Warum Winnetou wichtig war - Ralf Junkerjürgen - E-Book

Warum Winnetou wichtig war E-Book

Ralf Junkerjürgen

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Beschreibung

Was als Reise nach Kroatien zu den Drehorten der Winnetou-Filme beginnt, vermischt sich bald mit Gedanken über die Bedeutung der Filmreihe für das Deutschland nach 1945 und weckt persönliche Erinnerungen, die stellvertretend für mehrere Generationen stehen. Die Poesie der Karstlandschaften mit ihren Wasserfällen und türkisblauen Flüssen und Seen lässt versunkene Bilder wieder auftauchen und entwickelt ein vielschichtiges Zusammenspiel aus Erlebnis, Nachdenken und Erinnern, das verständlich macht, warum Winnetou wichtig war und zu dem prägendsten populären Mythos Deutschlands seiner Zeit werden konnte. Der Autor zeigt, wie Winnetou Held einer jungen Generation im Aufbruch aus dem Schatten der Nachkriegszeit werden konnte und wie viel Sehnsucht nach einer besseren Welt in dieser Begeisterung steckt. Gerade die persönlichen Erinnerungen können dabei eine emotionale Brücke zur Generation der Gegenwart schlagen, die kaum Verständnis für diese Faszination mehr hat, in Winnetou kolonialistische oder gar rassistische Stereotype am Werke sieht und den Häuptling endgültig in die ewigen Jagdgründe schicken möchte. Vielleicht wird allein in der Mischung aus Erleben, Entdecken, Erinnern, Sehnsüchten und Gedanken das Wirken eines Mythos erkennbar, der wohl die wichtigste populäre Schöpfung der deutschen Nachkriegszeit war und zugleich die einzige Fantasie gewesen ist, die Ost- und Westdeutschland miteinander teilten und die damit beide ein Stück zusammenhielt.

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Ralf Junkerjürgen

Warum Winnetou wichtig war

Der Autor

Ralf Junkerjürgen ist Professor für romanische Kulturwissenschaft

an der Universität Regensburg; Forschungsschwerpunkte:

Film, Abenteuerliteratur und populäre Kultur.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schüren Verlag GmbH

Universitätsstr. 55 | 35037 Marburg

www.schueren-verlag.de

© Schüren 2024

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Erik Schüßler

Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Frechen

ISBN Print 978-3-7410-0486-5

ISBN eBook 978-3-7410-0703-3

Inhalt

Vorwort

I Der Schatz der Plitvicer Seen

II Am Pueblo der Zrmanja

III Die sinnlichen Wasser der Krka

IV Eine Schlucht in Schleiern

V Durch die wilde Paklenica

VI Verlorene Abenteuerschönheiten

VII Tulove Grede, am Mount Winnetou

VIII Winchester ‘80

Epilog Der letzte Angriff auf Butlers Farm

Nie wieder, bei keinem James-Bond-Film oder anderen

Großproduktionen habe ich eine solche Begeisterung im

Mathäser-Filmtheater erlebt wie beim ersten Karl-May-Film.

Manfred Barthel, So war es wirklich

Gedenke noch bisweilen

der Knabenphantasie:

Einst über Meer und Meilen

flogst du in die Prärie.

Sie hält nicht nur die Spuren

von Huf und Mokassin, –

all deine Träume fuhren

mit übers Grasland hin …

Günter Eich, Fährten in die Prärie

Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logaritmisiert. Es bekommt einen geläufigen Ausdruck, romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.

Novalis, Lolologische Fragmente

Ceci est l’histoire d’un homme

marqué par une image d’enfance.

Chris Marker, La Jetée

Vorwort

Als ich im Herbst 2020 einige Drehorte der Winnetou-Filme in Kroatien besuchte, war ich so ergriffen von den Seen, Felsenhöhlen, Wasserfällen und karstigen Schluchten, dass ich noch während der Reise begann, Eindrücke davon festzuhalten. Hatte ich mir diese Landschaften zwar von Bildschirm und Leinwand bereits heruntergeträumt, so verflocht sich nun alles mit der Wirklichkeit und setzte dabei Erinnerungen frei, die schon lange nicht mehr aufgestiegen waren. Aus der zeitlichen Distanz wurde mir bewusst, welche große Rolle die Karl-May-Filme für die Bundesrepublik nach 1945 gespielt hatten, und beim Schreiben kamen immer mehr allgemeine Gedanken und Betrachtungen hinzu, die sich mit filmischen und biografischen Erinnerungen vermischten, sodass ein abenteuerlicher Text entstand, der weder Reisebericht, noch Essay, noch Erinnerungen, sondern alles zugleich erschien.

Die Generationen, die zwischen der Mitte des Jahrhunderts und den 1980er-Jahren geboren wurden, hatten Karl May und vor allem Winnetou und Old Shatterhand über die Filme als Heldenfiguren der Jugendzeit erlebt und ins emotionale Gedächtnis aufgenommen, selbst wenn diese gegenwärtig kaum eine Rolle mehr für sie spielen oder nostalgisch verklärt sind. Ab Anfang der 1960er-Jahre wurden die Blutsbrüder zu mythischen Figuren, die ihre scheinbare Unsterblichkeit einem Zaubertrank gebraut aus Leseerfahrungen, Kino- und Fernseherlebnissen, Hörspielen, Berichten der Bravo, unüberschaubar vielen Fan-Artikeln und Besuchen von Karl-May-Festspielen verdankten. Als wissenschaftlicher Überbau dieser beispiellosen Popularität entstand 1969 die Karl-May-Gesellschaft und erforscht seitdem das Werk des Schriftstellers, wobei dessen filmische und multimediale Präsenz eine eher geringe Rolle spielt.

In den 1990er-Jahren lässt diese Vitalität nach, deutlich daran erkennbar, dass Karl May langsam aus dem Präsenzangebot der Buchhandlungen verschwindet. Auch der enorme Erfolg der Parodie Der Schuh des Manitu im Jahre 2001 verwies darauf, dass der Winnetou-Mythos in eine neue Phase getreten war. Zwar sind Parodien immer auch eine Hommage, die von der Popularität eines Mythos leben. Beim Aufeinandertreffen von Pierre Brice und Bully Herbig auf dem Sofa von Wetten, dass …? im Oktober jenes Jahres prallten jedoch zwei Welten aufeinander. Denn Brice hatte sich Winnetou nicht nur zur Lebensaufgabe gemacht, sondern sah in ihm eine unantastbare Friedensfigur und wusste mit Herbigs schwulem Zerrspiegelbild nichts anzufangen. Als er am Ende der Sendung in die rosa Kutsche steigt, mit der Herbigs Winnetouch ihn von der Bühne fährt, sieht man ihm an, dass er die Welt nicht mehr versteht …

Der Blick auf Winnetou hatte sich verschoben. Der Mythos lebte zwar weiter, konnte aber in seiner alten Form offenbar nicht mehr reproduziert werden. So drehte RTL 2016 mit großem finanziellen Aufwand unter dem Obertitel Winnetou – Der Mythos lebt drei abendfüllende Fernsehfilme in Kroatien (an den «Originalschauplätzen», so die unsinnig-sinnige Werbung) und modernisierte den Stoff nach dem Vorbild von Der mit dem Wolf tanzt: Realistisch, teilweise brutal, sexualisiert, mit Wolken statt mediterraner Sonne, herbstlich, am Ende sogar mit Schnee, in autochthoner Sprache und mit genderkorrekter Nscho-tschi als mächtiger Schamanin, die nicht mehr sterben muss, sondern Old Shatterhand heiraten und mit ihm eine Farm bewirtschaften darf. Und Winnetou? Der wird zum muskulösen Posterboy mit nacktem Oberkörper und fast zu einer Nebenfigur degradiert … Funktioniert hat das nicht. Der Dreiteiler hat nicht einmal in der Karl-May-Fangemeinde Spuren hinterlassen.

Der nächste öffentlichkeitswirksame Versuch, den Mythos umzuschreiben, wurde 2022 unternommen und hatte mit Karl May schlicht gar nichts mehr zu tun, sondern versetzte Winnetou ins Kindesalter zurück, um eine selbst erfundene Vorgeschichte zu erzählen. Der Film hieß Der Junge Häuptling Winnetou, war harmlos, vorhersehbar, ja sogar pedantisch darin, wie er mit erhobenem pädagogischen Zeigefinger, Werte zu vermitteln trachtete. Umso überraschender war, dass gerade dieser Kinderfilm Anlass zu einer heftigen Debatte gab, das heißt, es war eigentlich nicht der Film, über den eher wenig gesprochen wurde, sondern die Tatsache, dass der Spiele- und Kinderbuchverlag Ravensburger im August 2022 Beiprodukte – darunter das Buch zum Film und ein Puzzle – zurückzog, weil es auf Instagram Kritik an dessen angeblichen rassistischen und kolonialistischen Stereotypen gegeben hatte. Unmittelbar darauf kam es zu einer breiten Gegenreaktion, die bis in hohe politische Ämter hineinreichte und an die zwei Monate in Form von Presseartikeln anhielt. Die Karl-May-Gesellschaft hat die wichtigsten Stellungnahmen in einem Sonderheft gesammelt, und wer sich die Mühe macht, die über hundert Seiten O-Töne zu lesen, dem raucht anschließend der Kopf von den vielen klugen und weniger klugen Argumenten sowie den facettenreichen Perspektiven, die jede für sich Gültigkeit beansprucht. Bloß einig wurde man sich natürlich nicht.

Der vorliegende Text kann schon deshalb keine weitere Reaktion auf diese Debatte sein, weil er bereits früher begonnen wurde und als Antwort darauf sowieso viel zu spät käme. Ich möchte hier nicht argumentieren, sondern erzählen, denn Erzählungen sind stärker als Argumente. Sie bergen die Kraft, alle um ein Lagerfeuer zu versammeln, sowohl diejenigen, denen es ähnlich ergangen ist und die sich erinnern möchten, als auch jüngere Generationen, die kaum Verständnis für die Faszination jenes populären Mythos mehr haben, in Winnetou Stereotype am Werke sieht und den Häuptling endgültig in die ewigen Jagdgründe schicken möchte. Karl May und Winnetou werden hier weder verteidigt, noch verherrlicht, vielmehr soll verständlich werden, welche Wirkung die Filme und Bücher ab den 1960er-Jahren gehabt haben. Jetzt davon zu erzählen, hängt damit zusammen, dass der Mythos Winnetou offenbar erschöpft und in eine nostalgische Phase getreten ist, deren Noch-Vitalität sich vor allem den alternden Generationen verdankt, die davon geprägt wurden. Und was jetzt nicht festgehalten wird, läuft Gefahr, bald verloren zu gehen.

Um farbenfroh von Winnetou zu erzählen, muss die Figur durch das Prisma persönlicher Erlebnisse und Erinnerungen gebrochen werden. Nur dann erlaubt eine Erzählung auch eine Einfühlung, und die scheint mir unerlässlich zu sein, wenn man diese Zusammenhänge erfassen möchte. Wie in der Liebe so spielen auch im Erzählen Details eine entscheidende Rolle, darunter verstehe ich hier Einzelbeobachtungen zu den Figuren und den Filmen, über die man, so glaube ich, viel zu schnell hinweggegangen ist. Vielleicht wird allein durch die Mischung aus Erleben, Entdecken, Erinnern, Sehnsüchten und Gedanken das Wirken eines Mythos erkennbar, der wohl die wichtigste populäre Figur Deutschlands der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist, und zugleich die einzige Fantasie, die Ost- und Westdeutschland miteinander teilten und die damit beide ein Stück zusammenhielt.

I Der Schatz derPlitvicer Seen

Der Herbst kündigte sich an. Die Bäume am anderen Ufer ertönten schon im farblichen Dreiklang, auch wenn das Grün noch dominierte. Als ich mit der Fähre übersetzte, betrachtete ich die Nebelschwaden dicht über der Wasseroberfläche, die sich in den Strahlen der Sonne langsam verflüchtigten. Auf dem See war es bereits so morgendlich kühl, dass man die Jacke schließen musste. Das Tosen der kleinen Wasserfälle gegenüber war immer deutlicher zu hören, wurde aber noch vom Tuckern der Fähre übertönt. Keine Stimme erklang um mich herum, denn von den hundert Plätzen auf dem Boot, war nur einer besetzt. Meiner. Vorne beim Fährmann stand noch ein kleiner dünner Mann, der mit einer Greifzange und einem Beutel ausgerüstet war und schweigend eine Zigarette rauchte. Beim Anblick von Fotos dieser Landschaft hätten die Leute gemeint, ich sei zum Indian Summer an die Great Lakes gefahren. Aber da war ich nicht. Ich befand mich auf dem Kozjak, dem größten See von Plitvice in Kroatien.

Als wir am anderen Ufer landeten, drückte der kleine dünne Mann seine Zigarette aus und begab sich auf seine Runde. Für einen Moment beneidete ich ihn. Er machte jeden Tag seinen Spaziergang durch das Wunder dieses Nationalparks, um wie nebenbei den Müll aufzusammeln. Ich wartete einen Augenblick auf dem Steg, damit er Vorsprung gewinnen konnte, und ich das Gefühl hatte, ganz allein zu sein.

Dann ging ich den Holzsteg hinauf, mit dem der Rundgang begann und der direkt über das schäumende Wasser führte. Anstatt aus Brettern bestand der Steg aus oben abgeflachten armdicken Ästen, die sich der Feuchtigkeit lange widersetzen konnten. Zwischen den Ritzen sah man die schäumende Flut direkt unter sich und hatte an manchen Stellen das Gefühl, über den Wassern zu gehen. Dann trat mitunter plötzlich Stille ein und man stand an einem türkisblauen Teich, in dem mit einer Kalkhaut überzogene kahle Äste zu wachsen schienen, Korallen aus Gips. Das Wasser war so klar, dass einem schwindlig werden konnte, wenn man vom Steg in die Tiefe blickte. In meiner Fantasie steigerte sich das Astwerk im Wasser zu Mangrovenwäldern der Karibik, und in dieser bildlichen Übertreibung verspürte ich die erste Wirkung davon, so ganz allein in der Natur und fernab jeder Ablenkung zu sein. Die Welt erschien mir, wie sie mir als Kind erschienen war: Ähnlichkeiten verbanden alles mit allem, Dinge wuchsen über sich hinaus, die Wirklichkeit war nichts anderes mehr als Rohstoff der Fantasie.

Das Rauschen der zahllosen kleinen Wasserfälle, über die ich hinweg schwebte, begleitete ein innerer Rausch, aber sanft und ruhig wie ein Hochgefühl ohne fiebrige Spitzen. Inmitten dieses Tosens unter wolkenlosem Himmel, allein auf einem Steg, unter dem das Wasser alles wegspülte, dessen es habhaft wurde, schien es auch mich durch- und auszuspülen, als hätte ich einen Schluck aus der Lethe genommen.

Wir befanden uns mitten in der Pandemie, und die Gespanschaft Lika-Senj, zu der die Plitvicer Seen gehören, war als Risikogebiet eingestuft worden. Hier, wo sich im Sommer täglich elftausend Touristen im stop and go über die Stege schieben, um ihre Fotos von den Wasserfällen und Seen zu schießen, war niemand außer mir. Sechzehn Einzelseen, die eine langgezogene Treppe bilden und sich einer in den anderen ergießen, lagen verwaist da wie ein evakuierter Wasserplanet. Vom Kozjak-See aus, der in der Mitte dieser Treppe liegt, hat man die Wahl, die oberen oder die unteren Seen zu erkunden. Ich war nach links abgebogen, um zunächst die oberen zu erwandern und dann auf dem Rundweg die unteren zu erreichen, wo sich mir mit dem Veliki Slap, dem größten Wasserfall Kroatiens, gewiss ein spektakuläres Finale bieten würde. Bis dahin sollte mir die Landschaft einen einzigartigen Wechselrhythmus bieten, in dem das Rauschen der Kaskaden und die Stille stehender Gewässer einander ablösten.

So lag auch der Gradinska-See ruhig wie ein Spiegel vor mir, der die Welt in zwei Hälften teilte. Nach einer Biegung am Ufer wird der erste große Wasserfall erkennbar und sein Tosen leise hörbar. Noch ist sein unterer Teil hinter Sträuchern versteckt, aber nach hundert Schritten am Ufer führt mich der Steg direkt an ihm vorbei. Die Fassade des Felsens ist so rechteckig und regelmäßig, dass man glaubt, vor der Bühne eines Naturtheaters zu stehen, über die ein endloser Vorhang aus Tropfen und Schaum hinabfällt. Das Wasser ergießt sich dabei nicht von einer durchgezogenen Linie in den Abgrund, sondern schießt wie aus Rohren hervor, die in einem regelmäßigen Abstand nebeneinander angebracht wurden. Im Fall sprüht der Strahl sofort auseinander und berührt sich leicht mit seinen Nachbarn, sodass der Stoff dieses Wasservorhangs in Wellen aufgeworfen zu sein scheint.

Etwas weiter komme ich an einen gut 18 Meter hohen Fall, den Mali Prštavac, von dem das Wasser fein und sanft wie eine Seidengardine hinabgleitet. Die warmen braungelben Töne des Felsens erinnerten mich daran, warum ich eigentlich hier war. Ich hatte diesen Wasserfall schon oft im Bild gesehen, zum ersten Mal vor über vierzig Jahren, und war dem inneren Ruf gefolgt, Fantasie und Wirklichkeit nebeneinanderzustellen. Die Bildschirmlandschaften, in denen sich die Helden und Schurken verfolgten, schienen irgendwo an einem mythischen Ort, unwirklich und unerreichbar zu sein. Als ich später erfuhr, dass die Winnetou-Filme im damaligen Jugoslawien gedreht worden waren, erwachte sofort der Wunsch, sie zu besuchen. Aber Anfang der 1990er machte der Krieg dies unmöglich, dann beschäftigten mich andere Dinge, und Karl May gehörte zu den Jugenderinnerungen. So blieben die Landschaften eine ungestillte Sehnsucht, irrational und zwecklos, denn was bringt es schon, Drehorte zu besuchen, die nach sechzig Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert sein können? Das galt es nun herauszufinden. Ich stand hier ungefähr an der Stelle, wo im Schatz im Silbersee die Tramps Fred Engel (Götz George) mit nacktem muskulösen Oberkörper neben seiner geliebten Ellen Petterson (Karin Dor) in rot-weiß-karierter Bluse an einen Baum binden und ihrem Anführer Brinkley (Herbert Lom) zujubeln, der auf der anderen Seite des Sees mit einem Floß die Schatzhöhle erreicht hat. Eine andere Seite des Sees gab es in Wirklichkeit nicht. Das ist die erste, wenn auch banale Erkenntnis, zu der man beim Besuch von Drehorten gelangt: nämlich, dass Filme eine große Collage aus unzusammenhängenden Räumen sind, die in der Fantasie des Betrachters zu einer eigenen Welt zusammengefügt werden, die sich von der wirklichen kaum unterscheiden lässt.

Aber das war nicht das eigentlich mythische Bild gewesen, das an dieser Stelle geschossen wurde. Vor dem Mali Prštavac posierten Pierre Brice und Lex Barker im Kostüm auf einem Stein für ein Pressebild. Aus der Untersicht sieht man Old Shatterhand, leicht erhöht, die rechte Hand auf die Schulter seines Blutsbruders Winnetou gelegt, der links neben ihm steht, mit einem Bein auf dem Felsbrocken, mit dem anderen auf dem Boden. Die geringe Schärfentiefe lässt den Hintergrund verschwimmen und die Figuren klar hervortreten. Beide schauen nach links in die Ferne, als würden sie dort etwas beobachten. Ist es der verklärte Blick aus der Malerei, mit dem Heilige ihren Gott erkennen? Mit den Heiligen teilen sich die Helden zwar das Ikonische, ihr Blick hingegen ist ernst, angespannt, als sähen sie kommende Gefahren, als wollte der rechte Arm auf Winnetous Schulter sagen «Komm, es geht wieder los.»

Dieses Foto schmückte einst das Filmplakat vom Schatz im Silbersee und landete später auf Schallplatten und Bildton-Trägern. Im Film gibt es keine entsprechende Szene, in der die beiden so zu sehen sind, aber das betont nur den besonderen Status dieses Bildes. Es ist ein Emblem, das zwei Ikonen schafft, die in Deutschland einen tiefen Eindruck hinterlassen haben und zum kollektiven Gedächtnis gehören. Zwei Traumfiguren, auch im körperlichen Sinne: der athletische Barker mit seinen 1,93 Metern, vormals Tarzan; daneben der nicht minder schöne Brice, dessen Gestalt weniger für Kraft denn Gewandtheit steht, daran erkennbar, dass Winnetou nie über die Kruppe seines Pferdes absteigt, sondern sein Spielbein geschmeidig wie ein Balletttänzer über Hals und Kopf des Tieres hebt, um nach vorn elegant von seiner Mantillo-Decke hinunterzugleiten.

Und dann diese Farben. Old Shatterhand ist eine Erscheinung aus braungoldenen Tönen. Wildlederkostüm, Haut, Haarfarbe, alles geht ineinander über. Die Fransen an Armen und Beinen verleihen den Konturen einen weichen Übergang in alles, was ihn umgibt. Er ist blond, aber es ist nicht das kalte Blond der SS-Offiziere aus Kriegsfilmen, es ist warm, goldig, nussbraun, ein unbelastetes und beruhigendes Blond. Im Gegensatz dazu steht Winnetou mit tiefschwarzem Haar – «blauschwarz» hatte Karl May es genannt –, in hellem Hirschlederkostüm, reich verziert mit Stickbahnen, auf denen abstrakte Zeichen wie Kreuze und Pfeile zu sehen sind. Zwei Bahnen davon gehen wie eine Stola von der Schulter über die Brust bis zum Gürtel und betonen das Priesterliche des Häuptlings.

Äußerlich verbindet sie nichts als die Bärenkrallen-Kette um ihren Hals, und doch bilden sie eine Einheit. Es ist eine Sehnsuchtseinheit für die Deutschen Anfang der 1960er-Jahre, denn sie steht für Völkerfreundschaft. Das Deutschland jener Zeit, im Wiederaufbau zwar, aber gezeichnet, stigmatisiert als Nation der Völker- und Massenmörder, als historisch beispiellose Schande der Menschheit, hat zwei Sehnsuchtshelden bekommen, an denen es sich moralisch wiederaufrichten kann: den Apachen-Franzosen und den Deutschen-Amerikaner. Winnetou und Old Shatterhand senden Botschaften von Freundschaft und Versöhnung, der deutsch-französischen ein Jahr vor dem Elysée-Vertrag, der deutsch-amerikanischen ein Jahr vor Kennedys Bekenntnis zu Berlin.

Old Shatterhand alias Karl May wird von einem Amerikaner verkörpert, sodass die Deutschen sich in ihm wiedererkennen und zugleich vor der Autorität des großen Blutsbruders aus Übersee verneigen können. Und in dem Apachen Winnetou erweist man der Grande Nation, den exotischen Nachbarn, die Ehre, mit denen nun endlich Bruderschaft getrunken wird. Völkerverbrüderung und -verschwägerung sind überhaupt ein wiederkehrendes Thema dieser Filme: In Winnetou II verzichtet der Titelheld auf die ihm ebenbürtige Häuptlingstochter Ribanna, damit sie den weißen Leutnant Merrill ehelichen kann. Und hätte Old Shatterhand nicht Nscho-tschi, die Apachen-Französin Marie Versini, geheiratet, wenn sie nicht von den Kugeln Santers getötet worden wäre?

Im Kontext der 1960er-Jahre erhielt der Winnetou-Mythos somit eine neue Bedeutungsebene bzw. wurde, wie es derzeit akademisch heißt, neu codiert: Am Ende der Ära Adenauer versinnbildlichen Brice-Winnetou und Barker-Old-Shatterhand die gelungene Westintegration der Bundesrepublik Deutschland, und dies umso anschaulicher, als dass sie eine sinnige Umkehrung von Integration verkörpern. Denn Brice – der nie in Frankreich bekannt war – wurde «unser» Franzose, und Barker – den niemand erkannte, als er 1973 auf der Lexington Avenue tot zusammenbrach – war «unser» Amerikaner. Beide vertraten ihre Herkunftsländer und waren doch hausgemachte «deutsche» Stars. Nichts gegen Hans Albers oder Curd Jürgens, aber Brice und Barker machten das deutsche Kino international – wenn auch nur gefühlt, denn die Karl-May-Filme blieben außerhalb des deutschsprachigen Raums und einigen osteuropäischen Ländern weitgehend unbekannt.

Das schließt ältere Bedeutungsschichten natürlich nicht aus. Während des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik machten Karl Mays Erzählungen in mehrfacher Hinsicht Identifikationsangebote: als romantische Zivilisationsflucht, als exotische Fantasien, als christlich geprägten Pazifismus, durchsetzt mit deutschtümelnden Aussagen. Als wichtigstes Merkmal Mays gilt vielen sein «Ich», also die subjektive Perspektive des Superhelden, die Leserinnen und Leser für sich übernehmen können. Inspiriert wurden seine Figuren vom romantischen homme supérieur der Romane Alexandre Dumas’, die May in jungen Jahren gelesen hatte. Im Grafen von Monte-Christo fand er jemanden, der alle Sprachen so akzentfrei beherrschte wie sein späteres fiktives Alter Ego, und die Titelfigur von Dumas’ exotischem und zu Unrecht vergessenem Roman Georges flüstert seinem arabischen Hengst Zauberformeln ins Ohr, um ihn zu Höchstleistungen anzutreiben wie später Kara Ben Nemsi bei seinem Rih. Auch wenn der homme supérieur bei May in den Farben der deutschen Fahne gemalt wird, stellt er keinen rassistisch begründeten Übermenschen dar, der aufgrund seiner Abstammung überlegen ist, sondern bleibt eine Ausnahmeerscheinung und gebunden an Dumas’ hochambitionierte Vorgänger, deren Leistungen und Fähigkeiten «meritokratisch» begründet werden, also durch besondere Anstrengungen und Lernbereitschaft, wobei Mays Superhelden bei aller Überlegenheit außerdem von ihrer christlichen Demut vor jeglicher Selbstüberschätzung bewahrt werden.

Die Nazis wussten daher mit May letztlich weniger anzufangen, als mitunter behauptet wird. Einige lehnten ihn als Pazifisten und Gegner des Rassegedankens ab, andere lobten die physische Tüchtigkeit seiner Figuren im Sinne des pädagogischen Abhärtungsmottos «ein Indianer kennt keinen Schmerz». Diese widersprüchliche Einschätzung ließ May relativ unbeschadet die Diktatur überstehen, sodass die Reiseerzählungen nach 1945 nicht nur ihr altes Identifikationspotenzial bewahrten, sondern auch offenblieben für neue Deutungen. Die ungeheure Wirkung der Winnetou-Filme Anfang der 1960er-Jahre lässt sich nicht allein aus ihren ästhetischen Merkmalen oder der Popularität Karl Mays erklären, sondern nur dadurch, dass sie einem neuen Bedürfnis der Deutschen entsprachen, nämlich der tiefen Sehnsucht, sich nach der historischen Katastrophe wieder als Teil der Welt betrachten zu dürfen. Winnetou und Old Shatterhand waren Reintegrations- und Normalisierungsfiguren und lieferten den filmischen, also sichtbaren Beweis dafür, dass man erneut zur (westlichen) Völkergemeinschaft gehörte. Zugleich wurde der Stoff «entnationalisiert» und Old Shatterhand im Prolog nicht als Deutscher, sondern als «weißer Mann, der über das große Wasser kam», bezeichnet.

Doch damit nicht genug. Während sich bei Karl May letztlich alles um das «Ich», mal als Old Shatterhand, mal als Kara Ben Nemsi, dreht, verschiebt sich der Fokus der Filme auf Winnetou und damit indirekt auf den Völkermord an den Native Americans. Darf, ja muss die deutsche Winnetou-Begeisterung daher nicht auch als verschobene emotionale Auseinandersetzung mit der Shoah verstanden werden?

Während ich vor mich hinsinniere, fällt das Wasser weiter seidenweich hinab, so wie in den letzten sechzig Jahren, seitdem das Foto geschossen wurde. Auch ich würde gerne auf diesem Felsen stehen und in das Bild hineinkommen. Aber der Bereich ist abgesperrt.

Der Weg führt mich auf einen Pfad am Ufer, der sich einige Meter über dem Wasser erhebt. Die Sonne steht nun hoch genug, hat die Luft aufgewärmt und ihr Licht spiegelt sich überall wider. Wenn ich durch die Farne und das Geäst der Erlen und Weißbuchen am Ufer schaue, strahlt mir das Wasser am sandigen Uferstreifen in Türkis entgegen, um dann in ein dunkles Blau überzugehen. Schon denke ich an eine Szene aus dem Film, in dem Fred und Ellen sich befreit haben, in den See gesprungen sind und am Ufer entlang tauchen, durch eben dieses türkisblaue Wasser. Ob es an dieser Stelle war? Es könnte überall gewesen sein, unmöglich, den genauen Drehort wiederzufinden. Die beiläufige Schwimmszene hat es mir angetan, vielleicht, weil es an paradiesische Orte gemahnt, schöne junge Menschen, er mit nacktem Oberkörper, für einen Moment Blue Lagoon, für einen Moment hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Oktober.

Dann bringt der Weg mich an einen Ort, der den inneren Filmprojektor wieder ausschaltet. Im Dunkel des Blätterdachs einer kleinen Landzunge hat das Wasser viele kleine Stufen in die Felsen eingewaschen und eine prächtige Außentreppe gebaut. Ein Perron unter Bäumen, über den die dünne Wasserschicht wie ein fliehender Teppich hinwegsprudelt. Abgerundete Steinblöcke ragen wie Köpfe daraus hervor, manche mit langem Mooshaar überwachsen, an dem das Wasser wie silberne Schweißtropfen abperlt. Es rauscht, es schwillt, kein Fischer sitzt daran. Ich widerstehe dem Impuls, Fotos zu schießen oder Videos aufzunehmen, die ich mir daheim immer und immer wieder anschauen könnte. Solche Eindrücke jedoch kann man nicht festhalten: das Rauschen, den Sprühnebel auf meiner Haut, die Kühle des schattigen Hains, das Wimmeln der Wassertropfen auf den Steinköpfchen.

Ein paar Hundert Meter weiter erreiche ich eine Anhöhe über dem See und blicke hinab auf die türkisblaue Fläche des Okrugljak. Hier an den oberen Seen gibt es keine Drehorte mehr, und die Natur stellt sich ganz ohne Vermittlung vor. Der Scheitelpunkt des Rundwanderwegs führt mich schließlich an einen seichten weitläufigen See, in dessen glasklarem Wasser Fischschwärme träge in der Sonne baden. Sie ignorieren das Geräusch meiner Schritte auf dem Steg. Kein Klang der aufgeregten Zeit, zitiert es in mir, drang je in diese Einsamkeit. Hier auf dem weiten See kann die Sonne endlich ihre ganze Wärme spenden und schimmert tausendfach auf dem Wasser. Und wenn es kein Nationalpark wäre, dann müsste man alle Kleidung von sich werfen, hineinwaten und sich in den warmen Sand im kühlen Wasser legen.

Von hier führt der Weg bergab zu den unteren Seen. Nach einer dreiviertel Stunde bin ich wieder am Kozjak, steige in eine der Fähren und lasse mich zum weiter entfernten nördlichen Ufer bringen. Auf der Wiese am Steg stehen Holztische, dahinter ein Grillrestaurant und ein Souvenirshop. Hinter den Fenstern ist irgendjemand darin tätig, aber sonst ist niemand zu sehen. Ich folge dem Weg, überquere einen schmaleren Wasserarm, gehe am Ufer des Milanovac und dann des Gavanovac entlang. Überall bietet sich mir das gleiche hinreißende Bild: sprudelndes Wasser unter dem Steg, das durch Sträucher und über Stein und Sand hinwegrauscht, sich in einen See ergießt und plötzlich still und scheinbar unbeweglich wird, in tiefen Schlaf zwischen Schilfen und steilen Felswänden fällt, um am anderen Ende wieder zu erwachen und sich lachend hinabzustürzen, wie ein Kind, das sich leblos stellt, um die Eltern anzulocken und sie, plötzlich auffahrend, zu überraschen. Vor dem nächsten See versperrt eine kleine Landzunge den Blick. Dahinter liegt der Silbersee, Geburtsname: Kaluderovac. Ihn überquerten die Anführer der Tramps mit einem Floß, um zur Schatzhöhle zu gelangen. Ich gehe an der Landzunge entlang und sehe plötzlich rechts vor mir in gut acht Metern Höhe das große Loch im Fels, heute leicht verdeckt von einer hochgeschossenen Gruppe schmaler Bäume. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, denn damit hatte ich noch nicht gerechnet. Eine Treppe führt hinauf, nach etwa dreißig Stufen stehe ich vor gleich zwei Drehorten, links geht es weiter durch einen Felsspalt hinauf, durch den die Banditen im Film hinabsteigen, um zum See zu kommen, rechts unmittelbar vor mir sind, nebeneinander versetzt, würfelförmige Stufen für jeweils einen Fuß in die senkrechte Wand geschlagen worden. Auf eben diesen Steinwürfeln schnellte Herbert Lom als Brinkley einst hoch, um zum Schatz zu gelangen. So behände gelingt es mir nicht, die Steine sind feucht, es geht steil hinauf, und ein Sturz könnte schwere Folgen haben. Dann aber stehe ich vor dem Höhleneingang, trete ein paar Schritte hinein und wende mich dem See zu. Von hier aus blickte Nintropan-hauey, der Hüter des Schatzes, hinunter auf den See und sah die Tramps kommen, und wir sahen ihm über die Schulter, eine der vielen Rückeneinstellungen in den Winnetou-Filmen. Ich taste mich in die Höhle hinein, der Boden ist feucht und glatt, nach nur ein paar Metern hat das Tageslicht seine Kraft verloren, und Finsternis liegt vor mir. Überflüssig zu sagen, dass die Innenaufnahmen der Schatzhöhle im Studio gedreht wurden. Als ich mich wieder auf den Ausgang zubewege, mache ich Fotos von dem Blick aus der Höhle auf den See. Aufgrund des starken Kontrastes erscheint die Höhle bloß als schwarzer Rahmen, aber dafür ist die markante Linie des Eingangs, der einem gotischen Spitzbogen ähnelt, gut zu erkennen.

Vorsichtig klettere ich die Treppenwürfel wieder hinab, steige anschließend noch den anliegenden Felsspalt hinauf und kehre dann zum See zurück. Der Steg führt auf die andere Seite und weiter an den Felswänden entlang. Von dort aus ist die Höhle wie in einer Totalen des Films zu sehen, aber die Farben sind verändert und Fels und Loch von der Vegetation zum Teil verdeckt.

Nach nur wenigen Schritten und bevor ich weiter darüber nachdenken kann, schwillt das Rauschen derart an, dass mein Blick sich ganz auf das Kommende richtet. Rechts von mir stürzt das Wasser plötzlich in einem Halbkreis tief hinab, um sich in einem runden Becken zu sammeln. Man weiß nicht, wo man hinschauen soll, so fantastisch sprudelt hier alles miteinander. Wasser, Stein, Luft und Grün. Nur gibt das Wasser den Ton an, hektisch, lärmend, eilig drängt es über Felsen, Sträucher und kleine Bäume dahin, unaufhaltsam und rücksichtslos. Wer sich widersetzt, wird einfach umflossen und zur Strafe mit einer Kalkschicht überzogen. Unten im Becken aber ruht es so friedlich, als sei nichts geschehen. Eine Borderline-Landschaft.

Es geht die Treppen hinunter und links erhebt sich majestätisch der Veliki Slap, der große Wasserfall, in dem sich die Plitvice ergießt und sich mit dem Wasser aus den Seen vereint. Von achtzig Metern stürzt das Wasser hinunter, aber nicht in einem massiven Schwall, sondern wieder in dünnen Stoffbahnen mit Aufwürfen und Falten, die zugleich verdecken und sichtbar lassen, so gigantisch, dass sie den Vergleichen spotten. Da die Sprache verstummt, fallen mit dem Wasser Bilder hinab. Pierre Brice auf seinem Rappen, Schüsse, er duckt sich, springt vom Pferd und verschanzt sich hinter zwei Felsen. Die Banditen schießen, natürlich eigentlich nicht von hier, die Aufnahmen wurden viel weiter oben gemacht, aber Winnetou schießt von hier zurück, schießt die Pistole leer, wirft sie fort und flüchtet sich dann zwischen die Felsen. Ein endloses Rauschen umgibt mich, in dem man seine eigene Stimme nicht hören kann, ich tauche in den Sprühregen ein, ins Niemandsland zwischen Wegen und Felsen. Ich gehe bis an die Absperrung, steige auf das Mäuerchen. An ein Foto ist hier nicht zu denken, man steht wie in einer riesigen Dusche. Hier sind nur Schauen, Spüren, Riechen und Lauschen erlaubt. Eine Einschränkung ist das nicht, im Gegenteil, dieses Gesamtkunstwerk überfordert die Sinne. Willst du hören, schließ die Augen, willst du spüren, schließ die Augen, willst du riechen, schließ die Augen. Es ist so intensiv, dass man es nicht lange aushält. Durchnässt kehre ich zum Steg zurück, der zum gegenüberliegenden Ufer hinaufführt.

Oben angekommen, endet der Zauber jäh mit den Hinweisschildern auf den Ausgang, der schon zu sehen ist. Doch hundert Schritte vor den Toren liegt eine Aussichtsplattform, die zu einem grandiosen Finale einlädt. Von hier aus ist das Ensemble fotogerecht zu sehen. Links stürzen die Seen hinab, rechts oberhalb leistet die Plitvice über den Veliki Slap ihren Tribut, über mehrere Stufen vereinen sich die Wasser und bilden die Korana, die ihren Weg durch den Canyon sucht und gen Norden bis nach Karlovac führt. Die Kroaten nennen diesen Wasserkessel Sastavci «Zusammenfluss». Die runde Naturbühne wird rechts