmesser herausziehen, um ihn so zu erledigen. Er wusste nicht, ob er schnell genug gewesen wäre, aber er hätte die Situation schon wieder unter Kontrolle gebracht. Es hatte bis jetzt immer geklappt. Und wenn nicht, dann wäre er eben im Kampf gestorben. So einfach war das.

So überraschend ihr Auftauchen gewesen war - es hatte ihn noch mehr überrascht, dass sie ihn ohne Mühe hatte entwaffnen können.

Dann hatte sie ihm eine ganz schöne Folge an gezielten Treffern beschert. Es war unglaublich gewesen. Diese Typen zeigten es zwar selten, wenn sie Schmerzen hatten, aber er war sich sicher, dass dieser hier welche haben musste. Das wusste er aufgrund seiner Erfahrung. Dieser spielte zwar den Schmerzlosen, aber er wusste, dass dem nicht so war. Er hatte schon ziemlich viel eingesteckt, was er an seiner Haltung erkennen konnte.

Gerade als er dachte, das Unmögliche würde geschehen und sie würde als Siegerin hervorgehen, wurde sie von ihrem Gegner überrascht und an die Wand geschleudert. Der Schmerz stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Er war sich sicher, dass es nun vorbei war. Bei dem Kick musste sie sich einige Rippen gebrochen haben und ihre Arme mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls. Als er sie an dieser Mauer unten liegen sah, bedauerte er, dass sie wohl ein weiteres namenloses Opfer war, das nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Nein, musste er sich korrigieren, ihren Namen kannte er. Und ihr Gesicht würde er ebenso wie ihren Auftritt vorhin nie vergessen können. Sie wusste nicht, dass er selbst vorhin wahrscheinlich sogar gesiegt hätte, deshalb beeindruckte es ihn umso mehr, dass sie sich dazu berufen gefühlt hatte, ihm sein Leben zu retten. Überleben würde er jetzt auf jeden Fall, es war nur so, dass sie ihr Leben für seines gegeben hätte. Das erschien ihm nicht fair.

Nun konnte er sehen, wie der Mann sich zu ihm wandte, das Messer hochhob und ihm zubrüllte: „Jetzt bezahlt die widerliche Schlampe mit ihrem Leben dafür! Ich könnte mir noch bessere Sachen mit ihr vorstellen, aber sie ist eh schon so gut wie tot!“

„Nein!“, schrie er entsetzt, als er sah, wie der Angreifer nun vor ihr stand und das Messer sich auf sie zu bewegte, während er selbst gleichzeitig vom Boden aufsprang.

Doch urplötzlich war ihr Körper in Bewegung und sie rollte sich blitzschnell an ihrem Angreifer vorbei und stand sogleich hinter ihm. Sie holte ebenso schnell mit ihrem Kick aus, wie sie aufgestanden war, und beförderte ihn mit einem kraftvollen Stoß an die Wand, an die sie zuvor geschleudert worden war.

Der Mann mit dem Rollkragenpulli musste ebenso erstaunt gewesen sein wie er selbst, denn er krachte gegen die Wand, verlor seinen Halt und sank zu Boden. Nahezu zeitgleich bildete sich eine rote Lache neben der Schulter des Angreifers. Er blieb bewegungslos liegen.

Beth blieb vor der Wand stehen und er erkannte, dass sie das Blut beobachtete, während es sich immer weiter ausbreitete. Sie schien nicht mehr aufrecht stehen zu können, und hielt sich die Arme vor ihrem Körper.

So fasziniert er über diese überraschende Wendung war, besaß er dennoch die Geistesgegenwärtigkeit, seine Klinge wieder im Stiefelschaft verschwinden zu lassen. Nicht dass sie ihn auch noch für einen Mörder hielt. Obwohl das ja nicht unbedingt so falsch gewesen wäre. Aber er zählte sich selbst zu den Guten.

Langsam drehte sie sich um und blickte zu ihm.

Er konnte sich den Blick in ihren Augen schwer erklären.

Vielleicht war es Fassungslosigkeit, er war sich nicht sicher.

Nur eines wusste er mit Bestimmtheit: Jeder andere Mensch an ihrer Stelle wäre nicht mehr aufgestanden, sondern ein Fall für das Krankenhaus gewesen. Geschweige denn, dass eine andere Person den Kerl mit diesen Treffern zuvor so hätte schwächen und am Schluss hätte zu Fall bringen können.

Es war ihm ein Rätsel, woher ihre Stärke kam. Aber er erkannte plötzlich im Blick ihrer Augen, dass sie sich ihrer Stärke nicht bewusst war. Sie kam humpelnd auf ihn zu und er meinte, in ihrem Gesicht den Schmerz ablesen zu können, den sie empfinden musste. Aber sie ließ sich nichts anmerken.

Sie jammerte nicht und vergoss nicht eine Träne. Er konnte nicht umhin, sie zu bewundern.

Als sie vor ihm stand und ihm noch immer in die Augen sah, konnte er nur ahnen, wie verwirrt sie war. „Alles okay bei Ihnen?“, fragte sie ihn und er hörte erst zum zweiten Mal bewusst ihre Stimme, ohne den Lärm der Musik. Ihrer Stimmlage konnte er ein leichtes Zittern entnehmen. Dennoch klang sie wundervoll in seinen Ohren. Obwohl er sich vorgenommen hatte, nett zu sein, brachte er nur ein raues „Ja, aber du hättest dich da niemals einmischen dürfen“ heraus.

Sofort schalt er sich, denn er hätte es doch auch anders formulieren können.

Andererseits wäre es für sie das Beste, wenn sie das alles hier vergessen würde. Außerdem kannten ihn alle nur als den harten, ruhigen Kerl, der, wenn er sich äußerte, kalt auf alle Fragen antwortete. Und das war auch gut so. Er hatte seit Langem dieses Image und wollte es auf keinen Fall zerstören. Bereits vor langer Zeit hatte er gelernt, seine Gefühle nicht mehr zu zeigen, und hatte sich allen um ihn herum immer mehr verschlossen. So war er nun mal. Es ärgerte ihn schon, dass er in der Disco so viel Aufmerksamkeit für dieses Mädchen gezeigt hatte.

Das war sein erster Fehler gewesen.

Er würde auch dafür sorgen, dass es sein Letzter blieb.

Als er merkte, dass sie einzuknicken drohte, hielt er sie grob am Oberarm fest.

„Ein freundliches Danke, dass Sie mein Leben gerettet haben, hätte es auch getan. Lassen Sie mich jetzt los“, fuhr sie ihn wütend an. Was bildete der sich denn überhaupt ein? Nur weil er nicht schlecht aussah, war das noch lange kein Grund, Boss zu spielen.

„Nein, du hast nur Glück gehabt!“

„So? Glück nennen Sie das? Und hören Sie auf mich zu duzen, wir kennen uns nicht und ich bin kein Schulkind mehr, auch wenn der das gemeint hatte!“, funkelte sie ihn wütend an und wies mit dem anderen Arm auf die Wand.

„Oh mein Gott! Wo ist er? Ich dachte, er sei tot!“, setzte sie sogleich entsetzt hinzu, als ihr Blick auf die Blutlache ohne Opfer fiel.

Und dann wurden ihr ihre Worte bewusst.

Sie hatte ihn fast umgebracht.

Es war zwar sein eigenes Messer gewesen, aber sie hatte ihn an die Wand geschleudert, sodass sich die Klinge in sein eigenes Fleisch gebohrt hatte. „Was habe ich bloß getan?“, flüsterte sie fast tonlos und sank entsetzt an seine starke Schulter.

„Er wollte dich töten. Das war nur reine Notwehr. Du hattest jedes Recht dazu“, beruhigte er sie, während sein Blick umherwanderte. Er lebte noch und hatte entkommen können, ohne dass er es gemerkt hatte. Aber er war nicht mehr in der Nähe. Nur noch die Tropfen der Blutsspur waren zu sehen und er dachte bei sich, dass er sie auch noch später verfolgen könnte.

Als er spürte, wie sie sich schwach gegen ihn lehnte, wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Wie lange war es her gewesen, dass er ein Mädchen in seinen Armen gehalten hatte?

Er dachte lieber nicht darüber nach. Es erfüllte ihn sonst nur noch mit Trauer. Eines der Gefühle, die er nie wieder fühlen wollte.

Er blickte auf ihren Kopf herunter, der an seiner Schulter lehnte. Sie war ein ganz schönes Stück kleiner und ging ihm nur bis an seine Schulter. Er löste seinen groben Griff und legte unsicher, aber diesmal sanft die Arme um ihren Rücken und hielt sie einfach nur. Er wusste nicht, wie lange sie so dastanden.

Waren nur Sekunden oder sogar Minuten verstrichen? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Er wusste nur, dass es ihm wie eine Ewigkeit vorkam.

„Alles wieder okay?“, fragte er nun und war selbst erstaunt, dass seine Stimme diesmal sanft klang.

Sie war anscheinend ebenso überrascht, als sie zu ihm hochblickte, und sich langsam aus seinem Griff löste.

„Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich jetzt nach Hause will“, antwortete sie ihm nun leise.

„Soll ich dich nicht lieber zu einem Arzt bringen? Ich kenne jemanden, der um diese Uhrzeit noch wach ist und dir helfen kann“, gab er zu bedenken. Es war ihm nicht recht, sie allein nach Hause fahren zu lassen. Klar, er hätte sie nicht zu einem normalen Arzt gebracht, das hätte nur Fragen aufgeworfen, die er lieber vermeiden wollte. Aber er hätte sie zu der Wohnung seines Kumpels gebracht, nahe ihrem Stützpunkt.

Es war einfach unglaublich, dass sie nach all dem noch stehen konnte und sich wahrscheinlich sogar nichts gebrochen hatte. Von so etwas hatte er noch nie gehört. Noch nie.

Deshalb wollte er sichergehen und sie untersuchen lassen.

„Nein, danke, aber es ist nichts, was sich nicht durch eine Dusche und eine schmerzlindernde Salbe beheben lässt“, entgegnete sie und versuchte zu lächeln, um ihre Worte zu unterstreichen.

„Bist du wirklich sicher?“

„Ja, klar. Ich brauche wirklich keinen Arzt.“

„Na gut, dann fahre ich dich heim“, wollte er einlenken. Wenn sie schon keinen Arzt wollte, dann würde er sie die Fahrt über beobachten, um sicherzugehen, dass keine Spätfolgen auftraten.

Entschlossen bewegte er sich auf den Parkplatz zu und wollte eine Richtung einschlagen, die von ihrem Auto wegführte. Er würde sie nicht ohne Begleitung nach Hause fahren lassen. Obwohl ihre Schritte schon wieder sicher waren, würde er sie nicht allein lassen. Seinetwegen wäre sie um ein Haar gestorben. Ein weiteres Risiko würde er nicht eingehen.

„Sie glauben doch nicht, dass ich bei einem Fremden mitfahre, oder? Nach dem, was gerade passiert ist? Nein, ich fahre selber. Mein Auto steht dort.“ Mit diesen Worten brachte Beth ihn dazu, stehen zu bleiben.

„Aber in deinem Zustand kannst du nicht fahren“, meinte er ruhig.

„Aber klar, dann gilt das ebenso für Sie“, erwiderte sie angriffslustig.

„Wieso? Du wurdest von ihm fast K.O. geschlagen.“

„Sie vor mir ebenfalls, also Gleichstand. Ich fahre. Ende der Diskussion.“

Entschlossen riss sie sich los und ging zu ihrem Auto. Als sie den Schlüssel im Schloss umdrehte und die Tür aufmachen wollte, war er plötzlich wieder neben ihr. Ganz beiläufig lehnte er sich gegen die Fahrertür, sodass es ihr unmöglich war, die Tür zu öffnen. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie an der Tür ohne Erfolg zog. Anscheinend strengte es ihn keineswegs an, die Tür geschlossen zu halten.

„Also?“ Sie sah ihn fragend und genervt an. Es war ja nett gemeint, falls er sich wirklich Sorgen machte. Aber dessen konnte sie sich einfach nicht sicher sein. Erst war er kühl ihr gegenüber gewesen, dann nett, dann wollte er sagen, wo es lang ging. So ging es einfach nicht.

„Kann ich jetzt endlich einsteigen?“ Diese Frage hatte Beth zwar eher rhetorisch gemeint, aber er dachte wirklich angestrengt darüber nach.

Er konnte sie doch jetzt nicht Autofahren lassen. Was, wenn sie sich doch etwas gebrochen hatte und plötzlich die Schmerzen kamen, während sie durch die Nacht fuhr und dann einen Unfall baute? Er konnte sich doch nicht einfach so aus dem Staub machen? Nein, aber er konnte es ihr nicht übel nehmen, wenn sie alleine sein wollte. Na gut, dann sollte sie eben fahren.

„OK. Aber ich fahre hinter dir und wenn was ist, dann bin ich sofort da“, schlug er nun vor.

Sie schien es sich wirklich gut zu überlegen. „Als ob sie eine Wahl hätte“, dachte er bei sich. Wenn er sich was in den Kopf setzte, zog er es auch durch. Da gab es kein Wenn und Aber. „Na gut“, willigte sie schließlich ein, und endlich konnte sie einsteigen. Er schlug die Tür zu und ging schnell zu seinem Wagen. Als sie sah, dass er bereit war, legte sie den ersten Gang ein und fuhr los.

Immer wenn sie in den Rückspiegel schaute, konnte sie ihn sehen. Er fuhr unentwegt im exakt gleichen Abstand. Er nahm seine sich selbst auferlegte Aufgabe anscheinend wirklich ernst. Die Stirn runzelnd schaltete sie ihr Radio ein und drehte den Rocksender laut auf. Sie wollte sich endlich etwas entspannen und einen freien Kopf bekommen.

„Das war heute ja wirklich alles hart gewesen“, dachte sie bei sich. Der Typ hatte übel was einstecken können. Aber was noch verwunderlicher war, war, dass er plötzlich verschwunden war. Und wieso war es überhaupt zwischen den beiden zu einem Kampf gekommen? Wirklich komisch. Aber was soll‘s, sie würde es eh nie herausfinden, weil sie dachte, keinen der beiden jemals wiederzusehen.

Zumindest hoffte sie das.

Dass sie dann fast noch zusammengebrochen war und er sie hatte halten müssen, fand sie am schlimmsten.

Diese Schwäche!

Noch schlimmer als der Moment, als sie am Boden lag und dachte es wäre vorbei. Aber genau die paar Sekunden, die der Typ über ihr damit zugebracht hatte, zu erzählen, wie toll es wäre, sie nun endlich töten zu können, hatte sie gebraucht, um noch ein letztes Mal an ihre Kraftreserven zu gehen und das Blatt wenden zu können.

Aber sie wusste: Wäre der Kerl nicht so dumm gewesen, in sein eigenes Messer zu fallen, dann hätte er sich umgedreht und sie wäre Geschichte gewesen.

Sie hätte dann endgültig der Vergangenheit angehört.

Denn dann hätte sie sich nicht mehr wehren können.

Dieser eine endgültige Treffer, wie es für kurze Zeit schien, hätte sie beinahe ihr Leben gekostet.

Aber der Typ hatte irgendwie ungewöhnlich viel Kraft gehabt. Im Training passierte es ja auch mal, dass der Partner seine Kraft unterschätzte. Aber so eine enorme Kraft hatte sie noch nie erlebt. Umso verwunderlicher war es, dass sie anscheinend ohne größere Verletzungen davongekommen war. Sie hatte sich nichts gebrochen. Na ja, da sie froh darüber war, wollte sie jetzt lieber nicht weiter darüber nachdenken.

Sie setzte ein letztes Mal den Blinker und bog in die Straße ein, in der sie wohnte. Erst hatte sie gezögert, ob sie ihm erlauben sollte, ihr nachzufahren, denn dann wüsste er, wo sie wohnte. Aber sie hatte ja ein gutes Türschloss und irgendwie hatte sie geahnt, dass er ein Nein nicht akzeptiert hätte.

Sie parkte ihr Auto in der Parkbucht, nahm ihre Tasche von der Rückbank und schloss ihr Auto ab. Sie ging die paar Stufen zum Eingang hinauf und als sie an der Tür stand, sah sie, dass er auf der Fahrbahn stand und anscheinend darauf wartete, dass sie ins Haus ginge. Also winkte sie ihm ein letztes Mal zu und schloss die Tür hinter sich.

Im Gang konnte sie nicht anders: Sie sank erst einmal an die Tür gelehnt zu Boden und wünschte sich inständig, dass sie diesen Tag vergessen und weder den einen noch den anderen jemals wiedersehen würde.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, fuhr er beruhigt weiter in Richtung Stützpunkt. Wenigstens waren fast keine Autos mehr unterwegs und sie hatte keinen Unfall gebaut. Er hatte sich wirklich Sorgen gemacht, und das zum ersten Mal seit Langem.

Und zwar seit sehr Langem.

Eigentlich wollte er diese Art von Gefühlen nie wieder an sich heranlassen. Am besten war es, das alles zu vergessen und niemandem jemals davon zu erzählen. Die anderen würden ihn auslachen. Ein Mädchen hatte ihm, dem stolzen Einzelkämpfer, geholfen.

Nicht, dass er ihre Hilfe gebraucht hätte, aber es hätte nicht so weit kommen dürfen, dass er dem Anschein nach hilflos und ausgeliefert auf dem Boden lag.

Nein, es durfte nie wieder so weit kommen, dass ihn jemand in so einer Lage sah, egal ob er trotzdem siegen würde oder nicht.

Verdammt! Heute war alles schiefgelaufen! Am besten wäre es, er würde einfach nie wieder ein Wort darüber verlieren.

Genau. So würde niemals jemand erfahren, was passiert war.

Ach, Mist. Er hätte beinahe vergessen, dass der Mendä entkommen war.

Dann würde es sich unter ihnen herumsprechen. Er wusste, dass sie zwar kein Netzwerk untereinander hatten und prinzipiell Einzelgänger waren, aber trotzdem würden sie es alle schon bald wissen.

Und dann dauert es auch nicht mehr lang und die anderen Krieger des Schicksals würden es auch auf einer Jagd erfahren. Also musste er es verdammt noch mal zugeben. Denn wenn er es sich recht überlegte, war das Mädchen möglicherweise in Gefahr. Falls sie nämlich herausfänden, wo sie wohnte, wäre sie nicht mehr sicher.

Es war nicht so, dass diese Mendäs irgendein Gefühl von Stolz oder Gerechtigkeit empfanden, aber ein misslungener Mord machte ihnen wirklich zu schaffen. Sie mussten ihn einfach entweder fertigbringen, indem sie das Opfer erneut ausfindig machten, oder sie selbst wurden von ihnen, den Kriegern des Schicksals, umgebracht.

Also konnte er Beth womöglich doch nicht so schnell vergessen, obwohl er das gerne getan hätte. Im Hinterkopf war ihm jedoch bewusst, dass es ihm sehr schwer gefallen wäre.

In all den Jahren war ihm so etwas noch nie passiert.

Er ging auf die Jagd, tötete und fertig. So war es nun einmal. Aber das war eine ungewollte Herausforderung. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr es erklären müsste, irgendwann? Was er war, was er tat - würde sie es jemals verstehen?

Als er aus der Stadt rausfuhr, bog er nach ungefähr 200 Metern links ab und befand sich auf einem Feldweg, der in den berüchtigten Wald führte. Hierher verirrten sich nur selten Jogger, da hier der Legende nach unzählige Menschen zu Tode gekommen waren. Und so sah auch fast nie einer das alte baufällige Schloss, das sich inmitten der vielen Tannen und Bäumen erhob.

Sie hatten es zusätzlich getarnt, indem sie auf jeder Seite vor langer Zeit Tannenbäume und anderes Zeug hingepflanzt hatten, die alles vollkommen verdeckten. Er verließ schon bald den fast nicht mehr zu erkennenden Weg und bog mit seinem Land Rover in eine kleine Lücke links im Geäst ein, hinter der kein Weg mehr zu sehen war. Trotzdem fuhr er auf dem holprigen Boden gut 100 Meter in den Wald, bis er an einem besonders alten Baum stehen blieb und das Fahrerfenster herunterließ. Er klopfte dreimal gegen die Rinde und sprach dann laut und deutlich: „Ich bin es, kommt, macht endlich das Tor auf.“ Und schon schwangen zwei kleine Tannen zur Seite, die zuerst fest im Boden verwachsen schienen. Aber der Trick war, dass die Tannen noch jung und deshalb nicht so extrem verwurzelt waren. Sie waren auf einer Art Drehscheibe, die sich zur Seite drehte, montiert und gaben einen verhältnismäßig breiten Durchgang frei. Die Drehscheibe schwang zurück, nachdem er durchgefahren war, und er stellte den Wagen im Innenhof ab. Diese Drehscheibe war eigentlich ein Stück echter Waldboden, der auf der Scheibe festgewachsen und montiert war.

Als er den Land Rover mit seiner Fernbedienung abschloss, kam ihm sein Kumpel entgegen. Er trug wie er selbst eine schwarze Lederhose und dazu ein passendes schwarzes Hemd.

„Hey, wo warst du so lang? Wir hatten dich vor einer Stunde zurückerwartet. War irgendwas Besonderes los, Dean?“, wollte James von ihm wissen.

Doch Dean ging nur an James vorbei und fragte kühl, wo die anderen seien.

„Die sind schon in ihrer Unterkunft. Hey, Mann, sag schon? Ich sehe es dir doch an! Irgendwas ist passiert!“ James war ein unbekümmerter Typ, der viel redete und oft sagte, was er dachte. Jedoch kam es selten vor, dass er unpassende Sachen äußerte. So war er durch seine Neigung, viel zu reden, eigentlich das totale Gegenteil von Dean, aber trotzdem hatten beide eine ungewöhnlich gute Freundschaft. Dean zeigte nie seine Gefühle und war der Typ, der nicht viel redete, sondern seine Taten für sich sprechen ließ.

Aber dennoch bewunderten alle, wie die zwei sich trotzdem so gut verstanden. Manchmal war Dean von James genervt, aber er beneidete ihn auch von Zeit zu Zeit darum, wenn dieser sich über etwas total freuen konnte, egal wie kindisch es war. Er selbst erlaubte sich dies nie.

„Okay, komm noch kurz mit in die Küche. Dann können wir reden“, murmelte er.

Während er sich ein großes Sandwich mit Schinken, Käse, Salat, Pilzen und scharfen Gewürzen machte, beobachtete James seinen Kumpel. Er war etwas beunruhigt. Klar machte dieser sich oft komische Sandwiches und war ruhig, aber heute war es irgendwie anders. Als er sich an den Tisch, James gegenüber, setzte, legte er sein Sandwich hin, rührte es jedoch nicht an und starrte nachdenklich auf den Tisch.

„Okay, raus mit der Sprache! Hast du heute endlich einen Mendä erwischt oder ist immer noch keiner aufgetaucht? Es ist schon komisch, vor vielen Jahren hat man fast jeden Tag einen erwischt, aber in den letzten Jahren sind sie echt zurückhaltender geworden. Da kann man von Glück reden, wenn man einen in einer Woche erwischt. Ich persönlich will den Gerüchten nicht glauben, dass es endlich tatsächlich weniger werden. Wieso sollte es gerade jetzt sein? Ich meine, woran könnte es denn liegen? Sicher nicht an der mangelnden Weltbevölkerung!“, laberte James ihn voll.

„Nein es war einer da“, unterbrach ihn Dean abrupt. „Aber während des Kampfes passierte etwas sehr Merkwürdiges.“

„Was denn? Waren sie zu zweit unterwegs? Sie sind doch eigentlich Einzelgänger“, war James‘ erste Intention.

„Nein, da war ein Mädchen …“

„… na klar, was denn sonst! Ein Mädel, das vor Angst wahrscheinlich wie versteinert war. Sicher hat sie in sein Gesicht gesehen und ist erstarrt!“

„Nein … Das ist es ja. Sie hat mir geholfen!“

Verwirrt starrt ihn James an - ein Mädchen sollte Dean, dem furchtlosen Einzelgänger, geholfen haben? Das verstand er nicht. „Was genau meinst du damit? Du hast sie gerettet und sie hat sich brav im Hintergrund gehalten?“

„Nein“, äußerte sich Dean nun nachdenklich. „Ich lag am Boden und wollte gerade mein Wurfmesser ziehen und ihn damit außer Gefecht setzen. Ich muss am Boden sehr hilflos ausgesehen haben. Dann stand sie plötzlich da und hat ihn von mir weggerufen. Er ging zu ihr und sie hat ihn fertiggemacht.“

James‘ Augen wurden immer größer, als der andere ihm alles ausführlich berichtete. Das war nämlich selten, dafür, dass Dean sonst sehr ruhig war und sparsam mit Worten umging.

Der Krieger ließ das ganze Geschehen noch einmal vor seinem inneren Auge abspielen und erzählte jede Kleinigkeit, jeden Kick, einfach alles. Bis zu dem Punkt, dass von dem Kerl nur noch eine Blutlache übrig war. Allerdings hatte er eines ausgelassen, nämlich dass er sie kurz in den Armen gehalten hatte und dass sie nicht gerade hässlich war. Im Gegenteil. Aber das brauchte James ja nicht so genau wissen.

Nachdenklich endete er mit den Worten: „Ich weiß nicht, was ich da sonst noch sagen soll, aber sie hatte das Herz einer Kriegerin.“

Mehrere Minuten war es still, bis auf sein geräuschvolles Verspeisen des Sandwiches. Schließlich meinte auch James, dass es für Beth so möglicherweise nicht sicher war. Er beschloss deshalb, dass sie sich alle morgen früh um 10 Uhr versammeln und das Ganze besprechen müssten.

Widerwillig stimmte ihm Dean zu, er wusste ja, dass es sein musste. Da es noch ein paar Stunden bis dahin waren, ging Dean nach oben, um sich zu duschen und noch ein paar Stunden Schlaf zu erwischen. James legte sich ebenfalls hin, hatte aber zuvor noch per SMS die Mitteilung an die anderen verschickt.

Beth wusste nicht, wie lange sie an der Tür gesessen hatte. Aber als plötzlich ihre schwarze Katze zu ihr kam und auf ihren Schoß kletterte, konnte sie sich ein leises Lachen nicht verkneifen.

„Hey, Buffy, wie geht es dir? Komm, lass uns hochgehen. Du hast sicher Hunger, oder?“, meinte sie zu ihrem Liebling, während sie ihn auf den Arm nahm und die Treppe hochstieg. Zum Glück war ihre Wohnung im zweiten Stock und nicht oben im fünften! Sonst hätte sie noch mehr Treppenstufen vor sich gehabt. Als sie die Tür aufgeschlossen hatte, trat sie in ihre Wohnung und war froh, in gewohnter Umgebung zu sein.

Sie verschloss sorgfältig die Tür und legte die Kette vor. Buffy war indes auf ihr Bett gesprungen und miaute sie an, sie solle doch endlich zu ihr kommen.

Das war eine gute Idee, dachte sie bei sich, aber zuerst wollte sie sich noch kurz duschen und umziehen.

Ihre Lederjacke hatte im Gegensatz zu ihrem Rock ein paar Blutspritzer abbekommen.

Mist! Hoffentlich ging das wieder raus! Sie nahm einen Waschlappen, machte ihn nass und wischte die Tropfen, so gut es ging, ab. Na ja, wenigstens wären es keine roten Flecken mehr. Und ihren Rock warf sie auf den Kleiderhaufen, der eh schon längst in die Waschmaschine gehört. Das musste sie wohl oder übel morgen anpacken.

Als sie ihr Top auszog und in BH und Slip dastand, betrachtete sie sich im Spiegel. Auf ihrem Bauch waren nur wenige Blutergüsse zu sehen. Und als sie sich drehte, konnte sie ebenfalls welche auf ihrem Rücken sehen. Ihre Arme hatten natürlich auch welche abbekommen. Aber das war nicht so schlimm. In ein paar Tagen würde keiner mehr was sehen. Da war sie sich sicher. Bei ihr heilte alles sehr schnell.

Ach, sie hatte ja noch ihre Stiefel an! Als sie nach dem linken den rechten Stiefel ausziehen wollte, fiel ihr auf, dass er nahe ihres Knöchels einen Schnitt hatte. Er war zwar nicht so lang, aber man konnte ihn deutlich sehen. Also konnte sie ihre Stiefel am Montag auch noch zu einem Schuhgeschäft bringen. Das wurde ja immer besser.

Aber als sie den Stiefel auszog, sah sie, dass nicht nur der Stiefel kaputt war, nein, ihr Fuß hatte oberhalb ihres Knöchels ebenfalls einen Schnitt. Sie hatte es gar nicht gespürt, wahrscheinlich so was wie ein Schock, dachte sie bei sich. Als sie vorsichtig das Blut wegwischte, konnte sie sehen, dass der Schnitt nicht nur oberflächlich war. Wenn sie Pech hatte, musste sie das morgen nähen lassen! Heute würde sie nicht mehr aus ihrer Wohnung gehen. Außerdem hatte jetzt irgendein Arzt Nachtdienst und es wäre sicher nicht ihr Hausarzt. Nein, es tat zwar plötzlich ziemlich weh, was sie nur auf die Tatsache schieben konnte, dass sie es jetzt erst bemerkt hatte, aber morgen müsste es auch noch reichen.

Schließlich dauerte es ja nur noch ein paar Stunden und es war sowieso schon wieder Tag. Am besten, sie säuberte nur den Schnitt, falls etwas Dreck hineingekommen war. Und das ging am besten unter der Dusche. Also sprang sie noch schnell unter den heißen Wasserstrahl und anschließend trug sie Salben auf ihre Prellungen auf. In ihrem Schrank fand sie auch noch ein paar Binden und nahm eine heraus, um den Schnitt zu bandagieren und zu stabilisieren. So langsam konnte sie nämlich nicht nur ihren Fuß, sondern fast schon alles schmerzen spüren. Vorsichtig ging sie zu ihrem Bett und kuschelte sich unter die Decke. Sofort war Buffy bei ihr und kuschelte sich in ihre Arme, um ganz nahe bei ihr zu sein. Kurze Zeit später fiel Beth auch schon in einen tiefen Schlaf.

Kapitel 2

Als Dean in den Raum kam, waren die anderen Mitglieder ihres geheimen Bundes schon anwesend. Miles, Frank und William nickten ihm zur Begrüßung zu. Sie saßen an dem runden Tisch auf ihren frei gewählten Plätzen. Vor langer Zeit waren einmal alle 13 Plätze gefüllt gewesen. Aber das war schon sehr lange her. Jetzt waren nur noch sie übrig. Die Letzten der ursprünglichen Elite. James stand am anderen Ende des Raumes und blickte durch ein Fenster nach draußen.

Als hätte er Dean, als letztes noch fehlendes Mitglied, eintreten sehen, wandte er sich um und setzte sich ebenfalls hin. Dean nahm als Letzter Platz.

„Also, ihr wundert euch sicher, warum wir uns heute zu einer Besprechung treffen. Dean hatte auf der Jagd gestern eine ungewöhnliche Begegnung“, eröffnete James die Unterhaltung.

Er hatte noch nie etwas davon gehalten, um den heißen Brei herum zu reden. Also brachte er somit das Thema ohne lange Rede zur Sprache.

„Hey, Mann, endlich wieder Erfolg gehabt? Hast einen erwischt, oder?“, fiel ihm Frank ins Wort. So war er nun einmal. Er unterbrach die Leute und dachte sich nichts dabei. Frank besaß einfach keine Manieren. Außenstehende hätte es mit Sicherheit überrascht. Durch seine Erscheinung erwartete man eigentlich einen Gentleman. Er trug meist teure Kleidung, einen maßgeschneiderten Anzug und teure Schuhe. Das Haar ordentlich nach hinten gekämmt, erweckte er immer einen sehr anständigen Eindruck. Allerdings war das nur Täuschung.

Miles verdrehte genervt die Augen. Er selbst war das genaue Gegenteil von Frank. Er trug eine Jeans und ein lässiges schwarzes Shirt. Allerdings spannte das Shirt und man konnte seine Muskeln darunter gut erahnen.

„Könntest du vielleicht einmal ruhig sein und James ausreden lassen? Ich wüsste gerne, worum es geht“, äußerte sich nun Miles.

„Jaja, also rede weiter, James“, gab der Angesprochene mürrisch zur Antwort. Schließlich war er ebenso neugierig, wieso er denn jetzt schon hatte aufstehen müssen. Zehn Uhr vormittags kam ihm am Sonntag immer so früh vor. Er stand meist erst nach zwölf Uhr mittags auf.

„Dean ist einer Frau begegnet. Sie war außergewöhnlich.“ Kaum hatte James diese zwei Sätze zu Ende gesprochen, wandten sich die Köpfe der anderen Dean zu.

Er und eine Frau? Das erschien ihnen fast wie ein Wunder.

All die Zeit, die sie ihn kannten, hatten sie ihn nie in weiblicher Begleitung gesehen. Sie waren sich nicht einmal sicher, ob er Gefühle empfand, geschweige denn für eine Frau.

Im Raum war es so still, dass man eine Stecknadel auf den Boden hätte fallen hören.

Dean starrte finster vor sich hin und als er den Blick hob, um den anderen in die erstaunten Gesichter zu sehen, schien sein Blick eiskalt zu sein. Wenn Blicke töten könnten, dann hätte man ihm lieber nicht ins Gesicht gesehen. Schließlich war es Frank, der die Stille unterbrach.

„D-Mann, das hätte ich ja nicht gedacht! Und wann heiratet ihr?“

Diese Worte hätte er lieber nicht äußern sollen, um Dean zu ärgern. Denn schneller, als er reagieren konnte, war Dean bei ihm und packte ihn am Kragen. Er drückte ihn gegen die Wand und als er sprach, klangen seine Worte zwar ruhig, aber bestimmt: „Wie oft habe ich dich schon gewarnt, mich so zu nennen? Ich warne dich jetzt ein letztes Mal! Wage es niemals wieder!“, und dann ließ er ihn los und drehte sich um.

Er ging zu seinem Platz ohne das geringste Anzeichen von Wut. So, als ob nichts passiert wäre. Er konnte die anderen hören, wie sie die Luft wieder ausstießen, die sie erschrocken angehalten hatten.

Sie hatten die Auseinandersetzung mit Entsetzen beobachtet und waren sich sicher, Dean würde sein Versprechen halten. Beinahe wäre James aufgesprungen, um die zwei voneinander zu trennen. Aber zum Glück war es nicht so weit gekommen.

Als Frank sich an seinen Platz setzte, rieb er noch seinen Hals und sein Gesicht war etwas blasser als sonst. Aber wenigstens hielt er sich zurück, falls ihm irgendeine schnippische Bemerkung auf der Zunge lag.

„Am besten Dean erzählt selber, was passiert ist“ meinte James nun.