Warum ein roter R4 nicht in eine hellgrüne Schublade passt - Sylvia Furmaniak - E-Book

Warum ein roter R4 nicht in eine hellgrüne Schublade passt E-Book

Sylvia Furmaniak

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Eine schwere postvirale Multi-Infektion setzt sämtliche Lebenspläne einer jungen Frau völlig außer Kraft. Plötzlich ist sie bettlägerig und auf fremde Hilfe angewiesen. Für sie beginnt ein langer, schmerzlicher Leidensweg, der sie am Tiefpunkt durch eine Nahtoderfahrung führt. Existenzielle Sorgen treiben sie in die zermürbenden Mühlen der behördlichen Bürokratie. Auf der Suche nach Ursachen und Heilung kämpft sie sich über zwanzig Jahre durch den Dschungel fachärztlicher und naturheilkundlicher Diagnosen, Behandlungen und Medikationen. Erst über den Umweg der Corona-Pandemie und die Forschungen zu Long Covid werden ihre Ärzt*innen auf ihre "richtige" Diagnose aufmerksam: ME/CFS – Chronisches Erschöpfungssyndrom. Diese Erkrankung ist bis dato kaum erforscht und noch nicht behandelbar. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen … Sylvia Furmaniak beschreibt hier ihre außergewöhnliche Geschichte. Trotz ihres Handicaps wirft sie einen humorvollen und ermutigenden Blick auf die Chancen zu einem erfüllten Leben, einer balancierten Choreografie aus Erfahrungen, Möglichkeiten, Talenten und dem Wunsch nach einer Zukunftsvision. Sie sieht sich als "Liegende Königin", die immer wieder Frieden und Freundschaft schließt mit ihrer Erkrankung. Durch gelebte Spiritualität und tiefe Verbundenheit mit ihren Mitmenschen und der Natur stellt sie ihr Dasein in einen beglückenden Sinn-Zusammenhang jenseits ihrer körperlichen Möglichkeiten. Denn jedes Leben will authentisch sinnhaft, mutig, wild und zart gelebt sein.

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Seitenzahl: 264

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Sylvia Furmaniak

Warum ein roter R4 nicht in

eine hellgrüne Schublade passt

oder

Wie ein Virus meine Welt veränderte

Copyright: © 2023 Sylvia Furmaniak

[email protected] | www.meinroterr4.de

Lektorat: Ina Kleinod

Umschlag & Satz: Erik Kinting

Grafik Cover: Sarah Isabo

Verlag und Druck:

tredition GmbH

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg

Softcover

978-3-347-82551-2

Hardcover

978-3-347-82560-4

E-Book

978-3-347-82563-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für meinen Schatz & Hütedrachen.

Dieses Buch ist Franz gewidmet.

In tiefer Liebe und Verbundenheit.

Danke für Deine Wurzeln.

Inhalt

Prolog

Die Familien-Box

Über Nacht „erwachsen“

Mein roter R4

Erfüllte Zwischenzeit

Out of the box

Geschmack des Todes

Back to life

Die Behörden-Box

Die Diagnosen-Box

Das Leben kribbeln spüren

Lauschen lernen

Epilog

Danke sagen

Autorin

Empfehlungen

Prolog

Vermutlich ist es ein urmenschliches Phänomen, Menschen, Ereignisse, Erlebnisse oder Emotionen in innere Schubladen packen zu wollen. Das erzeugt, wenigstens für einen winzigen Augenblick, das beruhigende Gefühl, dass alles in Ordnung ist und seinen Platz hat. Das Nervensystem kann sich entspannen. Befriedigung und Wohlbehagen stellen sich ein. Manchmal sorgt dieses Prinzip auch für ein Gefühl von Kontrolle, in dem Sinne: Ich habe alles im Griff. Es ist ein Energiesparmodus, der uns gesund erhalten oder auch einschlafen lassen kann. Ja, dieses Einteilen, Sortieren und Kategorisieren entlastet praktischerweise das menschliche Gehirn. Die Hirnnerven können wie breite, eingefahrene Autobahnen genutzt werden. Alles hat seinen festen Platz und kann zügig gefunden werden.

Bei Gefahr oder Flucht kann dieses Prinzip sogar überlebensnotwendig sein. Wenn der Säbelzahntiger mit der Kette rasselt und uns in eine akute Notlage bringt, findet sich nämlich in der entsprechenden Schublade sofort ein Flucht- oder Notfallplan, der uns das Leben rettet – oder wenigstens den Tag.

Oft genügt schon das Aussehen, das Verhalten, der Beruf, die Schuhe, die Frisur oder das Auto, um eine passende Schublade für unsere Mitmenschen zu öffnen. In eine Schublade gesteckt zu werden, die nicht passt, bringt allerdings bei den meisten von uns einen inneren Vulkan zum Brodeln.

Klar, natürlich gibt es auch die Box „Unterbewusstsein“. Hier werden bei Bedarf unterdrückte Emotionen, unliebsame Erinnerungen oder verdrängte Erfahrungen versteckt. Das ist legitim. Es darf Boxen geben, die verstaubt und mit Spinnweben bedeckt geschlossen gehalten werden. Sie gehören zum Leben dazu. Es kann auch Sinn oder Spaß machen, Dinge abzustempeln und in eine Ablagebox zu packen, wie man sie in den meisten Büros vorfindet, die irgendwann randvoll ist und schließlich überquillt. Ob da auch Menschen reinpassen, ist fraglich.

Vermutlich haben alle Schubladen unterschiedliche Farben und Größen, aber sie sind einfach immer eng und begrenzt, (selbst wenn sie viel Platz bieten). Und sie sind eckig und kantig. Ich glaube, wenn ich versuchen würde, mich als Ganzes in eine Schublade zu legen, würde immer ein kleiner, wilder, ungehorsamer Zipfel von mir neugierig herausschauen. So, wie ein rotes, sinnliches Kleid, das einfach nicht in einer Schublade verschwinden kann, da es zu kraftvoll ist und unbedingt auf der Straße getragen werden muss.

Das Thema „Schubladen“ ist komplex und häufig mit dem Denken in Kausalitäten verbunden. Zum Beispiel ertappe ich mich in meinem Leben oft dabei, wie ich mir innerlich einen Plan zurechtlege und mir detailliert ausmale: Wenn ich dieses oder jenes mache, dann passiert genau das oder das. Was aber passiert in dem Moment oder an dem Tag, an dem dieses Kausaldenken nicht mehr funktioniert und jeder Plan wie ein altes Bahnticket entwertet und nutzlos auf den Bahnsteig fällt? Was, wenn der Weg auf der Gehirnautobahn nicht mehr direkt zum bisherigen Ordnungssystem führt, sondern plötzlich von einer roten Warnbarke versperrt wird?

Dann wird es richtig spannend!

Out of the box kommen wir mit der Essenz in Kontakt, also mit dem, was uns wirklich im Leben trägt. Wahre Spiritualität zeigt sich meist erst dann, wenn es keine warme, vertraute und sichere Schublade mehr gibt und wir herausgefordert sind, jenseits von Gewohntem zu leben. Worauf greifen wir dann zurück? Was hält uns in diesen Zeiten? Und was macht in haltlosen Momenten noch Sinn? Was führt uns aus tiefer Verzweiflung heraus und wieder zurück auf die richtige Fährte?

Eine letzte Frage: Lässt sich das bunte Wunder des Lebens überhaupt so einfach in Schubladen schieben? Oder geht es nicht vielmehr darum, jedes Quäntchen davon in seiner Einzigartigkeit zu sehen, zu lieben, zu würdigen und täglich neu an die Schönheit der Existenz, an das Feine, Zarte, Zerbrechliche erinnert zu werden – ja, an unsere heilige Essenz?

Vor der Sackgasse scharf links ab!

Zum Glück habe ich die Kurve bekommen. Im Februar stehe ich barfuß am eiskalten Strand am Meer in Italien. Franz ritzt die Worte „back to life“ in den Sand. Zehn Wochen zuvor – an meinem 51. Geburtstag – habe ich noch meine Beerdigung geplant und mich verabschiedet. Es ist ein Wunder passiert und ich bin immer noch da. Nur anders als vorher. Vorher hatte ein Virus mein Leben auf den Kopf gestellt. Jetzt ist nichts mehr wie früher, alles ist verändert. Neu. Als ich nach einem Jahr im Krankenbett wieder die ersten Schritte im Hof schaffte, war alles magisch für mich. Ich atmete das Leben ein wie ein sanftes Wunder. Jeder Regentropfen auf meiner Haut, jeder Duft einer leuchtenden Blüte versetzte mich in tiefe Dankbarkeit und eine kleine tanzende Ekstase. Wann hatte ich dieses Gefühl verloren?

Aber jetzt von vorne …

Die Familien-Box

Geschichtenlauschen

Meine Mutter hat mir erzählt, ich sei eine schnelle Blitzgeburt gewesen. Nach knapp 25 Minuten war ich auf der Welt und landete sofort im Brutkasten, keine zwei Kilo leicht. So begann mein Leben allein und in Stille, wenn auch auf der Kinderstation. Die leisen Qualitäten sind übrigens auch heute noch das, was ich sehr schätze und wofür ich dankbar bin.

Nicht lange danach liebte ich es, mit meinen roten Gummistiefeln durch die Natur zu hüpfen. Ich mochte es, durch hohe duftende Wiesen zu laufen, Blumen zu pflücken oder mit Jungs auf dem Bolzplatz Fußball zu spielen. Von anderen habe ich schon früh gehört, ich sei ein Sonnenschein und würde immer so strahlen.

Ich schätzte es von klein auf, den Geschichten aus Familien-Boxen zu lauschen – und später machte ich genau das sogar zu meinem Beruf –, denn sie zeigten mir auf inspirierende Art die ganze Welt der menschlichen Dualität. In Familien-Boxen-Geschichten geht es häufig gleichermaßen um Verbundenheit und um Einzigartigkeit, also um den kleinen, scharfen Schnittpunkt, der diese beiden Wesensmerkmale in Familien auf ganz besondere Weise miteinander verknüpft. Dieser Schnittpunkt fühlt sich häufig „dicht“ an und verworren, manchmal sogar dunkel, wie ohne Tageslicht. Aber genau da, genau an dieser kleinen, schmalen Stelle ist oft die Antwort auf die Frage verborgen, was eine Familie verbindet und welchen Raum jedes Familienmitglied erhält, um seine einzigartige Andersheit leben zu können.

Wenn ich meine Familiengeschichte auslassen würde, wäre das wie ein erheblicher weißer blinder Fleck auf der Landkarte meines Lebens, den ich meinem Publikum vorenthielte. Außerdem könnten allein die einzigartigen Geschichten meiner Ahnen und Ahninnen bereits ein eigenes Buch füllen. All diese Menschen, Erlebnisse und Schicksale sind ein Teil von mir. Sie haben mich geprägt. Und es scheint so, als würden sich manche Geschichten sogar wiederholen. Als wären sie auf magische Weise über Generationen hinweg ineinander verflochten.

Eigentlich haben sich schon früh in meinem Leben zentrale Fragen gestellt: Was ist denn eigentlichSchicksal, was ist Dharma oder Karma? Was kommt woher und was kann ich ändern? Was muss ich annehmen, akzeptieren und lieben lernen? Ich habe mich so oft gefragt, wo und wie unser Schicksal, unsere Lebensgeschichte oder auch unsere „Tragödien“ eigentlich beginnen. Gibt es da tatsächlich einen Anfang? Oder sind die Ereignisse – Verknüpfungen und Verläufe, Brüche und Nahtstellen – nicht eher wie Perlen aneinandergereiht und aufgefädelt auf eine Lebenskette, deren Faden von Familienmitglied zu Familienmitglied, über Generationen hinweg gehalten und weitergereicht wird?

Müsste ich meine Familie einem Genre zuordnen, so wäre das wohl am ehesten ein Thriller, ein Krimi oder manchmal auch eine Komödie. Dementsprechend sieht auch die „Kette“ meiner Familie aus. Sie besteht nicht gleichmäßig aus weißen Perlen. Nein, sie gleicht vermutlich am ehesten einer bunten Halskette, so, wie Kinder sie oft tragen. Manche Perlen wären aus Holz, manche aus Glas, mal wäre ein Kiesel- oder ein Edelstein dazwischen oder sogar ein schillernder Diamant. Manche Perlen wären klein, manche groß, einige rund, andere eckig oder kantig, sie wären hell oder dunkel, einfarbig oder schillernd bunt. Genauso bunt und vielfältig sind die Geschichten meiner Familie, die hinter jeder Perle stecken. Manche Geschichten sind so skurril, dass ich mir die Freiheit genommen habe, sie etwas ausführlicher zu beschreiben. Andere halte ich etwas kürzer. Aber sie alle sind ein wahrer Teil meines frühen Kinderlebens.

Die Familie meines Vaters

Mein Vater ist in Budaörs geboren, das ist ein Vorort von Budapest in Ungarn. Er war knapp über drei Jahre alt, als die gesamte Familie am 3. Februar 1946, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, vertrieben wurde. Alle Familienmitglieder wurden in einen verriegelten, kalten Zug gesperrt und nach Deutschland deportiert. Noch heute steht eine alte Holzkiste in unserem Wohnzimmer, in die meine Großeltern auf der Flucht ihre wenigen Habseligkeiten gepackt haben.

Meine Großmutter hat vor lauter Schmerz über den Verlust ihre alte Heimat nie wieder besucht.

Die Mutter meines Vaters und ihreSchwestern

Meine Oma gehörte als Tochter des Bürgermeisters zu den reichsten Leuten des kleinen ungarischen Dorfes. Ihre Familie besaß viel Grund und Boden, große Pfirsichplantagen und Weinberge. Sie kelterten noch selbst. Die Pfirsichbäume trugen für mich die leckersten Früchte der Welt – so aromatisch und süß. Ihr klebriger Saft ist mir immer zwischen die Finger getropft.

Als es noch den „Eisernen Vorhang“ gab, war ich oft gemeinsam mit meinem Vater in seiner alten Heimat. Wir haben dann immer bei seiner Tante gewohnt. Die Wasserpumpe stand auf der Straße und wir mussten uns am Waschstein in der Küche mit dem kalten Wasser begnügen. Das Klo stand draußen im Garten, ein Plumpsklo. Es war alles so einfach gehalten und ursprünglich geblieben. Auch hier gab es im Sommer herrlich duftende Pfirsiche, pralle rote Tomaten und zuckersüße Trauben im Garten hinter dem Haus. So durfte ich als Kind ein Stück Heimat meiner Vorfahren erleben.

Nach der Flucht 1946 wohnten meine Großeltern, mein Vater und seine Schwester zunächst in dem kleinen Dorf Eschelbach im fränkischen Hohenlohe bei Neuenstein. Später zogen dann alle hinüber in die Stadt, in eine kleine Kellerwohnung direkt am Bahnhof. Es gab dort viele Ratten, und in der Erinnerung meines Vaters vertrieb seine Mutter die Biester mit einem Stock, wenn er als kleines Kind in der Badewanne eingeschlafen war.

Mein Vater war gut in der neuen Welt angekommen. Er hatte schnell viele Freunde gefunden, wie alle Lausbuben heckten sie zusammen ständig etwas aus, und später, im Jugendlichenalter, brach bei ihnen das Fußballfieber aus. Als wir noch klein waren, freuten mein Bruder und ich uns jeden Abend schon diebisch auf eine seiner Gutenachtgeschichten. Wir liebten es besonders, wenn er von den Faxen und Streichen aus seiner Kindheit erzählte. Damit entführte er uns in eine ganz andere Welt, die mir ganz herrlich in Erinnerung geblieben ist.

Immer montags, wenn unsere Mutter beim „Hausfrauenturnen“ war, spielten wir vor der Bettgeschichte noch eine Runde Verstecken in der Wohnung. Unser Vater hatte die besten Ideen, uns unsichtbar werden zu lassen, er bugsierte uns zum Beispiel in den Ofen oder schob uns ganz hoch oben auf den Schrank. Und manchmal durften wir auch aus einem winzigen Fingerhut einen kleinen Schluck Eierlikör probieren.

Irgendwann haben meine Großeltern ein eigenes Haus gebaut, in dem wir Kinder dann letztlich auch aufgewachsen sind. Natürlich gab es im Garten einen Pfirsichbaum, aber auch einen großen Zwetschgenbaum und viele Traubenstöcke. Ich erinnere mich noch deutlich an den Geruch meiner Oma, der irgendwie sehr besonders war. Überhaupt war sie ganz anders als andere Großmütter im Ort, denn sie fiel immer auf. Sie trug einen beinahe bodenlangen weiten dunklen Rock, über den ein Schurz gebunden war, eine dunkle, durchgeknöpfte Bluse und ein Kopftuch – die Tracht ihrer Heimatregion. Außerdem reichten ihre Haare hinunter bis zum Po, sie wurden jeden Tag gekämmt, geflochten und dann zu einem Dutt hochgesteckt. Es gab wie in Ungarn einen Waschstein, an dem meine Oma ihre tägliche Körperpflege verrichtete. Es gab weder Dusche noch Badewanne, nur kaltes Wasser aus dem Hahn. Und ich habe nie gesehen, dass sie jemals ihre Haare gewaschen hätte, bis an ihr Lebensende war ihr Haar aber lang, dunkel und glänzend. Nachdem die traditionellen ungarischen Kleider meiner Oma irgendwann abgenutzt waren, konnte sie meine Mutter zu einem „deutschen Kleid“ überreden – blau und mit Blumen bedruckt. Als nach Jahren die Ärmel verschlissen waren, hat sie sie kurzerhand abgeschnitten, sie wurden jedes Jahr im Zickzackmuster kürzer. Dieses Kleid trug sie bis zu ihrem Tod.

Ab und zu kam der Sohn ihres Bruders – mein Onkel Martin – mit seinem kleinen fahrenden Einkaufsparadies zu Besuch, es war jedes Mal wie ein Geschenk für meine Oma. Sein Transporter war dann bis unter das Dach vollgepackt: Nadel und Faden, Stoffe, ungarische Würste, wenigstens das war ein kleines Fest für sie.

Meine Oma wurde 93 Jahre alt. Ich habe sie sehr geliebt.

In meiner Erinnerung springe ich die Treppe herunter und sitze bei ihr und ihren Schwestern auf dem Sofa. Es gibt jeden Tag Nudelsuppe. Ich darf aus einer kleinen Aluschale Nudeln mit Salz naschen. Sie kratzt mit dem Kochlöffel meinen Rücken, seine glatte Kühle spüre ich noch immer auf meiner Haut.

Wahrscheinlich ist meine Oma an der Flucht zerbrochen. Oder am Anderssein in der neuen Heimat, sie hat nie ganz dazugehört. Oder etwas in ihr ging zugrunde, weil mein Opa so arm an Gefühlen war, wie die meisten Männer in dieser Zeit. Mein Vater erzählte mir später einmal, sie habe Zeit ihres Lebens vom Krieg geträumt. Eine solche Erfahrung ist wohl auch kaum zu verkraften, für niemanden. Jedenfalls verließ sie nach ihrem 55. Geburtstag – ich erinnere mich nur vage an den genauen Zeitpunkt – nicht mehr das Grundstück. Selten saß sie unter dem Vordach des Hauses und noch seltener im Garten. Wir wissen bis heute nicht, was genau passiert ist, aber wir vermuten eine schwere Depression, aus der sie nicht mehr herausgefunden hat. Irgendwann kam sie in die Psychiatrie, und ich erinnere mich daran, dass wir sie anfangs besucht haben. Ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt.

Wir betreten die geschlossene Abteilung, alle Fenster sind vergittert, die Türen verriegelt. Ein nackter Mann sitzt an einem Heizkörper, er ist dort festgebunden. Eine Frau spielt mit einem Spuckefaden. Mittendrin sehe ich meine Großmutter – die Abschreckungstherapie, wie der Arzt es meinem Vater gegenüber formuliert, soll ihrhelfen, gesund zu werden. Sie wird natürlich nicht gesund, nicht so! Im Gegenteil, sie vegetiert auf einem abgewetzten Stuhl neben einem Elektroölofen vor sich hin.

38 Jahre lang.

Sie isst jeden Tag Suppe aus der Tüte oder Ravioli aus der Dose und immer eine kleine Schale Trauben dazu. Kein frischer Salat, kein Gemüse.

Ihre damaligen Essgewohnheiten widersprachen hartnäckig meiner späteren Überzeugung, dass unbelassene, frische Nahrung für ein gesundes und langes Leben wichtig ist. Sie lebte trotzdem enorm lange, und keiner weiß, was sie im Innersten aufrechterhalten hat.

Kurz vor ihrem Tod hatte meine Großmutter das erste und einzige Mal in ihrem Leben ein Telefon in der Hand. Wir redeten miteinander, und das war wie ein Wunder für sie, für uns beide. Es war unser letztes Gespräch, bevor sie starb.

Die Tanten meines Vaters

Meine Großmutter hatte insgesamt vier Geschwister, drei Schwestern und einen Bruder. Zwei ihrer Schwestern lebten bei uns im Ort, eine davon sogar in unserem Haus. Zu diesen beiden Frauen, meinen Großtanten, hatte ich immer eine besondere Verbindung. Meine Oma hat beide überlebt.

Tante Anna habe ich als verkniffene dünne alte Frau in Erinnerung, die immer alleine gelebt hat. Es hieß immer, sie sei „Jungfrau“, aber sie hatte ein Kind. Ihre Eltern haben sie 1946 für viele Jahre nach Belgien geschickt, um dort als Hausmädchen zu arbeiten. Ihre kleine Tochter wurde währenddessen in Ungarn großgezogen. Meine Oma war selten mit dem Haushalt beschäftigt und besaß eher das Gemüt einer Prinzessin, dagegen hatte Tante Anna immer trockene und rissige Hände vom Putzen und Wienern der Böden. Auch sie trug das traditionelle Gewand ihres Heimatlandes.

Dann war da noch die andere Schwester. Sie lebte in der Wohnung über uns und hatte ein herrlich sonniges Gemüt. Wir hörten sie oft lachen und sie strahlte aus jeder Pore pure Energie und Erlebnishunger. Sie hatte drei Ehemänner. Als auch der dritte Mann verstorben war, bandelte sie – ich glaube, da war sie schon über 80 Jahre alt – noch einmal mit ihrer ersten großen Liebe an und begann eine Affäre. Ich erinnere mich, wie eines Abends die Deckenlampe im Wohnzimmer bebte und ein Wackeln durch die Wände ging. Im hohen Alter vergnügte sich meine Tante offensichtlich lustvoll und unverdrossen. Wenn das kein Vorbild für Lebensfreude ist!

Die drei unterschiedlichen Schwestern stecken oft zusammen. Als kleines Mädchen sitze ich zwischen ihnen auf dem roten Sofa im Wohnzimmer neben dem warmen Holzofen. Alle drei lieben mich sehr. Mal wird Ungarisch gesprochen, mal Deutsch. Ein buntes Kauderwelsch zwischen den Kulturen. Meine Mutter kann immer am Duft meiner Haare erkennen, wer mich heute wieder auf meinen Kopf geküsst und liebkost hat.

Eine der Schwestern meiner Oma hatte eine Enkeltochter, die den Mörder in unserer Familie geheiratet hat. Er begann mit der Nachbarin ein Liebesverhältnis, und als es zu einer schweren Auseinandersetzung kam, hackte er ihr einfach den Kopf ab. Ich erinnere mich noch immer schauernd an diese Geschichte, wie sie immer wieder leise flüsternd durch das Wohnzimmer kroch. Er saß lange im Gefängnis, zwischenzeitlich lebt er wieder in Freiheit. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.

Jedenfalls reihte sich Geschichte an Geschichte. Eigentlich gab es schon immer irgendwelche besonderen Ereignisse in unserer Familie …

Der Vater meines Vaters

Mein Seppel-Opa – was ein ungarischer Spitzname für Josef ist – war der Vater meines Vaters. Er hat sich immer ganz stolz vorgestellt mit dem Satz: „I bin der Josef und i bin Maurer …“ Er war ein absolutes Unikat. Seine wohl ausgeprägtesten Charaktereigenschaften waren sein Geiz und seine Neugierde. Er hatte auch das Talent, aus allem etwas zu machen und war dabei mit sich und dem Leben zufrieden. Wenn in unserem Ort ein Haus oder eine Garage abgerissen wurde, war mein Seppel-Opa sofort zur Stelle. Bis heute ist mir schleierhaft, wie ihn diese Informationen immer so schnell erreicht haben. Ein Telefon im Haus gab es bis an sein Lebensende nicht. Es schien so, als hätte er regelrecht Antennen für Bauschutt entwickelt, die ihn zuverlässig zur nächsten Abrissstelle führten.

Natürlich hatte mein Opa kein Auto. Er zog entweder mit seiner Schubkarre oder seinem Leiterwagen (der keine Lenkung hatte, was in einer Kurve massive Herausforderungen mit sich brachte) durch die Straßen und sammelte darin alles zusammen, was ihm gefiel oder was er irgendwie brauchen konnte. Bunte Kacheln aus alten Bädern oder Küchen, Klobrillen, Toilettenschüsseln und Badewannen. Lange Holzlatten oder Metallstangen lud er gelegentlich auch auf sein uraltes, aber stabiles NSU-Fahrrad. Mit seinem voll beladenen Schubkarren, seinem monströsen, schwerfälligen Leiterwagen oder seinem mit Sperrgut befrachteten Fahrrad verursachte er meistens einen langen Verkehrsstau. Nicht selten stand ich mit meinem Auto mittendrin und wusste sofort, wer die Ortsstraße verstopft hat. Da jeder im Ort meinen Opa kannte, war das jedoch nie wirklich ein Problem. Die meisten winkten ihm beim Vorbeifahren zu und fragten kurz: „Und Josef, alles klar?“

Unser Haus und auch der Garten – wen wundert`s – waren insgesamt Ausdruck seiner Sammelkunst und dementsprechend bunt und individuell gestaltet. Wenn Opa weiße Farbe bekommen hatte, aber den Sockel am Haus schwarz streichen wollte, was tat er dann? Aber klar doch, er mischte die Farbe mit Ruß. Das ergab eine ungleichmäßig graue Fläche und obendrein bröckelte der Belag nach ein paar Monaten aufgrund der außergewöhnlichen Konsistenz gleich wieder ab. Aber genau dadurch bildete sich erneut ein einzigartiges Muster. Da es kein echtes Bad gab, verwendete er die alten Bäderkacheln natürlich im Wohnzimmer. Er liebte es bunt und so entstand rund um den Wohnzimmerofen ein kunterbuntes „Mosaik“ aus Rot, Grün, Gelb und allen möglichen Mustern. Da er jedoch kein Geld für Fliesenkleber ausgeben wollte, mixte er den „Leim“ aus Mehl und Wasser, allerdings hielten die Kacheln damit nicht lange an der Wand. In der Konsequenz gab es eben wieder neue Farben und neue Muster.

Eines Tages hatte mein Seppel-Opa die Idee, neben dem Holzofen im Wohnzimmer ein Loch durch die Wand zu schlagen. Es sollte direkt in sein Schlafzimmer führen, wo er gerne im Bett lag und fernsah. Dieser Raum war aus Kostengründen allerdings nie beheizt und meine Oma brauchte es eher warm. So setzte er sich in den Kopf, meine Oma könnte neben dem Ofen sitzen und durch das Loch, sozusagen gemeinsam mit ihm, fernsehen. Zum Glück konnte mein Vater den riskanten Umbau gerade noch abwenden, indem er meiner Oma einen eigenen Fernseher schenkte. Das ersparte allen viel Streit.

Und was passierte mit all dem Rest der Fundstücke, die mein Opa nach Hause in seine Villa Kunterbunt fuhr? Auch da war er sehr kreativ: Einen ausrangierten Ofen baute er um zu einem Gartenstuhl, eine alte Badewanne ließ er zum Sammeln des Regenwassers in die Gartenerde ein. Einige Kloschüsseln bewahrte er sorgfältig seinem Schuppen auf, man konnte ja nie wissen … Alles wurde irgendwie umfunktioniert und was übrig blieb, wurde kurzerhand im Garten oder in der Einfahrt vergraben.

Mein Opa unterhielt eine kleine Hütte in seinem Garten, die er über alles liebte, denn dort hatte er nach einem harten Arbeitstag seine Ruhe. Die Hütte hatte einen eigenartig muffigen Geruch, den ich heute noch rieche.

Überall stehen kleine Andenken herum, in einer Ecke eine bunte Muttergottesstatue,ein Rosenkranz auf einem Nachttisch. Ein kleines Sofa thront in einer anderen Ecke und ein alter Schrank steht daneben. Mein Blick fällt auf eine Schale voller Trauben, Kirschen und Pfirsichen. Ich weiß, dass der Schlüssel zur verriegelten Eingangstür in einem Glas links um die Ecke versteckt ist. Manchmal stibitze ich ihn heimlich und sauge neugierig die Eindrücke dieser einzigartigen Behausung in mein Herz auf. Es fühlt sich verboten und kribbelig an.

Mein Großvater würde heute in jedem Fall einen Preis für nachhaltiges und energiesparendes Leben erhalten. Eines Tages hatte er zum Beispiel die glänzende Idee, sein kleines Domizil mit dem Luxus einer warmen Dusche aufzuwerten. Dazu ersetzte er kurzerhand einige Dachziegel durch eine Glasscheibe und befestigte darunter einen Haken. An diesem wiederum hängte er eine Gießkanne mit Wasser auf. Wenn die Sonne herrlich warm auf das Dach schien, erwärmte sich das Wasser. Einfach am Bändel ziehen und fertig war die Dusche! In Ungarn gab es damals noch viele Zisternen zum Sammeln von Regenwasser. Diese Technik inspirierte meinen Opa, und so begann er, in liebevoller Erinnerung an seine Heimat, folgendes Bauprojekt: Meine Mutter verfügte bereits über eine Waschmaschine, darin wusch sie unter anderem meine Windeln. Mein Opa sah es nicht gern, dass das seifige Waschwasser nach nur einmaligem Gebrauch abgelassen wurde. Er hielt es zu Recht für eine Verschwendung. In seiner Passion als Maurer errichtete er kurzerhand eine Zisterne neben der Waschmaschine, dort wurde das Wasser nach dem Waschgang aufgefangen. Manchmal war es sogar noch warm, und wenn nicht, konnte es wieder erwärmt werden, und zwar auf einem Holzofen, den er wiederum direkt neben die Zisterne mauerte. Von da an lag er an winterlichen Feierabenden in seiner gemütlichen alten Blechwanne im Keller und hat sich aufgewärmt.

Was wir damals noch nicht wussten, war, dass diese beiden „Bauwerke“ statisch und brandschutztechnisch natürlich nicht auf dem neuesten Stand waren. Und so kam es, dass nicht nur eine, sondern gleich zwei „Naturgewalten“ durch unser Haus jagten. Einmal kam es zu einer Überschwemmung, als die Zisterne mit einem riesigen Knall geplatzt ist. Der gemauerte Wasserbehälter hielt dem Druck des Wassers nicht mehr stand und so wurde unser Keller komplett geflutet. Es dauerte sehr lange, bis alles wieder trocken und an Ort und Stelle gerückt war. Das andere Mal setzte er unser Haus in Brand. Diese Geschichte ist etwas bizarrer:

Mein Opa versuchte, in seinem Kellerofen zerschnittene Autoreifen zu verbrennen. (Was sollte er auch sonst damit tun?) Als es bei unserem Nachbarn an der Haustür klingelte, packte ihn seine Neugierde, er wollte unbedingt sehen, wer da zu Besuch kam. Schnell sammelte er die Glut des Ofens in einem Pappkarton(!) und stellte diesen auf einen Holzstapel(!). Innerhalb kürzester Zeit fing unser Haus zu brennen an.

Irgendwann kroch der Rauch durch alle Stockwerke bis nach oben in unsere Wohnung. Als meine Mutter das wahre Ausmaß der Katastrophe erkannte, schnappte sie mich schnell auf den Arm und rief durch das offene Fenster laut um Hilfe und nach der Feuerwehr. Es war der 17. Dezember 1969, ein Tag vor meinem ersten Geburtstag. Letztlich konnte das Feuer noch gelöscht werden, wir blieben gesund und das Haus blieb stehen. Ich hatte das große Glück, kaum dass mein erstes Lebensjahr beendet war, dem Tod entronnen zu sein. (Später würde er noch öfter vorbeikommen, um an meine Tür zu klopfen.)

Mein Seppel-Opa war meist auch sonderbar gekleidet, denn mit der Kleidung verfuhr er ähnlich wie mit dem Baumaterial. War jemand gestorben oder hatte jemand abgetragene Kleidung zu verschenken, so hat er sich immer darüber gefreut. Natürlich haben die Einzelstücke in der Regel nicht gepasst, aber das war nie ein Problem für ihn. Zu große Schuhe hat er einfach abgeschnitten, sie als modische „Reinschlupfschuhe“ getragen und im Winter dann einfach mit wärmenden Stoffstreifen umwickelt. Waren die Schuhe abgelaufen, wurden sie mit einem Stück von alten Autoreifen neu besohlt. Zu lange Hosen wurden abgeschnitten oder umgekrempelt, zu weite Hosen einfach mit einem Strick enger gebunden. Meistens trug er einen Hut oder eine abgewetzte Wollmütze.

Er sammelte auch gerne Unterhosen. Als er mit über 90 Jahren einen Katheter benötigte (den er übrigens sehr liebte, da er das System praktisch fand) und immer unter kalter Blase litt, war er auch da erfinderisch. Er zog an manchen Tagen einfach fünf oder sechs Unterhosen übereinander an. Mein Vater musste in dieser Zeit öfter mit ihm zum Urologen, was hin und wieder eine ganz besondere Hürde darstellte. An einem dieser Kontrolltermine trug mein Opa doch tatsächlich inmitten seines bunten Unterhosengemischs einen knallroten Lederstringtanga. Er hatte einfach für alles eine Verwendung.

Am liebsten aß Seppel-Opa Kartoffeln. Da es jedoch zu viel Energie benötigt hätte, täglich neue Kartoffeln zu kochen, gab es jeweils einen großen Topf voller Kartoffeln für die ganze Woche. Unnötig zu erwähnen, dass es im Haus natürlich keinen Kühlschrank gab, und so kam es, dass die Kartoffeln bis zum Ende der Woche alle Sorten farbigen Schimmels angesetzt hatten. Ihm haben sie jedoch immer geschmeckt.

Mein Seppel-Opa wurde 93 Jahre alt. Er hat nur sehr wenig geredet. Das Allerwichtigste war stets genug für ihn, dann ist er wieder in seinem geliebten Gartenhaus oder im Keller verschwunden. Ich sehe ihn noch heute mit seiner lustigen Mütze, seinem grünen Wollmantel und den abgeschnittenen Schuhen lachend vor mir stehen. Er ist ganz offensichtlich immer glücklich gewesen in seiner Einfachheit, nur das Herz seiner Elisabeth, meiner Oma, ist neben ihm allmählich „verhungert“.

Der Schwager meines Vaters

Eine weitere schillernde Persönlichkeit aus dem Familienclan meines Vaters ist sein Schwager Kurt (Name wurde geändert). Glücklicherweise hat er „nur“ in unsere Familie eingeheiratet, was beruhigend ist. (Es muss ja schließlich nicht alles Sonderliche genetisch in uns verankert sein.) In meiner Erinnerung ist er dünn, klein und verkniffen, hatte eine mega dicke Hornbrille auf seiner Nase, sodass seine Augen riesig wirkten, was manchmal richtig unheimlich war, wenn er mich ansah. Außerdem ging von ihm stets ein eklig-säuerlicher Geruch aus, den ich bis heute nicht vergessen kann.

In meiner Kindheit und Jugend wirkte Kurt wegen seiner religiösen Übertreibung immer furchterregend und einschüchternd auf mich. Ja, eigentlich hatte ich sogar stets Angst vor ihm. Er fühlte sich für mich wie eine Krake an, denn irgendetwas saugte sich energetisch immer an mir fest. Meistens zwang er mich dazu, zu beten, wenn wir uns begegnet sind. Manchmal dozierte er aber auch stundenlang über seine Religion. Ich erinnere mich noch genau daran, wie er mich am Tag meiner Erstkommunion in mein Kinderzimmer gelotst hat und mir eine gefühlte Ewigkeit vom Leib Christi erzählt hat, den ich nun essen müsste. Er strahlte in solchen Momenten eine unerbittliche Macht aus, die mich innerlich ganz klein und eng werden ließ.

Wenn ich Kurts Familie besuchte, musste ich abends immer gemeinsam mit ihnen auf dem nackten kalten Fußboden vor einem Kreuz knien und den Rosenkranz beten. Die ganze Sache hat mich letztlich zunehmend befremdet und irgendwann habe ich mich schlichtweg geweigert, dieses Haus zu betreten. Jahre später war ich als Studentin einmal zu Hause und sah ihn mit einem großen Kreuz in der einen und der Bibel in der anderen Hand in der Fußgängerzone missionieren. Ich bin vor lauter Scham hinter das nächste Werbeschild gesprungen. Keiner sollte wissen, dass wir miteinander verwandt sind.

Die Geschichten, die sich um ihn rankten, wurden im Laufe der Zeit immer schräger und skurriler. Eines Tages kam ein verzweifelter Anruf von seiner Frau, sie wisse nicht mehr, was sie tun soll, denn Kurt würde ständig in einen Kaktus beißen. Einen Kaktus? Warum machte er das? Die schreckliche Wahrheit war, dass er Pein und Schmerz spüren und für seine Sünden so leiden wollte wie Jesus am Kreuz. Erst sehr viel später kam ans Tageslicht, dass Kurt grauenhafte Experimente mit seinem Sohn durchgeführt hat. Der Junge musste beispielsweise die Hand seines Vaters so lange auf eine Herdplatte drücken, bis es nach verbranntem Fleisch roch und die Hand mit Brandblasen übersät war. Oder er musste seinen Vater in die Gefriertruhe(!) sperren. Alles, damit dieser den Schmerz und das Leid Jesu am Kreuz hautnah spüren konnte.

Wahrscheinlich überlebt niemand solche horrösen Geschichten psychisch unversehrt. Kurts Sohn war sehr intelligent, ist jedoch an seiner Geschichte zerbrochen und kam in die Psychiatrie. Er wurde keine 30 Jahre alt.

Kurt hat sich übrigens 40 Jahre lang nicht mehr in ein Bett zum Schlafen gelegt. Fast alle Nächte verbrachte er in Kirchen oder daheim kniend auf dem kalten Fußboden. Manchmal ist er nachts, stehend beim Aufwärmen an seinem Ofen, vor Müdigkeit einfach umgefallen und dabei mehrmals durch die Glastür gekracht. Zwischenzeitlich wurde diese Glastür durch einen Karton ersetzt, da der Glaser mit der Zeit zu teuer wurde. Seine Knie haben mittlerweile die Konsistenz eines rohen Fleischstückes.

Sicherlich kennen wir bis heute nur einen Teil der Kurt-Geschichte. Leider wurde erst sehr spät die Diagnose „religiöse Schizophrenie“ gestellt. Er leidet bis heute unter einem ausgeprägten religiösen Fanatismus. Kurt lebt noch. Er ist über 85 Jahre alt, dement und glücklich. Mein Vater kümmert sich gelegentlich um ihn, rasiert ihn, schneidet seine Haare oder seine Nägel und hat erst vor kurzem entdeckt, dass er vermutlich gar kein Schmerzempfinden hat, was vieles erklären würde. Er hat sich zwischenzeitlich alle Zähne selbst aus dem Mund gefeilt und seine Frisur sieht ähnlich aus.

Die Familie meiner Mutter

Schon als Kind zuckte ein Teil in mir zusammen, wenn ein schwerer Güterzug an mir vorbeirollte. Im Bruchteil von Sekunden schossen in diesen Momenten innere Bilder von hungernden Flüchtlingen in mir hoch. Ich verstand nie warum. Erst viel später, als ich mehr über die Wurzeln und das Erbe meiner Familie erfuhr, bekam ich eine Ahnung davon, was dieses Erleben begründete.

Auch meine Mutter, gerade einmal drei Jahre alt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit ihrer Familie vertrieben. Ähnlich wie die Familie meines Vaters wurden sie alle in einen kalten und verriegelten Viehwaggon gesperrt und abtransportiert, ohne zu wissen, ob und wo sie jemals ankommen würden. Die Familie meiner Mutter hat ihre Heimat sogar mehrfach verloren. Sie trugen lediglich das Allernötigste, in kleinen Bündeln verschnürt, bei sich. Aber sie hatten trotz ihrer vor Hunger ausgezehrten Körper ihren starken Überlebenswillen im Handgepäck und die Hoffnung, in einer anderen Welt wieder neu beginnen zu können.

Die Mutter meiner Mutter