Warum wir Dämonen inzwischen lieber in der Hölle bleiben - Alicia Krink - E-Book

Warum wir Dämonen inzwischen lieber in der Hölle bleiben E-Book

Alicia Krink

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Beschreibung

Julian ist wahrlich ein Unglücksrabe. Ein dürrer, schwächlicher Unglücksrabe, der im Armenviertel der Stadt wohnt, in der Schule tyrannisiert wird und dessen Herzensdame Lexy seine Gefühle nicht erwidert, sondern ihn stattdessen nach Strich und Faden ausnutzt. Außerdem ist er mit Tim und Thomas, seinen zwei besten Freunden, geschlagen, die unter dem Wort Spaß einen lahmen Videospielabend mit tonnenweise Chips verstehen. Fettige Hände inklusive. Und dann wäre da noch diese Sache mit seiner kleinen Schwester Anna, die kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag nicht mehr wiederzuerkennen ist. Die Probleme, die das nach sich zieht, kann Julian auch mit all seiner Intelligenz nicht lösen. In seiner Verzweiflung heckt er einen verrückten Plan aus. Wenn Anna sich von nichts und niemandem auf der Welt helfen lassen will, dann muss ihr doch von etwas geholfen werden können, das nicht von dieser Welt stammt, oder? Julian beschwört erfolgreich einen Dämon herauf. Und ab diesem Punkt geht alles mehr oder weniger nach hinten los, denn hier komme ich ins Spiel. Dieser Trottel hätte das besser sein lassen sollen! WARUM WIR DÄMONEN INZWISCHEN LIEBER IN DER HÖLLE BLEIBEN ist der Debüt-Roman von Alicia Krink (Jahrgang 1994) und eine ebenso mitreißende wie originelle Coming-of-Age-Geschichte.

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ALICIA KRINK

 

 

WARUM WIR DÄMONEN INZWISCHEN LIEBER IN DER HÖLLE BLEIBEN

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

WARUM WIR DÄMONEN INZWISCHEN LIEBER IN DER HÖLLE BLEIBEN 

Eins 

Zwei 

Drei 

Vier 

Fünf 

Sechs 

Sieben 

Acht 

Neun 

Zehn 

Elf 

Zwölf 

Dreizehn 

Vierzehn 

Fünfzehn 

Danksagung 

Impressum

 

Copyright © 2024 by Alicia Krink/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

 

Das Buch

 

 

Julian ist wahrlich ein Unglücksrabe. Ein dürrer, schwächlicher Unglücksrabe, der im Armenviertel der Stadt wohnt, in der Schule tyrannisiert wird und dessen Herzensdame Lexy seine Gefühle nicht erwidert, sondern ihn stattdessen nach Strich und Faden ausnutzt. Außerdem ist er mit Tim und Thomas, seinen zwei besten Freunden, geschlagen, die unter dem Wort Spaß einen lahmen Videospielabend mit tonnenweise Chips verstehen. Fettige Hände inklusive. Und dann wäre da noch diese Sache mit seiner kleinen Schwester Anna, die kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag nicht mehr wiederzuerkennen ist. Die Probleme, die das nach sich zieht, kann Julian auch mit all seiner Intelligenz nicht lösen. In seiner Verzweiflung heckt er einen verrückten Plan aus. Wenn Anna sich von nichts und niemandem auf der Welt helfen lassen will, dann muss ihr doch von etwas geholfen werden können, das nicht von dieser Welt stammt, oder? Julian beschwört erfolgreich einen Dämon herauf. Und ab diesem Punkt geht alles mehr oder weniger nach hinten los, denn hier komme ich ins Spiel. Dieser Trottel hätte das besser sein lassen sollen!

 

Warum wir Dämonen inzwischen lieber in der Hölle bleiben ist der Debüt-Roman von Alicia Krink (Jahrgang 1994) und eine ebenso mitreißende wie originelle Coming-of-Age-Geschichte. 

  WARUM WIR DÄMONEN INZWISCHEN LIEBER IN DER HÖLLE BLEIBEN

 

 

 

 

 

 

Für alle inneren Dämonen 

 

 

 

 

 

 

 

  Eins

 

 

Wo zum Henker bin ich hier denn gelandet?! Ich sehe mich in dem Zimmer um. Atme einmal ganz tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Die Luft ist schwer. Sie steht im Zimmer. Obwohl sich meine Lungen aufblähen, habe ich nicht das Gefühl, genug Sauerstoff einzuatmen. Sehr unbefriedigend. Zu meinem Glück befindet sich direkt über mir ein schmuddeliges Fenster. Ich richte mich auf, um es aufreißen zu können. Von draußen strömt zur Belohnung knochentrockene Luft in den Raum. Na, super! Jetzt habe ich beim Atmen das Gefühl, als würde man meine Luftröhre mit Schmirgelpapier bearbeiten. Mit dem Grobkörnigen. Naja, immerhin ist es nicht mehr das mit Kohlenstoffdioxid angereicherte Gasgemisch, das ich einatme.

»Das ist kein Zimmer, das ist eine stickige Konservendose«, stelle ich fest.

Ich bin genervt. Ich bin sogar unfassbar genervt und werfe dem aufgeschlagenen Buch, das direkt neben mir liegt, einen vernichtenden Blick zu. Der Ursprung allen Übels. Bei dem Buch handelt es sich um etwas, was vorgibt, eine umfangreiche Sammlung von Beschwörungsformeln, alten Flüchen und wirkungsvollen Zaubern zu beinhalten. Die Betonung liegt hier ganz klar auf dem schönen Wörtchen vorgibt, denn die Seite, die aufgeschlagen ist, zeigt das reinste Beschwörungs-Kauderwelsch. Wirrwarr. Diese Formel hätte eigentlich überhaupt nicht funktionieren dürfen. Sie ist falsch. Und das nicht nur ein bisschen.

»Den Müll hast du dir im Internet bestellt, was?«, knurre ich in Julians Richtung. Obwohl ich keine Antwort erwarte, schiebe ich noch eine Frage hinterher, die mich sehr beschäftigt. »Aber wenn du nicht mal eine richtige Beschwörungsformel hattest, wie zum Geier konntest du mich dann rufen?«

Julian hat mich heraufbeschworen. Sehr erfolgreich, wie unschwer zu erkennen ist. Wie er das angestellt hat, ist mir ein Rätsel. Im Moment tippe ich stark darauf, dass er zu blöd war, die falsche Anleitung des Blödsinnsbuchs richtig anzuwenden. Und dass sein Fehler ihm somit ganz zufällig in die Hände gespielt hat. Immerhin ergibt negativ und negativ positiv. Einfachste Mathematik. Nun, in jedem Fall, Gratulation, du Depp! Hier bin ich, du hast den Hauptgewinn gezogen. Und verloren. Wenn man beim Höllenroulette mitspielt, sollte man wissen, dass man niemals etwas gewinnt.

Mucksmäuschenstill sitzt Julian in der kleinen Ecke im Kopf, in die ich ihn automatisch durch meine Präsenz gedrängt habe. Er fürchtet sich und weiß nicht genau, was mit ihm geschieht. Ich bin mir absolut sicher, dass er sich das Endergebnis nicht so vorgestellt hat. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass es ähnlich abläuft wie bei World of Warcraft. Dumm gelaufen für Julian, denn er hat sich geirrt. So läuft das nämlich nicht ab. Wenn man einen Dämon beschwört, erhält man keinen treuen Begleiter. Wir Dämonen nehmen auch keine eigene Form oder Gestalt an. Die einzige Möglichkeit, die es für uns gibt, uns überhaupt in der Welt der Sterblichen aufzuhalten, ist die komplette Übernahme eines anderen Organismus. Ich spreche von keiner symbiotischen Verbindung, sondern von einem parasitären Verhalten. Alle Vorteile dem Parasit, alle Nachteile dem Wirt. Qualvoll langsam. Bis zum Schluss.

Ich habe mich an das einzige Gefäß geheftet, das ich bei meiner Ankunft finden konnte. An Julians Körper.

»Es ist zum Heulen mit euch Menschen. Ihr seid alle so unvorsichtig und dämlich geworden«, murmle ich kopfschüttelnd. »Da seht ihr ein paar Horrorstreifen, in denen man euch eintrichtert, wie eine Beschwörung abläuft, spielt ein paar frei erfundene Spiele, in denen ihr uns kontrollieren könnt... und schon denkt ihr, dass ihr wisst, wie der Hase läuft. Grenzenlos arrogant. Wie sagt man so schön, Hochmut kommt vor dem Fall! Auf die Idee einen Pfarrer, der schon mit Dämonen zu tun hatte, nach seiner Meinung hierzu zu fragen, ist natürlich niemand, hä? Versteh mich nicht falsch, ich verachte die Religion und ihre zugehörigen Anhänger, aber das Wissen um den Zustand eines Besessenen kann ich den Kirchenpupsern schlecht absprechen. Wobei, wahrscheinlich dürfte es heutzutage eher schwierig sein, jemanden mit solch einer Expertise zu finden. Aber da ich nicht denke, dass du das überhaupt versucht hast, geht der Punkt an mich, da sind wir uns einig, oder?«

Wie sich die Welt doch gewandelt hat. Es ist noch gar nicht so lange her, ein paar hundert Jahre vielleicht, da wollte kein Mensch freiwillig mit uns verkehren. Wer besessen war, der wurde wie ein Aussätziger vor der Welt versteckt. Solange, bis man den Befallenen von dem Dämon befreien konnte, was in den seltensten Fällen glückte oder bis er irgendwann auf abscheuliche Weise krepierte. Damals hatten wir noch einen nennenswerten Platz in den Köpfen dieser Welt. Wir waren noch nicht an den Rand des Vorstellbaren gedrängt worden. Mich packt leichter Wehmut, als ich mich daran erinnere.

Es war eine andere Zeit gewesen. Einfacher und vermutlich deshalb besser. Eine Zeit, in der man sich der Tatsache bewusst war, dass die Beschwörung eines Dämons in der Besessenheit endet. Dass ein Pakt mit einem von uns immer, immer, immer, immer einen Preis hat, den es zu zahlen gilt. Am Ende stets einen Blutigen. Rausgerissene Gedärme bilden bei uns eher die Norm als eine Ausnahme. Von einem Dämon bekommt man nichts geschenkt. Aber vor allem hatten die Menschen eins und das war Angst. Unvorstellbare Angst. Unbändig groß. Wir waren der Ursprung realer Horrorgeschichten. Die Verursacher von Albträumen. Das, was einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte, wenn man nur darüber sprach. Wundervoll! Jetzt ist das nicht mehr so. Im digitalen Zeitalter ängstigt sich niemand mehr vor dem krampfenden Epileptiker oder behauptet, es sei Teufelswerk.

»Lasst ihn in einer sicheren Umgebung auskrampfen. Wenn er fertig ist, dann stellt ihr ihn mit Anti-Epileptika richtig ein.« So lautet die Devise inzwischen. »Ein bisschen Diazepam wird es schon richten.«

Heute hat man für alles eine fundierte, wissenschaftliche Erklärung parat. Oder zumindest mehrere Theorien, auf die man sich berufen kann. Es ist schwer, ein Dämon in einer Welt zu sein, in der man auf alles eine Antwort hat. Wieso sollte jemand Angst vor dem Übernatürlichen haben, wenn das, für was man das Übernatürliche früher verantwortlich gemacht hat, inzwischen einer anderen Ursache zugeschrieben wurde? Alles selbstverständlich schön mit Studien untermauert. Wieso denn überhaupt noch an das Übernatürliche glauben, in einer Zeit, in der man erfolgreich die DNS von einem Embryo verändern kann? Verzeihung, das war ungeschickt formuliert, der Mensch bevorzugt es, diesen Vorgang als Optimierung zu bezeichnen – steht so zumindest in unzähligen Fachjournalen. Unter diesen Bedingungen haben Dämonen, Engel und Teufel sehr schlechte Karten, relevant zu bleiben. Wie könnten wir auch? Je mehr sich der Mensch selbst zugesteht, je mehr er denkt, zu wissen, desto irrelevanter werden all die alten Geschichten, Sagen und Mythen. Denn Wissen ist Macht. Und was ist jemand, der mächtiger ist als alles andere? Wer kann es sich denken?

»Weißt du«, sagte mir mal eins meiner Opfer, ein Wissenschaftler, der zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war und mit dem ich mich ein bisschen unterhalten hatte, bevor ich mich eingehender mit ihm beschäftigte, »wenn wir keinen Unterschied mehr zwischen uns Menschen und Gott machen, dann fangen die Probleme erst richtig an.«

Wie recht der Mann doch gehabt hatte, der kurz darauf alle seine Beißerchen hatte lassen müssen. Zahn für Zahn. Mit der Wurzel. Ohne Betäubung. Ein Mund voll Blut und Schmerz, unfähig zu etwas anderem als Klagelauten, denn dafür braucht man praktischerweise nur die Stimmbänder. Ich hatte das nicht aus Spaß getan, obwohl ich nicht leugnen will, dass es riesenhaften Spaß gemacht hat – Kombizangen sind wundervolle Werkzeuge, ganz ehrlich. Ich hatte es getan, weil der Mann ein Monster gewesen war. Deshalb hatte ich ihn gequält, denn das Blut von Monstern vergieße ich besonders gern. Es riecht anders. Süßer. Vielleicht wegen all der Freude, die ihre unzähligen Schandtaten ihnen bringen. Ich verstehe das. Mich erfreuen meine genauso. Sollte ich irgendwann mal die Chance bekommen, einen anderen Dämon zu schlachten, werde ich es, ohne mit der Wimper zu zucken, sofort tun. Das muss ein überwältigendes Erlebnis sein. Besser wird Blut kaum riechen können.

»Denkst du denn, dass es noch lange dauert, bis es soweit ist«, hatte ich den Wissenschaftler interessiert gefragt.

»Oh, nein... Nein, wir sind schon lange an diesem Punkt angekommen. Wir sind schon mitten drin.«

Das stimmte damals und es stimmt auch heute noch.

»Und faul seid ihr geworden«, fahre ich an Julian gewandt fort. »So faul, dass ihr nicht mal mehr sorgfältige Recherchen im Internet durchführt, wenn es um eure Seele und um euer Leben geht.«

Zweimal huste ich. Anklagend. Hätte Julian sich etwas mehr Mühe gegeben, sich mehr Zeit genommen, brauchbare Informationen zu beschaffen, dann hätte er sich bestimmt anders entschieden. Zwar spüre ich, dass Julian weiß, was ich ihm vorhalten wollte und dass er furchtbare Angst hat, aber die von mir erwartete Emotion seinerseits bleibt aus. Das Bereuen, etwas so unnötig Blödes getan zu haben. Wie uneinsichtig.

Ich klappe das Buch zu und sehe mir den Einband kritisch an. Während ich das Cover betrachte, verdrehe ich spöttisch die Augen. Wetten, dass es eins der ersten Bücher ist, das man von der Suchmaschine vorgeschlagen bekommt, wenn man online nach Büchern zum Thema Dämonen sucht? Der Hintergrund des Einbands ist rabenschwarz. Selbstverständlich ist ein riesiges, blutrotes Pentagramm abgedruckt. An den Eckpunkten befinden sich zusammenhanglose Runen. Ich drehe das Buch um und muss augenblicklich schallend auflachen, als ich den riesigen Ziegenkopf entdecke, der mich böse anstarrt. Mir kommen sogar ein paar Tränen. Dieses Buch ist ein echter Knaller. Die neue Lachnummer, von der ich in der Hölle erzählen kann, sobald ich wieder zu Hause bin. Die Autoren und der Verlag haben jedes noch so abgedroschene Klischee aufgefahren, um den ahnungslosen Käufer anzulocken. Die Bücher, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie richtige Formeln und Beschwörungen, Rituale und Bräuche, beinhalten, beschränken sich weltweit auf wenige Exemplare. Sie sind gut gehütet, ordentlich verwahrt und sicherlich nicht im Internet für 14,99, inklusive Versand, zu bestellen.

Dem verängstigten Julian schlägt eine heftige Portion Hohn und Spott entgegen. So wie ich ihn spüren kann, kann auch er mich spüren. Julian erfährt all meine Emotionen und alle meine Sinneseindrücke. Er sieht alles, was ich sehe. Er fühlt alles, was ich fühle. Er hört alles, was ich höre. Er riecht alles, was ich rieche. Er schmeckt alles, was ich schmecke. Wenn ich es zulasse, teilen wir alles. Alles, bis auf unsere Gedanken. Wir sind eins. Und doch zwei.

Ich gluckse immer noch ein wenig, als ich das Buch neben mich auf das ungemachte Bett lege. Beim Ablegen rutscht ein kleines Stückchen loses Papier an der unteren Seite heraus. Skeptisch ziehe ich es hervor und begutachte es. Das Papier ist alt und stammt definitiv nicht aus diesem druckfrischen Buch. Es ist ein kleines Stückchen vergilbtes Pergament, das hastig irgendwo herausgerissen wurde. Die Ränder sind fransig. Man sieht, dass es mehrere Male zusammen- und wieder entfaltet wurde. In verblasster Schrift ist dort eine Formel niedergeschrieben. Erstaunt ziehe ich eine Augenbraue nach oben. Das ist eine richtige Anleitung zur Beschwörung von Dämonen.

»Du hast das Buch gekauft und danach gemerkt, dass der Inhalt absoluter Schrott ist, oder?«,überlege ich laut. »Du hast gemerkt, dass du damit nicht weit kommen wirst. Dann hast du weiter geforscht und gesucht, bis du hattest, was du wolltest. Unglaublich, dass du es geschafft hast, an eine richtige Beschwörungsformel zu kommen.«

Dass ich hier bin, muss einen Grund haben. Es ist kein Versehen. Kein fehlgeschlagenes Experiment. Vielleicht habe ich Julian falsch eingeschätzt und er ist doch kein fauler Idiot.

Natürlich ist meine Neugierde jetzt geweckt. Ich frage mich, ob ich einen Anhaltspunkt finden kann, wieso er sich dachte, dass es ein ganz fantastischer Plan wäre, einen Dämon aus der Hölle herauf zu beschwören. Sobald ich ein Weilchen in Julians Körper bin, kann ich mich richtig mit ihm unterhalten und ihn, wenn ich möchte, nach dem Grund fragen. Aber jetzt kann ich noch keine Worte hören, sondern nur ein undeutliches, je nach Stimmung anders klingendes, Summen oder Brummen. Manchmal stellt sich eine gute Verbindung schon nach ein paar Minuten ein, in der Regel dauert es aber mindestens ein bis zwei Tage. Da ich mich sowieso genauestens in meiner neuen Umgebung umsehen wollte, und gleich damit beginnen werde, lässt sich vielleicht schon vorher eine Antwort auf meine Frage finden.

Mein anfänglicher Unmut ist verflogen. Ich werde tief in das Leben von Julian eintauchen. Werde alles bis ins kleinste Detail auseinandernehmen. Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind an seinem Geburtstag, das ein schön verpacktes Geschenk vor sich liegen sieht. Oh, hoffentlich ist es etwas Hübsches. Hoffentlich ist es das, was ich mir gewünscht habe! Und wenn es ausgepackt ist, nun, dann mache ich das, was auch die Kinder tun. Ich mache es kaputt. Ganz langsam. Bis es so demoliert ist, dass niemand mehr damit spielen kann. Toll wird das! Zumindest für mich. Für Julian eher nicht.

So sind wir Dämonen nun mal. Wir alle. Auch ich liebe es, eine Schneise der Zerstörung hinter mir her zu ziehen. Hört sich sehr dramatisch an, ich weiß, doch das bin ich prinzipiell gar nicht. Wenn ich bekomme, was ich will, dann bin ich sogar recht genügsam. Leider komme ich eher selten in diesen Genuss. Meistens muss ich mich mit dem Begnügen, was da ist. Mit den Normalos. Im Gegensatz zu vielen anderen Dämonen reizt es mich nicht, wahllos jedem Lebewesen zu schaden. Auch wenn diese Seite natürlich genauso in mir schlummert. Böse bleibt böse. Aber wenn ich es mir aussuchen kann, dann reiße ich mich zusammen und verzichte auf diese Triebhaftigkeit. Sie ist mir zu langweilig. Ich bin wohl das, was man jemanden mit einem gewissen Anspruch nennen würde. Ein Weinkenner und Liebhaber würde sich schließlich auch nicht mit einem billigen Fusel aus einem Pappbecher in der Gosse betrinken. Er würde sich Zeit bei der Auswahl lassen, den Wein eine gewisse Zeit lang atmen lassen und den edlen Tropfen am Ende stilvoll genießen. Ähnlich handhabe ich es mit der Auswahl meiner Opfer. Wenn ich die Wahl habe, suche ich mir die Menschen aus, die man wohl als wahrlich abscheulich, böse und verkommen bezeichnen würde. Das ist es, was mich wirklich beglückt. Ihre Schreie sind erfüllend. Vermutlich weil sie dachten, dass sie nie selbst schreien würden.

So galant, wie Julians Körper es zulässt, offenbar ist er überhaupt nicht sportlich, hüpfe ich auf. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, um den Raum genauer in Augenschein nehmen zu können.

Das Zimmer ist karg möbliert. Spartanisch. Direkt unter einer Dachschräge steht das Bett. Meiner Meinung nach hätte man das Möbelstück kaum beschissener positionieren können. Es würde mich nicht verwundern, wenn man sich regelmäßig den Kopf an der Decke stößt. An der gegenüberliegenden Wand sehe ich einen klapprigen Schreibtisch, der neben einem schmalen Kleiderschrank steht. Die Tür darin hängt gefährlich schräg. Auf dem Schreibtisch steht ein Laptop. Das ist der einzige Einrichtungsgegenstand, der nicht fingerdick verstaubt ist. Neben dem Laptop stapeln sich leere, zum Teil zerdrückte, Limoflaschen, zwei dreckige Teller, eine Schale, in der noch etwas Milch mit Cornflakes steht und ein halb aufgegessener Becher Joghurt. Der Schimmelgeruch beißt mir in der Nase, seit ich die Augen aufgeschlagen habe. Vor dem Schreibtisch steht ein Stuhl aus Holz. Vier Beine, eine Rückenlehne, kein Sitzkissen. Dafür ist er über und über mit Kleidung bedeckt. Ein Hort des bunten Durcheinanders. Ich sehe einen fleckigen Pullover, durchgeschwitzte Socken, verschiedene T-Shirts, eine dreckige Regenjacke, ein paar Boxershorts... Oh, da ist sogar eine mit Herzchen-Motiv – wie nett. Die stammt bestimmt aus einem Pack mit neun weiteren Unterhosen ähnlicher Art. Der Boden unter dem Schreibtisch ist krümelig. Nein, falsch, nicht nur da, die Krümel liegen hier überall herum. Das ganze Zimmer ist bröselig. An den Wänden gibt es zwei Poster, die Cover von beliebten Videospielen zeigen. Ich habe sie zwar selbst nie gespielt, aber ich weiß trotzdem, um welche Spiele es sich handelt. Wenn man nicht gerade hinter dem Berg lebt, dann ist Pac-Man einem ein Begriff. Und Super Mario auch. Ich erkenne den italienischen Klempner sogar, obwohl eine herunter hängende Poster-Ecke seine rote Mütze verdeckt. Es gibt noch zwei weitere Fenster. Auf allen Scheiben haben fettige Finger ihre Spuren hinterlassen.

Ich lege mich auf den Bauch, spähe unter das Bett und werde direkt fündig. Zwei kleine Pappkisten und ein ordentlicher Haufen aufgetürmter Magazine. Während ich die Sachen hervorziehe, befördere ich unabsichtlich den Staub der letzten paar Monate mit hervor. Wahrscheinlich habe ich mich nur ungeschickt angestellt, da mir weder die Kisten noch die Hochglanz-Schmuddelheftchen im Manga-Style sonderlich verstaubt erscheinen. Relativ unberührt blättere ich einmal durch alle Hefte, um mir eine grobe Vorstellung der sexuellen Vorlieben von Julian zu machen. Es ist nichts Spektakuläres. Die Vielzahl der Mädchen in den Magazinen hat riesige Brüste, unendlich lange Haare und ist von schlanker Statur. Die Storys sind immer gleich. Die schüchternen Damen zieren sich zuerst. Aber nach einer kurzen Phase des Wiederstands lassen sie alles mit sich machen. Gelangweilt schleudere ich Heft für Heft zurück unter das Bett. Ehrlich gesagt, hatte ich auf etwas Exotischeres gehofft. Ein offensichtlicher Computerfreak, der sich auf Hentais einen runterholt, ist nicht gerade das, was man abgefahren nennen würde. Ich höre Julian in seiner Ecke vor sich hin murren. Ihm ist es peinlich.

»Wenn du wüsstest, was ich schon alles gesehen habe«, sage ich trocken und schnalze mit der Zunge. »Dir würde wahrscheinlich vom Zuhören schon schlecht werden.«

Julian brummelt etwas in seinem Singsang aus Klang zurück. Ich weiß, was er mir sagen will und schüttle lächelnd den Kopf. Immer scheinen sie zu denken, dass sie die Einzigen sind, die auf solche Dinge stehen und dass es sonst niemanden gäbe, dem es ähnlich geht. Dass es unzählige Plattformen gibt, auf denen sie surfen und die entsprechend besucht werden müssen, um für die Betreiber rentabel zu sein, blenden sie komplett aus. Egobedingt. Niemand will sich vor Augen führen, dass der persönliche Freudenspender ganz viele andere genauso in Ekstase versetzt wie einen selbst in einsamen Nächten. Das erinnert dann schnell an eine Prostituierte. Rein, raus und das im Dauertakt, mit jedem und zu jeder Zeit, Hauptsache das Geld stimmt, Schätzchen. Das ist Business, zumindest für einen der Beteiligten. Handelt es sich nicht um eine Nutte, kann man der Sache noch eine gewisse Intimität andichten. So auch bei dem Videoclip von Shuju und ihrem feuchtfröhlichen Abenteuer mit Mey im Freibad, das bereits 850 789 Klicks hat. Tendenz stündlich steigend.

Ich wende mich den beiden Pappkisten zu und sehe sie mir genau an. Die Eine ist etwas kleiner als die andere. Ich beschließe, mit ihr zu beginnen. Der Deckel ist an einer Seite eingedellt, weshalb er sich schwierig lösen lässt. Mit ein bisschen Ruckeln geht es. In der Kiste liegen ein kleines Notizbuch, ein paar glänzende Steine und ein Kuschelhase, dem ein Ohr fehlt. Die Steine tue ich als vorab eher unwichtig ab. Julian wird sie gesammelt haben, weil sie ihm gefallen haben. Auch der Kuschelhasen, der vermutlich ein geliebtes Stück aus der Kindheit sein wird, das man nicht entsorgen möchte, ist für mich irrelevant. Doch das Notizbuch entpuppt sich als eine Art Tagebuch. Julians Gesumme hört sich nicht sehr erfreut an, als ich es aufschlage. Ich halte meine Hand über das Buch. Die Seiten blättern sich von selbst um. An beliebigen Stellen beginne ich zu lesen. Jetzt wird es interessant.

 

02.10.

Heute haben sie mich, während dem Unterricht in Mathe, ständig mit kleinen Papierkügelchen bespuckt. Ich hab versucht nicht darauf zu reagieren. Sie haben trotzdem weiter gemacht. 

13.10.

Meine Mama hat mich gefragt, wieso ich schon wieder eine meiner Jacken kaputt gemacht habe. Ich habe sie später am Telefon weinen hören, weil sie nicht weiß, wie sie eine Neue bezahlen soll. Wahrscheinlich hat sie bei Papa um Geld betteln müssen. Ich wette, die nächsten paar Tage ist sie deshalb wieder ganz durcheinander. 

14.10.

Heute haben sie mich in der Schule ausgelacht, weil ich die Jacke anhatte, die sie gestern zerrissen haben. Immerhin ist sonst nichts passiert.  

23.11.

Heute habe ich Red mit in die Schule genommen, weil ich eine Präsentation über Ratten gehalten habe. Ich haben ihn am Schluss ein paar Kunststücke machen lassen. Nach der Schule haben sie ihn mir weggenommen. Als ich versucht habe, ihn mir zurück zu holen, haben sie mich in den Schnee gestoßen. Dann sind sie abgezogen. 

06.12.

Im Kunstunterricht bin ich heute von ihnen mit einem Farbeimer beworfen worden. Er hat mich an der Nase getroffen. Sie tut immer noch sehr weh. 

24.12.

Ich habe heute ein Päckchen zu Weihnachten bekommen. Trotz der Kälte hat es ganz schlimm gestunken. Es war Red. Er ist tot. 

 

Ich klappe das Notizbuch zu und lege es neben dem nutzlosen Beschwörungsbuch ab. Gut sichtbar. Dieses Buch ist wichtig. Vielleicht sehe ich es mir später noch einmal genauer an. Die Einträge sind kurz, sie sind in der Regel nie länger als 4 Zeilen. Dafür sind es viele. Das kleine Buch ist ganz voll.

Ich schnappe mir die andere Pappkiste. Dieses Mal lässt sich der Deckel problemlos anheben, und ich sehe zwei Fotoalben und eine Handvoll loser Fotos. Das erste Album ist kirschrot. Während ich mir die Seiten ansehe, sticht mir nichts Besonderes ins Auge. Es sind Aufnahmen von einem kleinen Mädchen, vielleicht Julian Schwester. Und von einer Frau, wahrscheinlich Julians Mutter. Und von Julian als kleinem Jungen, zumindest nehme ich das an. Sobald ich einen Spiegel gefunden habe, werde ich schlauer sein. Das andere Fotoalbum, es ist blau, gleicht dem Roten, nur zeigt es Babybilder. Ich lege die Alben beiseite.

Jetzt hole ich die losen Fotos aus der Kiste heraus. Es sind fünf Stück. Diese Bilder sind aktueller. Das erste Foto zeigt mir drei Jungs. Einen dürren, mittelgroß gewachsenen Teenager mit kinnlangen, schmutzbraunen Haaren und verflucht schlimmer Akne. Au Backe. Auf Grund der Ähnlichkeit zu dem Kind, das in dem kirschroten Fotoalbum zu sehen war, vermute ich stark, dass das Julian ist. Die zwei anderen Jungs sind in seinem Alter. Sechzehn. Oder Siebzehn. Die drei Freunde haben sich die Arme um die Schultern gelegt und grinsen in die Kamera. Einer der anderen entspricht ziemlich exakt der Größe und Statur von Julian, hat allerdings blonde Stoppelhaare und abstehende Segelohren. Der Dritte im Bunde ist kleiner und dick, trägt eine Brille und hat dunkelbraune Haare. Das Bild wurde bei einem Ausflug aufgenommen. Im Hintergrund sieht man ein paar grüne Laubbäume. Darüber einen wolkendurchzogenen Himmel. Dem Teint der Dreien zufolge, halten sie sich allerdings im Allgemeinen wohl eher nicht im Freien auf. Der Junge, den ich für Julian halte, hat eine Hautfarbe, für die die Farbe weiß kaum mehr zutreffend sein kann. Erschreckend.

Ich schiebe das erste Bild von mir weg und sehe mir den Rest der Fotos an. Drei der vier anderen Bilder sind sozusagen identisch mit dem Ersten. Lediglich der Hintergrund und die Aufstellung der Truppe variiert. Die kleine Gruppe vor einer Spielhalle, cool posend wie James Bond. Die Freunde in einer Reihe vor ihren blitzenden Laptops, die Headsets auf den Köpfen, mit erhobenem Daumen. Die Jungs auf einem Sofa sitzend, mit riesigen Schüsseln Chips und einem Brettspiel vor sich. Julian, das Segelohr und der Dicke, wie ich sie durch und durch lahmarschig finde – und das auf jedem einzelnen der Fotos.

Das fünfte Foto ist anders. Es zeigt Julian und ein Mädchen, das in seinem Alter sein müsste. Julian sieht verlegen in die Kamera. Er wirkt schüchtern und zeitgleich beseelt. Das Mädchen sieht alles andere als zurückhaltend aus. Im Gegenteil. Ich kann beinahe das kecke Kichern hören, das es von sich gegeben hat, als das Foto geschossen wurde. Auf dem Bild schmiegt es sich eng an Julian und hält eine seiner Hände umfasst. An seinen Handgelenken trägt es unzählige Armbänder und Bändchen aus Stoff, die farblich nicht zusammenpassen. Ein Kuddelmuddel aus Farben. Die Fingernägel sind schwarz lackiert und kurz gehalten. Das Mädchen muss sehr klein sein, vielleicht knapp einen Meter sechzig und ist schlank, allerdings ohne dürr zu wirken. Die Brüste sind groß und platzen beinahe aus dem schwarzen Top. Passend zu Julians Hentai-Fetisch. Nicht nur die Brüste, auch die Haare. Es sind lange Haare. Sie reichen bis knapp über den Bauchnabel. Doch sie sind strohig und trocken und sehen nicht gesund aus. Keine schöne Löwenmähne. Rot sind sie, die Haare. Aber dabei handelt es sich um kein schönes, dunkles Rot und auch um kein leuchtendes, knalliges Rot. Es sieht eher so aus wie die Farbe eines Backsteinkamins, den man zu oft mit aggressiven Reinigungsmitteln geschrubbt hat. Das Mädchen hat etwas an sich, was einige vielleicht einnehmenden Charme oder Charisma nennen würden. Ich sehe das nicht so. Das, was ich da auf dem Bild sehe, ist eine verkommene Persönlichkeit. Konzentriert starre ich die stark geschminkten, rehbraunen Augen an, die das zuckersüße Lachen nicht erreicht hat und blicke in einen menschlichen Abgrund. Bodenlos. Kalt.

Als ich das Foto umdrehe, entdecke ich eine Notiz auf der Rückseite. In übermäßig geschwungener Schrift, die krampfhaft versucht, elegant zu sein, steht da:

 

Für den besten Freund der Welt. Lexy.

 

Julian starrt mich aus dem Spiegel heraus an. Ich hatte Recht, was meine, auf den Fotos basierende, Vermutung anging. So gut es geht, mustere ich die viel zu groß geratene Nase, die von Pickeln gesprenkelten Backen und die wässrigen Augen. Viel ist es nicht, was ich sehe, denn der Großteil von Julians Gesicht ist unter der kinnlangen, schmutzig-braunen Kopfbedeckung verborgen. Eine haarige Barriere. Versucht unerwünschte Dinge draußen zu halten. Und drinnen.

Hinter mir ist alles rosa. Schweinchenrosa. Das komplette Bad ist schweinchenrosa. Wie ein frisch geborenes Ferkel. Quadrat um Quadrat, ein gefliester Horror. Der Teppich unter mir, ebenfalls rosa und auch noch mit altmodischem Blumenmuster, gibt mir den Rest. Grausig. Egal, wohin ich sehe, einfach nur grausig. Das schreckliche Badezimmer ist nicht gerade geräumig, aber immerhin gibt es hier keine lästige Dachschräge. Wie bereits Julians Zimmer besticht auch das Bad durch die Minimalausstattung für arme Leute. Es gibt eine Toilette und ein Waschbecken, Ton in Ton mit den Kacheln und eine Dusche. Der Duschkopf ist verkalkt. Anstelle von glänzendem Silber ist er milchig. Die Vorhänge der Duschkabine sind pink. Immerhin sind sie zusammengeschoben, sodass sie sich mir nicht in all ihrer unschönen Herrlichkeit präsentieren können.

»Scheiße, wie kann man sich hier tagein tagaus aufhalten, ohne sich die Augen auszukratzen?«, frage ich den Spiegel vor mir. »Wie erträgt man das?«

Der Spiegel antwortet mir nicht. Dafür summt Julian. Ist es Bedauern, das ich spüre? Vielleicht. Schwer einzuschätzen. Ich bedauere so selten etwas. Eigentlich nie.

Über dem Waschbecken, vor dem ich stehe, gibt es eine schmale, längliche Ablagefläche. Natürlich in rosa. Was sonst. Darauf stehen, in einem rosa Becher, drei Zahnbürsten. Eine in Hellrosa, eine in Dunkelrosa, eine in Pink. Außerdem sehe ich eine Haarbürste mit, oh Wunder, rotem Griff, einen rosa Glastiegel mit Creme oder Salbe und ein Stückchen rosa Seife, das penetranten Rosenduft verströmt. Er sticht in der Nase und verursacht Kopfschmerzen. Neben der Seife, ganz am Rand, steht ein kleines, hellrotes Kistchen. Der Deckel ist geschlossen. Neugierig öffne ich ihn. Im Inneren der Kiste befindet sich Schminke. Es ist nicht viel, nur eine Wimperntusche, ein Eyeliner, zwei Lidschatten und ein Lippenstift. Rot. Die Lidschatten sind schwarz. Das rote Behältnis ist filigran. Nie und nimmer ist es industriell gefertigt worden. Das zerbrechliche Ding aus Holz wurde mit Sicherheit von Hand geschnitzt und bemalt. Fällt diese Kiste hinunter, dann geht sie kaputt. Es gibt Dinge, die keinen Sturz überleben. Keinen Einzigen. Man muss darauf aufpassen, wenn sie einem wichtig sind. Ich klappe den Deckel wieder zu.

Ich schiebe mir das lange Haar aus der Stirn. Die Strähnen sind fettig. Sie hinterlassen einen unangenehmen Film auf meinen Fingerkuppen. Julian hätte sie spätestens gestern ganz dringend Waschen müssen. Dass die Haare schmierig sind ist störend, aber das ist nicht das größte Problem, das ich mit ihnen habe. Denn auch dieses Mal ist das Zurückstreichen sinnlos. Julians Haare fallen just in dem Moment, in dem ich sie loslasse, wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück. Fast so, als wollten sie mich provozieren.

»So geht das nicht«, sage ich entschieden und nehme den pinken Schrank ins Visier.

Entschlossen stapfe ich darauf zu. Als ich ihn öffne, fällt mir prompt der halbe Inhalt entgegen, so vollgestopft ist er. Reflexartig strecke ich die Arme aus, um mein Gesicht zu schützen. Was ich nicht abfangen kann, geht vor und beidseits neben mir, geräuschvoll zu Boden.

Schepper. Klapper. Bumm!

»Mann, ey!!«, stänkere ich sauer, als der Erguss endet. »Wenn ihr zu wenig Platz in dem Schrank habt, dann würde ich empfehlen, einen Zweiten zu kaufen, anstatt alles mit roher Gewalt in das Ding da hinein zu pressen. Du hättest mich ruhig irgendwie warnen können, immerhin geht es hier auch um deine Visage!«

Misstrauisch linse ich zu dem Schrank. Als ich mir sicher bin, dass der Rest des Inhalts dort bleibt, wo er ist, senke ich die bepackten Arme vorsichtig. Ich begutachte meine unfreiwillig aufgeladene Fracht. Das Meiste von dem, was ich auffangen konnte, sind Tablettenschachteln. Viele, viele bunte Tablettenschachteln. Große und kleine und mittelgroße. Bereits geöffnete und noch verschlossene. Zu den Medikamenten haben sich außerdem noch ein Duftspray, zwei rosa Handtücher und ein paar Packungen Pflaster mit Dinosauriermotiv gesellt.

»Dinos«, sage ich brüskiert. »Kinderpflaster. Mit Dinos. Mit lachenden, knallbunten, großäugigen Dinos. Dinos.«

Es gibt Dinge, die muss man nicht erlebt haben. Nein, die will man nicht erlebt haben, weil sie allem widersprechen, wofür man steht und was man ist. Bis jetzt wusste ich es zwar nicht, aber ich habe soeben feststellen müssen, dass eines dieser Dinge für mich die Selbstverteidigung gegen Kinderpflaster mit Dinosauriermotiven darstellt. Es stößt mir so sehr auf, dass es richtig schmerzt. Mein Gesicht brennt. Ich fühle mich in meinem ganzen Wesen so erniedrigt wie der überzeugte Umweltaktivist, den man dazu zwingt, tonnenweise Container voller Mikroplastik ins Meer zu kippen.

Mein entrüsteter Blick wandert zurück nach oben zu dem Schrank, dann wieder nach unten zu dem Aufgefangenen. Ich schnaube. Und lasse den Inhalt meiner Arme achtlos auf den Boden fallen. Krach. Da liegt er nun. Beim Rest. Soll er. Nicht im Traum würde mir einfallen, die Sachen erneut in dem Schrank zu verstauen. Um sicherzustellen, dass es nicht genauso läuft wie gerade eben, müsste ich nämlich alles ganz fein säuberlich einsortieren. Eine Arbeit, die sich keiner der Hausbewohner vor mir gemacht hat und für die ich mir aus Prinzip schon zu schade bin. Das Letzte, was ich bin, ist die gute Fee, die einem zauberhaft unter die Arme greift oder das tüchtige Heinzelmännchen, das einem die unliebsamen Aufgaben abnimmt. Mal ganz davon abgesehen, möchte ich Dinge, die einen versuchten Anschlag auf mich verübt haben, am liebsten brennen sehen und zwar lichterloh. Vielleicht finden sich ja zufällig noch irgendwo ein Eimer aus Metall, ein paar Streichhölzer und ein bisschen Spiritus. Dann ist der Haufen zu meinen Füßen dran.

Grob schiebe ich den entstandenen Berg auf dem Boden mit dem Fuß zur Seite, um ordentlich Platz zu haben. Ich spähe genauer in den Schrank und wühle mich suchend durch noch mehr Tabletten Schachteln. Nachdem ich die dritte Schachtel Tavor hinter mich geworfen habe, begleitet von ein paar Packungen Baldrian, werde ich fündig. Endlich. Da ist sie, die Nagelschere. Ich nehme sie heraus. Das Metall reflektiert das grelle Licht der Deckenlampe, und blitzt auf, als ich die Schere zweimal probeweise auf und zu schnappen lasse. Ein bisschen störrisch, aber es wird schon gehen. Ich knalle die Schranktüre zu.

Pfeifend schlendere ich zurück zum Spiegel. Da wären wir also. Die Haare und ich. Alarmiert summt Julian verneinend, er kann sich denken, was ich vorhabe.

»Sag »bye-bye« zu dem nervtötenden Vogelnest auf deinem Kopf«, freue ich mich, schnappe mir den ersten Haarbüschel und schneide ihn ab.

Begeistert beobachte ich, wie die Haare hinab segeln und sich im schweinchenrosanen Waschbecken sammeln, um ganz am Ende, mit all ihren noch folgenden Brüdern und Schwestern, weggespült zu werden. Julian teilt meine Freude nicht. Machtlos sieht er dabei zu, wie ich mich weiter an dem, was er seine Frisur geschimpft hat, zu schaffen mache. Ich schnippele hier und ich schnippele dort und ich schnippele überall. Rundherum. Die kleinen Härchen, die beim Abschneiden auf meiner Haut landen, kitzeln. Da werde ich mich nachher ordentlich abklopfen müssen. Mit der Zeit lichtet sich meine Sicht. Sehr gut! Inzwischen hat sich im Waschbecken ein großer, haariger Haufen gebildet. Ein finales Schnippschnapp und ich bin fertig. Zufrieden blicke ich in den Spiegel, nun mit radikaler Kurzhaarfrisur. Von Julians einstiger Haarpracht ist nicht sehr viel übrig geblieben. Stoppeln.

»Du kannst mir später dafür danken«, richte ich mich an den unglücklichen Julian. Ich finde ja, dass es recht gut geworden ist, vor allem dafür, dass ich nur eine Nagelschere zur Hand hatte. »Auch wenn du es mir jetzt vielleicht nicht glauben willst, es hat durchaus gewisse Vorteile, wenn man seine komplette Umgebung sehen kann.«

Julian scheint mir nicht überzeugt zu sein, aber das interessiert mich nicht.

»Och, hab dich nicht so. Ich bin mir sicher, dass du diesen schweren, schweren Verlust überwinden wirst«, sage ich mit einem Augenzwinkern. Ironie ist doch was Feines. »Ein hübsches Äußeres ist nicht alles, es sind doch die inneren Werte, die zählen. Das weiß nun wirklich jeder.«

Julian murrt. Ich muss schmunzeln. Ein unterhaltsames Bürschchen.

»Ok, Spaß beiseite«, meine ich und schlage meinen »Ich weiß was, was du nicht weißt und drücke es dir jetzt belehrend aufs Auge«-Ton an. »Seien wir doch mal ehrlich, wer sich hinter seinen Haaren versteckt, der hat doch von vornherein verloren. Das zeugt nicht gerade von Selbstbewusstsein. Ziemlich unattraktiv.«

Wo wir von unattraktiv sprechen. Ich drehe mich noch einmal prüfend vor dem Spiegel. Die Nase wirkt jetzt, ich kann es kaum fassen, größer als vorhin, und die freigelegte Stirn ist noch pickliger als die Wangenpartie. Tja, da ist nichts zu machen. Das alles kann ich nicht ebenso schnell verbessern wie die Frisur – genauso wenig wie Julians allgemeines Magersein. Macht aber nichts. Es ist nicht mein Ziel, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen. Was ich eben scherzhaft gesagt habe, um Julian aufzuziehen, trifft den Nagel wohl doch ziemlich gut auf den Kopf. Der Inhalt ist ausschlaggebend. Und der ist neu.

 

Als ich das Badezimmer verlasse, drängt sich mir ein Geruch auf. Ich hatte ihn bereits auf dem Hinweg wahrgenommen, allerdings viel abgeschwächter als jetzt. Nun fällt mich der  furchtbare Kloakengestank an wie ein tollwütiger Hund, der einem brutal die Zähne ins Bein schlägt. Erinnerungen an Zisternen aus dem Mittelalter kommen hoch. Sommer in Paris, als die Ausscheidungen noch auf der Straße landeten.

»Bäh«, mache ich angewidert und strecke dabei die Zunge heraus.

Es riecht nach Pisse. Sehr streng. Vorhin hatte ich angenommen, dass der Geruch sicherlich von einer urinverklebten Toilette kommt. Doch das hat sich als falsch erwiesen. Wie ich jetzt weiß, ist das Bad zwar hässlich, aber sauber.

»Julian.« Just werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Die Stimme, die gerufen hat, ist sanft und leise. Kaum mehr als die Ahnung einer Person. Das Gesagte schafft es eben noch so, an meine Ohren zu dringen. »Julian, bist du das? Mein Schatz, wir müssen demnächst los. Hörst du? Julian?«

Wie die Motte vom Licht werde ich von dem Stimmchen angezogen. Ein Mensch. Der Erste. Wie aufregend! Etwas mit einem eigenen Herzschlag. Ein Ding, das zu Julians Leben gehört. Etwas, das mir vielleicht nützlich dabei sein kann, herauszufinden, wieso ich hier bin. Und falls es das nicht kann, kann es mich unterhalten. Zumindest hoffe ich das doch sehr. Was nicht amüsant ist, das braucht niemand.

»Julian?«, wiederholt die Stimme.

Ich folge ihrem Klang und laufe in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Gehe den kleinen Gang entlang.

An den Wänden hängen ein paar gerahmte Fotos und einige Bilder, die so aussehen, als hätten Kinderhände sie erschaffen. Kritzeleien aus Wachsmalfarben oder Buntstiften. Männchen mit viel zu großen Händen und Füßen. Lachende Sonnen. Immer eine Frau und zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Eine Familie.

Auf den ausgehängten Fotografien entdecke ich Julian. Seine Kumpels und Lexy sind auch auf ein paar von den Aufnahmen zu sehen. Vor einem Bild, das in einem silbernen Rahmen steckt, halte ich inne und betrachte es besonders interessiert. Auf diesem Foto sind sie alle abgebildet. Gemeinsam, nicht gesondert. Das Bild wurde in einem Schwimmbad aufgenommen. Im Hintergrund sieht man ein großes Schwimmbecken, an dessen Rand drei Sprungtürme stehen. Julian trägt eine grüne Badehose. Eine unvorteilhafte Wahl. Nicht die Farbe der Badehose, sondern die Badehose im Allgemeinen. Seine Rippen stechen kantig unter der blassen Haut hervor. Weiß wie Kreide. Ein heller, magerer Strich in der Landschaft. Das Strichmännchen hat Lexy einen Arm um die Schulter gelegt, sie hat ihm einen um die Hüfte geschlungen. Die Rothaarige sieht, ähm, sagen wir mal, interessant aus. Julian Freundin trägt eine knallenge Hotpants, die sich farblich mit ihren roten Haaren beißt und ein knappes Top, mit einem zu großen Ausschnitt. Durch den dünnen Stoff hindurch ist deutlich ein grüner Push up BH zu sehen. Lexy drückt ihren Rücken durch und lehnt sich leicht nach vorn. Sie hat sich absichtlich so positioniert. Sodass man ihr Dekolleté quasi nicht übersehen kann. Ein Symbolbild.

Ich schlussfolgere daraus, dass die Rothaarige jemand ist, der das positive Feedback von anderen Menschen braucht, um sich selbst gut zu fühlen. Und Lexys Auftreten nach zu urteilen, genügt ihr bereits das lechzende Starren von pubertierenden Halbstarken auf ihre Oberweite als Ertrag ihrer Mühen. Eine minderwertige Energiequelle, aber sie füllt ihr den Tank. Immer noch besser als ein Leerlaufen. Ich kenne solche Mädchen nur zu gut. Lässt man die Verpackung weg, dann bleibt selten etwas übrig. Am allerwenigsten Selbstwertgefühl.

»Billig«, kommentiere ich.

Rechts neben Lexy haben sich die beiden Freunde von Julian aufgestellt. Ich komme nicht umhin, den Abstand zu bemerken, den die Jungs zu dem aufreizend posierenden Mädchen waren. Er ist groß genug, um abnorm auf einem Gruppenbild zu wirken und doch zu klein, als dass man ihn während der Aufnahme hätte bemängeln können. Der Junge mit den Segelohren und das Dickerchen lächeln höflich in die Kamera. Es ist ein Lächeln, das erwartet wird. Ich bin mir sicher, dass Lexy zwar von Julians Freunden geduldet, allerdings nicht wirklich gemocht wird. Einer von ihnen, der mit den Segelohren, verzieht sogar eine Augenbraue etwas spöttisch in die Richtung von Julians Freundin. Wenn die Masken fallen.

Ich gehe weiter. Der Uringeruch nimmt zu und erreicht seinen unappetitlichen Höhepunkt, als ich an einem der Zimmer vorbeigehe, das sich auf der rechten Gangseite befindet. Kurz bin ich versucht anzuhalten und die Tür zu öffnen. Doch ich zügle meine Neugierde.

»Später«, murmele ich mir zu. »Ich habe später noch Zeit.«

Auf dieser Etage befinden sich insgesamt fünf Zimmer. Aus einem der Räume meine ich, ein Wimmern hören zu können. Das plötzliche Geräusch löst ein starkes Gefühl bei Julian aus. Eine bleierne Traurigkeit. Die Heftigkeit der unerwarteten Emotion überrascht mich. Ich bleibe direkt vor der verschlossenen Tür stehen. Starre sie an. Und habe das Gefühl, dass ich sie aufmachen muss. Jetzt. Sofort. Als ich die Hand um die Klinke schließe, um sie herunter zu drücken, stoppt mich Julian mit tief brummendem Wehklagen.

»Was ist?«, frage ich. Ich flüstere. Komisch, wieso eigentlich? »Du wolltest da doch rein.«

Julian summt verneinend. Er lügt.

»Ich merke, wenn du lügst«, kläre ich ihn verärgert, aber weiterhin flüsternd, auf.

»Julian?«, ruft mich die Stimme, der ich bis eben noch gefolgt bin. Sie ist lauter, weil ich ihr näher gekommen bin. Zum Greifen nahe. Nur noch wenige Meter. »Julian?«

Ich bin hin- und hergerissen. Welchen Weg gehe ich nun? Welcher ist besser? Geradeaus, durch die Tür oder weiter den Flur entlang?

Im Zimmer vor mir ist es jetzt komplett still. Konzentriert spitze ich die Ohren. Nichts. Es ist, als hätte es nie irgendwelche Geräusche gegeben. Hätte Julian nicht so heftig reagiert, dann hätte ich jetzt vielleicht sogar gedacht, dass ich mir das Wimmern nur eingebildet haben könnte.

»Julian?«

Ach, scheiß drauf. Ich lasse die Türklinke los.

 

 

 

 

  Zwei

 

 

Am Ende des Gangs gibt es eine schmale Wendeltreppe. Als ich dort angelangt bin, schaue ich hinab. Am Fußende der Treppe, ganz unten, steht eine kleine, untersetzte Frau. Besorgt sieht sie zu mir hinauf. Unsere Blicke treffen sich. In ihren Augen liegt etwas Getriebenes. Rastlos.

»Oh gut, ich dachte schon, du hättest mich nicht gehört«, wispert die Frau zu mir nach oben.

Sie wartet auf eine Antwort. Sie glupscht. Ich glupsche. Wir glupschen. Uns an. Als ihr klar wird, dass ich nichts auf ihre Frage erwidern werde, zupft sie sich nervös eine Haarsträhne, die ihr in die Stirn gefallen ist, zur Seite und sieht dann auf den Boden. Ha. Gewonnen!

»Ich habe dir Frühstück gemacht. Du musst dich etwas beeilen, sonst kommst du zu spät zur Schule«, säuselt sie und sieht dabei den durchgetretenen Teppichboden an, der am unteren Treppenabsatz beginnt. Fleckige Fasern in Ocker. Die Frau hebt ihren Blick. Etwas verunsichert nestelt sie an dem Saum ihres Oberteils herum. Dann presst sie verlegen die Frage heraus, die ihr auf dem Herzen liegt, seit ich in ihrem Blickfeld erschienen bin. Dabei hört sie sich an wie ein Luftballon, aus dem das letzte bisschen Luft entweicht. Pfffscht.

»Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht, mein Schatz? Ich dachte, du magst sie lang? Erzähl es mir gleich beim Frühstücken, ja? Es sieht in jedem Fall sehr... flott aus. Komm bitte runter und beeil dich etwas«, sagt sie.

Unruhig nestelt die Frau weiter, bevor sie sich umdreht und in ein Zimmer zu ihrer Rechten wuselt. Das schulterlange Haar, akkurat und gradlinig geschnitten, wippt durch ihre Gehbewegungen auf und ab. Sie hat die gleiche Haarfarbe wie Julian.

Auch ohne zu fragen, weiß ich mit Sicherheit, dass das Julians Mutter ist. Es liegt auf der Hand. Die unansehnliche Nase ist bei den beiden die Gleiche. Auch ein paar andere Gesichtszüge, zum Beispiel die Kieferpartie, sind sich sehr ähnlich.

Während sich Julians Mutter entfernt hat, bin ich ihrer Bitte nachgekommen und habe mich ebenfalls nach unten begeben. Ich folge ihr in das Zimmer, in das sie verschwunden ist. Bei dem Raum handelt es sich um die Küche. Schmal geschnitten. Vollgestopft. Mitten drin steht Julians Mutter. Sie dreht mir den Rücken zu, während sie in etwas, wahrscheinlich einer Tasche, herum kramt. Es raschelt und klimpert.

»Wo ist er denn nur?«, höre ich die Frau leise vor sich hin reden. Beginnende Panik. »Ich habe ihn doch ganz sicher... Ah! Da ist er ja. Oh, Gott sei Dank.«

Mit einem erleichterten Schnaufen zieht Julians Mutter etwas hervor und dreht sich dann um. Ich hatte recht. In der einen Hand hält sie eine Tasche, grau, und in der anderen eine Geldbörse, auch grau. Farblos. Sehr repräsentativ für Julians Mutter. Unauffällige Töne, für eine Frau, die nicht auffallen will.

Ich verengte die Augen ein wenig und mustere diese Person vor mir, die im Moment die Tasche und den Geldbeutel auf der Küchenzeile ablegt, intensiver. Sie ist ununterbrochen in Bewegung. Nie gibt es einen Stillstand. Mögen es auch nur unbedeutende Regungen wie das Zupfen an den Haaren oder das Ziehen an ihrer Kleidung sein – Julians Mutter schafft es nicht, sich zu entspannen. Nicht mal kurz. Die Fähigkeit Ruhe einkehren zu lassen fehlt ihr. Ihre Augen sind klein, auffällig glasig und von Ringen der Müdigkeit umrandet. Diese Frau schläft nicht. Zumindest nicht gut. Kein Wunder hat sie genügend Tabletten gehamstert, um einen Elefanten damit ins Land der Träume, oder selbst darüber hinaus, schicken zu können. Wehe, wehe, wenn der Vorrat zu Ende geht. Wahrscheinlich rennt Julians Mutter dann die ganze Nacht rastlos durch das Haus, weil sie überhaupt nicht mehr runter kommt. Immer auf Spannung. Unter Strom. Ein bedauernswerter Zustand.

Das Gesicht von Julians Mutter ist gerötet, doch dabei handelt es sich nur um das hektische Rot der Aufregung von der Suche nach der Geldbörse. Es schwindet bereits. Die Kleidung, die sie trägt, passt zur Tasche und zum Geldbeutel. Unauffällig. Eine klassische graue Bluse, zugeknöpft bis oben hin und eine beigefarbene Hose aus Stoff. Die Schuhe sind schwarz und haben einen flachen Absatz. Es gibt keine Accessoires. Keine Kette, keine Ohrringe, keinen schicken Gürtel. Das einzige Schmuckstück, das ich sehen kann, ist ein schlichter, goldener Ring an ihrem linken Ringfinger.

»Ich habe dir Eier gemacht. Und Toast mit Butter. Und Speck«, zählt Julians Mutter auf und räumt gleichzeitig zwei bereits leere Teller von einem kleinen Tisch, der in der Ecke der Küche steht.

Sie bugsiert die Teller zur Spüle und lässt sie in das, mit schaumigem Wasser gefüllte, Becken gleiten. Fahrig fährt sie sich über die Stirn, bevor sie die Ärmel der Bluse hochkrempelt. Dann beginnt sie das Geschirr zu spülen. Wann immer ein Geschirrstück von den Wasserbewegungen gegen den Beckenrand gedrückt wird, hört man einen dumpfen Schlag. Klong. Klong! Klongklong. Klong. Julians Mutter spült zu hektisch. Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sie etwas von dem Geschirr zerdeppern würde. Oder alles.

»Anna fühlt sich nicht so gut, sie bleibt heute zu Hause. Armes Ding. Ich hoffe, sie kann sich schnell wieder erholen. Es ist nicht gut, wenn man in der Schule fehlt. All der Stoff, den man verpasst... Aber wenn es Anna nicht gut geht, dann muss sie nun mal zu Hause bleiben«, startet Julians Mutter eine Konversation, die ich nicht gewillt bin, zu führen. Zuerst kommt die Observation, dann die Aktion. Ich schlussfolgere, dass Anna Julians Schwester ist. »Erzählst du mir beim Frühstück, wie es zu deiner schicken, neuen Frisur kam, mein Schatz? Setz dich und iss etwas, du bist bestimmt hungrig. Weißt du, dass der alte Marc mir gestern erzählt hat, dass er...«

Vor einem der Stühle steht noch ein Teller. Er ist voll beladen. Mit Eiern. Und Toast mit Butter. Und Speck. Alles ist da, wie angekündigt. Ich setzte mich auf den Stuhl und beginne schweigend zu essen. Im Hintergrund brabbelt Julians Mutter weiter. Ein monotones Geräusch ohne wirklichen Inhalt. Schhhhhh. Weißes Rauschen.

»...und da dachte ich, dass wir vielleicht am Wochenende mal wieder alle zusammen einen Spaziergang machen könnten. Deine Schwester, du und ich. Vielleicht könnten wir zu dem kleinen See am Waldrand wandern und dort picknicken. Das haben wir lange nicht mehr gemacht und das Wetter soll wunderschön werden. Zumindest habe ich das heute Morgen im Radio gehört. Ich hoffe nur, dass es nicht zu heiß wird. Wenn es zu heiß wird, dann...«

Ich schalte wieder ab. Schhhhhhhh. Ich werde nichts verpassen, wenn ich Julians Mutter ausblende.

Das Essen schmeckt in Ordnung. Ich stopfe mir einen Streifen Speck in den Mund. Kaue und schlucke. Oberhalb meines Tellers steht ein Glas. Es ist gefüllt mit Orangensaft. Ich strecke die Hand aus und greife danach. Das Glas ist kühl. Der Saft schmeckt zu süß, um aus frischen Orangen gepresst worden zu sein. Kein Direktsaft, sondern eine künstliche Plörre. Nachdem ich die Hälfte des Glases leer getrunken habe, stelle ich es zurück auf den Tisch. In meinem Mund bleibt ein unangenehm flaumiges Gefühl zurück. Schmatzend versuche ich den Speichelfluss anzuregen, um den Nachgeschmack loszuwerden, aber er will nicht wirklich in Gang kommen. Ich beiße vom Toast ab. Kaue und schlucke. Gut, immerhin das hilft. Und so verputze ich in Windeseile den Rest meines Frühstücks. Geschmacksneutralisation der etwas anderen Art. Kaum habe ich den letzten Bissen genommen, schnappt mir die Hand mit dem Goldring den leeren Teller unter der Nase weg. Es geht so schnell, dass ich für einen Moment irritiert auf die blanke, zerkratze Tischplatte starre und mich frage, was passiert ist. Abgenutztes Holz mit Furchen, anstelle der restlichen Krümel. Meine Gabel, mein Messer und mein Teller tauchen kurz darauf in das zitronig riechende, Spülwasser ein und werden sauber geschrubbt. Klong. Klong. KLONG! KLONG!! Unfassbar, aber wahr, auch dieses Mal geht nichts zu Bruch. Der Stöpsel wird heraus gezogen. Das Wasser läuft geräuschvoll ab. Vergnügt gluckert es im Abfluss.

»Mein Lieber, wir müssen jetzt los. Hast du alles? Wo ist denn dein Rucksack? Hast du ihn denn nicht mit nach unten gebracht? Steht er noch in deinem Zimmer? Warte, ich hole ihn dir«, sagt Julians Mutter und ist schon weg, bevor ich etwas erwidern kann – nicht, dass ich das vorgehabt hätte.

Ich bleibe sitzen, wo ich bin. In einem kräftigen Stoß atme ich durch den geöffneten Mund aus, während ich mir den Nasenrücken knetete und die Augen fest zusammenkneife. Das Verhalten von Julians Mutter, ihre komplette Persönlichkeit, geht mir gehörig auf den Senkel. Was, ich kenne Julians Mutter doch gar nicht? Die paar Minuten, die das Frühstück gedauert hat, reichen nicht aus, um sie bewerten zu können? Woher soll ich wissen, ob sie immer so ist? Tjaja, doch. Aufgepasst. Ich kann, ich werde, ich stempele ab. Zack. Da! Schon geschehen. Soeben habe ich Julians Mutter in eine Schublade gesteckt. Denn es gibt Menschen, bei denen schon ein kurzer Blick genügt, um sie sehr, sehr aussagekräftig beurteilen zu können. Diese kleine Zeitspanne reicht aus, um alles Wissenswerte in Erfahrung zu bringen, was es an Wissenswertem in Erfahrung zu bringen gibt. Die Menschen, von denen die Rede ist, haben keine Facetten. Keine Schichten. Sie haben ausschließlich eine einzige Lage, so hauchdünn, dass sie kaum da zu sein scheint. Transparentpapier.

Bei Julians Mutter handelt es sich um so einen Mensch. Bereits jetzt weiß ich ganz genau, wer sie ist. Sie lebt für ihre Kinder. Für nichts anderes. Ihr Ziel ist es, Julian und Anna ein gutes Leben zu ermöglichen. Ihr Problem ist, dass sie das nicht kann. Zumindest ihrer Meinung nach. Ein Dach über dem Kopf, Essen auf dem Tisch und alle Energie und Liebe, die sie hat, ist nicht genug. Nie. Es erfüllt den Anspruch, den Julians Mutter an sich selbst stellt, nicht mal im Ansatz. Immer denkt sie, dass es mehr sein sollte. Dass es mehr sein müsste. Darum kreisen ihre Gedanken. Darum, wie sie eine bessere Mutter sein könnte. Eine bessere Mutter. Eine bessere Mutter. Bessere Mutter. Bessere Mutter. Besser. Besser. BESSER. Nie reißt der Gedankenfluss ab. So wird ihr Kopf dauerhaft mit konträren Informationen geflutet, die zeitgleich in ihrem Gehirn zwei völlig unterschiedliche Areale stimulieren. Irritierend. Liebe wohnt nicht da, wo der Frust wohnt. Wenn beides zusammen kommt, dann wird es schmerzhaft. Das raubt Julians Mutter Schlaf, Freiheit und nach und nach die Fähigkeit Dinge objektive beurteilen zu können. Verrückt sein heißt nicht unbedingt, nicht mehr bei Verstand zu sein. Es reicht schon, wenn etwas in einem mächtiger ist als der Verstand. Wer sich wie Julians Mutter so sehr aufopfert und einer Sache verschreibt, wird am Ende zur Hülle ohne eigenen Inhalt. Ausgefüllt von allem anderen als sich selbst. Noch voll bei Verstand, nur wer?

Ich balanciere auf den hinteren beiden Stuhlbeinen hin und her. Es quietscht gefährlich. Aber es macht Spaß, also gautsche ich weiter, während ich daran denke, dass das Schicksal von Julians Mutter besiegelt ist. Es gibt zwei verschiedene Möglichkeiten, wie sie enden kann. Beide sind nicht sehr schön.

Nummer eins: Julians Mutter nimmt sich selbst das Leben, weil sie mit sich selbst und ihrem Dasein nichts mehr anzufangen weiß, sobald die lieben Kleinen das Nest verlassen haben.

Möglichkeit Numero zwei: In diesem Szenario treibt Julians Mutter ihre neue Lebenssituation nicht in den Suizid. Die gegebenen Umstände werden akzeptiert. Das Leben gefristet. In emotionalem Elend. Die Zeit tut das, was sie immer tut. Sie vergeht. Tage, Woche, Monate, Jahre, Jahrzehnte furchen das Gesicht und lassen das Haar grau werden. Für die Mutter wird mit dem Alter alles beschwerlicher. Sie gibt sich Mühe ihren Alltag allein zu bewältigen, das tut sie wirklich. Aber alle Mühe reicht irgendwann nicht mehr aus. Der unausweichliche Tag, an dem sie nicht mehr ohne Hilfe zurechtkommt, bricht an. Nichts klappt mehr. Weder das Putzen noch das Kochen. Das Haus verdreckt, das Essen brennt an. Einmal muss sogar die Feuerwehr anrücken. Auch das Einkaufen und Waschen schafft Julians Mutter nicht mehr. Ein leerer Kühlschrank, dafür stapeln sich die Wäscheberge. Dann klappt nicht mal mehr das Gehen. Sie stürzt oft. Blaue Flecken im Gesicht und an den Armen. Zum Schluss ist auch das sich selbst Erleichtern nicht mehr ohne Weiteres möglich. Urin und Kot, die neuen Gerüche, die den nach Weichspüler ablösen. Wie unpraktisch! Welch ärgerliche Belastung für die Kinder. Eine Lösung muss her. Eine Angenehme. Für einen selbst angenehm, verständlicherweise. Kurzerhand entscheiden sich die Kinder dazu, Julians Mutter in ein preiswertes Altersheim zu stecken. Sie wird abgeschoben. Aus den Augen, aus dem Sinn, und kein schlechtes Gewissen inklusive. Das Haus wird verkauft, man schlägt den bestmöglichen Profit aus der Situation. Das Geld wird fair geteilt. Durch zwei. Da hatte die Sache ja doch noch etwas Gutes. GOTT SEI DANK!

Julians Mutter bleibt in ihrem neuen Zimmer im Heim. Irgendwann schafft sie es nicht mehr aus dem Bett. Selbst das Aufschlagen der Augen und das Atmen strengen an. Schwer, alles ist schwer. Die Besuche werden auch jetzt nicht mehr. Die Kinder rechtfertigen sich vor sich selbst damit, dass sie nun mal viel zu tun haben, und dass die Mutter, dort wo sie ist, ja gut versorgt und aufgehoben ist. Eine Stunde zum Geburtstag und eine zu Weihnachten quält man sich ab. Vielleicht noch eine zu Ostern. Beinahe eine unerträgliche Plackerei. Passt nicht in die Planung. Nicht in das Leben. Die Besuche. Die Mutter. Dann kommt die Zeit, in der es zu Ende geht. Julians Mutter will sich verabschieden. Vom Sinn ihres Lebens. Von denen, die sie so sehr liebt. Trotz der Zurückweisung. Des absichtlichen Vergessens? Jetzt kann man die Atemaussetzer zählen. Die Pausen werden länger. Und Julians Mutter wartet. Vergeblich. Es ist ja noch Zeit. Bis dann keine Zeit mehr ist.

Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich mir an ihrer Stelle bei diesen Aussichten direkt die Pulsadern aufschneiden.

»Ah, Moment!« Ich Dummerchen schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Die bringt sich allerhöchstens mit Tabletten um, was anderes bringt sie nicht. Die Nullnummer der Selbstmorde, für feige Luschen aller Art.«

Kurzerhand beschließe ich, die Frau in das Zimmer zu sperren, aus dem der Uringestank kommt. Dort ist sie vorerst bestens verwahrt. Der stetige Brechreiz, den der Geruch auslösen wird, sollte sie erfolgreich daran hindern können, diesen niemals endenden Strom von Belanglosigkeiten abzusondern. Nur, was soll ich überhaupt mit ihr anfangen? Nützlich wird sie mir kaum sein können. Ich brauche niemanden, der mir alles an den Arsch trägt, mich betüddelt oder mir ununterbrochen schuldbewusste Blicke zuwirft. Dann habe ich plötzlich eine gönnerhafte Eingebung.

»Vielleicht schneide ich ihr bei Gelegenheit einfach von hinten die Kehle durch.« Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einen so freundlichen Gedanken hatte. Manchmal bin ich eben ein echter Goldschatz. »Dann würde sie mir nicht mehr auf den Kecks gehen. Für sowas nimmt man sich doch gerne fünf Minuten Zeit.«

DAS LÄSST DU BLEIBEN, klatscht mir Julian innerlich mit einer ungeheuerlichen Wucht entgegen.

Ein frontaler Schlag, der mich hart trifft und mich handlungsunfähig macht. Überrollt. Ich fühle mich wie jemand, der bei einem Bare-Knuckle-Kampf in den Seilen hängt, nachdem er ordentlich eine kassiert hat. Während ich noch von dem Treffer benommen bin, drängt sich Julians Geist in den Vordergrund. Betäubt, wie ich bin, bekomme ich es nur am Rande mit. Julian ruft seiner Mutter zu, dass er sich auch schlecht fühle. Netter Versuch, ernsthaft. Nett. Doch das war´s auch schon. Nett bedeutet in diesem Fall, nicht sehr weit gedacht. Aber das wird Julian schon merken. Inzwischen habe ich mich nämlich schon wieder gesammelt und bin bereit. Bereit dazu, Julian mit den bloßen Fäusten in die Knie zu zwingen. Keine Polsterung durch Handschuhe. Nur Knochen auf Knochen. Bis das Blut bei ihm spritzt. Rein metaphorisch versteht sich. Julian hat keine Chance. Die Kontrolle gehört mir, sobald ich sie will.

»Ich fühle mich nicht so gut, ich denke, ich sollte mich lieber hinlegen«, wiederholt Julian.

Er ruft lauter als beim ersten Mal. Vermutlich ist er sich unschlüssig, ob seine Mutter ihn gehört hat. Ah, er will sicher gehen, dass sie schnell verschwindet. Weg hier. Weg von ihm. Und mir.

Julian steigert seine Lautstärke abermals. »Hast du gehört???«

Das Brüllen wäre gar nicht nötig gewesen, denn kurz darauf betritt seine Mutter den Raum. Sie hält einen Rucksack in der Hand.

»Ich habe dich gehört, mein Schatz, keine Sorge«, antwortet sie sanft. Sie stellt den Rucksack ab, macht einen Schritt auf ihren Sohn zu und legt ihm mit besorgter Miene die Hand auf die Stirn. »Fieber hast du aber keines, oder?«

»Nein, keine Sorge«, verneint Julian und schiebt ihre Hand weg. »Du musst nicht mit mir zum Arzt gehen. Ich ruhe mich ein bisschen aus, dann wird es sicherlich schnell wieder besser. Du kannst zum Arbeiten gehen.«

»Bist du dir wirklich sicher?«, fragt Julians Mutter. »Du fühlst dich auffällig warm an. Ich gehe gerne mit dir zum Arzt, Julian, ehrlich. Mein Chef wird das schon verstehen. Hoffe ich...«

»Das musst du aber wirklich nicht. Geh zum Arbeiten. Falls es schlimmer wird, kann ich doch auch alleine zum Arzt gehen, und...«

»Aber Julian«, unterbricht seine Mutter ihn sofort, »es kommt gar nicht in Frage, dass du so lange mit dem Bus fährst, wenn du krank bist. Nein, nein, auf gar keinen Fall! Ich fahre dich selbstverständlich. Warte, ich muss nur eben auf der Arbeit anrufen und sagen, dass ich heute nicht kommen kann, weil du fiebrig bist.«

Julians Mutter macht sich entschlossen auf den Weg. Zu ihrer grauen Tasche. Um ihr Handy zu holen. Eilig wuselt Julian ihr hinterher, redet angespannt auf sie ein und versucht sie hartnäckig von ihrem Vorhaben abzubringen.

Und ich? Amüsiere mich prächtig. Zum Totlachen, das Ganze! Julian wiederholt ständig, dass er nicht zum Arzt muss, und dass es ihm zwar nicht so gut, aber auch nicht miserabel geht. Dass er sich meldet, falls es schlimmer werden sollte, und dass er hoch und heilig verspricht, nicht allein mit dem Bus zu fahren. Ständig verhaspelt er sich, so schnell spricht er. Ich weiß nicht, wie oft genau Julian auf den Repeat-Knopf gedrückt hat – ich muss gestehen, dass ich nicht mitgezählt habe – aber eins ist sicher: Nämlich, dass es sich um eine beeindruckend hohe Anzahl für die Zeitspanne, von der wir sprechen, handelt.

Julians Mutter, das Handy schon am Ohr, lässt sich nur widerwillig überzeugen, aber schlussendlich triumphiert ihr Sohn durch seine Beharrlichkeit.

»Schön, wie du meinst, mein Schatz«, gibt sie schlussendlich nach und fügt dann tadelnd hinzu:

»Aber ich möchte, dass du dich gut ausruhst und mich augenblicklich anrufst, falls es dir schlechter gehen sollte. Augenblicklich, hörst du? Mit Fieber ist nicht zu spaßen.«

Julian, sichtlich erleichtert, nickt und sagt:

»Ja, Mami.«