Warum die Schweiz reich geworden ist - Markus Somm - E-Book

Warum die Schweiz reich geworden ist E-Book

Markus Somm

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Beschreibung

Wenn es je ein Land gab, das schlechtere Voraussetzungen hatte, um reich zu werden, dann die Schweiz: Berge, Schutt, Geröll und Gras. Heute zählt das Land zu den wohlhabendsten der Welt. Wie war das möglich? Eine messerscharfe, süffig geschriebene Wirtschaftsgeschichte.

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Vorspann

Cover

Titel

Markus Somm

Warum die Schweiz reich geworden ist

Mythen und Fakten eines Wirtschaftswunders

Stämpfli Verlag

Impressum

Für meine Familie: Sophie, Max, Paula, Marie, Hans und Anita

Autor und Verlag danken der AVINA STIFTUNG für den Werkbeitrag.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek www.dnb.de.

© Stämpfli Verlag AG, Bern · 2022

Korrektorat · Benita Schnidrig, Stämpfli Verlag AG, Bern

Umschlag · Nino Angiuli, Basel

Bilder auf dem Umschlag · Johannes Schiess, Appenzeller Weberpaar bei der Arbeit am Handwebstuhl, um 1830; Aquarell; und Arbeiterinnen in der Lebensmittelfabrik von Maggi Kempthal, Schweiz: Fassonnierung von Maggi-Suppenstangen, Mai 1913. Foto: Nestlé Historical Archives, Vevey

Gestaltung · Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Der Stämpfli Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2o21–2o24 unterstützt

ISBN Print 978-3-7272–1288-8

ISBN E-Book 978-3-7272-1684-8

Inhalt

Einleitung

Warum wir es uns nicht mehr leisten können, die Wurzeln des Schweizer Wohlstands zu verkennen.

Das Wirtschaftswunderland

Berge, Schutt, Geröll: Kaum ein Land in Europa hat schlechtere Voraussetzungen als die Schweiz.

Warum Textilien?

Kleider sind wie Nahrungsmittel lebensnotwendig – und doch haftet ihnen etwas Überflüssiges, ja Frivoles an. Ausgerechnet der nüchternen Schweiz bringen sie Glück.

Die Glaubensspaltung und ihre Folgen

In Locarno unerwünscht, in Zürich geduldet, dann beneidet: Wie protestantische Flüchtlinge aus dem Tessin ihre neue Heimat an den Welthandel anschliessen.

Im Samt- und Seidenfieber

Zürich steigt innert weniger Jahre zu einer der bedeutendsten Seidenstädte Europas auf, geradeso wie Basel und Genf.

Aufstieg einer Dynastie

Die Werdmüller sind die ersten einheimischen Kapitalisten. Die besten Imitatoren und die besten Originale zugleich.

Triumph der Baumwolle

St. Gallen – der heimliche Riese. Schon im Mittelalter hat seine Leinenindustrie Europa beherrscht, dann erobert seine Stickerei die Welt.

Die dunkle Hinterlassenschaft der Sklaverei

Wenn die Schweiz auch keine Kolonien hat – sie ist in die Sklaverei verstrickt. Verdankt sie ihr gar den Aufstieg?

Escher Wyss oder wie die Schweiz zur Maschine findet

Hans Caspar Escher – verhinderter Architekt, gerissener Werkspion, glänzender Industrieller – gründet die erste schweizerische Weltfirma.

Land der Unternehmer

Schon 1830 hat sich die Schweiz zu einem Industrieland verwandelt. Es ist eines der ersten in Europa. Es holt England ein.

Bilanz

Warum die Schweiz? Eine Analyse.

Ausgewählte Literatur

Personenregister

Inhalt

Einleitung

Im September 2020 überklebten ein paar junge linke Aktivisten das Schild des Escher-Wyss-Platzes in Zürich mit dem Namen von Rosa Parks, einer amerikanischen Bürgerrechtlerin. Sie wollten damit gegen eine angebliche Verstrickung von Alfred Escher in die Sklaverei protestieren.1 Escher (1819–1882), ein berühmter Staatsmann und Unternehmer des 19. Jahrhunderts, stand in der Kritik, weil zwei seiner Onkel mit Skla­­ven eine Kaffeeplantage auf Kuba betrieben hatten. Insgesamt besassen sie rund neunzig Sklaven. Als einer der Onkel 1845 starb, beerbte ihn Eschers Vater. Er verkaufte die Plantage und strich das Geld ein. Gut möglich, dass irgendetwas davon schliesslich bei Alfred landete, als er Jahre später das Erbe seines Vaters antrat.2 Ob der Vater beim Verkauf der Plantage überhaupt einen Gewinn realisiert hatte, ist offen, zumal er seinen Brüdern einst das Geld für den Kauf des Betriebs vorgestreckt hatte. Wenn, dann war es unter dem Strich vermutlich ein kleiner Be­trag, bestimmt nicht so gross, dass damit der Gotthardtunnel hätte finanziert werden können, wie ein deutscher und ein niederländischer Historiker vor kurzem behauptet haben.3 Alfred Escher hatte seinerzeit den Bau der Eisenbahn durch den Gotthard ini­tiiert. Wusste er von den Sklaven? Sicher, denn er hatte, so weiss man heute, seinem Vater beim Verkauf der Plantage geholfen. Das war alles. Darüber hinaus, so Joseph Jung, der beste Kenner seiner Biografie, war er nicht involviert gewesen: «Dieser war nun aber nie in seinem Leben auf Kuba, noch hat er je Skla­ven gehalten.»4

Offensichtlich unterlagen die Jungsozialisten aber einem Irrtum: Der Platz in Zürichs Westen heisst Escher-Wyss-Platz, weil sich hier früher der Standort der Firma Escher Wyss befand. Alfred Escher hatte nie etwas mit dem Unternehmen zu tun. Der Gründer dieser einstigen Zürcher Weltfirma, Hans Caspar Escher (1775–1859), war zwar mit ihm verwandt, aber so weit aussen, dass man Escher Wyss beim besten Willen nicht vorhalten konnte, mit kubanischen Sklaven Geld verdient zu haben. Der letzte gemeinsame Vorfahr war ein Urururur-Grossvater von Alfred Escher gewesen. Er hatte von 1626 bis 1710 gelebt.

Dieser Protest am falschen Objekt ist vielleicht symptomatisch für den Stand der Debatte: Warum ist die Schweiz so reich geworden? Symp­to­matisch, weil manche Leute Alfred Escher nicht mehr von Escher Wyss unterscheiden können. Symptomatisch aber vor allem, weil immer neue, wildere Theorien aufkommen, wenn es darum geht, die Karriere der Schweiz zu erklären.

Tatsächlich wirkt diese Karriere auf den ersten Blick sonderbar. Das kleine Land mitten in den Alpen verfügt über keine nennenswerten Roh­stoffe, es liegt fernab von den Meeren, Berge und Täler herrschen vor, von Zivilisation, so möchte man meinen, war lange nichts vorhanden. Mit rech­­­ten Dingen konnte das doch nicht zu- und hergegangen sein.

Jahrelang hatte es geheissen, das Bank­geheimnis habe den Reichtum der Schweiz begründet. Oder man führte ihn auf die Tatsache zurück, dass das Land im 20. Jahrhundert von keinem Weltkrieg verwüstet worden war, was die Schweizer, schlau und eigensüchtig, wie sie waren, mit allerlei schmutzigen Geschäften zu verhindern wussten – besonders während der Gewalt­herrschaft der Nazis in Deutschland. Die Unterstellung wurde nie belegt, doch blieb sie haften. Zu eingängig, da moralisch aufgeladen, schien diese Erzählung, die begreiflich machte, was so schwer zu begreifen war.

Neuerdings ist die Sklaverei in den Vordergrund gerückt. Historiker, aber auch Politiker gehen davon aus, dass die Schweiz – obschon ohne Kolonien – eben doch aus dem Kolonialismus und dessen grauenhaftester Institution, der Sklaverei, Nutzen gezogen hat. Wenn auch selten der gan­ze Wohlstand des Landes damit erklärt wird, so doch ein wesentlicher Teil davon, zumal die gleichen Leute den Kapitalismus des Westens insgesamt mit diesem Unrecht in Zusammenhang bringen. Wohl erscheint diese These so plausibel, weil sie vom schlechten Gewissen lebt, das die Europäer und Nordamerikaner gelegentlich befällt, wenn sie sich die bedrückenden Verhältnisse in der Dritten Welt vor Augen halten: Warum sind wir so reich – und diese ist so arm?

Den meisten dieser Theorien ist eines gemeinsam: Sie unterschätzen das Land. Zum einen, was die ungeheure Wirtschaftskraft der Schweiz anbelangt, zum andern verkennen sie, wie lange schon die Schweiz darüber verfügt. Ein Bankgeheimnis allein genügt nicht, um eine der leistungsfähigsten Exportindustrien der Welt hervorzurufen – die hier war, bevor man überhaupt von Schweizer Banken gesprochen hatte. Der Reich­tum der Schweiz war schon in ausserordentliche Höhen gestiegen – Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, als Europa in eine dreissigjährige Periode der Selbstzerstörung abglitt. Und die Sklaven in Amerika lieferten Rohstoffe nach Europa, zu einem Zeitpunkt, da die Schweiz längst industrialisiert war. Die Sklaven­arbeit stellte nicht die blutige Voraussetzung ihres Auf­stiegs dar.

Tatsächlich beginnt die Geschichte der reichen Schweiz viel früher, als den meisten heute bewusst ist, und die Ursachen ihres erstaunlichen Auf­stiegs sind andere als jene, von denen man gemeinhin so hört. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiesen einzelne Gegenden der Schweiz einen so hohen wirtschaftlichen Entwicklungsstand auf, wie ihn in Europa nur wenige andere Regionen erreichten. Es gab hier zahllose Produktionsstätten und Handelshäuser, und schweizerischen Unterneh­mern und Kaufleuten begegnete man auf den wichtigen Markt­plät­zen des Kontinents, es wurden Rohstoffe aus aller Welt eingeführt, verarbeitet, veredelt und in rauen Mengen nach Europa und Übersee verkauft. Export war König. Wenn es ein Land gab, das zu den frühen Pionieren des Kapi­ta­lismus und der Globalisierung zählte, dann die Schweiz, der Aussenseiter und Sonderling unter den Nationen.

Es ist diese sehr weit zurückreichende Tradition des wirtschaftlichen Erfolgs, die zu einem massgeblichen Teil erklärt, warum es diesem Land schon so lange so gut geht. Je nachdem, welche Statistik man heranzieht, gehört die Schweiz nach wie vor zu den fünf reichsten Ländern der Erde, gemäss Internationalem Währungsfonds lag sie im Jahr 2021 mit einem Bruttoinlandprodukt pro Kopf von rund 95 000 $ auf Rang 2, gemäss Weltbank auf Rang 4, während die UNO sie auf Rang 3 verortete.5 Noch sind vergleichbare Zahlen für das 18. Jahrhundert nicht greifbar, auch wenn die Wissenschaftler sich darum bemühen, diese historischen Daten zutage zu fördern, aber mit Sicherheit ergäbe sich ein ähnliches Bild: Die Schweiz hätte sich schon zu jener Epoche in den vorderen Rängen wiedergefunden. Es trifft nicht zu, dass sie bis noch vor wenigen Jahrzehnten ein Armenhaus gewesen ist.

Das wirkt heute umso bemerkenswerter, als die Schweiz im 18. Jahr­hundert politisch gesehen das vielleicht rückständigste Staatswesen des Kontinents darstellte: Was als alte Eidgenossenschaft in die Ge­schichte eingegangen ist, war eine einmal fröhliche, dann zerstrittene, immer chaotische, oft handlungsunfähige Ansammlung von dreizehn souveränen Orten, den Vorläufern der heutigen Kantone – jeder für sich ein eigener Mikrostaat. Hinzu kamen ein paar Verbündete, die «zugewandten Orte», sowie viele gemeinsam verwaltete Untertanengebiete; im grossen Ganzen entsprachen die Aussengrenzen dieser alten Eidgenossen­schaft jenen der aktuellen Schweiz. Das war jedenfalls kein moderner Staat, sondern ein Relikt aus dem Mittelalter, das man in Europa belächelte oder für überholt hielt. Wie lange noch hatte es Bestand? Zumal es sich auch militärisch und aussenpolitisch um einen Zwerg handelte, der stets unter der berechtigten Paranoia litt, bald von den Riesen in der Nachbarschaft über­­wältigt zu werden. Wenn je ein Kleinstaat seit Jahr­hunderten überlebt hatte, dann die Schweiz – aber für immer? Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts das unglückliche und viel umfangreichere Polen von den drei Grossmächten Preus­­sen, Russland und Österreich kaltblütig aufgeteilt wurde, gab es in der Schweiz viele Melancholiker, die sich fragten, ob dies nicht auch der Eidgenossenschaft widerfahren könnte.

Anarchie, Ohnmacht, Streitsucht: All dies hat der damaligen Schweiz wohl nicht sonderlich gut getan, aber sie auch nicht allzu stark behindert. Ich möchte in diesem Buch die «Karriere eines Landes» schildern. Dabei erzähle ich die Geschichten von Unternehmern, die reüssierten oder scheiterten, ich folge Kaufleuten auf ihren verschlungenen Wegen auf den Welt­­märkten oder ihrem Höllenritt in den Abgrund, ich berichte von Werkspionen aus bester Familie, die in Italien Geschäftsgeheimnisse stahlen, und sich trotzdem für gute Protestanten hielten, last, but not least beschreibe ich einen Triumph: Seit der Reformation kamen Tausende von Flüchtlingen und Einwanderern in der Schweiz an. Zuerst freundlich emp­­fangen, dann abgelehnt, oft schikaniert, verzweifelten die einen, während die anderen sich doch durchsetzten und ganze Industrien ins Leben riefen, die sonst wohl nie in der Schweiz entstanden wären. Wenn sie starben, wurden sie als Bürger in ihrer neuen Heimat begraben, angesehen und betrauert. In dieser Hinsicht war das Land eine Krisengewinnlerin, aber eine, die sich dafür nicht zu rechtfertigen hatte. Inmitten von Kriegen und Verfolgungen seit gut fünfhundert Jahren blieb vielleicht kein anderes Land in Europa trotzdem vernünftig und friedlich. Man zahlte dafür allerdings einen Preis: den Preis einer unheroischen Existenz – und erhielt dafür ein gutes Leben. Die meisten Einwohner der Schweiz zogen das Letztere wahrscheinlich vor.

Wann fing diese Karriere an? Streng genommen vor etwa 135 bis 25 Millionen Jahren, dann wurden die Alpen aufgefaltet, ein Gebirge, ohne das die Geschichte der Schweiz – auch ihre Wirtschaftsgeschichte – kaum zu verstehen ist. Ein solcher Ansatz wäre sicher allzu exzentrisch. Stattdessen möchte ich mich auf eine etwas spätere Periode konzentrieren: auf die Jahre zwischen 1500 und 1830. Ich komme darauf, weil ich so eine Vorgeschichte, ein Heldenepos, eine Tragödie und ein Happy Ending zugleich erzählen kann.

Wenn man davon ausgeht, dass die industrielle Revolution das zentrale Ereignis jeder Wirtschaftsgeschichte darstellt, dann gibt es nur ein Vor­­her und ein Danach.

In den Jahren um 1780 waren in England ein paar phänomenale und entscheidende Innovationen gemacht worden: Spinnmaschinen, mechanische Webstühle und Dampfmaschinen steigerten über Nacht die Produk­tivität der englischen Industrie. Weil niemand so billig so viel zu produzieren vermochte, stürzten die Preise für viele Güter in den Keller, insbe­­son­­dere Textilien, und England eroberte die Welt – nicht mit Truppen, sondern mit Maschinengarn. Wer mitzog, konnte viel Geld verdienen, wer zu spät kam, den bestrafte der Markt. Das Maschinenzeitalter brach an.

Davon war auch die Schweiz stark betroffen, ja vielleicht kein anderes Land so stark wie sie. Hier stand eine der grössten vorindustriellen Textil­branchen Europas. Unruhe in den Alpen. Man hatte viel zu verlieren. Vor der industriellen Revolution war die Schweiz schon reich gewesen – nachher war sie noch reicher, in den Jahren dazwischen war sie in die Armut versunken. Wie war das möglich? Wie überstand ein Land, das wirtschaftlich schon höchst entwickelt war, die industrielle Revolution, von der es zunächst ruiniert zu werden drohte, aus der es danach aber Nutzen zog wie wenige sonst?

England war vorangegangen und hatte alle seine Konkurrenten aus dem Feld geschlagen. Kaum hatten sich die Europäer auf dem Kontinent von diesem Schock erholt, setzte allerdings eine Aufholjagd ein, an deren vorderster Spitze sich die Schweiz bewegte. Ausgerechnet während der napoleonischen Zeit, da schier endlose Kriege nahezu ganz Europa verwüsteten, nachdem Revolution und Fremdherrschaft auch die Schweiz zerlegt hatten, wurden im Land die ersten Maschinen aufgestellt, es schossen mechanische Spinnereien in die Höhe, es wurde eine der ersten Maschinenfabriken des Kontinents gegründet. Die Firma hiess Escher Wyss. Das Jahr war 1805.

1830 hatte sich die Schweiz zu einem modernen Industrieland verwandelt. Ein früher Vorreiter der Industrialisierung. Und das englische Parlament, etwas beunruhigt, schickte 1835 einen Experten ins Land, der herausfinden sollte, warum die Schweizer Unternehmer den Engländern jetzt auf sämtlichen Weltmärkten so wirkungsvoll Konkurrenz machten.

Ich breche meine Erzählung deshalb um 1830 ab. Eine erste Etappe war erreicht, die entscheidende wohl. Was nachher folgte, baute darauf auf, innert weniger Jahrzehnte entstanden die meisten jener Firmen, die wir heute noch kennen. Sulzer, BBC, Nestlé, die Basler Chemie, schliesslich Banken und Versicherungen. 1848 wurde der moderne Bundesstaat ins Leben gerufen. Zu jenem Zeitpunkt zählte die Schweizer Textil- und Maschinenindustrie bereits seit Jahren zu den modernsten der Welt.

Um dieses Buch zu schreiben, begab ich mich nicht ins Archiv und betrieb keine eigene Forschungsarbeit. Ich stütze mich weitgehend auf Sekun­därliteratur. Diese allerdings ist unerschöpflich. Was Reformation, indus­trielle Revolution, Sklaverei und napoleonische Zeit anbelangt sowie­so, aber auch was mein engeres Erkenntnisinteresse betrifft: Zur schwei­­ze­ri­schen Wirtschaftsgeschichte liegen zahllose, ausgezeichnete Werke vor – wenn auch vielleicht die meisten ihren Fokus auf eine Zeit richten, die nach meinem Untersuchungszeitraum liegt. Ich nenne bloss die wichtigsten: Eine nach wie vor souveräne Übersicht bietet Jean-François Bergier in seiner «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz»6, die er schon in den 1980er Jahren publiziert hat. Unverzichtbar, um den frühen Durchbruch der schweizerischen Textilindustrie zu erfassen, ist Walter Bodmers Abhandlung zum Thema: «Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rah­men der übrigen Industrien und Wirtschafts­zweige» aus dem Jahr 1960, ferner Peter Dudziks «Innovation und Investi­tion» (1987) sowie Ulrich Pfisters Standardwerk zur zürcherischen Proto­industrie, «Die Zürcher Fabriques», das 1992 erschienen ist.

Zwar gilt Leo Weisz als ein Aussenseiter unter den Historikern, mehr Wirtschaftsjournalist als Wissenschaftler, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb zeichnete ihn ein scharfer Blick für Zusammenhänge aus, die andere übersahen, speziell ausgeprägt war sein Gespür für vergessene Anek­doten. Seine vielen Bücher sind eine Fundgrube. Mehr als das hinterliess natürlich Hans Conrad Peyer, einer der grossen Wirtschaftshistoriker unseres Landes, ich profitierte besonders von seiner «Verfassungsgeschichte der alten Schweiz» sowie von seiner rigoros quellenbasierten Studie: «Von Handel und Bank im alten Zürich». Das Gleiche gilt für Rudolf Brauns «Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz» und Ulrich Menzels «Auswege aus der Abhängigkeit». Von keinem Autor habe ich vielleicht mehr über den schweizerischen Sonderweg gelernt. Glänzend ist schliesslich Joseph Jungs «Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahr­hundert», worin er sich vorwiegend um die Zeit nach 1830 kümmert. Wir steuern gewissermassen die Vorgeschichte bei.

Zum Schluss noch drei Hinweise auf die internationale Literatur, die ich konsultiert habe: Die amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey legte unlängst eine Trilogie zur Geschichte des westlichen Kapitalismus vor, «The Bourgeois Era», die wenig Fragen offenlässt. Ebenso umfassend ist die Arbeit von Pim de Zwart und Jan Luiten van Zanden, zwei niederländischen Autoren: «The Origins of Globalization. World Trade in the Making of the Global Economy, 1500–1800». Last, but not least schrieb Thomas McCraw mit «Prophet of Innovation» eine brillante Biografie über Joseph Schumpeter, den vielleicht anregendsten Theoretiker, wenn es darum geht, ein Phänomen zu erklären, das auch dieses Buch über weite Strecken prägt: den Unternehmer, den schöpferischen Zerstörer. Ohne solche eigenwilligen, oft unbeliebten, immer interessanten Menschen hätte auch die Schweiz nie jene Karriere zustande gebracht, die ich jetzt erzähle.

Nachdem die Jungsozialisten den Escher-Wyss-Platz umgetauft hatten, schlugen die Jungfreisinnigen, also junge rechte Aktivisten, zurück. Sie nahmen sich ihrerseits die Strassenschilder linker Prominenz vor. In der Spiegelgasse überklebten sie eine Gedenktafel, die daran erinnerte, dass Lenin, der russische Revolutionär, hier einmal gelebt hatte: «Alfred-Escher-Strasse» hiess es nun.

Im Gegensatz zu Escher hatte Lenin tatsächlich die Sklaverei in Russland wieder eingeführt. Kaum an der Macht, liess er Konzentra­tions­lager einrichten, wo politische Gegner, Adlige, Popen, oder einfach vorlaute Vertreter der «Bourgeoisie» versklavt wurden. Die meisten überlebten nicht.

Markus Somm

im September 2021

Vgl. Rey, Claudia, Politische Debatten werden über Strassenschilder ausgetragen: Zürcher Jungpolitiker überkleben Lenin-Gedenktafel mit Alfred-Escher-Schild, in: NZZ, 4. Dezember 2020, https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-jungfreisinnige-und-jusos-ueberkleben-strassenschilder-ld.1590 366, abgerufen am 6. Juli 2021.

Heinrich Escher, der Vater, starb 1853 in Zürich.

Beckert, Sven, Brandon, Pepijn, Mit Blut und Schweiss, in: NZZ am Sonntag, 28. Juni 2020: «Die Schweizer Familie Escher besass im 19. Jahrhundert eine Kaffee­plantage auf Kuba, auf der Sklaven schuften mussten. Dies bescherte den Eschers einen erheblichen Teil ihres Vermögens. Alfred Escher erbte das Geld und verwendete es für den Bau der Gotthardbahn.» Das ist eine groteske Annahme: Insgesamt kostete die Gotthardbahn am Ende rund 230 Millionen Franken, heute entspräche das einem Betrag von 12,6 Milliarden Franken. So viel dürfte die Kaffee­plantage in Kuba nicht abgeworfen haben. – Die Finanzierung des Tunnel­baus war übrigens hochkomplex. Es beteiligten sich das Deutsche Reich, das König­reich Italien, die Eidgenossenschaft, diverse Kantone und Gemeinden sowie ein inter­nationales Finanzkonsortium, das unter der Führung der Berliner Disconto-Gesell­schaft stand, sowie die beiden Kölner Institute A. Schaafhausen'scher Bank­verein und Salomon Oppenheim junior und Compagnie. Das Konsortium umfasste auch zahlreiche renommierte Schweizer Firmen, darunter die Schwei­­zerische Kredit­anstalt oder verschiedene Bahngesellschaften.

Jung, Joseph, Aufgewärmte «teuflische Angriffe», in: Tages-Anzeiger, 10. Juli 2017, https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/aufgewaermte-teuflische-angriffe/story/26467 853, abgerufen am 13. Juli 2021.

International Monetary Fund, GDP per capita, current prices U.S. dollars per capita (2021), https://www.imf.org/external/datamapper/NGDPDPC@WEO/OEMDC/ADVEC/WEOWORLD, abgerufen am 13. Juli 2021; The World Bank, GDP per capita, current US $ (2020), https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?most_recent_value_desc=true, abgerufen am 13. Juli 2021; UNECE, Gross domestic product (GDP) per capita (2019), https://w3.unece.org/PXWeb/en/Country Ranking?IndicatorCode=12, abgerufen am 13. Juli 2021.

Für alle folgenden Titel finden sich die präzisen bibliografischen Angaben im Literaturverzeichnis.

Das Wirtschaftswunderland

Im Mai 1744 erfuhr Hans Conrad Gossweiler, dass die Seidenernte in Italien dieses Jahr besonders gut ausfallen würde. Deshalb wartete er mit seinen Bestellungen zu. Sicher würde der Preis für die Rohseide weiter fallen, dachte sich der Zürcher Seidenfabrikant, so dass es ungeschickt gewesen wäre, jetzt schon einzukaufen. Da auf dem Seidenmarkt aber nie etwas «sicher» war, liess Gossweiler seinen Lieferanten in Italien keine Ruhe. Fast jede Woche schrieb er ihnen einen Brief. Er erkundigte sich nach dem Preis, fragte nach der Ernte, wollte alles wissen über die Politik. Zu Recht, wie sich schon im Juni herausstellte, als man ihm mitteilte, dass die Ernte doch nicht so üppig werden würde. Allgemein rechnete man jetzt damit, dass die Preise so hoch liegen würden wie vor einem Jahr, also ziemlich hoch, zumal die Nachfrage inzwischen deutlich angezogen hatte. Den meisten Fabrikanten mangelte es an Rohstoffen, die Lager gähnten vor Leere. Ausserdem herrschte Krieg in Europa. Der österreichische Erbfolge­krieg (1740–1748) ergriff immer mehr Länder, bis so gut wie alle grossen Mächte daran beteiligt waren. Das musste den Preis für die Seide beeinflussen, keine Frage, bloss wusste niemand, in welche Richtung. Was sollte Gossweiler tun? Kaufen oder warten? Viel stand auf dem Spiel. Denn Seide war teuer, als Rohstoff genauso wie als Endprodukt, und wer schon zu teuer einkaufte, ging unter. Gossweiler behielt die Nerven. Im August schliesslich hatte sich die Lage wieder geändert, denn offenbar hatten die Seidenraupen Italiens doch viel mehr Seide abgesondert als erwartet, der Preis sank mit einem Ruck, und Gossweiler kaufte endlich ein. Er bestellte in Bergamo und Verona.

In der Regel fuhr er nicht selbst nach Italien, um seine Seide zu holen, sondern er setzte auf Spediteure, die er gut kannte, wie etwa die Firma Paravicini in Chiavenna oder Huber in Walenstadt. Sie erledigten den Transport. Sie packten die Seide in Bergamo und Verona auf Kutschen, verluden sie aufs Schiff, wo immer ein Fluss oder ein See sich als Transportweg anbot, und nutzten diesen einzigen wirklich bequemen Verkehrsweg so lange als möglich, bis es in die Berge ging, wo man nur mehr mit Maultieren vorwärtskam. Rund zwei Wochen später traf die Ware in Zürich ein. Hier gab sie Gossweiler sogleich an seine zahlreichen Arbeiter weiter, die allerdings nicht in Zürich tätig wurden, sondern in Männedorf und Stäfa. Es waren Bauern, die nebenbei in ihren Kellern Seide spannen und woben. Heim­arbeiter nannte man sie: Männer, Frauen, oft Kinder, die gegen einen geringen Lohn die rohe Seide in weiches, kostspieliges Tuch verwandelten. Kaum hatten sie ihre Arbeit verrichtet, tauchte ein Mitarbeiter von Goss­weiler auf, sammelte die fertige Ware ein und spedierte sie per Schiff nach Zürich zurück. Von hier aus verschickte sie Gossweiler in alle Welt: nach Frankreich, nach Spanien, nach Holland, nach Frankfurt und Leipzig, ja selbst nach Russland und Nordamerika. Gossweiler, der sich wohl zu Recht als den besten Seidenspinner von Zürich bezeichnete, betrieb ein hochrentables Unternehmen. Dabei erwarb er sich ein Vermögen und Res­pekt, sein Geschäft war kapitalistisch und globalisiert, als es diese Begriffe noch gar nicht gab.

Hans Conrad Gossweiler lebte von 1694 bis 1760 in Zürich. Er war ein typischer Kaufmann und Fabrikant dieser Stadt, wie es damals im 18. Jahr­hundert viele gab, ja Zürich war dank ihnen zu einer der reichsten Städte Europas aufgestiegen – was man zwar nicht gerade zur Schau stellte, aber im Stillen sehr wohl genoss. Wie Gossweiler produzierten die Zürcher Fabrikanten Seidenstoffe, zunehmend auch solche aus Baumwolle, sie importierten aus Italien, aus dem Nahen Osten oder aus der Karibik ihre Rohstoffe, liessen sie auf dem Land von Heimarbeitern veredeln und lieferten ihre Waren in alle Herren Länder.

Es hatte sich ein Wirtschaftswunder zugetragen, das auch die Zeit­genossen verblüffte. Es war eine kapitalistische Zitadelle entstanden in einem Europa, wo die meisten Menschen noch als Bauern ihr Leben fristeten – mehr schlecht als recht, nur knapp sich über dem Subsistenzniveau durchbringend, was sie erwirtschafteten, brauchten sie sogleich auf. Jede Missernte, jeder Krieg stürzte sie in Not, es drohte der Hungerstod. Im Kanton Zürich kam das ebenfalls vor, doch immer seltener. Bald schien es undenkbar.

1723 war in Paris ein «Lexikon des Handels» erschienen, wo alle wichtigen Länder und Städte der damaligen Weltwirtschaft behandelt wurden. Der Autor hiess Jacques Savary des Brûlons. Unter dem Stichwort «Zurich» hatte er geschrieben: «Die Zürcher haben aus ihrem Staat ein veritables Peru gemacht, obwohl sie über keinerlei Gold- oder Silberminen verfügen»1, womit Savary sehr viel Reichtum andeutete, denn Peru galt dank seiner Minen als ein Land von unermesslichen Schätzen. Es gehörte zu jener Zeit den Spaniern. «Doch im Gegensatz zu den harten Spaniern, die aus Peru so viel Gold und Silber herausgezogen haben, was sie auf Kosten des Blutes der armen Indianer taten, die sie in den Minen zur Arbeit zwangen, haben die Herren von Zürich ihren Staat und ihre Untertanen allein mit ihren Fabriken reich gemacht.»2 Savary musste es wissen. Er war hauptberuflich Generalinspektor des französischen Zolls und hatte die vielen Waren aus Zürich zu kontrollieren, die in Frankreich auftauchten.

Zürich stand nicht allein, ganz im Gegenteil, seit gut einem Jahr­hun­dert hatte sich in vielen Regionen der damaligen Schweiz – der sogenannten alten Eidgenossenschaft – immer mehr Industrie ausgebreitet. Ob in Basel oder Genf, ob in St. Gallen und der gesamten Ostschweiz, in Glarus, im Aargau: Überall war die Industrie gewachsen, bis sie, im Ausland lange kaum beachtet, im 18. Jahrhundert europäische Dimensio­nen angenommen hatte. Diese Schweiz des Ancien Régimes, wie man sie später auch bezeichnen sollte, ein merkwürdiges Relikt aus dem Mittelalter, erwies sich zugleich als eines der modernsten Länder, was seine Wirtschaft anbelangte.

Um 1780 war es zum wichtigsten Zentrum der europäischen Textil­industrie aufgestiegen. In diesem Jahr betrug der schweizerische Export 3 Millionen £, im Jahr 1800 5 Millionen £, was in beiden Fällen etwa zwei Prozent des gesamten Welthandels entsprach.

Wenn wir uns vor Augen halten, dass die Weltbevölkerung sich zu jener Zeit auf etwa eine Milliarde Menschen belief und die Eidgenos­senschaft bloss 1,7 Millionen Einwohner davon beherbergte, wird deutlich, als wie überproportional wir diesen schweizerischen Anteil am Welt­­handel einzuschätzen haben: 1,7 Millionen sind 0,17 Prozent im Verhältnis zu einer Milliarde, die Schweizer lieferten also mit zwei Prozent rund zwölf Mal mehr Waren, als ihre Bevölkerungszahl hätte annehmen lassen. Was für eine erstaunliche Exportleistung – besonders für ein Land, das in den Augen der meisten Europäer noch kurz zuvor nur eines zu exportieren gewusst hatte: die brutalsten und teuersten Söldner der Weltgeschichte. Doch im 18. Jahrhundert sah alles anders aus. Aus einer Nation der Söldner war ein Land der Fabrikanten, Kaufleute und Arbeiter geworden.

Der Umfang dieser frühen Industrie war gewaltig. Die Behörden des Kantons Zürich hatten im Jahr 1787 alle Arbeitskräfte zählen lassen, die in der Baum­wollindustrie untergekommen waren. Es handelte sich um den führenden Sektor. Man ermittelte 34 000 Spinner und nahezu 6500 Weber, insgesamt arbeiteten wohl 50 000 Menschen in der Produktion von Baum­wollstoffen, was einem Drittel aller Arbeitskräfte im Kanton entsprach. Angesichts der Tatsache, dass ausserdem 4000 Leute in der Seidenher­stel­lung ihr Geld verdienten, kann man ermessen, wie ausgeprägt sich der Kanton Zürich schon industrialisiert hatte. Alles in allem betrug dessen Bevölkerung 1792 rund 175 000 Einwohner.

Ähnlich sah es in den übrigen Industrieregionen aus. So wurden im Aargau etwa zur gleichen Zeit rund 30 000 bis 40 000 Leute registriert, die in der Baumwoll- und in der Leinenweberei tätig waren, was ebenfalls einem Drittel der Erwerbsbevölkerung gleichkam; der heutige Kanton gehörte damals zu weiten Teilen zu Bern.

Auch Basel zählte zu diesen produktiven, modernen Gebieten, allein im Kanton, der damals sowohl Basel-Stadt als auch Baselland umfasste, standen über 2300 Webstühle, auf denen das allerseits begehrte, exquisite Seidenband hergestellt wurde. Längst hatte sich diese Luxusbranche ebenso ins Elsass, in das Badische und in das Fricktal ausgedehnt.

Seidenbänder stiessen zu jener Zeit auf eine stabile Nachfrage, besonders der Adel verbrauchte sie in rauen Mengen, um sich standesgemäss zu schmücken oder aufzuputzen, wie man das nannte. Ob am Hut oder am Kleid, an den Strümpfen oder am Hemd: Nie durfte ein Seidenband fehlen. Paris, die neue Hauptstadt der Mode, liebte Basel. Basel liebte Paris.

Dass ausgerechnet das protestantische Basel sich an diesem Luxus­produkt bereicherte, entbehrte nicht der Ironie, denn die Politiker und Pfarrer der Stadt taten alles, um den eigenen Bürgern mit strikten Sitten­mandaten das Seidenband zu verleiden; nur sehr eingeschränkt war dessen Einsatz erlaubt. Man exportierte nach Frankreich, was man selbst nicht benutzen durfte. Nicht alle hielten sich daran.

«Die alten Sittengesetze Basels», hiess es in einem Lexikon des 19. Jahr­hunderts, «waren von merkwürdiger Strenge. So mussten sonntags alle in schwarzen Anzügen zur Kirche gehen, Frauen und Mädchen durften sich das Haar nicht von Männern ordnen lassen, nach zehn Uhr abends wurden keine Wagen in die Stadt gelassen, und niemand durfte einen Bedien­ten hinten auf seinem Wagen haben. Mit der Frömmigkeit ging aber der ‹Handelsgeist› Hand in Hand, und Basel ist deshalb auch ‹Wucherstadt› genannt worden. Fünf Prozent galt als mindester ‹christlicher Zins›, und wer seine Kapitalien zu geringerem Zinsfuss auslieh, wurde als staats­gefährlich verfolgt.»3

Nirgendwo aber war die Wirtschaft wohl stürmischer gewachsen als im Glarnerland, in einem von der Natur ungnädig behandelten, faktisch aus wenig mehr als einem einzigen Tal bestehenden Minikanton: 1794 belief sich die Glarner Bevölkerung auf rund 22 000 Einwohner. Davon waren sage und schreibe zwei Drittel in der Industrie tätig, bloss ein Drittel kümmerte sich noch um die traditionelle Landwirtschaft. Damit gehörte Glarus im 18. Jahrhundert zu den am meisten industrialisierten Regionen der Welt.

Vorangegangen war ein aussergewöhnlicher, ja überstürzter Struktur­wandel: Seit undenklichen Zeiten hatten sich die Glarner der Viehzucht, der Alpwirtschaft und den Solddiensten für fremde Staaten gewidmet, doch Anfang des 18. Jahrhunderts war zuerst die Baumwoll­spinnerei, dann der Zeugdruck aufgekommen, also das Bedrucken von Textilien, wofür die Glarner Unternehmer schliesslich weltberühmt werden sollten. Wie so oft hatte die Industrialisierung gleichzeitig eine markante Zunahme der Bevölkerung bewirkt: Im 14. Jahrhundert dürften bloss 4000 Menschen im Glarnerland gelebt haben. 1700 war ihre Zahl auf 10 000 angestiegen, um sich bis 1794 mehr als zu verdoppeln. Mit anderen Worten, in knapp hundert Jahren war der Kanton so stark gewachsen wie in den vorhergehenden dreihundert Jahren zusammen.

«Diese Bevölkerung», stellte Johann Gottfried Ebel, ein deutscher Besucher, 1797 fest, «steht in keinem Verhältnis mit den nutzbaren Grund­stücken des Landes, und man kann daher mit Recht sagen, dass der Kanton Glarus für seine Bewohner zu klein ist.»4 Ebel stammte aus Preussen; von der Ausbildung her ein Arzt, bereiste er in den 1790er Jahren wiederholt die Schweiz und verfasste Reiseberichte, die dem ausländischen, besonders dem deutschen Touristen das Alpenland näherbringen sollten. Ebel fuhr fort: «Mit der Einführung neuer Erwerbszweige [der Textilindustrie] wurden die Ehen häufiger und fruchtbarer, die Güter der Familien zerfielen in kleinere Teile und deren Zerstückelung erreichte bei steigender Menschenvermehrung den höchsten Grad.»5

Wenn man bedenkt, dass zu jener Zeit die Linthebene, jenes weite Gebiet zwischen Walen- und Zürichsee, das den Zugang zum Glarnerland beherrscht, noch nicht entsumpft und melioriert war, wird deutlich, als wie aussergewöhnlich die Frühindustrialisierung in diesem ab­geschnitte­nen Tal mitten im Gebirge zu beurteilen ist. Der Sumpf erschwerte den Verkehr von Personen und den Transport von Gütern, der Sumpf begünstigte auch die Malaria, die regelmässig ausbrach und die Menschen heimsuchte. In der Tat: Das Glarnerland war ein verwunschener Ort. Ein Kra­chen, von dem man zuletzt erwartet hätte, dass er sich je zu einem so bedeutenden Standort der Textilindustrie heranbilden würde. Ein Wun­der, ein Zufall? Weder das eine noch das andere.

Verwunschen, abgeschnitten, vom Schicksal bestraft: Das Gleiche lässt sich von einem zweiten Minikanton in den Voralpen sagen, dessen Ent­wicklung nicht weniger verblüffend verlaufen war: Appenzell Ausserrhoden hatte sich im 18. Jahrhundert ebenfalls zu einem Schwer­punkt der Textil­industrie verwandelt. Von den 35 000 Menschen, die seinerzeit dort lebten, arbeiteten 11 000 für den Export von Stoffen, nur eine Minderheit fand noch in der Landwirtschaft ihr Auskommen. Wenn Appenzell Ausser­rhoden auch das eindrücklichste Beispiel der Industrialisierung in der ­Ost­­schweiz darstellte, so war es doch keine Ausnahme: Ob Toggen­burg, Fürstenland, Thurgau oder das Rheintal: Überallhin hatte sich die Textil­industrie ausgedehnt, in konzentrischen Kreisen war sie jedes Jahr gewachsen, und in der Mitte lag die Stadt St. Gallen, wo die Unternehmer residierten, die dieses Geschäft – Import, Produktion und Export – im Wesentlichen dirigierten. Hatten die St. Galler zuerst jahrhundertelang die Leinenindustrie des gesamten Bodenseeraumes dominiert, waren sie zu Anfang des 18. Jahrhunderts auf die Baumwolle umgestiegen, dann erfanden sie die Stickerei, die sie bis zum Ersten Weltkrieg überaus reich machen sollte. Allein im stockkatholischen Appenzell Innerrhoden rührte sich wenig. Hier gab es kaum Industrie.

Last, but not least hatte sich in der Schweiz, insbesondere in Genf und Neuenburg, eine weitere Industrie etabliert, die das Land bis auf weiteres ebenso prägen sollte: die Uhrenindustrie, deren Produkte in ganz Europa auf beachtlichen Absatz stiessen. 10 000 Uhrmacher gingen in der Westschweiz dieser Tätigkeit nach – die kaum jemand sonst beherrschte.

Die Schweiz, ein Industriestaat avant la lettre. Für die spätere Ge­schichte des Landes sollte sich dieser sehr frühe Start als ausserordentlich folgenreich herausstellen. Gewiss, das war keine Industrie, wie wir uns das heute vorstellen. Noch fehlten weitgehend die Maschinen, es überwog Handarbeit, ebenso trug sich der grösste Teil der Produktion in der Heim­industrie zu: Tau­sende von Heimarbeitern, kleine Bauern und Bäuerinnen im Nebenberuf, stellten die Textilien auf ihren Höfen her, selbst die meisten Uhrmacher tüftelten, schliffen und schraubten zuhause; Fabriken, wie wir sie kennen, kamen selten vor.

Es hatte eine «Industrialisierung vor der Industrialisierung» stattgefunden, wie die Wirtschaftshistoriker diesen Wandel heute in Worte fassen. Die Menschen bewegten sich zwischen agrarischem Gestern und industriellem Morgen, im rasenden Stillstand sozusagen, was sich im Fall der Schweiz allerdings als entscheidender Vorzug erweisen sollte. Die Schweiz galt als ein Pionier dieser sogenannten Protoindustrie, deshalb wuchs sie auch zum Pionier der darauffolgenden industriellen Revolution heran.

Zwar sahen sich lange nicht alle Kantone in der damaligen alten Eid­genossenschaft von dieser Entwicklung betroffen. In manchen war die Zeit stehen geblieben, und man lebte dort, als wäre das Mittelalter nie vergangen. Wo die Industrie sich aber festgesetzt hatte, und das waren eben doch viele Regionen, brach eine neue Ära an. Alles wurde anders, vieles modern, den meisten ging es besser, lange bevor die Französische Revolu­tion von 1789 ganz Europa aus den Angeln heben sollte.

Den meisten Zeitgenossen war dies bekannt, zumal sie wie etwa der oberste französische Zollinspektor Jacques Savary mit den Folgen dieses Wirtschaftswunders zu tun hatten. Später geriet dieser vorzeitige Durch­bruch in Vergessenheit, wie der deutsche Soziologe Ulrich Menzel feststellte: «Der Blick der Wirtschaftshistoriker, die sich mit den Anfängen der Industrialisierung beschäftigen, richtet sich in erster Linie auf Eng­land»6, und wenn auf den Kontinent, dann allenfalls auf Frankreich: «Dabei wird vielfach übersehen, dass zumindest in dem Leitsektor der frühen Industrialisierung, der Textilindustrie, die Schweiz im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts das führende Land in Europa war und zwischen 1750 und 1780 eine erste Hochkonjunktur erlebte.»7 Mit Blick auf die Kon­kurrenz kommt Menzel zum Schluss: «Die schweizerische Baumwoll­industrie ist älter als die englische und die Seidenindustrie älter als diejenige Lyons.»8

Wie war das möglich? Auf den ersten Blick gab es vielleicht kein Land in Europa, dem man einen solchen wirtschaftlichen Aufstieg weniger zugetraut hätte als der Schweiz. War es nicht ein Land mitten im Gebirge, wo es zu allem Elend nicht einmal Gold oder Silber oder Eisenerz gab wie in so vielen Bergregionen der Welt? Hätten die Schweizer wenigstens ein paar Rohstoffe aus ihren Felsen brechen können, wären sie wohl der Natur in einer besseren Position gegenübergestanden, stattdessen fanden sie nur Schutt, fettes Gras, Moos und Flechten. Sie bissen buchstäblich auf Granit.

Sie lebten überdies in einer Eidgenossenschaft der Isolation, ohne Meeranschluss, ohne Seehäfen, zwar mit Flüssen versehen, die sich allerdings nur teilweise mit Schiffen befahren liessen. Wer exportieren wollte, war stets auf die Gutmütigkeit seiner Nachbarn angewiesen. Zwei Drittel des Landes lagen in den Alpen oder im Jura, in unfruchtbarem und unwegsamem Gebiet. Das eine hintertrieb eine produktive Landwirtschaft, das andere erschwerte den Transport von Waren und machte ihn vor allen Dingen kostspielig, unzuverlässig und langsam. Wie konnte es sein, dass sich ausgerechnet diese Schweiz zum Standort einer leistungsfähigen Exportindustrie entwickelt hatte?

Vielleicht ist kein Thema in der schweizerischen Geschichte von mehr Belang, und womöglich ist keines unbekannter – was so verblüffend wirkt wie die Tatsache selbst. Bevor ich mich jedoch damit beschäftige, möchte ich diese Industrie des 18. Jahr­hunderts beschreiben. Wenigen dürfte die sogenannte Heim- oder Haus­industrie vertraut sein. Sie war ein Wunder, sie war ein Elend – auch in der Schweiz setzte der Kapitalismus mit Licht und Schatten ein.

Kapitalismus im engsten Tal und im hintersten Krachen

Die Schweizer wurden zur Exportnation – und weil sie dem ersten An­schein nach dafür nicht die besten Voraussetzungen mitbrachten, verlegten sie sich auch auf ausgewählte Produkte – und stellten diese auf eine besondere Art her. Sie machten gewissermassen aus der Not eine Tugend. Es gab im Wesentlichen zwei Ansätze.

Der eine ist uns noch heute vertraut: hohe Qualität. Wenn der Export schon so teuer war, aus einem Land der Berge ohne Meer, dann machte es für die Schweizer Sinn, sich auf Dinge zu spezialisieren, die wenig wogen und daher billiger zu verfrachten waren, die aber gleichzeitig im Vergleich zu ihrem Gewicht unendlich viel Wert besassen. Uhren entsprachen diesem Anforderungsprofil bestens, und seit dem 16. Jahrhundert machten sich die Genfer Uhrenmacher deshalb auf, die Weltmärkte zu erobern. Es verging nicht viel Zeit, bis diese ausgesprochene High-Tech-Branche der frühen Neuzeit in die Juratäler ausgriff, nach Neuenburg und in den Berner Jura, bis die Schweizer im 18. Jahrhundert zu den weltweiten Marktführern für Uhren aufgerückt waren, was sie für lange Zeit bleiben sollten. Nie­mand sah sich in der Lage, so präzise Uhren zu fertigen, niemand traute sich zu, diese winzigen Zaubermaschinen zu übertreffen. Die Schweizer erzielten hohe Preise für hohe Qualität.

Den zweiten Ansatz wandte die Textilindustrie an. Er ist uns weniger geläufig. Leicht und wertvoll und von hoher Qualität waren zwar auch die Textilien, die in der Schweiz hergestellt wurden, nämlich Seide, Stickereien oder feine Baumwollstoffe – darin unterschied sich die Textil­branche nicht grundlegend von der Uhrenindustrie. Doch im Gegensatz zu dieser handwerklich anspruchsvollen Fertigung, wo gut bezahlte Fach­arbeiter eingesetzt wurden, stützten sich die Textilunternehmer vorwiegend auf Heim­­arbeiter, die zu sehr tiefen Löhnen spannen und woben. Noch lange sollte dieser Vorzug – aus Sicht der Unternehmer – die schweizerische Industrie prägen und überaus konkurrenzfähig machen, was sich heute, da Schweizer Konzerne längst die höchsten Saläre der Welt anbieten, kaum jemand mehr vorzustellen vermag.

Dass die Löhne so tief lagen, hing damit zusammen, wer für diese frühe Textilindustrie arbeitete, die Bauern und Bäuerinnen in abgelegenen, von der Natur keineswegs verwöhnten Gebieten, wo ihnen feuchte Täler, Hügel, steile Hänge und miserable, steinige Böden das Leben so schwer machten, dass sie dringend auf einen Nebenverdienst angewiesen waren. Die meisten verfügten aus­ser­­dem über wenig Land und nur eine geringe Anzahl von Tieren. Zwar lebten sie von der Landwirtschaft, aber mehr schlecht als recht. Die Heimarbeit, die sie für die Textilunternehmer ausführen durften, war kritisch. Ohne sie wären sie wohl verhungert. Und trotzdem blieb es ein Nebenverdienst, den sie in ihrer «Freizeit» neben der Landwirtschaft erzielten, in der Regel zuhause auf ihrem eigenen Bauernhof. Dass es schliess­­lich für sie ein Nebenverdienst war, kam dem Unternehmer zupass, es ermöglichte ihm, weniger zu bezahlen, als nötig gewesen wäre, wenn diese Arbeiter allein von ihrem Lohn hätten leben müssen.

Was bei oberflächlicher Betrachtung wie eine etwas altertümliche Form der Industrie anmuten mag, nahm in Tat und Wahrheit die Zukunft vorweg – die kapitalistische Zukunft, wo dem Unternehmer und dem Markt eine herausragende Bedeutung zukommen sollte.

Zwar benutzte man noch kaum Maschinen – es wurde von Hand gesponnen, von Hand gewoben, von Hand gebleicht, von Hand veredelt und gestickt, und doch haben wir es mit einer Produktion zu tun, die manch einem Zeitgenossen als revolutionär erschien: Modern war zuallererst die Art und Weise, wie die Arbeit aufgeteilt und vollzogen wurde. Man spricht in der Geschichtsschreibung vom «Verlagssystem», von einer Organisa­tions­­form, wo manchmal Hunderte von Arbeitern für einen einzigen Un­ter­­nehmer tätig waren, in der Regel als Heimarbeiter, meistens auf dem Land, seltener in der Stadt. Wenn es Fabriken gab, dann einzig, um hier die anspruchsvollsten Veredelungsschritte am Produkt vorzunehmen, dafür stellten die Unternehmer ein paar Spezialisten ein. Heim­arbeiter dagegen arbeiteten immer daheim, in ihren vier eigenen Wänden, wie der Begriff verrät.

Sie bekamen von ihrem Auftraggeber die Rohstoffe, manchmal auch die Halbfabrikate geradewegs nach Hause geliefert, wo sie sie in einem bestimmten Zeitraum verarbeiteten, nach dem die Ware wieder abgeholt wurde. In der Textilindustrie dauerte dies ein bis zwei Wochen, in der Uhrenindustrie zuweilen ein halbes Jahr. Die Heimarbeiter erhielten dafür einen Lohn, und ihre Erzeugnisse gingen überwiegend in den Export. Sie stellten Mas­sengüter für einen Massenmarkt her. Auch das wirkt aus heutiger Sicht modern.

Der Begriff Verlagssystem geht auf die Tatsache zurück, dass die Unternehmer ihren Arbeitern den Rohstoff, manchmal auch das Arbeits­gerät «vorlegten», auslegten oder vorschossen; deshalb wurden diese Unter­nehmer auch Verleger genannt – mit den Verlegern der Gegenwart, also jenen Leuten, die einen Verlag betreiben, um Bücher auf den Markt zu bringen, hatten sie nichts zu tun.

Die Verleger stellten eine Kreuzung von Fabrikanten und Kaufmann dar. Die meisten Verleger des 18. Jahrhunderts waren in der Textilindustrie tätig. Es gab indessen auch solche, die Uhren, Musikdosen, Waffen, Spiel­zeug, Mützen, Strümpfe oder Taschen herstellen liessen. Und die Mehr­heit, das ist genauso wesentlich, befand sich in der Stadt, während die Mehrheit der Leute, die für sie tätig waren, eben auf dem Land wohnte und dort für sie arbeitete. Häufig sicherten vorteilhafte Gesetze die starke Stellung der städtischen Verleger ab, manchmal hatten sie sich gar ein Monopol für ihre Geschäfte geben lassen. Die städtischen Räte sorgten für ihre städtischen Unterneh­mer – nicht immer, aber oft genug.

In der Kreuzung von Fabrikanten und Kaufmann liegt wohl die folgenreichste Innovation des Verlagssystems, wenn man an den späteren Sie­geszug des Kapitalismus denkt. Es wurde ein neuer wirtschaftlicher Typus geboren, der Unterneh­mer – für die einen ein Held oder gar ein «Titan», wie ihn der Öko­nom Joseph Schumpeter beschreiben sollte, für die anderen das Böse schlechthin, der «Bourgeois», der Robber-Baron, wie ihn die Amerikaner denunzierten, ein Raubritter, der Bonze.

Eine Kreuzung von historischer Tragweite ohne Frage: Während der herkömmliche Kaufmann, wie man ihn seit der Antike kannte, in erster Linie Rohstoffe und Waren kaufte, lagerte, lieferte und verkaufte, wagte sich der jetzt als Verleger auftretende Unternehmer auch in die Produktion vor, ja am Ende unterwarf er sich die gesamte Wertschöpfungskette, sofern ihm das gelang.

Der Verleger kaufte den Rohstoff ein, liess ihn verarbeiten und verschickte das Produkt in die Welt hinaus. Um dazu in der Lage zu sein, musste er alles wissen, was den Kaufmann schon immer ausgezeichnet hatte – und manches darüber hinaus: Er durchschaute den Markt, wusste, wo man den billigsten und besten Rohstoff erhielt, hatte aber auch Kenntnis davon, was die Kunden sich wünschten, manchmal bevor diese selbst das erahnten; der neue Unternehmer kannte sich aus in Mode, Stil und Qualität und überblickte Angebot und Nachfrage. Indem er Rohstoffe aus aller Welt bezog und nach überallhin exportierte, glich der Verleger dem Fernhändler des Mittelalters. Wenn er sich aber von diesem Kauf­mann deutlich abhob, dann darin, dass er eben auch über Produktions­methoden, Arbeitskräfteangebot oder später Maschinen im Bilde sein musste. Wer als Verleger zu Erfolg gelangen wollte, kam nicht umhin, sich zum Universal­genie in Sachen Profit auszubilden. Er wagte viel, er wagte alles. Einmal stürzte er in die Hölle ab, das andere Mal stieg er in den Himmel auf: Wo immer er aber endete, meistens hatte er in der Zwi­schen­zeit keinen Stein auf dem anderen gelassen. Wahrscheinlich trieb niemand die wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche Umwälzung des Westens im Zeichen von Industrie und Kapitalismus mehr voran als der moderne Unternehmer. Wie kein anderer stand er für die «schöpferische Zerstö­rung», wie Schum­peter den wirtschaftlichen Strukturwandel später charakterisierte.9

Mit dem Unternehmer wurde allerdings auch die wirtschaftliche Ab­hän­gigkeit von vielen Menschen zwar keineswegs erfunden, aber doch vertieft und auf eine bemerkenswerte Weise modernisiert. Zugegeben, Ab­hän­­gige hatte es immer gegeben, ja auf die meisten Menschen traf dies seit Urzeiten zu, frei und unabhängig war so gut wie niemand: Die Kirche stützte sich auf Leibeigene, Klöster besassen Sklaven, der Adel herrschte über Bauern, die ihm Fronarbeit und den Zehnten schuldeten, Königinnen liessen sich bedienen, Bischöfe verwöhnen, und fast jeder Handwerksmeister beschäftigte ein paar Gesellen, während die Meistersfrau über Köchin und Magd kommandierte: Selbst Lohnarbeit war also schon im Mittelalter verbreitet gewesen – und doch führte das Verlagssystem jene spezielle Abhän­gigkeit von den Unternehmern und den Launen des Marktes ein, die so viele Intellektuelle später als «Ausbeutung» und «Entfremdung» geisseln sollten. Allen voran Karl Marx, der Wegbereiter des Kom­mu­nismus.

Und es stimmte ja. Der Heimarbeiter in seinem feuchten Keller, die Heimarbeiterin mit ihren klammen Fingern am Spinnrad waren dem Verleger auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er bestimmte ihren Lohn – und da es lange Zeit mehr von jenen Leuten gab, die nach einem Neben­verdienst suchten, als Verleger, die nach diesen verlangten, besassen die kleinen Bauern in den engen Tälern und den hinteren Krachen schlechte Karten, um eine bessere Bezahlung für sich herauszuholen. War das nicht ungerecht? Und selbst wenn es sich um ein Verhältnis handelte, das nicht von heute auf morgen so einseitig gewesen war, so steckte im Verlagssystem doch der Keim des Kapitalismus. Kaum war der Verleger auf der historischen Bühne aufgetaucht, stiess er eine Entwicklung an, die auf lange Sicht kaum mehr aufzuhalten war. Lohnarbeit wurde nach ein paar Jahr­hunderten im Westen zur Norm, das Kapital, will heissen die Finan­zie­rung, sollte die gesamte Produktion durchdringen, und am Ende hing tatsächlich das Schicksal von zahllosen Arbeitern und deren Familien von den Fähigkeiten eines einzelnen Unternehmers ab – und wenn nicht von diesem allein, dann vom Markt, wo unsichtbare Kräfte über die Wohlfahrt ganzer Völker entschieden. Musste eine solche «kapitalistische Produk­tions­weise», wie sie Marx nannte, nicht unvermeidlich in die Revo­lution führen? Marx und mit ihm später Millionen von dessen An­hängern waren überzeugt davon. Es war ein Wirtschaftssystem, das sich leicht denunzieren liess, selbst wenn es sehr viel mehr Wohlstand schuf als jedes andere zuvor.

Zu Anfang, als sich das Verlagssystem in der Textilproduktion herausformte, gab es noch viele selbstständige Spinner und Weber – was damit zusammenhing, dass der Flachs der wichtigste Rohstoff für ihr Produkt darstellte. Flachs wuchs auch in der Schweiz, ja in gewissen Gebieten wie der Ostschweiz sogar besonders gut, und viele Spinner und Weber zogen es daher vor, ihn selbst anzupflanzen, um ihn daraufhin zu Leinwand zu verarbeiten. Für die Rohstoffbeschaffung waren sie auf keinen Verleger angewiesen, sondern dieser kam erst ins Spiel, wenn es darum ging, die fertige Ware zu exportieren. Noch handelte es sich um ein recht egalitäres Auftragsverhältnis.

Als im 16. Jahrhundert jedoch die Baumwolle in Europa auftauchte, ein Rohstoff, der aus dem Nahen Osten oder Indien eingeführt werden musste, nahm die Bedeutung des Verlegers zu. Nun sorgte er auch für den Rohstoff. Zunächst kaufte manch ein Spinner dem Verleger diesen noch ab, um ihm nachher die Ware wieder zu verkaufen. Das überbürdete ihm allerdings ein beträchtliches Risiko: Konnte er ahnen, wie sich die Nachfrage nach seinem Produkt auf dem Weltmarkt in zwei, drei Monaten entwickeln würde? Brach sie ein, blieb der Weber auf seinem Stoff sitzen und konnte ihn nur noch zu tiefsten Preisen losschlagen. Zog die Nach­frage unerwartet an, stand dem Spinner zu wenig Garn zur Verfügung, um aus den höheren Preisen Nutzen zu ziehen. Angesichts der Tatsache, dass er verhältnismässig viel Geld investiert hatte, um sich den Rohstoff zu beschaffen, wird verständlich, warum die Freiheit des Produzenten diesem selbst hin und wieder als eine bittersüsse Freiheit erschien: Fluch und Segen zugleich.

So war es nur eine Frage der Zeit, bis der Verleger dieses Risiko übernahm und die Heimarbeiter zu Lohnabhängigen machte. Nach und nach schwang er sich zum Herrn des gesamten Produktionsprozesses auf. Dabei war nichts entscheidender als der Umstand, dass er diesen auch durchgehend finanzierte. Er stellte das Kapital bereit und gab es nie mehr aus der Hand – er war der Kapitalist. So blieb der Rohstoff, dann das Zwischenprodukt wie etwa das Garn, das der Handspinner herstellte, oder schliesslich das vollendete Tuch, das der Weber ablieferte, stets im Besitz des Verlegers. Heimarbeiter waren Lohnarbeiter, sie wurden nicht als Selbstständigerwerbende betrachtet wie etwa ein Hand­werksmeister, der als Schreiner sein Holz bestellte, es daraufhin ver­arbeitete und schliesslich den neuen Tisch einem Kunden verkaufte. Heim­­­­arbeiter besassen ihre Ware nicht, gleichzeitig wurde von ihnen aber oft erwartet, dass sie für Spinnrad, Webstuhl oder anderes Gerät selbst aufkamen, ebenso sorgten sie für ihren Arbeitsplatz, ohne dass der Ver­leger daran einen Beitrag geleistet hätte – in der Regel diente der Kel­ler oder die Stube im eigenen Bauernhaus als solcher. Wenn Heimarbeit aus Sicht des Verlegers eine gute Einrichtung war, dann lag dies auch daran, dass er auf diese Weise zusätzlich Kosten einsparte. Heute würde man von Out­sourcing sprechen.

Gleichwohl zogen auch die Heimarbeiter daraus Nutzen, denn bei aller Not, die sie dazu zwang, sich einem Verleger anzuvertrauen, wurden sie damit auch manch eine Sorge los. Zwar gaben sie ihre Selbstständigkeit auf und tauschten sie für eine manchmal drückende Abhängigkeit ein, dennoch, so scheint es, nahmen sie dies häufig nur zu gerne in Kauf. Von den Schwankungen des Marktes hatten sie wenig zu gewinnen – solange sie so gut wie ungeschützt damit umgehen mussten.

Für den Export zu arbeiten, erforderte Sachwissen, gute Nerven, Kapital und eine Risikofähigkeit, wie sie nur wenigen gegeben war – zumal in jener Epoche, der frühen Neuzeit, wo alles unsicher, alles prekär erschien: Informationen, das Reisen, der Transport, die Kre­dit­beziehungen, die Eigentumsgarantie, Geld. Dass unter solchen Umstän­den nur wenige sich in dieses Geschäft vorwagten und dass die meisten, die dies taten, ursprünglich Kaufleute gewesen waren, die sich neuerdings auch in Fabrikanten verwandelten, kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Zuerst die Kaufleute, dann die Verleger, sie waren die frühen Virtuosen der Marktwirtschaft. Sie gehörten zu den Ersten, die sich der Brutalität der Preisbildung auf dem Markt ausgesetzt hatten, sie waren die Ersten, die die anonyme, mitunter unheimliche Macht von Angebot und Nachfrage für sich ausnutzten – oder daran zerbrachen. Reichtum und Bankrott lagen immer nah beieinander.

Glück und Elend des Verlagssystems

Das Verlagssystem war modern, weil es den Verleger in die Lage versetzte, sehr viel mehr produzieren zu lassen als je zuvor – ob es sich nun um Musikdosen handelte, Strümpfe, Taschen oder eben um Textilien. Der Ausstoss war enorm – besonders im Vergleich zum alten Gewerbe, wo der einzelne Handwerker alles selber machte und sich oft tagelang mit einem einzigen Produkt beschäftigte. Im Verlag dagegen fertigten Tausende von Heimarbeitern rastlos Waren in Mengen, wie das vorher, ob auf dem Bauernhof oder in der Handwerksbude, nicht vorstellbar gewesen war. Die zahllosen Arbeiter, die daran beteiligt waren, bildeten gleichsam ein menschliches Fliessband.

Darin zeigte sich Stärke und Schwäche des Verlagssystems zugleich. Der Faktor Mensch. Denn die Produktivität liess sich nicht unbegrenzt steigern. Noch gab es kaum Maschinen, noch stand die Handarbeit im Vor­­dergrund, und nur wenige Innovationen – wie etwa der Einsatz des Spinnrades anstatt der Spindel – beschleunigten die Produk­tion. Keine Frage, je erfahrener und tüchtiger die Heimarbeiter waren, desto mehr lieferten sie, und desto schneller stellten sie ihre Ware fertig – ab einem gewissen Punkt war es jedoch nicht mehr möglich, noch mehr von ihnen zu erwarten.10

Hinzu trat ein zweiter kritischer Punkt: das numerische Verhältnis zwischen Spinnern und Webern. Um einen einzigen Weber mit ausreichend Garn zu versorgen, brauchte es in der Regel fünf Spinner. Es handelte sich hier um einen regelrechten Flaschenhals, eine Verengung, wodurch die Produktion in der frühen Textilindustrie empfindlich behindert wurde. Gab es zu wenig Spinner oder genauer Spinnerinnen (denn meistens übernahmen Frauen diese Aufgabe), und wurde deshalb zu wenig Garn ausgeliefert, sah sich der Weber gezwungen, untätig herumzusitzen. Aus lauter Verzweiflung reiste der eine oder andere dann selber in der Gegend herum, um das nötige Garn aufzutreiben.

Auf jeden Fall liess sich dieses Problem nicht leicht aus der Welt schaffen. Erst die Maschine bot Abhilfe – dann allerdings auf eine revolutionäre Art und Weise, die alles erschütterte. Solange diese Engpässe jedoch bestanden, stiess die Verlagsindustrie immer wieder an natürliche oder bes­­ser gesagt menschliche Grenzen. Wenn der Verleger die Produktions­menge etwa ausdehnen wollte, weil sich die Nachfrage nach seinen Stoffen erhöht hatte, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als mehr Leute einzustellen. Aus diesem Grund wuchs das Verlagssystem zusehends in die Breite, will heissen, Schritt für Schritt erfasste es ein Dorf nach dem andern, dann das ganze Tal, daraufhin die Region, bis schliesslich auch da das Angebot an Arbeitskräften ausgeschöpft war und man sich gezwungen sah, in die weitere Nachbarschaft auszuweichen.

In der Ostschweiz lässt sich dies gut nachvollziehen, der Prozess setzte schon im 15. Jahrhundert ein: Auf der Suche nach Arbeitskräften wandten sich die St. Galler Verleger zuerst in die nächste Umgebung ihrer Stadt. Nachdem dort niemand mehr zu finden war, drangen sie ins Rhein­­tal vor, in den Thurgau, ins Fürstenland und ins Toggenburg, des Weiteren nach Appenzell Ausserrhoden und Glarus, ja selbst nach Grau­bünden. Doch irgendwann reichte auch hier das Reservoir nicht mehr aus, und man stellte Heimarbeiter im nahen Ausland an, in Vorarlberg vor allem, aber auch im Allgäu und in Oberschwaben, so dass die Ost­schweizer Verlagsindustrie zu einer internationalen Arbeits­orga­nisa­tion heranwuchs, die Zehn­tau­senden von Menschen in der gesamten Boden­see­region ein Auskom­men bot.

«Wir haben es», urteilt Menzel, «bei den St. Galler Verlegern also mit einer Frühform multinationaler Unternehmer zu tun, die ihre Rohstoffe, Baumwolle und Farbstoffe, aus dem Nahen Osten, Brasilien und den Antillen bezogen, ihre Produkte in den Nachbarkantonen, in Österreich, Bayern, Baden und Württemberg herstellen liessen, um sie dann in Frankreich und dem übrigen europäischen Ausland abzusetzen.»11

Dass es nicht ganz anspruchslos war, ein solch gewaltiges, dezentrales Unternehmen zu überschauen und zu betreiben, liegt auf der Hand. Zwar blieb der Verleger stets die zentrale Figur, um die sich alles drehte, doch je mehr Heimarbeiter er unter Vertrag nahm, desto weniger sah er sich in der Lage, sie alle zu besuchen. Bald kamen deshalb Mittelsmänner oder eine Art Agent auf, die sich zwischen Verleger und Produzenten schoben, teils als Angestellte des Verlegers, teils als Selbstständige. Man nannte sie Fergger oder Trager, später auch Spediteure. Ihr Auftrag bestand darin, den vielen Heimarbeitern den Rohstoff ins Dorf zu bringen, um nach einer gewissen Zeit das verarbeitete Produkt einzusammeln. Handelte es sich dabei um das versponnene Garn, also ein Zwischenprodukt, leitete es der Fergger an die Weber weiter, wo er den vollendeten Stoff zwei, drei Wochen später wieder einzog. Gleichzeitig prüfte er dessen Qualität, zeigte und trug den Heimarbeitern neue Muster auf, bezahlte ihren Lohn und lieferte die Ware anschliessend in die Stadt, wo sie der Verleger an sich nahm, weiterveredelte, um sie dann in alle Welt zu exportieren.

Manchmal gelang es den Ferggern, ja selbst Heimarbeitern oder eigenständigen Webern, sich ebenfalls zu Unternehmern und Fabrikanten aufzuschwingen, was die Verleger in der Stadt natürlich gar nicht gerne sahen und mit allen Mitteln zu hintertreiben suchten. Aber dezentral hiess dezentral: Es fiel etwa den St. Gallern schwer, ihre Zwischenhändler und Agenten in Ausserrhoden unter Kontrolle zu halten, zumal das Appen­zel­lerland politisch von der Stadt unabhängig war, ja sich als einer der dreizehn Orte der Eidgenossenschaft eindeutig mächtiger fühlte, wogegen St. Gallen bloss ein zugewandter, also geduldeter Ort darstellte. Die reformierte Stadt war zwar eine unabhängige Stadtrepublik, aber sie besass keinerlei Territorium.

So entstanden in Appenzell Ausserrhoden bald eigenständige Unter­nehmen – die den St. Gallern das Leben schwer machten. Ähnliches trug sich in Arbon, Hauptwil oder Rorschach zu, ebenfalls Territorien, wo die St. Galler politisch nichts zu sagen hatten, entweder weil sie wie Rorschach dem Fürstabt von St. Gallen gehörten oder wie die beiden anderen Orte im Thurgau lagen, in einer Gemeinen Herrschaft der Eidgenossen. Politische Zerstückelung, ein Zustand, der die ganze damalige Schweiz kennzeichnete, bedeutete oft auch mehr Freiheit, obschon sie niemand bewusst hätte gewähren wollen.

Einen ungleich härteren Durchgriff besassen dagegen die Stadtzürcher Verleger. Ihre Stadt beherrschte ohnehin den ganzen Kanton. Wer dort auf dem Land, ob in Stäfa oder Wädenswil, einen eigenen Verlag in Kon­kurrenz zu einem in der Stadt aufziehen wollte, den traf die Staats­gewalt unerbittlich. Zwar bedienten sich die Stadtzürcher Verleger noch so gerne der Heimarbeiter auf dem Land, aber dass sich dort auch eigenständige Unternehmen herausbilden sollten, das war keineswegs erwünscht. Mit Vor­schriften und diversen Schikanen wurde jede unternehmerische Initia­tive erstickt – jedenfalls war dies das Ziel. In der Rea­lität erwies sich dies als leichter gesagt als getan. Elend der Regulierung. Die Tatsache, dass die Zürcher ihre Gesetze unablässig verschärften, zeigt, wie schwierig es war, den Unternehmern auf dem Land­ das Geschäft zu verderben.

Dass die Verleger in der Stadt – ob in Zürich, St. Gallen oder in Ba­sel – sich bemühten, ihre privilegierte Stellung zu bewahren, ist verständlich, und doch entbehrt es nicht der Ironie. Man könnte das Verhalten der Verleger auch als verlogen bezeichnen. Denn sie selbst waren nur aufgekommen, weil sie sich den Gesetzen der Stadt entzogen hatten. In ihrem Fall den Gesetzen der Zünfte.

Zunftherrlichkeit versus Zunftzwang

Ursprünglich war das Verlagssystem im Mittelalter aufgekommen, insbesondere in Italien und in Flandern, den seinerzeit überlegenen Zentren des europäischen Gewerbes, und schon immer waren die Verleger damit in Konkurrenz zu den Zünften getreten. Diese setzten alles daran, das Hand­werk für ihre Mitglieder in den Städten zu monopolisieren. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte es nur ein Gewerbe gegeben, das zünftische, alles andere galt als des Teufels. Weshalb es kaum überrascht, dass die Bezie­hung zwischen Zünftern und Verlegern selten konfliktfrei blieb.

Die Zünfter bekämpften die Verleger, wo immer sie konnten, obschon Letztere selbst in den Städten ansässig waren – doch ihre Arbeiter waren es eben meistens nicht, was es ihnen erlaubte, sich viel agiler und unternehmerischer auf den Märkten zu bewegen, als dies den Zünften passte. Indem die Verleger sich auf Tausende von Heim­arbeitern stützten, produzierten sie viel grössere Mengen viel billiger, viel schneller, vor allem nachfrageorientierter und oft sogar qualitativ hochwertiger als die gewissenhaften, aber gemütlichen Zünfter.

Im Allgemeinen bildete sich eine prekäre, wenn auch umstrittene Ar­beits­teilung heraus: Während die Handwerker ihre Ware vorwiegend auf dem eigenen städtischen Markt verkauften, allenfalls auch in der näheren Umgebung, widmeten sich die Verleger von Anfang an dem Export und bedienten Märkte, die oft sehr weit weg von ihrem Firmenstandort lagen. Mehr schlecht als recht kam man so aneinander vorbei. Prekär war die Arbeitsteilung deshalb, weil die Zünfter sich nie sicher sein konnten, wie lange die Verleger sich nur auf den Export beschränkten. War es nicht denkbar, dass sie in den lokalen Markt drangen? War es ausgeschlossen, dass sie sich irgendwann auf Produkte verlegten, deren Herstellung sich die Zünfter vorbehalten hatten? Ihr Monopol schien immer bedroht, die friedliche Koexistenz blieb selten so friedlich, wie es den Anschein machte. Gross war die Angst bei den zünftischen Handwerkern, dass sie von den Verlegern einst aus dem Markt gedrängt würden.

Statt sich dieser tödlichen Gefahr aber zu stellen, regulierten die Zünfte lieber, als dass sie sich modernisierten. Wann immer ein neues Produkt oder eine neue Herstellungsmethode erfunden wurde, bemühten sie sich, diese entweder zu untersagen oder den engherzigen zünftischen Regeln zu unterstellen. Ein Beispiel aus Zürich veranschaulicht dies: Als die Zunft zur Gerwe, also die Organisation der Gerber, 1551 feststellte, dass vier Zürcher Bürger, die nicht ihrer Zunft angehörten, Felle auf eine neue, nämlich «romanische oder marquinische», also marrokanische, Art gerbten, verlangten sie vom Rat der Stadt unverzüglich eine Intervention. Es handle sich, so beklagte sich die Zunft, um keine «freie», also unzünftige, sondern «eine ­gemeine, offenbare Kunst», die auch die Gerber angeblich längst beherrschten. Daher sei die neue Methode dem Reglement der Zunft zur Gerwe zu unterwerfen und den vier Aussenseitern zu verbieten, sie weiterhin anzuwenden. Offensichtlich war die neue Methode der alten überlegen, ob preislich oder aus Qualitätsgründen muss offenbleiben, je­denfalls hielten sie die etablierten Gerber für lästig genug, dass sie sich vor dieser unliebsamen Konkurrenz schützen wollten.

Immerhin fällte der Rat ein salomonisches Urteil. Zwar durften die vier Aussenseiter ihr Geschäft weiter betreiben, ohne dass sie der Zunft zur Gerwe beitreten mussten, gleichzeitig erhielt die Zunft jedoch das Recht, die vier zu überwachen, insbesondere zwang man sie, sich künftig eine Qualitätskontrolle ihrer Produkte gefallen zu lassen. Alles in allem hatte die Zunft damit gewonnen. Denn unter dem Vorwand, die Qualität genüge nicht, liess sich jedes Produkt aus dem Markt drücken.

Ulrich Schmid hiess übrigens der eine Querulant. Er hatte das neue Verfahren in Strassburg einem Handwerker abgeschaut, eine Innovation ohne Frage – die er nun nicht mehr selber vermarkten durfte, sondern die im Dickicht der Zunftordnung hängen blieb.12

Wettbewerb war unter Zünftern nie erwünscht. Aus Prinzip. Im Vor­dergrund stand das «Auskommen» oder die «gerechte Nahrung» für jeden Zünfter, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Um sich vor der Unbill des Marktes und dem Erfindungsgeist der Tüchtigen zu schützen, schrieben die Zünfte ihren Mitgliedern alles vor, in einem Detail­lierungs­grad, der selbst einen zeitgenössischen Juristen, der sich ja einiges an Paragrafen gewohnt ist, beeindrucken dürfte: Es wurde festgesetzt, welche Arbeits­methoden erlaubt waren, welche Werkzeuge, wie hoch der Lohn der Ge­sel­len und Knechte zu liegen hatte, ebenso wie viele Mit­arbeiter ein Meister überhaupt anstellen durfte, dann welche Qualität ein Produkt zu bieten hatte und vor allem natürlich zu welchem Preis und wo es zu verkaufen war. Wer davon abwich, wurde ermahnt, bestraft, zerstört. Nach dem Verständnis der Zünfter belebte Wettbewerb keinesfalls das Geschäft, sondern stürzte den ehrlichen Handwerker in den Ruin. Wenn es einen frühen antikapitalistischen und antimodernistischen Geist gab, dann wehte dieser in den Kirchen – und in den Zunft­stuben.

Aber kann man es den Zünftern verdenken? Hinterher betrachtet, müssen wir feststellen: Sie lagen richtig. Wie heftig und verzweifelt, wie heroisch und hartnäckig sie sich der wirtschaftlichen Modernisierung auch verweigerten, am Ende trat genau ein, wovor sie sich so gefürchtet hatten. Die Verleger, die Unternehmer, die Industriellen bestätigten ihre tiefsten Ängste.