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Ein sechs Monate alter Junge verschwindet am hellichten Tag aus dem Auto seiner Mutter. Erst vor Kurzem wurde das Opfer einer anderen Kindesentführung tot aufgefunden. Die Öffentlichkeit ist beunruhigt. Kommissar Martaler und seiner Mordkommission ermitteln unter Hochdruck: Treibt ein Serienmörder sein Unwesen in Berlin? Oder kommt der Täter diesmal aus dem Umfeld der Eltern, zwei Musikern der angesagten Band "Warschauer"? Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt... Berlin und seine Kieze - ob Neukölln, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg - Sie alle bieten in unserer Reihe "Kiezkrimis" eine spannende Kulisse, vor welcher die zum Teil kauzig-symphatischen Kommissare ermitteln. Lesen Sie doch mal rein: Thomas Knauf "Prenzlauer Berg Krimis", Krause und Winckelkopf "Friedrichshain Krimis" oder Christoph Spielbergs "Neuköllnkrimi"
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Seitenzahl: 436
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Hans-Ullrich Krause, M. Pa. Winckelkopf
Ein Friedrichshain Krimi
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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ebook im be.bra verlag, 2014
© der Originalausgabe:
berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2014
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin
Umschlag: Ansichtssache, Berlin, unter Verwendung
eines Fotos von Guntier/Quelle: photocase
ISBN 978-3-8393-6139-9 (epub)
ISBN 978-3-89809-535-8 (print)
www.bebraverlag.de
Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Kapitel IV.
Kapitel V.
Kapitel VI.
Kapitel VII.
Kapitel VIII.
Kapitel IX.
Kapitel X.
Kapitel XI.
Kapitel XII.
Kapitel XIII.
Kapitel XIV.
Kapitel XV.
Kapitel XVI.
Kapitel XVII.
Kapitel XVIII.
Vita Krause & Winckelkopf
Noch mehr Kiezkrimis als ebook:
Dunst liegt über der Spree. Die gelbrot verfärbten Baumkronen am Kreuzberger Ufer sind nur schemenhaft erkennbar. Für einen Tag im November ist es recht warm und selbst hier am Fluss bewegt nur ein milder Windzug die feuchte Luft. Durch den langen Spaziergang aufgeheizt, öffne ich die Knöpfe der Jacke. Mein Vater bleibt stehen und schaut mich an.
»Du läufst rum, als hätte dich die Heilsarmee eingekleidet.« Er kann’s nicht lassen. »Reicht das Geld nicht aus, das wir dir überweisen? Kannst du dir nichts Vernünftiges leisten?«
»Wieso«, sage ich ganz ruhig, »sieht doch schön aus.«
»Die ollen Stofflappen? Schön?«, mokiert er sich. »Die sind doch schon mottenstichig.«
»Lass sie, Thomas«, greift meine Mutter zaghaft ein. Dann lehnt sie sich genervt gegen das Ufergeländer. Er stellt sich neben sie und blickt zum blauen Lichtband am Dach der O2-World. Ein paar Meter neben uns lässt sich eine Touristengruppe von einem Passanten fotografieren. Ein vor Chrom blitzender Kinderwagen wird an uns vorbeigeschoben. Das Baby darin beugt sich neugierig vor, eine Sekunde lang schaut es mich mit großen, weltraumfarbenen Augen an. Das Pärchen mit dem Kinderwagen ist gerade einen Schritt entfernt, als es zum Fluss gewandt stehen bleibt. Seine Arme umgreifen ihre Hüften, ihre Arme legen sich um seinen Hals, dann küssen sie sich. Als sie sich wieder voneinander lösen, erwache ich aus einer kurzen Starre, wende schnell den Blick ab und fühle mich ertappt.
Meine Mutter kramt in ihrer Handtasche, mein Vater starrt noch immer vor sich hin. Auf den Stufen vor dem abschüssigen Wiesenstück sitzen Leute, die Sonnenbrillen tragen, obwohl die Sonne den ganzen Vormittag über nicht zum Vorschein gekommen ist. Andere nehmen Zeitungen als Sitzunterlage und trinken Kaffee aus Pappbechern. Jugendliche kicken sich auf dem nassen Sand des kleinen Volleyballfelds einen Hackysack zu.
Seitdem ich in Berlin studiere, haben meine Eltern mich nur ein einziges Mal besucht, weil ihnen angeblich die Bahnfahrt von Münster aus zu weit ist. Sie erwarten, dass ich zu ihnen komme, aber vergessen dabei, dass der Weg nach Münster noch viel weiter ist als umgekehrt. In Berlin gibt es für jeden was, aber im Münsterland nichts für mich. Dieses Mal ist es ein Kontrollbesuch. Mein Vater meint, dass wenn ich schon etwas so Unbrauchbares wie Literatur- und Kulturwissenschaft studiere, ich das Studium wenigstens in der Regelstudienzeit abschließen sollte. Er holt tief Luft, dann fängt er wieder damit an.
»Trotzdem verstehe ich nicht, wieso du dich nicht zur Prüfung anmeldest, wenn du scheinfrei bist.«
»Das hab ich doch schon erklärt.«
»Komm mir nicht wieder mit deinen Projekten. Dieser ganze Musikkram ist dir zu Kopf gestiegen. Das ist doch eine Scheinwelt, in der du dich da bewegst. Wovon willst du leben, oder glaubst du, dass ein schöner Prinz auf einem weißen Pferd dahergeritten kommt, der dich rettet? So wie du rumläufst, besteht da wenig Hoffnung.«
»Ich warte auf keinen Prinzen.«
»Was dein Vater sagen will, ist, dass wir glauben, dass dir diese Stadt nicht gut tut«, mischt meine Mutter sich ein. »Du verrennst dich da in was, und ich muss sagen, er hat recht, du siehst wirklich nicht gut aus.«
»Schau dich doch mal um! Hier läuft jeder rum, wie er will. Ich hab ganz normale Sachen an.«
»Es geht nicht nur um die Sachen, die du trägst. Und es ist deine Entscheidung, welchen Eindruck du von dir vermitteln willst«, erwidert meine Mutter in ihrem strengen Pädagogenton. »Nur glaube nicht, dass wir dich ewig weiter unterstützen. Mach endlich deinen Abschluss und denk darüber nach, ob du nicht wieder zurück nach Hause kommen willst, anstatt deine Zeit weiter im Nachtleben dieser Stadt zu verschwenden.«
»Ich verschwende meine Zeit nicht im Nachtleben. Ich lebe einfach mein Leben und mein Leben ist die Musik.«
Meinem Vater platzt gleich der Kragen. »Diese Sprüche«, blökt er mich an. »Wie alt bist du eigentlich und für wen hältst du dich? Glaubst du, du bist was Besonderes, weil deine Freunde dir das einreden? Du weißt ja, unter Blinden ist der Einäugige König.«
Es hat keinen Sinn, ich muss mir das nicht anhören. Ich wende mich ab und laufe einfach los. Sie begreifen es nicht. Sie wollen es nicht verstehen, das Leben, das wir führen. Aber das bringt mich nicht aus der Ruhe. Es ist ja nichts Falsches daran. Uns geht es gut, so wie wir leben.
Ich blicke mich um und sehe sie streitend hinterhertrotten. Vorbei an den frisch erneuerten Malereien der East-Side-Gallery laufe ich auf die Kreuzung zwischen Oberbaum- und Warschauer Brücke zu. Irgendwo auf halber Strecke haben meine Eltern mich eingeholt. Meine Mutter sagt, dass sie hier nicht Katz und Maus mit mir spielen und jetzt zurück ins Hotel fahren werden. Mein Vater ist schon am Straßenrand und hält ein vorbeifahrendes Taxi an.
»Hast du mittlerweile deine Schwester angerufen?« Sie steht in der offenen Tür des Taxis und schaut mich vorwurfsvoll an.
»Nein, wieso?«
»Vielleicht, weil du ihr zum bestandenen Physikum gratulieren möchtest? Wäre das ein Anlass?« Sie dreht sich um und steigt ein. Ein Nicken von ihr und eine Handbewegung meines Vaters durch die Scheibe, dann findet der Fahrer seine Lücke im Verkehr.
Ich bleibe erleichtert zurück, krame in meiner Tasche und trage blind etwas Lippenstift auf. Ein bisschen rote Farbe für diesen grauen Tag. Dann laufe ich weiter die Mühlenstraße entlang, sauge die feuchte Luft ein. Ein Jongleur tritt in den Rotphasen der Ampel auf die Kreuzung und wirbelt eine Vielzahl bunter Bälle durch die Luft. Von der Oberbaumbrücke tönt Musik, die immer besser klingt, je näher ich komme. Es gibt so viele talentierte Menschen in der Stadt, denke ich, während ich an der Ampel die Straße überquere und die Warschauer hoch laufe. Sie kommen aus der ganzen Welt hierher, sie lieben diese Stadt wegen ihrer Möglichkeiten. Das ist es, was meine Eltern nie begreifen werden. Wir sind eine neue Generation. Wir kennen keine Grenzen zwischen den Nationen und Kontinenten, zwischen den Geschlechtern und sozialen Schichten, zwischen Arbeit und Leben. Wir brauchen keine Abschlüsse, weil wir nicht fertig werden, sondern uns immer weiterentwickeln wollen. Weil wir nicht nur eine Sache können, sondern mit verschiedenen Dingen experimentieren wollen. Weil wir nicht Angestellte mit Vorgesetzten, sondern Menschen mit Freunden sind. Wir sind nirgendwo zu Hause, aber wir finden uns temporär an Orten zusammen, die uns inspirieren. An Orten wie diesem.
Auf der Warschauer Brücke bleibe ich am Geländer stehen. Meine Blicke folgen den Gleisen, die zwischen O2-World und Metro-Markt in die Stadtmitte führen, bis sie sich im Dunst verlieren. Ich brauche niemanden, der mir etwas vorschreiben will, denke ich, habe die ständige Besserwisserei und Bevormundung einfach satt. Ich nehme mein Leben selbst in die Hand. Hier, an diesem Ort, in dieser Stadt, gemeinsam mit einem großartigen Mann, den ich meinen Eltern nicht vorstellen werde, weil sie ihn doch nur verkennen würden.
Ein Song von Warschauer fällt mir ein. Ich weiß nicht, der hat so was Ironisches, das brauche ich jetzt wohl. Ich suche das Lied in meinem Smartphone, setzte die Ohrstöpsel ein und spiele es ab, als der erste Sonnenstrahl des Tages durch die Wolkendecke bricht.
Du denkst gern für mich mit
hast die Grundlagen erforscht
und mach ich was nicht richtig
korrigierst du mich sofort
Kaum liegt’s mir auf der Zunge
führst du auch schon das Wort
du verstehst was von der Sache
ich überlege lieber noch
Du willst mir doch nur helfen
um Fehler zu vermeiden
und erzählst, wie gut sie stimmt
die Chemie zwischen uns beiden
Du kennst dich wirklich aus
und du weißt, du weißt es ganz genau
Alles über Chemie
Alles über Chemie
Alles über Chemie
Du weißt, wie ich mich fühle
du blickst tief in mich hinein
und zu allem, was ich sage
fällt dir ein bessres Beispiel ein
Sorry, kurze Unterbrechung
die Worte waren gut gewählt
ich wollte dir nur sagen
das hast du heut schon mal erzählt
Ich weiß, du bist auch Experte
für die Bindungstheorie
aber glaub mir, in der Praxis
brauchte ich so etwas nie
Ich mach nur, was ich tu
und ich glaub, ich hör dir nicht mehr zu
Alles über Chemie
Alles über Chemie
Alles über Chemie
Die Nachricht erreicht mich kurz vor dreizehn Uhr. Man hat das Kind gefunden. Das Kind, nach dem die Kollegen fünf Tage lang gesucht haben. Im Friedrichshain, in der ganzen Stadt, in den Randbezirken. Man hat es gefunden und es ist tot.
Ich fahre mit einer Polizeistreife zur Stralauer Halbinsel hinüber. Die beiden Kollegen machen einen müden, niedergeschlagenen Eindruck. Einer redet mit mir, der andere am Lenkrad schweigt und starrt vor sich hin, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Der Gesprächige sagt, dass er in den letzten zweiundsiebzig Stunden keine fünf geschlafen und dass er immer noch gehofft habe, den Jungen lebend zu finden, aber dass er es die ganze Zeit eigentlich schon gewusst hätte. So ein Gefühl, na, ich kenne das schon. Und nun, nun sei es Gewissheit.
»Man weiß es«, bestätige ich und meine es genau so, wie ich es sage. »Man weiß es. Oft zumindest, und tut dennoch so, als gebe es noch Hoffnung.« Ich erkundige mich nach den Eltern. Der Polizist sagt, dass er sie nur einmal getroffen und gehört habe, sie hätten vor allem eins: genervt und die Polizei permanent mit Vorwürfen konfrontiert. »Am Ende hieß es sogar, wir trügen die Schuld daran, wenn das Kind nicht gefunden würde. Dabei sind wir jedem ihrer Hinweise nachgegangen. Die Mutter und der Vater waren von Anfang an davon überzeugt, dass ihr Junge, er ist fünf und heißt Marc, entführt wurde. Dabei gab es keine Lösegeldforderung oder irgend so etwas. Allerdings gab es einige Hinweise darauf, dass sich eine oder mehrere Personen in unmittelbarer Nähe des Spielplatzes aufhielten, von dem er verschwunden ist. Und ein Indiz schien diese These auch zu stützen, denn das Kind soll innerhalb von wenigen Sekunden verschwunden sein. Eben hatte es die Mutter noch gesehen. Dann war es weg. Wie gesagt, die Eltern waren sich sicher, dass der Junge mitgenommen wurde. Auch weil der Kleine sich nie weiter als zehn Meter freiwillig von seinen Eltern entfernte, sagt die Mutter.«
»Und was sagen Freunde, Angehörige, Zeugen?«
Dem Kollegen gefällt es offenbar, so intensiv befragt zu werden. Ich kenne den Vorwurf, der unter den Streifenpolizisten gang und gäbe ist, dass die Kollegen der Kripo, zumal die der Mordkommission, immer abfällig über die Uniformierten denken und sie deshalb kaum in ihre Ermittlungen einbeziehen. Der Vorwurf existiert zu Recht. Nur dass ich genau das nicht mache. Es sind bekanntlich manchmal gerade die winzigen, die unscheinbaren Hinweise, die einen Fall aufklären können.
Der Mann überlegt kurz. »Ich habe leider niemanden befragt, doch soweit ich das mitbekommen habe, sahen das einige etwas anders. Aber ich denke, dass Eltern solche Dinge sowieso nicht so genau einschätzen können, oder?«
Ich nicke nur.
Wir halten dicht am Wasser auf der Spreeseite. Die Rasenfläche davor ist wegen der Witterung schon graubraun. Zwischen den Bäumen und dem Geländer sind die üblichen Absperrbänder gespannt. Der auskunftsfreudige Kollege steigt mit mir aus. Der andere legt seinen Kopf aufs Lenkrad.
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