Warum nicht gleich?! - Alfred, Dr. Wiater - E-Book

Warum nicht gleich?! E-Book

Alfred, Dr. Wiater

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Beschreibung

Jeder kennt in seinem Umfeld jemanden, der regelmäßig zu spät kommt, Dinge nicht rechtzeitig erledigt oder das Schlafengehen aufschiebt, obwohl er/sie müde ist. Das kann einerseits zu Spannungen mit Familie, Freunden und Kollegen führen, im letzteren Fall aber auch die Gesundheit beeinträchtigen. Solange man sich nur hin und wieder im Alltag nicht aufraffen kann, eine ungeliebte Tätigkeit in Angriff zu nehmen und stattdessen erst mal die Blumen gießt, das E-Mail-Postfach checkt oder sich einen Kaffee macht, ist das völlig normal. Doch bei etwa einem Viertel der Menschen wächst sich das Prokrastinieren zu einem echten Problem, schlimmstenfalls sogar zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung aus. Dann sind die Betroffen nicht mehr imstande, ihr Leben überhaupt noch in den Griff zu bekommen. Alfred Wiater zeigt auf leichte und unterhaltsame Weise, wie wir mit der Neigung zur Prokrastination bei uns selbst und anderen umgehen können – denn auch im Erwachsenenalter ist es möglich, seine Fähigkeit zur Selbstregulation zu verbessern. Nicht zuletzt erfährt der Leser, was junge Eltern tun können, damit ihre Kinder später keine "Aufschieber" werden.

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DR. ALFRED WIATER

Warum nicht gleich?!

Aufschieberitis ade

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1. eBook-Ausgabe 2022

© 2022 Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv: FAVORITBUERO, München

Lektorat: Katharina Lisson, München

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva, Donaueschingen

Gesetzt aus der Minion Pro

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-434-1

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

INHALT

Vorwort

1.Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!

Prokrastination im öffentlichen Leben

2.Kommste heut nicht, kommste morgen!

Rheinische Prokrastination – Vorteile, Nachteile, Folgen

3.Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute

Im Spannungsfeld zwischen rationalen Anforderungen und emotionalen Bedürfnissen

4.Was Hänsel nicht lernet, das lernet Hans auch nicht

Regulationsstörungen in der frühen Kindheit

5.Patrick, 35 Jahre, BA Betriebswirtschaft, der Prokrastinator

6.Kein größerer Dieb als der Schlaf! Er raubt uns das halbe Leben

Ursachen und Folgen der Schlafaufschieberitis

7.Behandle die Menschen so, als wären sie, was sie sein sollten, und du hilfst ihnen zu werden, was sie sein können

Umgang mit Prokrastinierern – privat und beruflich

8.Morgen ist auch noch ein Tag

Die Chancen eines neuen Tages

9.Patrick, 35 Jahre, BA Betriebswirtschaft, Psychologiestudent, der Prokrastinator

10.Üb immer Treu und Redlichkeit

Vergeblicher Appell an die Tugend

11.Patrick, 35 Jahre, BA Betriebswirtschaft, ehem. Psychologiestudent, Teilzeitbeschäftigter, der Prokrastinator

12.Brich an, du schönes Morgenlicht!

Lichtblicke für Prokrastinierer

13.Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen

Endlich Schluss mit der Aufschieberitis

14.Der Staatsdienst muss zum Nutzen derer geführt werden, die ihm anvertraut werden, nicht zum Nutzen derer, denen er anvertraut ist

Prokrastination im historischen Kontext

15.Der 10-Punkte-Check zur Prokrastination

16.Perspektivenwechsel

17.Tipps für den Alltag

18.Eine wahre Geschichte

19.Ausblick

Quellenangaben

VORWORT

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Sie dieses Buch bereits vor Wochen gekauft haben und schon zwanzigmal anfangen wollten, darin zu lesen, und auch jetzt noch kurz überlegen, ob Sie nicht doch besser erst morgen damit beginnen, dann sind Sie hier genau richtig. Im medizinisch-psychologischen Sinne berichten circa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland über problematische Verhaltensmuster im Zusammenhang mit dem Aufschieben bzw. Hinauszögern von wichtigen Aufgaben. In der Alltagsrealität liegt die Zahl der Betroffenen weit höher. Kluge Köpfe haben für das Phänomen des Aufschiebens den Begriff Prokrastination geprägt. Er stammt, wie so viele Fachbegriffe, aus dem Lateinischen und setzt sich zusammen aus der Vorsilbe pro, die so viel bedeutet wie für, und dem Wort crastinum, das als der morgige Tag zu übersetzen ist. Prokrastinieren ist also das Aufschieben auf morgen und dann von morgen auf übermorgen und wiederum von übermorgen auf überübermorgen und so weiter.

Prokrastinieren betrifft nicht nur einzelne Menschen und deren Umfeld. Es findet auch statt in Politik und Bürokratie mit zum Teil gravierenden Folgen. Insofern sind wir alle immer wieder davon betroffen. Auch wenn das Aufschiebeverhalten erst seit einigen Jahren zum Thema in unserer Gesellschaft geworden ist, die Prokrastination hat eine lange Tradition. Lassen Sie sich also zurückführen in die Zeiten Ciceros und der langen Bank in Regensburg. Der Umgang mit der Problematik und die Verhaltensempfehlungen zum Thema waren und sind allerdings vom jeweiligen Zeitgeist geprägt. So ist es interessant, welche Betrachtungsweisen nur eine kurze Halbwertszeit hatten und welche immer noch relevant sind. Aber keine Sorge, dies ist kein Geschichtsbuch. Es versucht lediglich, einige gesellschaftlich bedeutsame Zusammenhänge im historischen Kontext zu interpretieren.

In diesem Buch erhalten Sie Informationen zur Aufschiebungsproblematik. Sie erfahren, welche biomedizinischen Ursachen dafür vorliegen können, und Sie bekommen praktische Tipps, wie Sie – als Betroffene – es schaffen können, wieder Ihren Alltag im Hier und Jetzt zu meistern. Damit können Sie etwas für Ihre Gesundheit tun und die Nerven der Mitmenschen schonen, die von Ihrer Aufschieberei nicht wirklich begeistert sind. Begleitet werden Sie dabei von Patrick, dem Prokrastinator, der Sie teilhaben lässt an seinen unglaublichen Alltagserfahrungen, aber auch an den persönlichen Belastungen und psychischen Störungen, die das Aufschiebeverhalten für ihn zur Folge hat. Verfolgen Sie seinen Weg, der ihn – und die Menschen in seinem Umfeld – immer wieder mächtig herausfordert. Sie können sich bestimmt vorstellen, dass das größte Problem des Prokrastinators ist, dass er das Aufhören mit dem Prokrastinieren immer wieder hinauszögert.

Wenn Sie hingegen zu den Menschen gehören, denen es auf die Nerven geht, dass Ihre Mitmenschen nicht in die Gänge kommen und alles immer wieder hinausschieben, sodass Sie selbst schließlich deren Aufgaben übernehmen müssen, erfahren Sie, wie Sie selbst mit der Thematik umgehen können und wie Sie diesbezüglich resilient werden können. Sie finden aber auch Empfehlungen, wie Sie prokrastinierenden Menschen helfen können, aus ihrer misslichen Situation herauszukommen. Sie helfen damit natürlich auch sich selbst, schonen Ihre Nerven und tun etwas für Ihr Wohlbefinden.

Bleibt schließlich noch die Frage der Prävention. Geht das überhaupt? Ich behaupte, das geht. Prokrastination hängt nämlich unmittelbar zusammen mit einem Mangel an Selbstregulation. Dieses Problem sehen wir bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, auch ADHS genannt. Und schon denken wir an das Kindesalter, vergessen aber dabei, dass die Störung bei 40–60 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen im Erwachsenenalter fortbesteht. Und wenn wir einen Blick noch weiter zurückwerfen, kommen wir zur Problematik der Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Die Thematik kennen wir bereits im Säuglingsalter. Die klassische Symptomtrias bei den Säuglingen ist exzessives Schreien, man spricht auch von Schreibabys, Trinkprobleme und massive Schlafstörungen. Gerade die Schlafstörungen können sich negativ auf die weitere Entwicklung der Kinder auswirken, da im Schlaf neuronale Netzwerke entstehen und die Gedächtnisbildung stattfindet. Das gilt auch für das Abspeichern emotionaler Erlebnisse. Sie erhalten einen Einblick in entwicklungsneurologische Zusammenhänge, die später mit prokrastinierendem Verhalten einhergehen könnten. Probleme mit der Selbstregulation kommen aber auch unabhängig von ADHS und von Regulationsstörungen in der frühen Kindheit vor. Und das in jedem Lebensalter. Die gute Nachricht: Man kann sie überwinden. Sie werden in diesem Buch viele hilfreiche Tipps dazu finden.

Bevor wir nun in medias res gehen, müssen wir noch mit einem Vorurteil aufräumen: Ständiges Aufschieben mag im Umfeld der Betroffenen zwar wirken wie Lustlosigkeit, Desinteresse, mangelnde Willensstärke oder Faulheit. Weit gefehlt! Prokrastinierer fühlen sich häufig schlecht wegen ihres Verhaltens, entwickeln Minderwertigkeitsgefühle und stehen unter einem zunehmenden Leidensdruck. Sie brauchen Unterstützung, gelegentlich auch therapeutische Hilfe, um aus ihrer Problematik herauszukommen, weil sie es aus eigener Kraft nicht schaffen.

Wenn Sie jetzt an dem Punkt angelangt sind, an dem Sie überlegen, ob das Buch etwas für Sie ist oder nicht, dann zögern Sie nicht, Ihre Entscheidung für oder gegen die Lektüre des Buches auf morgen zu vertagen, also eine Nacht darüber zu schlafen. Damit prokrastinieren Sie zwar bereits, aber Sie schaffen sich auch einen gedanklichen Freiraum, für den der Schlaf Entscheidungshilfen anbieten kann. So sind wir tatsächlich bei einem positiven Aspekt des Prokrastinierens angelangt. Und davon gibt es noch einige mehr. Also, wenn Sie Ihre Leseentscheidung auf morgen verschieben, sind Sie nicht unbedingt schon ein ewig Morgiger.

Köln, im März 2022Alfred Wiater

»Das aus meiner Sicht schönste Beispiel für Prokrastination findet sich in einer Berliner Kneipe. Dort hängt schon seit Jahren ein Schild über dem Tresen mit der Aufschrift: Morgen gibt’s Freibier. Besser kann man es nicht ausdrücken. Und alleine der Gedanke an das morgige Freibier lässt täglich immer wieder Scharen in die Kneipe pilgern, um sich einer Illusion hinzugeben.«

1

WAS DU HEUTE KANNST BESORGEN, DAS VERSCHIEBE NICHT AUF MORGEN!

PROKRASTINATION IM ÖFFENTLICHEN LEBEN

Fangen wir mal ganz von vorne an. Schon in der Bibel steht: »Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen« (Mt 6,34). Wie schön, dann brauchen wir uns also über unsere Zukunft keine Gedanken zu machen, können in den Tag hineinleben und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Dann bräuchten wir nicht mal was zu prokrastinieren, das hätte sich ja morgen sowieso erledigt. Es stellt sich aber die Frage, ob das die richtige Interpretation des Bibelspruches ist. So fällt auf, dass das Verb sorgen in dem kurzen Spruch gleich zweimal vorkommt. Und wenn man mal den Alltag betrachtet, dann haben wir heute Sorgen und morgen auch. Paradiesische Zustände sehen anders aus. Deshalb will uns die Bibel vielleicht etwas ganz anderes sagen? Die Realität zeigt doch, dass jeder Tag immer wieder neue Sorgen mit sich bringt. Und wenn wir dann unsere heutigen Sorgen auf morgen übertragen, dann wird die Bewältigung immer schwerer, weil sich ein immer größerer Sorgenberg vor uns auftürmt. Im biblischen Sinne sollten wir also unseren Sorgenberg jeden Tag immer wieder neu angehen und abtragen, damit die Sorgen uns nicht überwältigen. Vielleicht klappt’s dann nach den Sorgentagen ja auch irgendwann mit dem Paradies. Martin Luther, für markige Sprüche bekannt, wird dann auch die Übersetzung des Bibelspruches mit »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen« zugeschrieben.

Nachweislich soll Thomas Jefferson, ein Mann der wenigen Worte, sich das Sprichwort zu eigen gemacht haben. Geht er damit unseren Politikerinnen und Politikern mit gutem Beispiel voran? Zu wünschen wäre es. Die Realität sieht jedoch oft anders aus. Denken wir an Helmut Kohl, dem nachgesagt wird, Probleme ausgesessen zu haben. Das könnte man als Prokrastination in der Endlosschleife bezeichnen. Man sitzt die Probleme so lange aus, bis sie sich von selbst erledigt haben oder aber bis andere sie gelöst haben. Das geht vermutlich nur mit einem breit ausladenden Gesäß. Aber auch seine politische Ziehtochter schien das Aussitzen zu beherrschen, zum Teil in der Endlosschleife, zum Teil aber auch, um bei stundenlangen Nachtsitzungen so lange zu warten, bis alle zu erschöpft waren, ihr zu widersprechen, oder bis einer der Kontrahenten endlich einen Fehler machte, um ihn dann ausknocken zu können. Frau Merkel würde damit die kalkulierte Prokrastination beherrschen. So wie eine Füchsin, die einem Mäuserich auflauert, um ihn genussvoll zu verschlingen. Damit hätten wir bereits zwei Prokrastinationsformen erkannt, die offensichtlich für die Prokrastinierer mit positiven Ergebnissen verbunden sind: das Aufschieben, bis ein Problem sich quasi von selbst erledigt hat, und das kalkulierte Aufschieben, bis man die Chance einer Problemlösung nutzen kann. Allerdings ist das bloße Aussitzen von Problemen nicht wirklich zielführend, da es nicht zu Lösungen führt. Bestenfalls bleiben die Probleme ungelöst, werden aber nicht weiterverfolgt, weil das Interesse an Lösungen nach zermürbenden Diskussionen verloren geht. Oder die Probleme werden von anderen gelöst.

Politisch hat das Aufschieben von Problemlösungen in Deutschland eine lange Tradition. Sie geht zurück auf den Immerwährenden Reichstag (1663–1806) im alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, der in Regensburg verortet war. Dort saßen die Vertreter zahlreicher Interessengruppen im Regensburger Rathaus auf der langen Bank der Reichsstände. Im kurfürstlichen Nebenzimmer des Alten Rathauses ist heute noch die originale lange Bank zu besichtigen. Wenn etwas dorthin zur Beratung gegeben wurde, brauchte es immer sehr lange, um zu einer Lösung oder Einigung zu kommen. So findet die Redewendung »etwas auf die lange Bank schieben« in Regensburg noch heute ein hölzernes Fundament. Aber auch im Reichskammergericht, das als oberstes Gericht im Heiligen Römischen Reich unter anderem für die Einhaltung des Landfriedens zuständig war, war die Prokrastination im Sinne der Redewendung ein gängiges Verfahren. Dort seien die Akten zwar streng nach Eingang abgelegt, aufbewahrt und bearbeitet worden. Wenn aber einer der Prozessbeteiligten die Urteilsfindung hinausschieben wollte, dann habe er dafür gesorgt, dass die Akten immer wieder ganz hinten abgelegt und im wörtlichen Sinne »auf die lange Bank« geschoben wurden. Eine Tradition, die noch heute in unserem Justizwesen fortgesetzt wird. Die Vorteile liegen auf der Hand. Zum einen haben die mit der Bearbeitung von rechtlichen Belangen Beschäftigten dadurch weniger Arbeit. Zum anderen profitieren die Beschuldigten davon und können nicht mehr rechtlich belangt werden, wenn Verfahren dadurch verjähren. Sozusagen eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Also noch ein positiver Aspekt der Prokrastination? Könnte man meinen, bleibt nur das Problem für die mutmaßlich Geschädigten, die beim Verfahren auf der Strecke bleiben. Und ja, die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates, die wird leider durch die Prokrastination konterkariert. Aber was soll’s, man kann es nun wirklich nicht allen recht machen.

Regensburg gilt als das Brüssel des Mittelalters. Was für eine Metapher! Hat man doch den Eindruck, dass die Philosophie der langen Bank von Regensburg auf Brüssel übertragen wurde. Die »atemberaubende« Geschwindigkeit, mit der in Brüssel Entscheidungen gefällt werden, ist nicht nachvollziehbar und schier unerträglich. Anders ausgedrückt, es bleibt einem dabei die Luft weg. Da wird auf offensichtliche Menschenrechtsverletzungen in Europa gar nicht oder allenfalls halbherzig reagiert. Da werden endlose Debatten geführt um Banalitäten, brennende Probleme aber liegen gelassen und individuelle politische Interessen freiheitlich-demokratischen Grundsätzen übergeordnet. Fragt man sich, wie das möglich ist. Liegt es vielleicht an den Brüsseler Protagonisten? Bei manchen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nach ihrem politischen Versagen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten in Brüssel eine zweite Chance bekommen sollen. Den Rest schafft die dortige Bürokratie. Allerdings scheint der Ukrainekrieg die Prokrastinierer in Brüssel bekehrt zu haben. Bedauerlich, dass es eines solchen Ereignisses bedurft hat, um Verhaltensänderungen zu provozieren.

Kehren wir zurück zur deutschen politischen Prokrastination am Beispiel des Scheuer Andi, Verkehrsminister in der Regierung Merkel. Eine blendend wirkende Erscheinung! Als Politiker hatte er in einem Untersuchungsausschuss Rede und Antwort zu stehen wegen der Pkw-Maut-Problematik. Es ging um Entschädigungsforderungen der Mautbetreiber in Höhe von »nur« 560 Millionen Euro. Wer hätte denn auch absehen können, dass Brüssel dem deutschen Mautbegehren einen Strich durch die Rechnung machen würde? Aus den Berichten über die Ausschusssitzungen war erkennbar, dass der Scheuer Andi die Klärung der Problematik immer wieder hinauszuschieben versuchte. Dabei erfuhr der Steuerzahler von Prokrastinationsstrategien in unvorstellbarer Weise. Hätte der Steuerzahler nicht ein Recht darauf zu erfahren, ob die Abläufe korrekt waren? Er muss ja letztendlich für vermutlich 560 Millionen Euro aufkommen. Dieses Beispiel zeigt, wie durch Prokrastination Transparenz in der Politik verschleiert werden kann. Ein solches Szenario ist allerdings undenkbar ohne Menschen im Hintergrund, die das Prokrastinieren tolerieren oder gar unterstützen. Damit wird indirekt zu weiterem Prokrastinieren animiert. Ein Vorgehen, das nun wirklich nicht politisch erstrebenswert ist. Die Parallelen zum Reichskammergericht im Heiligen Römischen Reich drängen sich geradezu auf. Bleibt abzuwarten, ob der Scheuer Andi auch seine zweite Chance in Brüssel bekommt.

So lernen wir nach dem Prokrastinieren in der Endlosschleife und dem kalkulierten Prokrastinieren eine dritte Variante kennen, nennen wir sie das betreute Prokrastinieren. Dabei wird in der Politik durch wohlwollende Weggefährten dafür gesorgt, dass Einzelne keine politische Verantwortung übernehmen müssen. Den Weggefährten kommt dieses Verhalten natürlich auch zugute, da sich die Fehler Einzelner in der Regel unmittelbar auf das Image einer Organisation oder Partei negativ auswirken. Müssen doch die Weggefährten befürchten, dass ihre drei M gefährdet sind: Macht, Mandat und Moneten. Da hilft man doch mal gerne beim Prokrastinieren, politische Verantwortung hin oder her. Vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus.

Jüngeres Beispiel für politische Prokrastination ist das Gerangel um das Ausfliegen von deutschen und afghanischen Ortskräften aus Kabul. Während in den Nachrichten Tag für Tag darüber berichtet wurde, dass die Taliban ungehindert das ganze Land einnehmen und bereits kurz vor Kabul angekommen sind, wurde in unseren Berliner Ministerien beraten, intensiv und lange. Dabei hätte das Anschauen der Tagesschau, in der die neu von den Taliban besetzten Gebiete rot markiert dargestellt wurden, genügt, um zu erkennen, in welch atemberaubender Geschwindigkeit der Vormarsch der Taliban vonstattenging. Offenbar fehlte den verantwortlichen Politikern jedoch die Zeit, um die Nachrichten anzuschauen. Stattdessen wurden die Verantwortlichkeiten immer wieder hin und her geschoben zwischen Innenministerium, Justizministerium und Verteidigungsministerium. Da mussten erst einmal die Zuständigkeiten geklärt werden. Das hatte Vorrang vor der Hilfe für die Betroffenen vor Ort. Ist das Ausdruck deutscher Gründlichkeit oder Unwille und Unfähigkeit, zügig und rechtzeitig Entscheidungen zu fällen und diese auch zu verantworten? Als Bürger dieses Landes fragt man sich, wieso eigentlich die Zuständigkeiten von Ministerien nicht grundsätzlich definiert sind. Dann gäbe es keine akuten Zuständigkeitsprobleme in für Menschen bedrohlichen Situationen.

Jeder, der in einem Betrieb arbeitet, sollte wissen, wofür er zuständig ist, was sein Verantwortungsbereich ist und womit er seine Kompetenzen überschreitet. Stellen Sie sich vor, es kommt jemand mit einer schweren Verletzung ins Krankenhaus und muss operiert werden. Wie furchtbar wäre es, wenn dann das Personal erst mal klären müsste, wer operieren darf, wer die Narkose durchführt und wer assistieren soll. Warum sind solche strukturierten Abläufe nicht auch in der Bürokratie möglich? Weil man mit der Klärung von Zuständigkeiten sich erst einmal selbst hervortun und behaupten kann und damit Zeit gewinnt, um Entscheidungen hinauszuschieben. Pech für die Betroffenen in Afghanistan. Die Bilder von den verzweifelten Menschen am Kabuler Flughafen haben wir alle noch vor Augen. Hoffentlich auch die Verantwortlichen in Berlin. Aber wahrscheinlich sind diese durch die Klärung von Zuständigkeiten wieder einmal so beschäftigt, dass sie keine Zeit haben, die Tagesschau zu schauen. So kann Prokrastination im Extremfall Menschenleben kosten. Was für eine fatale Folge!

Bricht man die Prokrastination auf der großen politischen Bühne herunter auf den Landes- und Kommunalbereich, so zeigt sich, dass Prokrastinieren systemimmanent ist bis hinein in die kleinste Stadt- oder Gemeindeverwaltung. Natürlich steht keine lange Bank in den Amtsstuben. Die lange Bank wurde modernisiert und zerlegt in eine Fülle von Einzelelementen, die heute unter Begriffen wie Dezernat, Stabsstelle, Amt für … Abteilung, Unterabteilung oder wie auch immer firmieren. Für alle Bereiche gibt es mehr oder weniger Arbeitende bzw. Mitarbeitende und Zuständigkeiten, die sich auch verselbstständigen können und keineswegs immer untereinander koordiniert sind. Für Bürgerinnen und Bürger, die Anträge stellen, wird es besonders spannend, wenn ein Antrag von mehreren Ämtern bearbeitet werden muss. Dann wird er von Amt zu Amt weitergeleitet. Die jeweiligen Sachbearbeitenden verschieben den Antrag untereinander und warten darauf, dass das jeweils andere Amt sich an die Bearbeitung macht. Ein Verfahren, mit dem in Regensburg bereits viel Erfahrung gesammelt werden konnte. So verzögert sich die Bearbeitung, und Projekte werden hinausgeschoben, Investitionen und steuerpflichtige Einnahmen können nicht realisiert werden.

Aber auch wenn nur ein Amt zuständig ist, ergeben sich vielfältige Prokrastinationsmöglichkeiten. Nehmen wir an, Sie wollen Ihr Auto ummelden und beauftragen ein Unternehmen damit. Ärgerlicherweise bemängelt die Zulassungsstelle, dass Ihre Unterschrift nicht leserlich ist. Dafür braucht es acht Tage. Statt den Antrag nun in eine Zwischenablage zu legen und nach Klärung der Unterschriftproblematik weiter zu bearbeiten, wird die Antragsbearbeitung eingestellt. Ein neuer Antrag muss gestellt werden. Der wird dann von jemand anderem neu bearbeitet. Und siehe da, jetzt fällt auf, dass eine Formulierung im Antragsformular nicht ganz eindeutig ist. Die Antragsbearbeitung wird wiederum beendet. Und so geht es dann in die nächste und in die übernächste Runde. Und wenn der Antragsteller nicht gestorben ist, dann wartet er heute noch auf seine Ummeldung. So entwickelt sich die simple Ummeldung eines Fahrzeuges zu einem Prokrastinations-Desaster. Die Sachbearbeitung zieht sich in die Länge. Bei jeder neuen Beantragung muss sich wieder jemand neu in den Sachverhalt einarbeiten. Dabei geht viel kostbare Arbeitszeit verloren. Weitere Anträge stauen sich, und die Sachbearbeitenden sind völlig überlastet. Kein Wunder bei so einer Arbeitsorganisation! Burn-out als Prokrastinationsfolge. Aber es gibt auch in diesem Umfeld ein positives Beispiel. Die Finanzämter. Die arbeiten zügig, dulden keine Prokrastination bei den Steuerzahlungen, mahnen unverzüglich und fordern heftige Mahngebühren, sind optimal vernetzt und haben manchmal mehr Einblick in die persönlichen Belange der Bürgerinnen und Bürger als diese selbst. Chapeau! Warum klappt das anderswo nicht genauso? Wobei, als Steuerzahlender würde man sich manchmal wünschen, dass auch die Finanzämter die Prokrastination für sich entdecken!

Die Beispiele zeigen,

dass man prokrastinieren kann, bis Probleme irrelevant geworden sind oder bis andere sie gelöst haben. Komfortabel für den Prokrastinierer, aber zusätzliche Arbeit für andere.

dass man Probleme so lange hinausschieben kann, bis man andere mit den eigenen Problemlösungen austricksen kann. Ein geschicktes Vorgehen, bei dem sich die Prokrastination zumindest für den Prokrastinierer durchaus positiv auswirkt.

dass auch andere vom Prokrastinieren profitieren können und diese den Prokrastinierer deshalb sogar passiv oder auch aktiv dabei unterstützen.

dass Prokrastinieren andere das Leben kosten kann.

dass Prokrastination unglaublich frustrierend und nervenaufreibend sein kann.

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KOMMSTE HEUT NICHT, KOMMSTE MORGEN!

RHEINISCHE PROKRASTINATION – VORTEILE, NACHTEILE, FOLGEN