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Ein Kind verschwindet, eine Mutter verzweifelt – und eine ganze Stadt stürzt in die Krise Tall Oaks ist eine perfekte kalifornische Kleinstadt. Jeder kennt jeden und das Böse ist hier unbekannt. Die idyllische Fassade bekommt gefährliche Risse, als der dreijährige Harry Monroe eines Nachts aus seinem Bettchen entführt wird. Trotz des riesigen Medienrummels und der verbissenen Polizeiarbeit bleibt sein spurloses Verschwinden ein Rätsel. Harrys verzweifelte Mutter stürzt sich in eine Suche, die mit jedem Tag aussichtsloser erscheint, während sie ihre Trauer mit Alkohol und Männern zu betäuben versucht. In Tall Oaks ist nichts mehr, wie es war. Hinter ihrem Mitgefühl verbergen die Bewohner eigene Geheimnisse. Als plötzlich jeder zum Verdächtigen wird, kommen ungeheuerliche Dinge ans Licht, die die Stadt für immer verändern werden … So begeistert war die Presse von Chris Whitakers »Von hier bis zum Anfang«: »Wie grandios erzählt und doch so abgrundtief traurig.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Einer der ergreifendsten und dramatischsten Romane dieses Jahres. Er ist tragisch, traurig, herzzerreißend und doch auch wieder voller Hoffnung.« WDR4 »Ein Verbrechen ist leicht beschrieben, schwieriger ist es, sich die Wunden anzusehen, die dadurch entstehen und nicht verheilen können. Whitaker ist darin ein Meister.« SPIEGEL Das sagt die Presse über »Was auf das Ende folgt«: »Ein absolutes Vergnügen. Sehr originell.« GUARDIAN »Es ist selten, dass ein Roman sowohl grandios komisch als auch tragisch sein kann und beides so mühelos unter einen Hut bringt.« SUN »Ein fesselndes Debüt.« MAIL ON SUNDAY »Eine durch und durch faszinierende Lektüre.« HEAT »Dieses eigenwillige Debüt ist unterhaltsam und fesselnd.« SUNDAY TIMES
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Übersetzung aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Für Victoria, die nach zehn Jahren immer noch nicht erkannt hat, dass sie zu gut für mich ist.
© Chris Whitaker 2016
Titel der englischen Originalausgabe: »Tall Oaks«, Twenty7 Books, Bonnier Zaffre, London 2016
© Piper Verlag GmbH, München 2022
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Cover & Impressum
1
Und jetzt der Clown
2
Nadelstreifen und Termiten
3
Der Tiger
4
Tratsch und Tumore
5
Die Bürgermeisterin von Despair
6
Der Trick
7
Schrittweiser Rückzug
8
Die Show
9
Der SomAli
10
Genauso grau
11
Der allerletzte Tropfen
12
Die prägenden Jahre
13
Den Pizza Hut abzocken
14
Skanks and Skunks
15
Im Dunkeln zu Hause
16
Ein leichtes Ziel
17
Der erste Kuss
18
Der Provinzsarg
19
Ein unbarmherziger Sommer
20
Das Brennen
21
Kirmes
22
Eine gute Ehefrau
23
Keine Gewaltspielchen
24
Die Hochzeit
25
Das Ende eines langen Tages
26
Jaybird
27
Der Stich
28
Der Ball
29
Der Anfang
30
Das Ende
31
Der Starke
Danksagungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Jim ließ die Jalousien herunter, stöpselte das Telefon aus und legte das Band ein. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, atmete durch und drückte auf Start.
Das Rauschen war ein vertrautes, aber deshalb nicht weniger beunruhigendes Geräusch. Er wusste, was ihn erwartete.
Er übersprang die einleitenden Bemerkungen und hörte weiter, als Jess’ Stimme ertönte.
»Das Babyfon ist so ein neues Modell mit Monitor. Unten in Harrys Zimmer ist eine kleine Kamera installiert, die Basisstation steht neben meinem Bett. Ich war nervös, weil Harry unten in seinem Zimmer schlief, vor allem weil es zwei Stockwerke tiefer liegt, im Tiefparterre. Ziemlich weit bis da runter. Das Haus ist eigentlich nicht geeignet für eine Familie. Aber Michael mochte es trotzdem.«
Jim drehte etwas lauter und schloss die Augen. Er hörte, wie sie einen Schluck Wasser trank, und zuckte leicht zusammen, als das Glas ihre Zähne berührte.
»Das Wort ›Tiefparterre‹ ist mir lieber, so hat es auch der Makler genannt. ›Keller‹ gefällt mir nicht, das klingt so gruselig, so dunkel und kalt. Trotzdem, Harrys Zimmer ist schön. An den Wänden kleben Tiersticker, die Decke haben wir blau gestrichen, himmelblau.«
Sie hustete leicht und rutschte auf ihrem Stuhl herum.
»Es hat ein paar Wochen gedauert, bis ich mal länger als eine Stunde schlafen konnte. Ohne einen Blick auf den Monitor zu werfen, um nachzusehen, in welcher Lage er schlief oder ob er die Decke vom Bett gestrampelt hatte. Durch die Nachtsichteinstellung glühte das Zimmer irgendwie gespenstisch grün, dann sah seine Haut so blass aus, dass ich glaubte, es ist ihm eiskalt da unten.«
Sie lachte. Es war ein kurzes, nervöses Lachen.
»Ich wusste eigentlich nicht, warum ich mich damals in der Nacht aufgesetzt habe, warum ich schwitzte, warum ich so starkes Herzklopfen hatte. Ich weiß noch, dass ich den Wecker nahm und sah, dass es 3:19 Uhr war. Komisch … an was man sich so erinnert.«
Wieder eine Pause, wieder ein Hüsteln.
»Ich sah auf den Monitor und sträubte mich dagegen, nach ihm zu schauen. Dieser Kontrollwahn hat mich verrückt gemacht … Schließlich war er schon drei, kein Baby mehr. Ich griff nach dem Wasserglas … Mein Hals war trocken und kratzig … Bin mir nicht sicher … Vielleicht wurde ich krank … eine Erkältung oder so was.«
Sie räusperte sich. »Bin ich zu geschwätzig?«
Er hörte seine eigene Stimme. Gelassen, beruhigend, routiniert. »Nein, du machst das gut.«
»Ich habe mich wieder hingelegt und auf den leeren Bildschirm geschaut. Alles in Ordnung. Harry ging es gut. So war das jede Nacht, seit Michael weg war. Ich war ein Wrack … Ich bin ein Wrack, völlig am Arsch. Die Frau, die ich mal war … weg, verschwunden … Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich mich überhaupt noch an sie erinnere. Ich frage mich, ob ich sie jemals wiedersehe … ich meine, diese Person. Hört sich das verrückt an?«
Er hatte sanft gelächelt und den Kopf geschüttelt.
»Meine Mutter hat gesagt, das braucht einfach seine Zeit, bis ich wieder in die Spur komme. Aber wie viel Zeit? Wie lange geht das so weiter, bis es wieder besser wird? Sie weiß es auch nicht, sie kann es mir nicht sagen. Ich warte auf den Tag, an dem ich nicht mehr an Michael denken muss, an dem der Schalter umgelegt ist, von Dunkel auf Hell. Gleichzeitig habe ich eine Heidenangst davor, neu anzufangen, dafür liebe ich ihn zu sehr. Verstehst du das, Jim?«
Er hatte ihr in die Augen geschaut und leicht genickt.
»Ich frage mich, wann ich wieder imstande bin, mich an den Esstisch zu setzen und nicht darüber nachzudenken, mit wem er isst oder, noch schlimmer, mit wem er schläft. Es ist wie eine Krankheit, die einen auffrisst. Ich atme ihn ein, aber nie aus. Bedeutet das, dass ich völlig am Arsch bin, Jim? Es ist einfach nicht gerecht. Er ist einfach zur Tür rausgegangen. Für ihn ist es ein Leichtes, jemand anderes zu finden. Ich bin jetzt eine alleinerziehende Mutter, die mit dem Ballast, die, wenn nicht ein kleines Wunder geschieht, nie mehr einen anständigen Kerl erwischt … einen, der Vater für das Kind eines anderen Mannes sein will. Wer will das schon? Ich meine, ehrlich jetzt? Ich versuche, diesen Gedanken zu verdrängen. Aber als ich nachts im Bett lag … damals in der Nacht …«
Sie versank in tiefes Schweigen.
Sie machten eine Pause. Diesmal, weil sie auf die Toilette musste.
Er dachte daran, das Band anzuhalten – das tat er immer an dieser Stelle. Er fuhr mit dem Finger über die Taste und zog ihn zurück, als ihre Stimme wieder ertönte.
»Es dauerte eine ewig lange Stunde, bis ich mich langsam entspannte. Ich konnte kaum noch die Augen aufhalten, meine Gedanken schweiften ab. Und dann hörte ich es.
Ein Flüstern.
›Jessica.‹
Ich riss die Augen auf, mir stockte der Atem. Ich schaute auf den Monitor. Er war noch dunkel, das grüne Licht brannte noch.
Ich musste mir das eingebildet haben. Reiß dich zusammen, Jess. Das habe ich gedacht, Jim. Meine Gedanken spielten mir wieder einen Streich, so wie damals, als Michael mich zum ersten Mal verlassen hatte. Damals war es nicht so schlimm gewesen, weil Harry in meinem Bett geschlafen hatte – ich wollte das so, seinetwegen. Aber auch für mich. Dabei wollte er eigentlich gar nicht. Stell dir das vor. Ein dreijähriger Junge, der alleine schlafen wollte. So erwachsen.«
Sie räusperte sich.
»Ich setzte mich auf. Meine Hand zitterte, als ich nach dem Wasserglas griff.«
Er erinnerte sich, dass ihre Wangen glühten und ihre Augen unruhig umherblickten.
»Dann habe ich es wieder gehört.
›Jessica.‹
Immer noch flüsternd, aber ein bisschen lauter diesmal.«
Ihre Worte überschlugen sich.
»Ich ließ das Glas fallen. Ich hob den Monitor hoch und drückte auf den Knopf. Ich beruhigte mich wieder, als ich sah, dass Harry mit den Händen über dem Kopf auf dem Rücken lag und fest schlief. Seit er ein Baby war, schlief Harry so. Ich musste mir das eingebildet haben. Nur eine Stimme in meinem Kopf. Das habe ich mir immer wieder eingeredet. Das macht man eben … Man rationalisiert. Ich beobachtete ihn, bis der Bildschirm wieder dunkel wurde. Ich stellte ihn wieder auf den Nachttisch und zwang mich dazu, mich wieder hinzulegen. Ich dachte, ich drehe durch, Jim. Ich nahm mir vor, am Morgen meine Mutter anzurufen und es ihr zu erzählen. Vielleicht kämen dann die Männer in den weißen Kitteln und würden mich irgendwohin bringen.
Ich konnte nicht wieder einschlafen. Immer wieder ging mir der Gedanke durch den Kopf, was, wenn ich mir das nicht eingebildet hatte? Was, wenn jemand in Harrys Zimmer war? Die Kamerasteuerung. Ich hatte die Kamerasteuerung vergessen. Ich nahm wieder den Monitor vom Nachttisch. An der Seite befanden sich vier Pfeile, mit denen man die Kamera bewegen konnte. Ich drückte auf den rechten Pfeil. Das Kameraauge fuhr an seinem Bett entlang, vorbei an seiner Spielzeugkiste, an dem Schaukelpferd und dem Bobby-Car. Ich hoffte, die Kamera würde kein Geräusch machen. Er schlief erst seit Kurzem durch, eine große Sache für einen Jungen, der vorher immer alle paar Stunden aufgewacht war.«
Jim konnte das Kratzen hören, als sich ihre Fingernägel vor Panik in den Tisch verkrallten.
»Die Kamera erfasste jetzt die gegenüberliegende Wand. Ich schwenkte wieder zurück. Und dann, kurz bevor das Bett wieder ins Bild kam, sah ich etwas. Ich bewegte die Kamera zurück auf Harrys Gesicht. Er sah so ruhig aus, Jim, so friedlich.«
Sie sprach jetzt leise, fast im Flüsterton.
»Ich drückte unregelmäßig auf den Pfeil. Ruckartig bewegte sich das Bild langsam nach rechts.
Ich drückte wieder. Das Bild ruckelte weiter.
Wieder und wieder …«
Sie hielt inne und rang nach Luft.
An diesem Punkt hatte er eine Pause machen wollen, hatte schon den Mund geöffnet, sagte dann aber doch nichts.
»Und dann blieb das Bild an dem Schaukelstuhl hängen, der in der Zimmerecke gegenüber steht.
Ich sah eine Gestalt in dem Schaukelstuhl, konnte aber nichts erkennen, es war zu weit weg.
Ich wusste nur, dass da keine Gestalt sein sollte.
Jeden Abend sitze ich mit Harry auf dem Schoß in dem Schaukelstuhl und lese ihm eine Geschichte vor. Ich kniff die Augen zusammen und schaute angestrengt.
Ich drückte auf den Zoomknopf und sah, wie die Gestalt langsam zu etwas wurde, das ich erkannte.
Ein Mann.
Ein Mann im Zimmer meines Sohnes.«
Ihre Stimme begann heftig zu zittern.
»Der Mann trug eine Clownsmaske.«
Er schluckte und merkte, dass sein Hals trocken war.
»Ich schrie, ließ den Monitor fallen und griff nach dem Telefon.
Ich hielt es an mein Ohr, aber die Leitung war tot … der Sturm. Ich lief durchs Schlafzimmer und blieb abrupt stehen, als ich etwas unter meinen Füßen spürte. Fast hätte ich wieder geschrien, aber dann sah ich das Glas auf dem Boden. Wasser. Das Wasser, das ich verschüttet hatte.«
Die Kratzgeräusche wurden lauter, schneller.
»Ich schlich die erste Treppe hinunter, wischte mir den Schweiß aus den Augen.
Ich lief durch den Flur und in die Küche. Ich konnte draußen den Regen sehen, weil ich die Jalousien nicht heruntergelassen hatte. Ich ging zum Messerblock und zog das größte heraus, das Tranchiermesser. Auf der zweiten Treppe nach unten blieb ich stehen und lauschte.
Mein Herz klopfte so schnell, Jim, dass ich nichts anderes hören konnte.
Bumm.
Bumm.
Wieder und wieder.
Ich holte Luft und lief zur Tür, drückte den Griff hinunter und stürzte ins Zimmer.
Ich schrie und schlug auf den Lichtschalter, umklammerte das Messer so fest, dass meine Fingerknöchel weiß wurden, und starrte auf den Schaukelstuhl.
Kein Clown.
Dann schaute ich zu Harrys Bett.
Ich ließ das Messer fallen und sank auf die Knie.
Mein Sohn war nicht da.
Er war weg.
Harry war weg.«
Jim rieb sich die Augen. Seine Schultern waren verkrampft. Er atmete schwer.
Er blieb noch lange im Dunkeln sitzen und hörte ihrem Weinen zu. Er musste sich zwingen, das Band anzuhalten.
Es war heiß draußen. Viel zu heiß für den schweren Wollanzug, erst recht für einen Dreiteiler. Aber da es der einzige mit Nadelstreifen gewesen war, hatte Manny darauf bestanden, dass seine Mutter ihn kaufte. Es half, dass er um die Hälfte heruntergesetzt war. Also hatte sie nachgegeben.
Als er aus dem Ford Escape stieg, klebte ihm das schweißnasse, gestärkte weiße Baumwollhemd seines Vaters am Rücken. Er schaute hinunter auf seine Schuhe – schwarze Budapester, die so sehr glänzten, dass sich der Fedorahut, der fest auf seinem Kopf saß, darin spiegelte. Der Scheißhut hatte nur Größe M und tat ihm richtig weh. Mr Phillips aus dem Herrenbekleidungsgeschäft auf der Main Street hatte ihm gesagt, dass er eigentlich einen in XL brauchte, während er das Maßband um seinen Kopf gelegt und dabei einen langen Pfiff ausgestoßen hatte. Er könnte ihm einen bestellen, aber für einen Kopf dieser Größe müsste der extra angefertigt werden, und das könnte Wochen dauern.
Manny drehte sich wieder zum Wagen um und schaute böse zu seiner hupenden und winkenden Mutter.
Er hatte sie angefleht, einen alten Cadillac oder einen Lincoln zu kaufen. Aber dann hatte der muskulöse Fordhändler mit dem Dreitagebart und dem blauen Silberblick angefangen, mit ihr zu flirten, und sie war dahingeschmolzen. Er hatte sie so zugetextet, dass sie ihm wahrscheinlich auch die Gummisohlen seiner Schuhe abgekauft hätte. Seit Mannys Vater abgehauen war, verhielt sie sich so: wie eine läufige, noch dazu alte Hündin. Während sie über den Hof mit den Gebrauchtwagen liefen, hatte Manny sich damit abgefunden, dass sein erstes Auto, das außer ihm auch seine Mutter benutzen würde, ein Ford Escape sein würde. Das Mindeste, was er sich vorgestellt hatte, war ein schwarzer Wagen gewesen, natürlich mit dunkel getönten Scheiben. Aber dann hatte ihnen der Muskelmann mit dem Silberblick ein Modell in Enteneiblau gezeigt. Während seine Mutter um den Wagen herumging, hatte der Muskelmann augenzwinkernd gesagt, er könne ihr einen guten Preis machen.
»Ohne Scheiß«, hatte Manny gesagt. »Welcher andere Penner würde sich schon einen Wagen in Enteneiblau andrehen lassen?« Aber sein Flehen war letztlich auf verknallte Ohren gestoßen.
Als sie die Papiere unterschrieb, hatte Manny sich mächtig zusammenreißen müssen, um nicht in Tränen auszubrechen. Aber dann hatte ihn der Muskelmann von oben bis unten gemustert und seine Mutter gefragt, warum ihr Sohn aussehe wie ein Gangster aus den Fünfzigerjahren, und er hatte sich schon viel besser gefühlt. Die Menschen begannen ihn zu bemerken. Und das lag nicht nur an seiner Kleidung. Die siebzehn Wochen, seit denen er seine Oberlippe nicht mehr rasierte, begannen Früchte zu tragen. Der Schnurrbart hatte sich schließlich eingestellt, auch wenn er immer noch die falsche Form hatte. Die Gene hatten dafür gesorgt, dass Mannys Schnäuzer die Form eines Pfeils angenommen hatte. Eines Pfeils, dessen Spitze, abgesehen von einer kleinen Lücke, genau in der Mitte unter seiner Nase endete. Verzweifelt hatte er versucht, die Richtung zu ändern, aber ohne Erfolg. Einmal hatte der übereifrige Einsatz des Bartschneiders dazu geführt, dass er die Pfeilspitze etwas zu stark kürzte, was ihm unter seinen Klassenkameraden den Spitznamen »Adolf« eingetragen hatte.
Jetzt spiegelte sich die Sonne in der enteneiblauen Karosserie, als der Escape aus seinem Blickfeld verschwand. Manny seufzte, drehte sich um und ging auf das Schultor zu.
»Scharfes Outfit, Manny.«
Manny drehte sich zu seinem besten Freund und zukünftigen Consigliere Abel Goldenblatt um. Nicht, dass er sich hätte umdrehen müssen, um zu sehen, wer da mit ihm sprach. Abel hatte eine tiefe Stimme, eine grotesk tiefe Stimme. Und wenn man sich diese grotesk tiefe Stimme mit seiner grotesk großen und grotesk dünnen Gestalt zusammendachte, dann war das Ergebnis … nun ja … grotesk.
»Scheiße, Abe. Ich hab dir doch gesagt, dass du ab sofort meinen anderen Namen benutzen sollst.«
»Tut mir leid, hab’s schon wieder vergessen.«
Manny runzelte die Stirn und ging langsamer, als er merkte, wie ihm der Schweiß von der Stirn auf den Kragen seines Hemdes lief, das ihm am Hals sicher zwei, drei Zentimeter zu eng war.
»Ich hab’s dir tausendmal gesagt, nenn mich einfach ›M‹. Für seine engsten Vertrauten ist Tony Soprano schließlich auch nur ›T‹.«
»Stimmt, tut mir leid, M. Muss ich in der Klasse auch M sagen?«
»Natürlich. Sonst kann es sich ja keiner merken. Hast du dir einen Namen für dich überlegt?«
Abe zuckte mit den Achseln. Sein Mangel an Engagement war offensichtlich.
Manny schaute ihn an und beklagte sich nicht zum ersten Mal über den Vornamen seines Freundes. »Was sind das für kranke, abgedrehte Eltern, die ihren einzigen Sohn Abel nennen? Okay, du bist Jude, aber es gibt haufenweise jüdische Namen, die besser sind als Abel.«
»Eigentlich finde ich Abe ziemlich cool. Biblische Namen erleben gerade eine Renaissance. Mein Cousin hat seinen Sohn gerade Binyamin getauft.«
»Du meinst Benjamin.«
Abe schüttelte den Kopf.
»Du kannst bei einem einwandfrei guten Namen nicht einfach ein paar Buchstaben austauschen.«
»Das ist ein richtiger Name. Binyamin … Netanyahu.«
»Weißt du was? Bei der Hälfte von dem, was du so erzählst, habe ich nicht die geringste Scheißahnung, wovon du überhaupt redest.«
Abe lachte. »Du hörst dich genauso an wie meine Tante Devorah.«
Manny grinste. »Erwischt. Guter Konter. Touché.«
Abe runzelte die Stirn.
Manny zupfte an seinem Kragen.
»Ich kann’s nicht glauben, Mann, dass wir bald durch sind mit der Schule. Dann sind wir frei«, sagte Abe und schob mit dem Zeigefinger seine Brille hoch.
»Hast du deine Mutter gefragt, ob wir den Volvo umlackieren können?«
»Noch nicht.«
»Und denk dran, sie auch wegen der Fenster zu fragen. Auf schwarze Scheibenfolie kriege ich zwanzig Prozent Rabatt. Die muss man aber vorsichtig kleben, sonst gibt’s Blasen.«
Abe schaute ihn nervös an. »Schwarze Scheiben, das erlaubt meine Mutter sicher nicht. Dann sieht sie nichts mehr. Du weißt doch, wie schlecht sie sieht.«
Vor Mannys geistigem Auge erschien Mrs Goldenblatt, deren Brille dickere Gläser hatte als die ihres Sohnes. Das Gestell hatte bereits eine bleibende Vertiefung auf ihrer Nase hinterlassen.
»Verdammte Scheiße, Abe. Wie sollen wir Kohle eintreiben, wenn wir nicht entsprechend auftreten? Apropos, du musst dir einen neuen Anzug kaufen.«
»Was stimmt mit dem nicht? Der ist von Brooks Brothers. Den habe ich, wenn du dich erinnerst, erst letztes Jahr zur Bar-Mizwa meines Neffen bekommen. Den sollte ich eigentlich bei diesem Wetter gar nicht tragen. Soll über dreißig Grad werden heute. Das ist gefährlich, sagt meine Mutter, ich könnte einen Hitzschlag bekommen.«
»Der ist hellbraun. Gangster tragen kein Hellbraun.«
»Das ist nicht Hellbraun. Der Typ in dem Laden meinte, das ist Trüffelbeige. Er meinte, das ist bei meiner Figur vorteilhafter als ein dunklerer Ton … macht mich breiter.«
Manny schaute ihn von oben bis unten an und seufzte.
»Und bei wem treiben wir eigentlich die Kohle ein? Und wann soll das ablaufen? Meine Mutter hat mir für den Sommer einen Job bei Mr Berlinsky besorgt, also muss das irgendwann außerhalb der Arbeitszeit passieren.«
»Mr Berlinsky? Der jüdische Metzger? Der steht auf meiner Liste mit den Leuten, die zahlen müssen. Da kannst du nicht arbeiten, Abe. Keine Chance. Die Leute lachen sich tot, wenn sie sehen, dass ich zusammen mit einem Metzgerburschen Kohle eintreibe. Wahrscheinlich stinkst du auch noch nach rohem Fleisch. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur dran denke.«
»Ich kapier’s immer noch nicht. Wir zwei als Gangster, obwohl ich Jude bin, okay. Aber warum sollten uns diese Leute bezahlen?«
Manny riss sich zusammen, um nicht schreien zu müssen.
»Erstens, es spielt keine Rolle, dass du Jude bist. Italiener und Juden arbeiten seit Generationen zusammen. Nimm nur Lucky Luciano und Meyer Lansky. Scheiße, Mann, die waren allererste Liga.«
»Aber du bist kein Italiener, du bist Mexikaner.«
Manny biss sich in die Faust.
»Der Großonkel meines Vaters hat eine Italienerin geheiratet. Rosa. Das heißt, meine Cousins und Cousinen sind Italiener, weshalb meine Familie zum Teil italienisch ist, weshalb ich zum Teil italienisch bin. Und zweitens müssen sie bezahlen, weil, wenn sie nicht bezahlen, dann fängt hier in der ganzen Gegend die Kacke zu dampfen an. Glaubst du, Mrs Parker ist scharf darauf, dass in ihrem Tearoom die Milch ausgeht? Oder Mr Ahmed ist scharf darauf, dass seiner Reinigung der Strom abgestellt wird? Scheiße, Mann, natürlich nicht. Also werden sie bezahlen. Die hatten es viel zu lange viel zu einfach. Wird Zeit, dass denen mal jemand zeigt, wo der Hammer hängt.«
Abe schob seine Zweifel beiseite und stieß die Tür zum Klassenzimmer auf.
Als die anderen sie sahen, brachen sie in Gelächter aus. Auch der Lehrer lachte.
Roger spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er den Computer einschaltete. Der Bildschirm war groß, und da der Fuß transparent war und man keine Kabel sehen konnte, schien er in der Luft zu schweben.
Er hatte eigentlich keine Verwendung für ein Arbeitszimmer, aber der Innenarchitekt hatte darauf bestanden. Der Bürostuhl von Herman Miller war mit Leder bezogen, der Schreibtisch bestand aus schwerer Eiche. An den Wänden gab es Regale mit ordentlich aufgereihten Büchern, ohne Lücken, eine Kollektion, die von Klassikern bis zu Nachschlagewerken reichte. Alle unberührt.
Während der Bildschirm zum Leben erwachte, schaute Roger zu der gerahmten Fotografie daneben. Darauf sahen sie jung aus. Ihr Hochzeitstag. Henrietta strahlte. Sie war seit einem Monat schwanger gewesen, ohne dass er davon gewusst hatte, ohne dass irgendwer davon gewusst hatte. Sie hatten ihren Sohn Thomas genannt. Er hatte sechs Stunden gelebt.
Er schluckte die Scham hinunter, als er das Foto nahm und mit der Vorderseite nach unten auf den Schreibtisch legte.
Der Bildschirm erleuchtete den Raum. Da die Jalousien heruntergelassen waren, kniff er die Augen zusammen, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er öffnete den Browser und klickte die Seite an.
Er wusste, dass er allein im Haus war, trotzdem schaute er regelmäßig zur Tür. Der Cursor schwebte über dem X.
Er wischte sich mit einem Taschentuch, in das seine Initialen eingestickt waren, den Schweiß von der Stirn, leckte sich über die trockenen Lippen und versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. So war es immer in den ersten paar Minuten – bis er ruhiger wurde, bis er floh.
Lächelnd betrachtete er das Bild, während ihn die Erregung überkam und die Schuldgefühle, die ihm später wieder die Luft abschnüren würden, sich langsam legten. Er spürte, wie die Muskeln in seinem Nacken sich entspannten, wie die Schultern heruntersanken und sein Herzschlag sich verlangsamte.
Er öffnete seinen Gürtel.
Dann hörte er das Klingeln an der Haustür.
Er stand schnell auf, und seine Hose fiel auf den Boden. Er zog sie hoch, setzte sich wieder und versuchte, den Browser zu schließen. Bei einem Bild hängte sich der Rechner auf. Ein Bild, das ihm noch vor einer Sekunde ziemlich schön erschienen war, jetzt aber einen Schrecken einjagte. Er klickte wiederholte auf das X, doch nichts geschah.
Wieder klingelte es an der Tür.
Sollte es doch klingeln. War wahrscheinlich nur ein Lieferant – irgendwas für Hen, wahrscheinlich Schuhe. Noch mehr Schuhe.
Und dann hörte er den Schlüssel in der Tür.
»Liebling?«, hörte er sie rufen.
Er schluckte.
Er beugte sich vor und drückte den Ausknopf des Computers. Nichts passierte. Er drückte noch einmal, noch mehrere Male.
Unwahrscheinlich, dass sie sich ins Arbeitszimmer verirren würde, aber das Risiko konnte er nicht eingehen.
Er umfasste mit beiden Armen den Bildschirm und versuchte, ihn vom Schreibtisch zu heben. Er war schwer. Er versuchte, die Anschlüsse herauszuziehen, aber sie waren festgeschraubt. Er versuchte, sie aufzuschrauben, doch seine Hände waren schweißnass.
»Liebling?«
Er stellte den Monitor wieder ab und schlug mit der Faust gegen die Seite des Computers.
»Liebling, was ist das für ein Krach?«
»Nichts.« Seine Stimme zitterte.
»Wo bist du, Liebling? Kannst du mir mal mit dem schweren Karton helfen?«
Von allen denkbaren Ausreden entschied sich sein panisches Gehirn für die absurdeste.
»Ich stehe gerade auf einer Leiter.«
»Was in aller Welt machst du auf einer Leiter? Du solltest nicht alleine auf eine Leiter klettern. Was, wenn du ausrutschst und runterfällst?«, rief sie.
Er atmete auf, als der Bildschirm schließlich schwarz wurde. Dann rannte er in die Küche und holte die Stehleiter.
Schnell kletterte er nach oben.
Er hörte sie ächzen, während sie den Karton auf die Küchentheke wuchtete. Und dann stand sie unter ihm und schaute zu ihm hoch.
Er stand da oben – die scheinbare Lässigkeit wurde durch seine zitternden Hände entlarvt – und nippte an dem Glas Wein, das er mit auf die Leiter genommen hatte.
Er schaute an die Wand und entdeckte zu seiner grenzenlosen Erleichterung direkt über sich einen kleinen Riss im Putz. Er fuhr mit dem Finger darüber und schüttelte den Kopf.
»Was ist es? Ist es schlimm?«, fragte sie.
Er rieb sich das Kinn. Wenn er nur die leiseste Ahnung von Wandputz, dem Maurerhandwerk oder sonst irgendeiner Art von körperlicher Arbeit gehabt hätte, dann hätte er vielleicht eine bessere Antwort parat gehabt.
»Könnten Termiten sein.«
Glücklicherweise hatte Henrietta noch weniger Ahnung von der Tätigkeit einer Termite als er.
»Termiten? Ich rufe Richard an.«
Bei der Nennung von Richards Namen schluckte er und sackte in sich zusammen. Richard war der Baumeister, dem sie für die Renovierung des Hauses mehr Geld gezahlt hatten, als er sich erinnern konnte. Richard war groß, attraktiv und muskulös. Ein richtiger Mann. Die Sorte richtiger Mann, die Roger mit stummer Ehrerbietung betrachtete.
»Lass nur, du brauchst Richard nicht anzurufen. Ich mache das schon. Ich kümmere mich selbst um die kleinen Scheißer«, sagte er mit einer Überzeugungskraft, von der er hoffte, sie würde sie die ganze Sache vergessen lassen.
»Was weißt du über Termiten, Roger?«
Da er nie ein geschickter Lügner gewesen war, tat er sich schwer, die passenden Worte zu finden. »Also, eigentlich … weiß ich ziemlich viel darüber. Wir hatten ein Haus in den Cotswolds, als ich ein Kind war. In dem verfluchten Haus wimmelte es von den Viechern. Am Ende mussten wir sie ausräuchern.«
Er hob eine Augenbraue, so überrascht war er selbst von seiner Lüge.
»Und womit macht man das, das Ausräuchern?«
Er hustete. »Mit einem Schweißbrenner … und einer chemischen Substanz, die Termex heißt. Ich ruf morgen im Baumarkt an und frage, ob sie das dahaben.«
Sie setzte sich in Bewegung, blieb dann stehen und drehte sich um. »Sei vorsichtig, Liebling. Das gefällt mir gar nicht, dass du da oben auf der Leiter Wein trinkst.«
Er schloss die Augen, atmete tief aus und nahm einen großzügigen Schluck.
Er hatte den Drachen erlegt.
Als er die Leiter hinunterstieg, ertönte wieder die Klingel an der Haustür, und Henrietta führte jemanden durch den Flur in die Küche.
»Es ist Richard, Liebling. Er hat seine Bohrmaschine in der Garage vergessen. Wenn er schon da ist, kann er gleich mal nach den Termiten schauen.«
Richard, der richtige Mann Richard, betrat den Raum und hob fragend eine Augenbraue.
Roger seufzte. Er hatte sich heldenhaft bemüht, aber jetzt war es vorbei.
Thalia schaute verärgert die Spielzeugwaschmaschine an, schlug mit ihrer kleinen Faust auf die Oberseite und lächelte, als die Trommel sich wieder in Bewegung setzte.
»Manny, du musst den Wagen waschen. Er glänzt schon nicht mehr so schön. Jared hat gesagt, dass man die Karosserie sauber halten muss. Dann verliert er nicht an Wert!«, schrie Elena, um sich bei dem Lärm bemerkbar zu machen.
Sie hob den Blick, als ihr Sohn in die Küche kam.
»Jesus Christus, Manny. Was ist mit deinem Kopf passiert?«
Manny strich vorsichtig über die dicke rote Furche, die quer über seine Stirn verlief.
»Der Hut, Ma. Der Hut ist zu eng. Und wer, verdammt noch mal, ist Jared?«
Seine Mutter warf ihm einen Blick zu. Da Thalia in einem Alter war, wo sie alles nachplapperte, was sie aufschnappte, versuchte Elena rigoros, ihren Sohn zu zensieren.
»Pass auf, was du sagst. Ich bin sowieso schon sauer auf dich, mach es nicht noch schlimmer.«
Manny hob kapitulierend die Hände. »Was habe ich diesmal angestellt?«
»Du hast Thalia heute zum Kindergarten gefahren.«
»Klar. Und wir waren pünktlich da. Also, was ist los?«
»Du erinnerst dich, dass ich gesagt habe, du sollst ihr Obst mitgeben. Alle Kinder bringen Obst mit. Und wenn es Zeit für den Imbiss ist, dann schneiden sie alles in Stücke und verteilen es, oder?«
Er nickte aufmerksam und warf schon einen Blick zur Fluchttür.
»Also, was hast du ihr mitgegeben?«
»Einen Apfel oder so.«
»Falsch, Manny. Versuch’s noch mal.«
Er warf einen verstohlenen Blick zur Obstschale. »Eine Orange?«
»Du hast ihr eine Kartoffel mitgegeben.«
Er schaute hinüber zu Thalia und versuchte, dem Blick seiner Mutter auszuweichen.
»Kinder brauchen auch Kohlehydrate.«
Elena sah ihn wütend an.
»Das meine ich ernst. Von dem ganzen Obst kriegen sie nur die Scheißerei. Ich habe das für die Kinder getan, außerdem hatte ich es eilig, weil ich rechtzeitig zur Schule kommen wollte. Eigentlich ist es deine Schuld, weil die Kartoffeln auf dem Tisch lagen, und da hast du sie liegen lassen. Egal, wer ist Jared? Und was hat der mit unserem Entenei zu schaffen?«
Seine Mutter nahm eine Tüte von Berlinsky mit einem dicken Steak aus dem Kühlschrank.
»Machst du Ziti? Du weißt ja, wie gern ich das mag, mit Mortadella … einer Prise Pfeffer … nur ein bisschen, um den Gaumen zu kitzeln.«
Seine Mutter schaute ihn genervt an. »Ich weiß nicht, was Ziti ist. Ich mache Huaraches. Das mag deine Schwester am liebsten. Wir sind Mexikaner, Manny, keine Italiener. Akzeptier das endlich.«
»Ich hatte Ziti im Azzurro, weißt du noch? Letztes Jahr, an meinem Geburtstag. Wer ist Jared?«
»Jared ist der nette Mann, der uns den Wagen verkauft hat. Er führt mich am Freitagabend zum Essen aus, und deshalb musst du auf deine Schwester aufpassen.«
Manny schaute sie entsetzt an. »Der abgefuckte Muskelmann mit dem Silberblick? Du kannst nicht mit ihm ausgehen, Ma. Er könnte dein Sohn sein.«
»Manny«, zischte Elena. »Wenn du noch ein einziges Mal fluchst, kannst du dein Taschengeld vergessen.«
Sie starrte ihn an, bis er auf den Boden schaute.
»So viel jünger ist Jared gar nicht, außerdem gehe ich aus, mit wem ich will. Und du, du wäschst den Wagen und bleibst am Freitag zu Hause. Hast du das verstanden?«
Er hob den Blick und nickte widerwillig.
»Gut.«
Sie drehte sich zum Kühlschrank um. Sie sah müde aus, wie immer. Die Trennung hatte sie mitgenommen, hatte sie alle mitgenommen. Manny wusste, dass sie sich Sorgen machte. Aber sie versuchte, sich ihre Sorgen nicht anmerken zu lassen.
»Tut mir leid, Ma. Ich mein’s nur gut mit dir.«
»Ich weiß.«
»Dieser Jared, der sieht aus wie ein debiler Vollarsch. Kannst du nicht warten, bis Dad zurückkommt?«
Sie seufzte. »Das hatten wir doch schon alles, Manny. Das ist jetzt zwei Jahre her. Wenn Großmutter es mir nicht geschrieben hätte, wüsste ich nicht mal, wo dein Vater jetzt lebt. Jared ist wirklich nett. Und ich will ihn ja nicht heiraten. Ich will bloß mit jemandem zum Essen gehen, und hinterher vielleicht noch ins Kino. Und zum allerletzten Mal, hör auf zu fluchen. Thalia ist hier, und aus irgendeinem Grund schaut sie zu dir auf. Also, reiß dich zusammen.«
Manny nahm einen Eimer aus dem Schrank unter der Spüle und ließ Wasser ein.
Als er durch die Tür hinausging, hörte er erst, dass die Spielzeugwaschmaschine wieder stehen blieb, und dann, wie seine Schwester mit goldiger Stimme zu ihrer Mutter sagte: »Die Scheißbatterien sind im Arsch.«
Manny ließ den Eimer fallen und rannte nach draußen, bevor seine Mutter ihn erwischen konnte.
French John trat einen Schritt zurück und betrachtete die Torte. Er konnte sich nur schwer losreißen. So war es immer. Er wusste nicht mehr, wie viele Stunden er für seine Schöpfung gebraucht hatte. Die Glasur war Filigranarbeit. Ein kompliziertes, für das bloße Auge nahezu unsichtbares Spitzenmuster bedeckte jeden Zentimeter. Die Figuren von Braut und Bräutigam waren von Hand geformt, der Tortenständer in Blattgold gefasst. Das ganze Gebilde war fast so groß wie er. Langsam umkreiste er es und suchte nach Mängeln, seien sie auch noch so geringfügig.
Der Tortenständer musste noch einmal zerlegt und jede Etage für die kurze Fahrt zum Veranstaltungsort gesondert verpackt werden. Er hatte noch mehr als genug Zeit für Veränderungen, die die zukünftige Braut vielleicht für nötig hielt.
Er schaute auf die Tafel hinter ihm, an der fast hundert Entwürfe hingen. Die Küche bestand aus rostfreiem Stahl, der mit einer Inbrunst auf Hochglanz poliert worden war, dass seine engsten, nicht sehr zahlreichen Freunde an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifelten. Er wusste, dass dieser Perfektionismus, der an eine Zwangsstörung grenzte, ein notwendiges Übel war: eine Krankheit, die so viele Meister seiner Profession teilten. Er war einmal mit einem Schuhmacher aus San Francisco zusammen gewesen, der ungeniert weinte, wenn er ein Paar Schuhe fertiggestellt hatte. Die Beziehung war in die Brüche gegangen, weil der Schuhmacher für die anderen Facetten des Lebens nicht so viel Leidenschaft aufbringen konnte.
Als jemand die Tür hinter ihm öffnete, drehte er sich um.
»Guten Morgen, French«, sagte Elena.
»Morgen, Elena. Wie geht’s dir heute? Flucht Manny immer noch so viel? Ist Thalia immer noch so goldig?«
»Ja und ja.«
Elena ging um die Torte herum, schaute ihn an und lächelte breit.
Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn fest.
»Fertig?«
»Gut möglich. Rufst du Ihre Majestät an? Sag ihr, sie kann jetzt einen Blick darauf werfen.«
»Okay.«
»Ihre Majestät« war Louise McDermott, eine fade Schönheit mit einem Kopf voll Luft und einem Vater, dessen Vermögen viele Leute im niedrigen Milliardenbereich schätzten. Die Hochzeit würde entsprechend üppig ausfallen und die Gästeliste entsprechend umfangreich. French John war damit beauftragt worden, den Glanzpunkt der Show zu erschaffen.
»Wäre ideal, wenn sie schon bald kommen könnte. Gefällt mir gar nicht, dass die Torte hier so rumsteht. Was da alles passieren kann«, sagte er und kaute an einem Fingernagel herum.
Elena verdrehte die Augen. Nachsicht gegenüber seinen Neurosen hatte sie nie geübt.
Sie war seine erste und immer noch einzige Mitarbeiterin: ein Glücksfall – ihr Auge für Details konnte es fast mit seinem aufnehmen, und mit ihrer schnellen Auffassungsgabe wies sie ihn unnachgiebig in seine Schranken. Er vermutete, dass sie diese Fähigkeit in den Jahren der ständigen Aufs und Abs mit Manny erworben hatte.
»Bist du immer noch nervös wegen Freitag?«, fragte er.
»Wenn ich daran denke, spüre ich immer so ein Ziehen im Magen.«
»Du hattest doch schon früher Verabredungen. Klar ist das schon eine Weile her, aber so viel hat sich da nicht verändert. Außer dass du jetzt für dich selbst zahlen musst, und statt eines Abschiedskusses ist mittlerweile ein Blowjob üblich.«
»Allmählich verstehe ich, warum du nach einem ersten Date immer so glücklich bist.«
Er lachte, nahm die Garnierspritze und steckte eine feine, geschlossene Sterntülle auf die Spitze.
Er machte einen Schritt auf die Torte zu, doch Elena nahm ihm die Spritze aus der Hand und legte sie zurück auf die Küchentheke.
»Das wäre mal wieder eine feine Sache«, sagte er. »Ist schon lange her, dass mich jemand zu einem richtigen Date ausgeführt hat.«
»Vielleicht sind deine Ansprüche zu hoch.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich will einfach nur jemanden, der nett und lustig ist … natürlich mit Muskeln und braun gebrannt.«
»Natürlich.«
Elena nahm die Kuchen aus dem Kühlschrank und stellte sie unter die polierte Glastheke. Als sie French Johns Stiefel sah, stutzte sie.
»Was soll das denn?«
Er folgte ihrem Blick. »Wanderstiefel. Ich laufe sie ein. Fracap, aus Italien, handgemacht.«
»Nur bei dir kann Wandern so stylish aussehen. Allerdings, wenn ich ehrlich bin, habe ich das nur für eine weitere neue Mode gehalten, wie Racquetball.«
»Racquetball wäre mir einen Hauch zu intensiv. Man sieht fast nie gut aus, wenn einem der Schweiß runterläuft.«
Sie lachte.
»Gestern hab ich Manny gesehen«, sagte er. »Er macht immer noch auf Gangster.«
»Ja, er ist immer noch auf dem Gangstertrip. Alle paar Monate was Neues, seit Danny abgehauen ist.«
»Stimmt. Ich erinnere mich noch an die Rocky-Phase. Wie geht’s eigentlich seiner Nase?«
»Er hatte Glück. Der Doktor hat gesagt, ein glatter Bruch, ist gut verheilt. Alle lachen drüber, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Ein Junge braucht seinen Vater, besonders in den schwierigen Teenagerjahren. Thalia geht es gut. Sie war ja noch ein Baby, als Danny abgehauen ist. Sie erinnert sich nicht mal an ihn. Neulich hat sie ein Foto von unserer Hochzeit gesehen, als Danny die Haare hinten noch lang und an den Seiten kurz hatte.«
»Ich erinnere mich.«
»Sie hat das Foto angeschaut und gefragt, wer der Mann ist. Glücklicherweise hat Manny das nicht gehört, er war gerade nicht da. Die Stimmung im Haus ist schon düster genug.«
»Dann ist er also immer noch wütend?«
»Manchmal schon, und dann wieder spricht er über Danny wie über einen Heiligen. Aber als er noch da war, da hat er sich einen Dreck um ihn geschert.«
»Er ist jung. Ist sicher schwer für ihn, wenn seine Mutter sich mit einem Mann trifft.«
»Soll ich also nicht gehen?«
»Doch, doch, so habe ich das nicht gemeint. Du hast dir die Auszeit verdient, Elena. Du verdienst ein bisschen Spaß.«
Sie nickte und versuchte zu lächeln. »Warum habe ich dann Schuldgefühle, als würde ich sie im Stich lassen?«
»Du warst doch schon zweimal aus, seit Danny weg ist.«
»Ja, und beide Male habe ich den Männern gesagt, dass ich noch nicht so weit bin, mich auf was Längeres einzulassen. Du hättest Mannys Gesicht sehen sollen, als ich nach Hause kam. Er ist aufgeblieben und hat gewartet, als wäre ich das Kind. Und er hat so traurig geschaut. Zieht mich schon runter, wenn ich nur dran denke.«
French John schaltete die Kaffeemaschine an: ein verchromtes Ungeheuer, das schnorchelte und spuckte, bis es schließlich einen Kaffee ausstieß, der fast so gut schmeckte, wie er roch.
»Das geht vorbei. Ich glaube, er muss sich einfach an den Gedanken gewöhnen, dass du ein Mensch bist und nicht nur seine Mutter.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es mal so kommen würde, French.«
»Das denkt niemand.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal allein dastehe, mit einer Tochter, die ihren Vater nicht kennt, und einem Sohn, der sich für einen Gangster hält. Was für ein Schlamassel«, sagte sie traurig.
»Aber wenigstens bist du noch nicht vierzig, und du hast einen klasse Arsch.«
»Danke, das bedeutet mir viel. Vor allem weil es von einem echten Arschliebhaber wie dir kommt.«
Er lachte, zog sie an sich und umarmte sie.
Auf dem Weg in die Einfahrt der neuen Nachbarn ging Manny mitten durch das Blumenbeet und umkurvte dabei sorgsam die Rosen. Noch niemand hatte sich mit den neuen Nachbarn richtig unterhalten. Es gab eine Tochter, die etwa in seinem Alter war, eine Mutter, die nie das Haus verließ, und einen Vater, der einen Porsche fuhr. Er hatte sich gegen den Begrüßungsbesuch gesträubt, aber seine Mutter nervte ihn einfach zu sehr. In letzter Zeit hackte sie endlos auf ihm herum: Tu dies, tu das, hör auf zu fluchen, besorg dir einen Ferienjob, hör auf, jeden Tag Anzug und Hut zu tragen.
Er sah scharf aus. Musste er auch. Gangster trugen keine Shorts und gottverdammten T-Shirts. Außerdem sah er im T-Shirt nicht gut aus. Als er das letzte Mal eins angezogen und sich im Spiegel angeschaut hatte, hätte er fast geweint. Seit er nicht mehr boxte, hatte er zugenommen, und jetzt hatte er auch noch ein ordentliches Paar Titten bekommen: Titten, auf die so manches Mädchen in seiner Klasse neidisch gewesen wäre. Seine Mutter hatte gesagt, das sei schon okay so. Er sei noch im Wachstum, das sei nur Babyspeck. Allerdings hatte er noch nie ein Baby mit solchen Titten gesehen. Weil sie sich sogar unter seinem Hemd abzeichneten, musste er seine Weste anbehalten.
Als er das Mädchen sah, die Tochter, schluckte er. Sie war heiß. Extrem heiß. Lange Beine und schmale Taille, dunkle Haare und volle Lippen. Sie würde sich gut machen in seinem Arm. Er in seinem Dreiteiler und sie in ausgebleichten Jeans und Rolling-Stones-T-Shirt. Zuerst müsste er sie jedoch rumkriegen, aber das sollte nicht schwierig sein, dachte er sich – schließlich trug er einen Fedora.
»Was geht ab, Puppe?«
Sie lächelte, schaute nach oben zu seinem Hut und dann nach unten zu seinen Budapestern.
Er strich sich die Krawatte glatt.
»Hallo«, sagte sie.
»Ich bin M. Ich wohne nebenan.«
»Ich bin Furat.«
Er streckte die Hand aus, und sie schüttelte sie.
»Furat. Das ist hart. Hat dich schon mal jemand Ratte genannt?«
»Nein.«
»Wenigstens etwas.«
»Furat bedeutet ›süßes Wasser‹. Wofür steht M?«
»Manny. Keine Ahnung, was das bedeutet. Wahrscheinlich ›knallharter Typ‹, wie Krieger oder Held.«
»Manny bedeutet ›Der mit dem winzigen Penis‹.«
Manny schaute sie lange genug an, um zu erkennen, dass sich ihre Mundwinkel leicht anhoben. Dann verwandelte sich ihr angedeutetes Lächeln in Gelächter. Er lachte auch.
Er ging in die Garage, weil er unbedingt in den Schatten musste. Dort setzte er sich auf den Rasenmäher.
»Woher kommst du?«, fragte er.
»Geboren bin ich im Irak, aber ich war noch ganz klein, als wir nach Amerika gegangen sind. Mein Vater ist Zahnarzt.«
Manny nickte weise. »Zahnarzt? Ich weiß, was das bedeutet. Ich habe Homeland gesehen.«
Sie runzelte die Stirn. »Und was bedeutet das?«
»Er foltert Menschen und so, macht sie fertig, um an Informationen ranzukommen. Ist wahrscheinlich früher mal zum Zahnarzt ausgebildet worden, aber dann hat al-Qaida das Potenzial erkannt und ihn gefragt, ob er nicht für sie Zähne ziehen könnte. Nur dass die Leute keine Patienten waren, sondern Gefangene. Egal, ihr seid also aus dem Irak hergekommen, wahrscheinlich in irgendeinem Scheißzeugenschutzprogramm, oder? Keine Angst, ich sag nichts. Ich passe auf dich auf. Du stehst jetzt unter Ms Schutz.«
Ihr Stirnrunzeln verwandelte sich in einen Ausdruck der Fassungslosigkeit.
Als ein rostiger, silberner Volvo vor dem Haus anhielt, schauten beide zur Straße.
»Das ist Abe. Wir managen zusammen die Stadt.«
»Und was heißt das genau, managen?«
Sie schauten zu Abe, der aus dem Wagen stieg. Seine langen, dünnen Beine lugten stolz aus einem Paar schwarzer Jeans-Shorts; Manny war sich ziemlich sicher, dass es früher mal lange Jeans gewesen waren, bis Mrs Goldenblatt zur Schere gegriffen hatte, nachdem Abe aus ihnen herausgewachsen war.
Als Abe auf sie zuging, ertönte die Hupe. Er lief zurück zur Fahrerseite und gab seiner Mutter durch das offene Seitenfenster einen Kuss, wobei mehr als nur ein Hauch seiner Arschbacken zu sehen war.
Sie fuhr viel zu schnell weg, ohne aus dem zweiten in den dritten Gang zu schalten. Das Wehklagen des Volvo war noch zu hören, als er sich schon lange außer Sichtweite befand.
»Verdammte Scheiße, Abe. Wo ist dein Anzug?«
»Tut mir leid, M. Meine Mutter hat ihn mir weggenommen. Sie sagt, für einen Anzug ist es viel zu heiß. Weil ich so dünn bin, hat sie Angst, dass ich zu viel Körperflüssigkeit verliere. Aber die Schuhe habe ich noch.«
Manny und Furat schauten nach unten auf Abes spindeldürre, blasse Beine und waren beide überrascht, als sie die schwarz-weißen Oxfordschuhe an seinen Füßen sahen. Dazu trug er schwarze Socken, die ihm bis zu den Knien reichten.
Manny hielt sich seufzend den Kopf und stellte ihm dann Furat vor.
»Ich habe deinen Vater in der Stadt gesehen. In dem krassen Porsche. Was ist er von Beruf?«
»Er hat im Irak Zahnmedizin studiert und übernimmt jetzt die Praxis hier in der Stadt.«
Abe schaute Manny mit großen Augen an.
Zahnarzt.
Irak.
Manny schloss die Augen und nickte feierlich.
Jess versuchte vorsichtig, sehr, sehr vorsichtig, die Augen zu öffnen. Beim rechten gelang das ohne große Probleme, aber das linke kam ihr vor wie zugeschweißt. Sie führte eine Hand zum Gesicht, rieb ganz behutsam über das Auge und befreite es von getrockneter Mascara.
Sie leckte sich die Lippen. Die Haut war trocken, und ein fauliger Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.
Sie sah, dass sie sich nicht in ihrem Schlafzimmer befand; dem Zimmer im Haus ihrer Mutter, das sie jetzt ihr Schlafzimmer nannte.
Sie sah ihren BH auf dem Boden liegen, daneben den Rock.
Das Hämmern im Kopf würde sie noch weit in den Morgen hinein begleiten.
Sie schaute zum Nachttisch und der leeren Wodkaflasche, die darauf stand. Sie bewegte eine Hand zum Mund und kämpfte dagegen an, sich zu übergeben. Ihre Finger rochen nach Zigaretten. Der Nagellack war abgesplittert und verblasst. Sie trug immer noch ihren Ehering, allerdings am Ringfinger der rechten Hand, für den Fall, dass er sonst die aufrechteren unter den Männern abschrecken könnte. Allerdings musste sie zugeben, dass diese Männer wohl kaum die Art Etablissement frequentierten, die sie in letzter Zeit bevorzugte.
An der gegenüberliegenden Wand sah sie einen Kleiderständer. Daran hingen Hemden und Anzüge. Eine Steigerung zu der McDonald’s-Uniform, die sie vor ein paar Wochen auf dem Boden eines ähnlich verranzten Apartments gesehen hatte.
Vor dem Fenster hingen keine Vorhänge. Das Sonnenlicht fiel durch die nackte Scheibe herein. Sie konnte es kaum ertragen.
Hinter ihrem Rücken spürte sie Bewegungen, ein Treten, ein Umdrehen, die straff an ihrem Körper ziehende Bettdecke. Sie konnte sein schweres, kratziges Atmen hören. Ein Bein strich an ihrem Bein entlang, die Haare kitzelten auf ihrer Haut. Sie rutschte zum Rand der Matratze.
Ihr fiel ein kleines Holzregal auf, das verzweifelt versuchte, unter einer Myriade von leeren Weinflaschen und Deodosen nicht zusammenzubrechen. Am Ende des Regals stand eine einsame Flasche Eau de Cologne. Das Etikett war orange und schwarz, darauf prangte das Wort TIGER. Das war also der Geruch: ein Geruch, den sie sich gut in einem Zoo vorstellen konnte.
Der Tiger begann zu schnarchen. Jeder Atemzug klang wie ein würgendes Prusten. Sie schaute sich nicht um. Wozu auch? Der Tiger hatte einen Zweck zu erfüllen, ein Bedürfnis zu befriedigen.
Sie versuchte, sich an den Namen der Stadt zu erinnern, in die sie gestern Abend gefahren war, oder an die Bar, in der sie getrunken hatte, oder gar an den Namen des Tigers. Sie erinnerte sich an nichts.
Sie wollte es gerade wagen, sich aufzusetzen, als sie auf dem Nachttisch ein gerahmtes Foto sah. Sie schob die Flasche zur Seite und schaute es an. Es zeigte einen Mann, der neben einem kleinen Jungen hockte. Der Junge hielt einen Wels in den Händen. Seine Finger drückten in die Schuppen. Dahinter war Wasser zu sehen und in der Ferne ein Berg, dessen Gipfel in Wolken gehüllt war.
Was Jess besonders auffiel, noch mehr als der riesige Wels, war der Ausdruck von reiner Glückseligkeit im Gesicht des Jungen: die Art von Glückseligkeit, die nur ein Kind ausstrahlen kann – einzigartig und noch ungetrübt von den Verstörungen, die das Alter mit sich bringt.
Diesen Ausdruck kannte sie vom Gesicht ihres Jungen. Von ihrem Harry.
Sie bemühte sich mit aller Kraft, in den Tiefen ihrer Seele Raum für sein wunderschönes Gesicht zu schaffen, als der Clown auftauchte und sich wie so oft ohne Vorwarnung ihrer Gedanken bemächtigte. Der Clown, an dessen Existenz niemand geglaubt hatte, bis die Kriminaltechniker ein langes, grünes Haar fanden, das sich in Harrys Straßenkartenteppich versteckt hatte. Erst hatten sie angenommen, es stamme vielleicht von einem seiner Stofftiere, aber eine Feinanalyse hatte keine Übereinstimmung in seinem Zimmer ergeben. Und so hatten sie widerwillig begonnen, ihr zu glauben – warum widerwillig, wusste sie nicht recht.
Der Clown grinste sie an. Sie schüttelte heftig den Kopf, aber er ließ sich nicht verscheuchen und grub seine Klauen tief in ihre Gedanken. Sie zog sich an den Haaren, riss eine Handvoll aus und stöhnte vor Schmerz.
Als der Clown zu lachen und dann zu knurren anfing, wobei glühender Zorn sein Gesicht verzerrte, begann sie, die schreckliche Nacht noch einmal zu durchleben, als sie barfuß und weinend, mit dem Tranchiermesser in der Hand, hinaus auf die Straße gelaufen war. Gerade als sich der Schrei in ihrem Magen zusammenballte und ihren Rachen hinaufkroch, spürte sie die Hand des Tigers auf ihrer Hüfte und seinen Körper, der sich an sie drückte.
Genau zur rechten Zeit.
Sie hakte den Daumen ins Gummiband ihres Slips und zog ihn hinunter, schloss ihre Augen, so fest sie konnte, und zwang den Schrei mit aller Kraft wieder in ihre Magengrube hinunter.
Mit seinen gut zwei Metern und knapp fünfhundert Pfund war Jerry Lee an die Blicke und das Getuschel gewöhnt. Er war auch an das Gelächter gewöhnt, aber das kam erst, wenn er den Mund aufmachte. Mit der Größe, dem Gewicht, einer ellenlangen Liste mit Allergien und einem Verstand, der, wie seine Mutter oft sagte, einen Tick zu lange brauchte, um einen zusammenhängenden Gedanken zu formulieren, wäre das Leben schon schwierig genug gewesen. Aber mit seiner Stimme, die sich in der allerhöchsten Tonlage bewegte, hatte er nicht wirklich eine Chance.
Die Stimme war eine Gabe Gottes. Das sagte seine Mutter immer. Eine Gabe, die wesentlich besser angekommen war, als er in jüngeren Jahren widerwillig die Hauptrolle im St. Mary’s Choir übernommen hatte. Aber jetzt, mit fünfunddreißig, war es eine Gabe, von der er sich wünschte, dass Gott damit jemand anderen beglückt hätte.
Wie jeden Morgen öffnete er eine volle Stunde vor der Zeit die Tür zum PhotoMax. Sein Boss Max würde nicht vor dem Mittagessen auftauchen, wenn überhaupt. Am Montagmorgen war Max immer ein Totalausfall. Normalerweise zog er freitagabends um die Häuser und ließ Jerry am Samstag, dem arbeitsreichsten Tag der Woche, allein im Laden. Warum er aber am Montag immer so spät kam, wusste Jerry nicht. Und er würde auch nicht danach fragen.
Jerry ging hinter die Theke, schob zwei Hocker zusammen und hievte sich vorsichtig darauf. Sie knarzten und ächzten. Bis sie sich an die Belastung gewöhnt hatten, hielt er sich absolut still.
Er schaute auf seine Todesuhr, ein Geschenk seiner Mutter zu seinem letzten Geburtstag. Er würde am 15. März 2040 sterben. So stand es auf der Uhr. Aber er hatte sie in letzter Zeit nicht mehr aktualisiert und sogar noch weiter zugenommen. Er verfolgte, wie die Minuten heruntertickten. Das machte er oft.
An der Tür gab es eine Glocke. Als sie schepperte, zuckte er zusammen.
»Guten Morgen, Jerry.«
Jerry rutschte von den Hockern, ging um die Theke herum und nahm von Mel, dem Postboten, die Post entgegen. Er begrüßte Mel nicht. Das tat er nie. Er versuchte, so wenig wie möglich zu sprechen.
»Sieht ganz so aus, als würde es wieder heiß werden heute«, sagte Mel.
Jerry nickte.
»Bis morgen dann.«
Jerry legte die Post auf die Glastheke, wuchtete sich wieder auf die Hocker und öffnete den einzigen Umschlag, der an ihn adressiert war.
Er betrachtete die Zeitschrift und strich mit dem Finger sanft über das Titelblatt. Seit dreizehn Jahren war er Abonnent des National Amateur Photography Magazine (NAP). Obwohl Max ihm jeden Monat die sechs Dollar vom Lohn abzog, war das Magazin jeden Cent wert.
Da der Einsendeschluss für den jährlichen NAP-Wettbewerb näher rückte, hatte man auf der Titelseite wieder die Fotografie von Dawit abgedruckt. Dawit hatte im letzten Jahr gewonnen. Jerry hatte alles über ihn gelesen, sein Leben in einem Slum in Indien, wie er auf den Müllbergen, die er jeden Tag durchsuchte, eine Einwegkamera gefunden und damit ein letztes Foto von seiner Schwester gemacht hatte, die im Sterben auf dem Bett lag, das sie mit ihrem Bruder teilte. Eine Lokalzeitung hatte es abgedruckt, und dann hatte eins zum anderen geführt.
Für Anam.
Das hatte auf der Rückseite des Titelblatts gestanden. Der Sieger musste seine Fotografie jemandem widmen. Der Name von Dawits Schwester war Anam gewesen. Anam bedeutete »Segen«. Jerry hatte das im Netz nachgeschaut.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er das Foto und fragte sich, ob seins besser war. Sie waren schwer zu vergleichen: Dawits Foto war bedingungslos emotional, und Jerrys … Nun, Jerrys war auch ungewöhnlich. Das hatte er gewusst, als er es seiner Mutter gezeigt hatte. Sie hatte es lange angeschaut und ihm dann das Versprechen abgenommen, es nicht einzuschicken, ja sogar, es zu löschen.
Die Türglocke schepperte erneut.
Jerry zuckte wieder zusammen, hob den Blick und entspannte sich.
»Hi, Lisa.«
Lisa lächelte ihn an, ein Lächeln, bei dem seine Wangen erröteten und sein Hemd am Rücken festklebte. Sie gab ihm die Papiertüte mit den Medikamenten für seine Mutter. Lisa arbeitete für Hung, den Apotheker.
»Wie geht’s ihr?«, fragte Lisa.
»Okay. Sie hat immer noch Schmerzen. Die Tabletten wirken nicht.«
Sie nickte mitfühlend. »Vielleicht solltest du mit ihrem Arzt reden. Sie könnte was anderes probieren, vielleicht Prednisolon. Nimmt sie die Tabletten mit dem Essen?«
»Sie isst nicht mehr viel.«
»Dann mit Milch, Jerry. Das ist wichtig.«
»Ich werd’s versuchen.«
Sie warf einen Blick auf das Magazin. »Ist das das neue Heft?«
Er nickte.
»Wieder Dawit?«
Er nickte.
»Wann schickst du was von dir ein, Jerry? Ich hab ein paar Sachen gesehen. Du hast wirklich einen fantastischen Blick.«
Er wurde knallrot und schaute auf den Boden.
»Ich weiß nicht.«
Lisa war einer der wenigen Menschen, mit denen er sich gern unterhielt, eine der wenigen, die er eine Freundin nennen konnte, und trotzdem tat er sich immer noch schwer, ihr in die Augen zu blicken. Sie waren viel zu blau, viel zu schön.
»Ist Max da?«
Er schüttelte den Kopf.
Lisa war mit Max verlobt.
Sie sah auf die Uhr. »Zu früh für den Faulpelz. Wenn er auftaucht, sagst du ihm, dass wir um fünf einen Termin beim Immobilienmakler haben?«
Jerry nickte.
Lisa setzte sich auf den Hocker für Kunden.
»Also, was kriegt der Sieger dieses Jahr?«
»Der erste Preis ist eine Nikon DX950.«
»Oh.«
»Und eine Reise nach Aruba, wo immer das auch ist.«
»Das hört sich schon besser an.«
»Und das Titelfoto.«
»Wow. Das ist der Hammer, oder? Davon hast du doch immer geträumt. Also, mach es, Jerry. Was hast du zu verlieren?«
Er zuckte mit den Achseln, die Hocker knarzten. Um das Geräusch zu übertönen, versuchte er zu husten, aber es war zu spät. Wie immer versuchte sein Verstand mit aller Kraft, Schritt zu halten. Seine Mutter sagte, das käme daher, weil er bei der Geburt nicht genug Sauerstoff bekommen hatte. Die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt. Sein Vater sagte, er wäre blau herausgekommen.
»Ich denk drüber nach«, sagte er leise.
»Bist du immer noch jedes Wochenende mit dem Zelt draußen und hältst Ausschau nach dem Rotschnabelkuckuck?«
Er schüttelte den Kopf.
Ende der Leseprobe