Von hier bis zum Anfang - Chris Whitaker - E-Book
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Chris Whitaker

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Beschreibung

Cape Heaven, Kalifornien. Eine beschauliche Kleinstadt vor dem Panorama atemberaubender Küstenfelsen. In diesem vermeintlichen Idyll muss die 13-jährige Duchess nicht nur ihren kleinen Bruder fast alleine großziehen, sondern sich auch um ihre depressive Mutter Star kümmern, die die Ermordung ihrer Schwester vor 30 Jahren nie verwinden konnte. Als deren angeblicher Mörder aus der Haft entlassen wird, droht das fragile Familiengefüge, das Duchess mühsam zusammenhält, auseinanderzubrechen. Denn der Atem der Vergangenheit reicht bis in das Heute und wird das starke Mädchen nicht mehr loslassen ...

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Seitenzahl: 532

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Aus dem Englischen von Conny Lösch

Für meine Leser, die mir jetzt nach Cape Haven folgen. Ihr seid mein Fels in der Brandung.

© Chris Whitaker 2019

Titel der englischen Originalausgabe:

»We Begin at the End«, Bonnier Zaffre, London 2019

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2021

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Erster Teil

Der Outlaw

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Zweiter Teil

Weiter Himmel

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

Dritter Teil

Wiedergutmachung

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

Vierter Teil

Herzensbrecher

46

47

48

49

Danksagung

Wenn ihr was seht, hebt ihr die Hand. Egal, ob’s eine Zigarettenkippe oder eine Getränkedose ist. Wenn ihr was seht, hebt ihr die Hand.

Ihr fasst es nicht an.

Hebt nur die Hand.

Chief Dubois. Seine Worte wehten zu ihnen herüber, Leute aus dem Ort standen mit den Füßen im Bachlauf, waren bereit. Vorrücken in einer Reihe, jeweils zwanzig Schritte Abstand, hundert Augen mit gesenkten Blicken. Eine Choreografie der Verdammten.

Dahinter der jetzt menschenleere Ort. Die Nachricht hatte den Nachhall eines langen tadellosen Sommers erstickt.

Es ging um Sissy Radley. Sieben Jahre alt. Blondes Haar. Die meisten kannten sie, Dubois musste keine Fotos verteilen.

Walk bildete den äußersten Rand. Er war fünfzehn und furchtlos, seine Knie zitterten bei jedem Schritt.

Sie marschierten durch den Wald wie eine Armee, angeführt von Polizisten, Taschenlampenlicht überall, der Ozean hinter den Bäumen war noch ein ganzes Stück entfernt, aber das Mädchen konnte nicht schwimmen.

Neben Walk lief Martha May. Sie gingen seit drei Monaten miteinander, waren aber übers Knutschen nicht hinausgekommen, ihr Vater war Pfarrer an der Little Brook Episcopal.

Sie schaute zu ihm rüber. »Willst du immer noch Polizist werden?«

Walk sah zu Dubois, hielt den Kopf gesenkt.

»Ich hab Star gesehen«, sagte Martha. »Vorne bei ihrem Vater. Sie hat geweint.«

Star Radley, die Schwester des vermissten Mädchens. Marthas beste Freundin. Alle zusammen waren sie unzertrennlich. Nur einer fehlte.

»Wo ist Vincent?«, fragte sie.

»Hab ihn vorhin gesehen. Vielleicht ist er auf der anderen Seite.«

Walk und Vincent standen sich so nah wie Brüder. Mit neun hatten sie sich in die Handflächen geritzt, sie zusammengepresst und einen Eid klassenloser Loyalität geschworen.

Walk und Martha schwiegen jetzt wieder, suchten still den Boden ab, passierten die Sunset Road, liefen am Wunschbaum vorbei, schoben mit ihren Chucks das Laub auseinander. Walk konzentrierte sich und hätte ihn trotzdem fast übersehen.

Zehn Schritte vor dem Cabrillo Highway, der State Route One, sechshundert Meilen kalifornische Küste. Er blieb abrupt stehen, blickte auf und sah, wie die Reihe ohne ihn weiterzog.

Er ging in die Hocke.

Eine Wolke riss auf, ließ Mondlicht durch.

Der Schuh war klein. Rot-weißes Leder. Vergoldete Schnalle.

Ein herankommender Wagen auf dem Highway wurde langsamer, die Scheinwerfer folgten der Biegung, streiften ihn.

Dann sah er sie.

Er holte tief Luft und hob die Hand.

Erster Teil

Der Outlaw

1

Walk stand am Rand einer aufgeregten Menge. Einige von ihnen kannte er seit seiner Geburt, andere seit deren. Urlauber mit Kameras, Sonnenbrand und unbeschwertem Lächeln.

Die Lokalnachrichten waren jetzt auch da, eine Reporterin von KCNR. »Dürfen wir kurz mit Ihnen sprechen, Chief Walker?«

Er lächelte, schob die Hände tief in die Taschen und schlängelte sich durch die Menge, als die Leute plötzlich erschrocken nach Luft schnappten.

Stück für Stück und laut stürzte das Dach ein, krachte aufs Wasser weiter unten. Die Grundmauern blieben roh und skelettartig stehen, als wäre es nie mehr als ein unbewohntes Haus gewesen. Seit Walk denken konnte, hatte es den Fairlawns gehört, hatte in seiner Kindheit noch weit vom Ozean entfernt gestanden. Vor einem Jahr war das Grundstück abgesperrt worden, weil die Klippen erodierten, hin und wieder kamen Leute von California Wild, maßen und schätzten.

Kameras wurden hochgehalten, Aufregung breitete sich aus, als es Schindeln regnete und die vordere Veranda halb absackte. Milton, der Schlachter, ging auf ein Knie runter und schoss das Bild des Tages vom umgeknickten Flaggenmast mit der Fahne im Wind.

Der jüngere der Tallow-Söhne lief zu dicht heran. Seine Mutter zog ihn so fest am Kragen, dass er rückwärts auf den Hintern plumpste.

Dahinter versank die Sonne mit dem Gebäude, zerhackte das Wasser mit orange- und lilafarbenen Schnitten und namenlosen Schattierungen. Die Reporterin bekam ihre Story, verabschiedete ein eher unbedeutendes Stück Geschichte, das kaum der Rede wert war.

Walk sah sich um und entdeckte Dickie Darke, der ungerührt zuschaute. Er stand da wie ein Riese, fast zwei Meter zehn. Dickie handelte mit Immobilien, ihm gehörten mehrere Häuser in Cape Haven und ein Club am Cabrillo, eine Kaschemme von der Sorte, in der das Laster zehn Dollar und einen kleinen Batzen Rechtschaffenheit kostet.

Sie blieben eine weitere Stunde lang stehen, Walks Beine wurden müde, als die Veranda endlich aufgab. Schaulustige widerstanden dem Impuls zu applaudieren, dann machten sie kehrt und gingen zurück zu ihren Grills, Bieren und Feuerstellen, deren flackerndes Licht Walk auf seiner Abendpatrouille begleitete. Sie liefen über den grauen Steinweg, zwar trocken verlegt, aber trotzdem robust. Dahinter stand der Wunschbaum, eine große Eiche, so breit, dass ihre Äste gestützt werden mussten. Das alte Cape Haven gab sich alle Mühe, fortzubestehen.

Walk war einst mit Vincent King auf diesen Baum geklettert, in einer Zeit so fern der Gegenwart, dass sie kaum noch von Bedeutung war. Er legte eine zittrige Hand auf seine Schusswaffe, die andere an den Gürtel. Sein Kragen war gestärkt, er trug eine Krawatte, die Schuhe frisch geputzt. Die Tatsache, dass er seinen Platz in der Welt akzeptierte, wurde von vielen bewundert, von anderen belächelt. Walker war Kapitän eines Schiffs, das seinen Hafen niemals verließ.

Er entdeckte das Mädchen, das sich gegen den Strom der Menschen bewegte. Sie hatte ihren Bruder an der Hand, der nur mühsam mit ihr Schritt hielt.

Duchess und Robin, die Radley-Kinder.

Er ging los, rannte ihnen fast entgegen, weil er alles über sie wusste, was es zu wissen gab.

Der Junge war fünf und weinte stumme Tränen, das Mädchen war gerade erst dreizehn geworden und weinte nie.

»Eure Mutter«, sagte er. Keine Frage, sondern eine Feststellung von solcher Tragik, dass das Mädchen nicht einmal nickte, sich nur umdrehte und voranging. Sie bewegten sich durch dämmrige Straßen, die trügerische Ruhe von Lattenzäunen und Lichterketten. Über ihnen ging der Mond auf, leitete und verspottete ihn, wie er es schon seit dreißig Jahren tat. Vorbei an prächtigen Häusern aus Glas und Stahl, die sich der Natur widersetzten, ein Anblick von schrecklicher Schönheit.

Die Genesee runter, wo Walk immer noch im alten Haus seiner Eltern lebte. Dann in die Ivy Ranch Road, wo sie sich jetzt dem Haus der Radleys näherten. Abblätternde Farbe an den Fensterläden, ein umgedrehtes Fahrrad, der Reifen daneben. In Cape Haven war alles, was nicht perfekt war, gleich schrecklich.

Walk löste sich von den Kindern und rannte den Weg entlang, von drinnen drang kein Licht heraus, nur das Flackern eines Fernsehers. Er schaute zurück, Robin weinte immer noch, und Duchess sah ihm nach, streng und unerbittlich.

Er fand Star auf der Couch, eine Flasche neben sich, dieses Mal keine Pillen, ein Schuh am Fuß, der andere nackt, kleine Zehen, lackierte Nägel.

»Star.« Er ging auf die Knie und tätschelte ihre Wange. »Star, komm, wach auf.«

Er sprach ruhig, weil die Kinder jetzt an der Tür standen; Duchess hatte einen Arm auf ihren Bruder gelegt, da dieser sich so schwer an sie lehnte, als habe er keine Knochen mehr in seinem kleinen Körper.

Er bat das Mädchen, den Notruf zu wählen.

»Hab ich schon.«

Er zog Stars Lider mit dem Daumen hoch und sah nichts als Weiß.

»Wird sie wieder gesund?«, fragte der Junge.

Er schaute rüber, hoffte auf Sirenen, blickte mit zusammengekniffenen Augen in den feuerroten Himmel.

»Würdet ihr draußen Ausschau halten, wo sie bleiben?«

Duchess verstand ihn und ging mit Robin hinaus.

Star schüttelte sich, kotzte ein bisschen und schüttelte sich wieder, als hätten Gott oder der Tod Besitz von ihrer Seele ergriffen und sie müsste sich jetzt befreien. Walk hatte jede Menge Geduld gehabt, dreißig Jahre waren seit Sissy Radley und Vincent King vergangen, doch Star lallte immer noch von Eternalismus, dem Aufeinanderprallen von Vergangenheit und Gegenwart, den Weichen für die Zukunft und von Dingen, die sich nicht wiedergutmachen ließen.

 

Duchess fuhr mit ihrer Mutter. Walk würde später mit Robin nachkommen.

Sie schaute dem Sanitäter zu. Er versuchte es nicht mit einem Lächeln, und sie war ihm dankbar dafür. Er hatte dünnes Haar und schwitzte, vielleicht war er es leid, Menschen zu retten, die so fest entschlossen waren, zu sterben.

Eine Weile blieben sie vor dem Haus stehen, und durch die offene Tür des Rettungswagens sah sie Walk, der seine Hand auf Robins Schulter legte. Robin brauchte das, den Trost eines Erwachsenen, das Gefühl von Sicherheit.

Auf der anderen Straßenseite bewegten sich die Vorhänge, während Schatten stille Urteile fällten. Dann sah sie am Ende der Straße Kinder aus ihrer Schule, die mit roten Gesichtern fest in die Pedale traten. Nachrichten verbreiteten sich schnell in einer Stadt, in der schon Bebauungspläne Stoff für Schlagzeilen boten.

Die beiden Jungs machten neben dem Streifenwagen halt und ließen ihre Räder fallen. Der Größere ging atemlos auf den Krankenwagen zu, eine Haarsträhne klebte in seinem Gesicht.

»Ist sie tot?«

Duchess hob das Kinn und sah ihm fest in die Augen. »Verpiss dich.«

Der Motor brummte, als die Tür zugeschlagen wurde. Die Welt hinter dem Milchglas verstummte.

Autos schlängelten sich um Biegungen, bis sie über den Hang kippten, dahinter lag der Pazifik. Felsen durchstießen die Oberfläche wie die Köpfe von Ertrinkenden.

Sie betrachtete ihre Straße, bis sie deren Ende erreichten, bis Bäume aufragten, sich über der Pensacola trafen, Äste wie Hände, verschränkt im Gebet für das Mädchen und ihren Bruder – angesichts der Tragödie, die lange vor ihrer beider Geburt begonnen hatte.

 

Die Nacht kam wie viele andere, verschluckte Duchess so vollständig, dass sie sicher war, niemals wieder Tageslicht zu sehen, zumindest nicht wie andere Kinder. Das Vancour Hill Hospital kannte Duchess nur allzu gut. Ihre Mutter wurde fortgebracht, und sie blieb auf dem polierten Boden stehen, das Licht glänzte darauf. Sie behielt die Tür im Blick, bis Walk mit Robin hereinkam. Dann ging sie zu ihm, nahm die Hand ihres Bruders, führte ihn zum Fahrstuhl und fuhr mit ihm in den zweiten Stock. Bei gedämpftem Licht schob sie zwei Stühle im Familienzimmer zusammen. Gegenüber befand sich der Materialraum, und Duchess besorgte sich zwei weiche Decken, baute aus den Stühlen ein Bett. Robin stand betreten herum, Müdigkeit zehrte an ihm, kroch in die dunklen Ringe unter seinen Augen.

»Musst du mal?«

Nicken.

Sie ging mit ihm zur Toilette, wartete ein paar Minuten, achtete darauf, dass er sich die Hände gründlich wusch. Sie fand Zahnpasta, drückte ein bisschen davon auf ihren Finger und fuhr ihm damit über Zähne und Zahnfleisch. Er spuckte aus, sie tupfte seinen Mund ab.

Dann half sie ihm aus den Schuhen und über die Armlehnen der Stühle und deckte ihn zu. Er rollte sich ein wie ein kleines Tier.

Und sah sie an. »Lass mich nicht alleine.«

»Niemals.«

»Wird Mom wieder gesund?«

»Ja.«

Sie machte den Fernseher aus, das Zimmer war dunkel, die Notbeleuchtung tauchte sie beide in ein so sanftes Rot, dass Robin schon eingeschlafen war, als sie die Tür erreichte.

Im klinischen Licht des Krankenhausgangs blieb sie mit dem Rücken zur Tür stehen. Sie würde niemanden hier hereinlassen, im dritten Stock gab es noch ein weiteres Familienzimmer.

Eine Stunde später tauchte Walk wieder auf und gähnte, als gäbe es einen guten Grund. Duchess wusste, wie er die Tage verbrachte, den Cabrillo entlangfuhr, diese perfekten Meilen von Cape Haven bis weit dahinter, jedes Blinzeln eine Momentaufnahme, so paradiesisch, dass die Menschen quer durchs Land reisten, um sich dort Häuser zu kaufen, die sie dann zehn Monate im Jahr leer stehen ließen.

»Schläft er?«

Sie nickte.

»Ich hab nach eurer Mutter gesehen, sie wird wieder.«

Sie nickte erneut.

»Du kannst gehen und dir was zu trinken holen. Da steht ein Automat neben dem …«

»Ich weiß.«

Ein Blick zurück in den Raum, wo ihr Bruder fest schlief. Er würde sich nicht regen, bis sie ihn weckte.

Walk hielt ihr einen Dollarschein hin, sie nahm ihn zögerlich.

Duchess lief durch die Gänge, kaufte etwas zu trinken und trank es nicht, sie würde es für Robin aufheben. Sie spähte in die Kabinen, hörte Geburten, Tränen und Leben. Sie sah Hüllen von Menschen, so leer, dass sie wusste, sie würden sich nicht mehr erholen. Polizisten führten böse Männer mit tätowierten Armen und blutverschmierten Gesichtern herein. Sie roch die Betrunkenen, das Putzmittel, die Kotze und die Scheiße.

Sie ging an einer Schwester vorbei, bekam ein Lächeln, denn die meisten hier hatten sie schon einmal gesehen. Sie war eins der Kinder, denen das Leben übel mitspielte.

Als sie zurückkam, hatte Walk zwei Stühle neben die Tür gestellt. Sie schaute nach ihrem Bruder, dann setzte sie sich.

Walk bot ihr Kaugummi an, Duchess schüttelte den Kopf.

Sie merkte, dass er reden und ihr irgendeinen Mist über Veränderung erzählen wollte. Ihr sagen wollte, dass alles wieder gut werden würde.

»Du hast nicht angerufen.«

Er sah sie an.

»Das Jugendamt. Du hast nicht angerufen.«

»Hätte ich machen sollen.« Er klang traurig, als hätte er ein schlechtes Gewissen, weil er glaubte, sie im Stich gelassen oder seine Polizistenpflicht vernachlässigt zu haben.

»Aber du wirst es nicht tun.«

»Nein.«

Sein braunes Hemd spannte am Bauch. Er hatte die dicken geröteten Backen eines Jungen, der von seinen gutmütigen Eltern niemals ein Nein zu hören bekam. Sein Gesicht wirkte so offen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie er auch nur ein einziges Geheimnis bewahren wollte. Star sagte immer, er sei durch und durch gut, als wäre das etwas ganz Besonderes.

»Du solltest ein bisschen schlafen.«

Sie blieben so sitzen, bis die Sterne dem ersten Tageslicht wichen, der Mond seine Pflichten vergaß und nur noch wie ein Schmierfleck am neuen Tag wirkte, eine Erinnerung an das, was nicht mehr da war. Gegenüber gab es ein Fenster. Duchess stand lange an der Scheibe, presste den Kopf in Richtung der Bäume und der schwindenden Wildnis. Vögel zwitscherten. Weiter hinten sah sie Wasser, kleine Fischkutter, die über die Wellen krochen.

Walk räusperte sich. »Deine Mutter … war da ein Mann …«

»Da war immer ein Mann. Immer, wenn auf der Welt was Beschissenes passiert, ist ein Mann dabei.«

»Darke?«

Sie drehte sich nicht um.

»Kannst du’s mir nicht sagen?«, fragte er.

»Ich bin ein Outlaw.«

»Okay.«

Im Haar trug sie eine Schleife, an der sie ständig herumfingerte. Sie war zu dünn, zu blass, zu hübsch, wie ihre Mutter.

»Da unten wurde gerade ein Baby geboren.« Walk wechselte das Thema.

»Wie haben sie’s genannt?«

»Weiß nicht.«

»Fünfzig Dollar, dass es nicht Duchess heißt.«

Er lachte leise. »Genauso exotisch wie selten. Du weißt ja, dass du eigentlich Emily hättest heißen sollen.«

»Und wund muss der Sturm sein.«

»Genau.«

»Das Gedicht liest sie Robin immer noch vor.« Duchess setzte sich, schlug die Beine übereinander, rieb sich die Muskeln. Ihre Turnschuhe waren alt und ausgelatscht. »Ist das hier mein Sturm, Walk?«

Er trank einen Schluck Kaffee, als suchte er die Antwort auf eine unmögliche Frage. »Mir gefällt Duchess.«

»Kannst es ja selbst mal damit versuchen. Wäre ich ein Junge, hätte sie mich wahrscheinlich Sue genannt.« Sie legte den Kopf in den Nacken und sah die Neonröhren flackern. »Sie will sterben.«

»Will sie nicht. Das darfst du nicht denken.«

»Ich kann mich nicht entscheiden, ob Selbstmord was Egoistisches oder Selbstloses ist.«

Um sechs kam eine Schwester und brachte sie zu ihr.

Star lag da, nur noch der Schatten einer Person, kaum eine Mutter.

»Duchess von Cape Haven.« Star lächelte kraftlos. »Schon gut.«

Duchess betrachtete sie, dann weinte Star, Duchess durchquerte den Raum, presste ihre Wange an die Brust ihrer Mutter und fragte sich, wieso ihr Herz noch schlug.

Zusammen lagen sie im Morgengrauen, doch der neue Tag schenkte ihr kein hoffnungsvolles Licht, denn Duchess wusste, dass Hoffnung trügerisch war.

»Ich hab dich lieb. Es tut mir leid.«

Duchess hätte vieles sagen können, aber im Augenblick fiel ihr nur ein: »Ich hab dich auch lieb. Ich weiß.«

2

Am höchsten Punkt der Anhöhe fiel das Land steil ab.

Die Sonne stieg an einem blauen Himmel auf, als Duchess hinten im Wagen neben ihrem kleinen Bruder saß und seine kleine Hand in ihre nahm.

Walk lenkte den Streifenwagen sachte in ihre Straße und hielt vor dem alten Haus, folgte ihnen hinein. Er wollte Frühstück machen, aber die Schränke waren leer. Also lief er zu Rosie’s Diner, kam mit Pancakes zurück und lächelte, als Robin gleich drei davon verdrückte.

Nachdem sie Robins Gesicht gewaschen und ihm seine Kleider zurechtgelegt hatte, ging Duchess vors Haus und fand Walk, der dort auf den Stufen saß. Sie sah Cape Haven aufwachen, der Postbote kam vorbei, Brandon Rock trat vors Nachbarhaus und sprengte seinen Rasen mit dem Schlauch. Dass beide den Streifenwagen vor dem Haus der Radleys keines zweiten Blickes würdigten, machte Duchess traurig und froh zugleich.

»Soll ich dich mitnehmen?«

»Nein.« Sie setzte sich neben ihn und band sich die Schnürsenkel.

»Ich kann deine Mom abholen.«

»Sie hat gesagt, sie will Darke anrufen.«

Duchess wusste nicht viel über die Freundschaft zwischen ihrer Mutter und Chief Walker, obwohl sie vermutete, dass er sie flachlegen wollte, genau wie die meisten Männer der Stadt.

Sie schaute in den verdorrten Garten. Im vergangenen Sommer hatte sie sich mit ihrer Mutter ans Pflanzen gemacht. Robin hatte eine kleine Gießkanne gekauft und die Erde gelockert, seine Wangen hatten immer mehr Farbe bekommen. Hainblumen, Schönmalven und Säckelblumen.

Alle vernachlässigt und eingegangen.

»Hat sie gesagt, was los war?«, fragte Walk sanft. »Gestern Nacht. Weißt du, warum?«

Grausame Fragen wie diese war sie von ihm nicht gewohnt, meistens gab es keinen Grund. Aber sie wusste, warum er dieses Mal fragte, wusste von Vincent King und ihrer Tante Sissy, die auf dem Friedhof am Rand der Klippen lag. Alle kannten ihr Grab hinter dem sonnengebleichten Lattenzaun, gleich bei den Babys, die es nicht geschafft hatten, von demselben Gott dahingerafft worden waren, zu dem ihre Eltern beteten.

»Gesagt hat sie nichts.«

Hinter sich hörten sie Robin. Duchess stand auf und strich ihm durchs Haar, wischte ihm Zahnpastareste von der Wange, dann sah sie in seiner Schultasche nach, ob er sein Lesebuch dabeihatte, sein Heft und seine Wasserflasche.

Sie schob ihm die Riemen auf die Schultern, er lächelte, und sie lächelte zurück.

Sie standen nebeneinander und sahen zu, wie der Streifenwagen die lange Straße hinunterfuhr, dann legte Duchess einen Arm um ihren Bruder, und sie gingen los.

Der Nachbar stellte den Schlauch ab und trat an seinen Gartenzaun. Brandon Rock. Klein, breit, braun gebrannt. Ein Ohrstecker auf einer Seite, fedriger Haarschnitt, Morgenmantel. Manchmal stemmte er Gewichte in der Garage, bei geöffnetem Tor und laut dröhnendem Metal.

»Wieder eure Mutter? Man sollte das Jugendamt verständigen.«

Eine Stimme, als wäre seine Nase gebrochen und nie wieder richtig zusammengewachsen. In einer Hand hielt er eine Hantel, hob sie ab und zu. Sein rechter Arm war auffallend breiter als der linke.

Duchess drehte sich zu ihm um.

Der Wind wehte. Sein Morgenmantel öffnete sich.

Sie rümpfte die Nase. »Nackt zeigen vor einem Kind? Man sollte die Polizei rufen.«

Brandon starrte sie an, während Robin sie weiterzog.

»Hast du gesehen, dass Walks Hände gezittert haben?«, fragte Robin.

»Morgens ist es immer am schlimmsten.«

»Warum?«

Sie zuckte mit den Schultern, obwohl sie es wusste. Walk und ihre Mutter, ihre gemeinsamen Sorgen und wie sie damit umgingen. »Hat Mom gestern Nacht was gesagt, als ich in meinem Zimmer war?« Sie hatte Hausaufgaben gemacht, an ihrem Projekt mit dem Familienstammbaum gearbeitet, als Robin an die Tür gehämmert und gesagt hatte, dass Mom wieder krank sei.

»Sie hat ihre Fotos rausgeholt. Die alten von Sissy und Grandpa.« Robin hatte die Vorstellung, dass er einen Grandpa hatte, auf Anhieb gefallen, als er den großen Mann auf den Fotos ihrer Mutter gesehen hatte. Dass er ihm nie begegnet war und Star praktisch nie über ihn sprach, schien keine Rolle zu spielen. Robin brauchte Menschen, ein Polster aus Namen, um sich weniger verletzlich zu fühlen. Er sehnte sich nach Cousins, Cousinen und Onkeln, nach Football und Grillen am Sonntag, nach allem, was die anderen in seiner Klasse hatten.

»Weißt du das mit Vincent King?«

Duchess nahm seine Hand, als sie auf die Fisher abbogen. »Wieso, was weißt du denn darüber?«

»Dass er Tante Sissy umgebracht hat. Vor dreißig Jahren. In den Siebzigern, als die Männer Schnurrbärte hatten und Mom eine komische Frisur.«

»Sissy war nicht unsere Tante, nicht richtig.«

»Doch, war sie«, sagte er trocken. »Sie hat ausgesehen wie du und Mom. Genau so.«

Im Lauf der Jahre hatte Duchess die Geschichte in ihren Grundzügen mitbekommen, von Star und aus den Archiven der Bibliothek in Salinas. Der Bibliothek, wo sie im vergangenen Frühjahr an ihrem Familienstammbaum gearbeitet hatte. Sie hatte die Wurzeln der Radleys weit zurückverfolgt und dann das Buch fallen lassen, als sie eine Verbindung zu dem polizeilich gesuchten Outlaw Billy Blue Radley fand. Das war eine Entdeckung, auf die sie stolz war und die sie ihrer Klasse präsentieren wollte. Auf der Seite ihres Vaters aber war noch immer ein Haufen Nichts, ein großes Fragezeichen, das zum Anlass einer wütenden Auseinandersetzung mit ihrer Mutter wurde. Nicht nur einmal, sondern gleich zweimal hatte Star sich von einem Fremden schwängern lassen und Kinder bekommen, die dazu verdammt waren, ein Leben lang zu rätseln, wessen Blut durch ihre Adern floss. Schlampe, hatte sie leise geflüstert. Und einen Monat Hausarrest kassiert.

»Du weißt, dass er heute aus dem Gefängnis kommt, oder?« Robin sprach mit gedämpfter Stimme, als verriete er ein bedeutsames Geheimnis.

»Wer hat dir das gesagt?«

»Ricky Tallow.«

Ricky Tallows Mutter arbeitete im Vorzimmer bei der Polizei in Cape Haven.

»Was hat Ricky noch gesagt?«

Robin schaute weg.

»Robin?«

Er knickte schnell ein. »Dass sie ihn auf dem Stuhl hätten grillen sollen. Aber dann hat Miss Dolores ihn angeschrien.«

»Auf dem Stuhl grillen? Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein.«

Duchess nahm seine Hand, um die Virginia zu überqueren, wo die Häuser ein bisschen größer waren. Cape Haven fiel zum Wasser hin ab, die Grundstückspreise verhielten sich umgekehrt proportional zum Anstieg der Hänge; Duchess kannte ihren Rang, ihr Zuhause befand sich in der Straße, die am weitesten vom Ozean entfernt war.

Sie gerieten in eine Gruppe von Kindern. Duchess hörte, dass sie über die Angels und die Baseball-Drafts sprachen.

Als sie das Tor erreichten, strich sie ihm erneut durch die Haare und vergewisserte sich, dass sein Hemd zugeknöpft war.

Neben der Hilltop Middle befand sich der Kindergarten. Duchess verbrachte ihre Pause immer am Zaun und schaute dann zu ihrem Bruder hinüber. Er winkte und lächelte, sie aß ihr Sandwich und schaute ihm zu.

»Sei schön brav.«

»Ja.«

»Erzähl nichts von Mom.«

Sie umarmte ihn, drückte ihm ein Küsschen auf die Wange und schickte ihn hinein, sah ihm hinterher, bis Miss Dolores ihn übernahm. Dann ging sie weiter, der Gehweg war voller Kinder.

Duchess hielt den Kopf gesenkt, als sie an der Treppe vorbeikam, wo Nate Dorman und seine Freunde sich versammelt hatten.

Nate, Kragen hochgestellt, Ärmel bis über seine dürren Oberarme hochgeschoben.

»Hab gehört, deine Mom hat schon wieder abgekackt.«

Riesengelächter.

Sie baute sich breit vor ihm auf.

Er starrte zurück. »Was?«

Sie sah ihm in die Augen. »Ich bin der Outlaw Duchess Day Radley, und du bist ein Feigling, Nate Dorman.«

»Du bist ja irre.«

Sie trat einen Schritt vor und sah, wie er schluckte. »Wenn du noch einmal was über meine Familie sagst, schneid ich dir den Kopf ab, du Arschloch.«

Er wollte lachen, bekam es aber nicht hin. Über Duchess gab es alle möglichen Gerüchte; trotz des hübschen Gesichts und der zarten Statur konnte sie ganz plötzlich so heftig durchdrehen, dass sich seine Freunde nicht trauen würden einzugreifen.

Sie drängte an ihnen vorbei und hörte ihn schwer ausatmen, als sie die Schule betrat. Ihre Augen brannten nach einer wieder einmal qualvollen Nacht.

3

Die bröckelnden Klippen schlängelten sich über eine Meile am Meer entlang, bis sich die Straße von der Bucht löste und zwischen den hoch aufragenden Eichen von Crystal Cove verschwand. Walk folgte ihr und fuhr dabei nie schneller als dreißig Meilen pro Stunde.

Er war von Duchess und Robin aus zu Kings Haus gefahren, hatte Laub vom Weg gefegt und in Säcke gepackt, Müll im Garten aufgesammelt. Seit dreißig Jahren kümmerte er sich einmal die Woche darum, das gehörte zu seiner festen Routine.

Auf der Wache meldete er sich bei Leah Tallow zurück, sie waren zu zweit, Walk war jeden Tag seines Lebens in Bereitschaft. Vom Fenster aus betrachtete er den Wechsel der Jahreszeiten, sah Urlauber kommen und gehen. Fresskörbe wurden abgegeben. Wein, Käse und Schokolade, weshalb er seinen Gürtel jedes Jahr ein Loch weiter schnallen musste.

Gelegentlich arbeitete eine Aushilfe bei ihnen, Louanne. Sie kam, wenn sie gebraucht wurde, bei Paraden, Konzerten, Festen, dann regelte sie den Verkehr und träumte davon, sich endlich vollständig zur Ruhe zu setzen.

»Bist du bereit für heute? Für Kings Rückkehr?«

»Ich bin schon seit dreißig Jahren bereit.« Er versuchte, sein Lächeln unter Kontrolle zu bekommen. »Ich geh dann mal los. Auf dem Rückweg bring ich Plunderteilchen mit.«

Er spazierte die Main hinauf, jeden Morgen dasselbe, der eingeübte Schritt, der Polizistengang, den er aus dem Fernsehen kannte. Er hatte es mit einem Schnurrbart versucht, wie Magnum, hatte Forensic Files gesehen und sich dabei Notizen gemacht und sich einmal sogar fast einen beigefarbenen Regenmantel gekauft. Sollte ein echter Fall hereinkommen, er wäre darauf vorbereitet.

Flaggen hingen an Straßenlaternen, polierte SUVs parkten Stoßstange an Stoßstange, und grüne Markisen warfen Schatten auf den makellosen Gehweg. Er sah den Mercedes der Pattersons in zweiter Reihe parken, wollte ihn aber nicht aufschreiben, vielleicht würde er Curtis freundlich verwarnen, wenn er ihn das nächste Mal sah.

Vor dem Schlachter beschleunigte er seinen Schritt, doch Milton kam bereits heraus, blieb auf der Schwelle stehen, sein weißer Kittel voll roter Spritzer, ein Tuch in der Hand, als wollte er sich gerade die Hände dran abwischen.

»Guten Morgen, Walk.« Milton war stark behaart, dichte Büschel sprossen aus jedem Zentimeter Haut, er gehörte zu den Männern, die sich dreimal täglich bis zu den Augen rasieren müssen, weil sie sonst Gefahr laufen, von einem zufällig vorbeikommenden Zoowärter mit Beruhigungspfeilen beschossen zu werden.

Im Fenster hing Wild, so frisch, dass es am Tag zuvor wohl noch durch Mendocino gelaufen war. Milton ging einmal die Woche jagen, setzte seinen Deerstalker auf, packte Gewehre, Abdeckplanen und eine Kühltasche voller Bier in seinen Comanche.

»Hast du schon mit Brandon Rock gesprochen?« Milton spuckte den Namen aus, jedes Wort wirkte gequält, als wäre ihm die Luft ausgegangen.

»Steht auf meiner Liste.«

Brandon Rock besaß einen Mustang, der so laut und häufig fehlzündete, dass beim ersten Mal die halbe Straße die Polizei gerufen hatte. Allmählich wurde es lästig.

»Hab davon gehört. Von Star. Schon wieder.« Milton tupfte sich mit dem blutigen Tuch Schweiß von der Stirn. Gerüchten zufolge aß er ausschließlich Fleisch, und das sah man ihm an.

»Ihr geht’s gut. Krank, dieses Mal war sie einfach nur krank.«

»Hab alles gesehen. Verfluchte Schande … das mit den Kindern.«

Milton wohnte direkt gegenüber von Star. Das Interesse, das er an ihr und den Kindern zeigte, ließ noch eindeutiger auf Einsamkeit schließen als die schrumpfende Nachbarschaftswache, die er leitete.

»Milton, du siehst doch immer alles. Vielleicht hättest du Polizist werden sollen.«

Milton winkte ab. »Ich hab mit der Nachbarschaftswache schon genug um die Ohren. Hatten neulich einen 10–51.«

»Ihr musstet einen Abschleppwagen rufen?«

Milton verwendete häufig Polizeikürzel, meistens falsch.

»Sie hat Glück, dass du dich um sie kümmerst.« Milton zog einen Zahnstocher aus der Tasche und machte sich an einer Fleischfaser zu schaffen, die offenbar zwischen seinen Schneidezähnen steckte. »Ich hab an Vincent King gedacht. Ist das heute? Ich hab gehört, es ist heute.«

»Ist es auch.« Walk bückte sich, hob eine Limo-Dose auf und warf sie in den Müll, die Sonne schien warm auf seinen Nacken.

Milton pfiff. »Dreißig Jahre, Walk.«

Eigentlich wären es nur zehn gewesen, im schlimmsten Fall zehn, wäre die Prügelei drinnen nicht gewesen. Walk hatte den vollständigen Bericht nie erhalten, er wusste nur, dass sein Freund aus Kindertagen zwei Menschen auf dem Gewissen hatte. Aus zehn Jahren wurden dreißig, aus Totschlag Mord und aus einem Jungen ein Mann.

»Ich denke immer noch an den Tag, als wir durch den Wald gegangen sind. Dann kommt er also wieder nach Cape Haven?«

»Soweit ich weiß.«

»Kannst ihn herschicken, wenn er was braucht. Ach, weißt du was, Walk? Wie wär’s, wenn ich ihm ein paar Schweinefüße beiseitelege? Was meinst du?«

Walk suchte nach Worten.

»Also.« Milton räusperte sich und schaute zu Boden. »Heute Abend am Himmel … da gibt’s einen Supermond. Das wird ein toller Anblick sein, und ich hab mir gerade ein neues Celestron besorgt. Ich meine, ich muss es noch aufbauen, aber wenn du Lust hast vorbeizukommen …«

»Hab schon was vor. Ein anderes Mal?«

»Klar. Aber komm nach der Schicht her, dann geb ich dir den Nacken.« Milton nickte Richtung Reh.

»Um Gottes willen, bloß nicht!« Walk wich zurück, dann klopfte er sich auf den Bauch. »Ich muss abspecken …«

»Keine Angst, ist ganz mager. Wenn du’s richtig einkochst, dann ist das ein schönes Stück. Ich würde dir ja das Herz anbieten, aber wenn ich das richtig scharf anbrate, ist das ein himmlischer Genuss, ich behalt’s lieber.«

Walk schloss die Augen, Übelkeit stieg in ihm auf. Seine Hände zitterten. Milton bemerkte es, schien noch etwas sagen zu wollen, aber Walk ging schnell weiter.

Er sah sich um, entdeckte niemanden und warf ein paar Pillen ein. Ihm war schmerzlich bewusst, wie abhängig er davon war.

Er ging vorbei an Cafés und Schaufenstern, sagte ein paar Leuten Hallo, half Mrs Astor, Einkaufstüten in den Wagen zu hieven, und hörte Felix Coke zu, der ihm wegen des Verkehrs auf der Fullerton ein Ohr abkaute.

Bei Brent’s Delicatessen machte er halt, betrachtete die ausgelegten Plunderteilchen und den Käse.

»Hey, Chief Walker.«

Alice Owen, mit zurückgekämmten Haaren und trotz ihrer Sportklamotten vollständig geschminkt. Sie hatte eine Art Minimischling auf dem Arm, der so dürr war, dass Walk seine zitternden Rippen zählen konnte. Er streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln, aber der Hund fletschte die Zähne.

»Würdest du Lady mal kurz halten? Ich muss was abholen, dauert nur eine Sekunde.«

»Klar.« Walk griff nach der Leine.

»Oh, du darfst sie nicht absetzen. Sie hat gerade die Nägel geschnitten bekommen.«

»Die Krallen?«

Alice drückte ihm den Hund in die Arme und verschwand im Laden.

Er schaute durch das Fenster, wo sie eine Bestellung aufgab und sich mit einer anderen Urlauberin unterhielt. Zehn Minuten verstrichen, der Hund keuchte ihm ins Gesicht.

Als Alice endlich wieder zurückkam, war sie mit Tüten beladen, er trug den Hund zu ihrem SUV und wartete, bis sie alles eingeladen hatte. Sie bedankte sich bei ihm, griff in eine Papiertüte und reichte ihm einen Cannolo. Er tat, als wollte er das Gebäck nicht annehmen, verschlang es dann aber mit zwei Bissen, kaum dass er außer Sichtweite der Hauptstraße war.

Walk ging die Cassidy entlang, dann quer rüber zur Ivy Ranch Road. Er blieb eine Weile auf Stars Terrasse stehen und lauschte der Musik von drinnen.

Star öffnete die Tür, noch bevor er klopfen konnte, und begrüßte ihn mit dem Lächeln, das ihn immer wieder davon abhielt, sie endgültig aufzugeben. Ihre hohlen Wangen änderten nichts an ihrer Schönheit, und trotz der vielen Tiefschläge strahlten ihre Augen. Sie trug eine rosa Schürze, als wäre sie gerade dabei, etwas zu backen. Walk wusste, dass die Schränke leer waren.

»Guten Tag, Chief Walker.«

Er musste unwillkürlich grinsen.

Der Ventilator drehte sich langsam, an einigen Stellen der Wände kam der blanke Rigips durch, die Vorhänge waren teilweise aus den Ringen gerissen, als hätte Star den Tag nicht schnell genug aussperren können. Das Radio lief laut, Lynyrd Skynyrd sangen von Alabama, während Star durch die Küche tanzte und leere Bierflaschen sowie Lucky-Strike-Packungen in einen Müllsack stopfte. Sie grinste ihn an, wirkte dabei wie ein Kind. Sie hatte immer noch diese verletzliche Art, die sie bekümmerte und mit der sie anderen Kummer machte.

Sie drehte sich einmal um sich selbst, dann warf sie einen Alu-Ascher in den Sack.

Über dem Kamin stand ein Foto von ihnen beiden mit vierzehn Jahren, ungeduldig und erwartungsvoll schauten sie in die Zukunft.

»Wie geht’s deinem Kopf?«

»Dem ging’s nie besser. Ich kann wieder klar denken, Walk. Danke … wegen gestern. Aber ich glaube, vielleicht hab ich das gebraucht, weißt du? Ein letztes Mal. Jetzt sehe ich alles ganz klar.« Sie tippte sich an den Kopf, dann tanzte sie weiter. »Die Kinder haben doch nichts gesehen, oder?«

»Wollen wir drüber sprechen? Über heute?«

Als der Song verklang, blieb sie stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und band sich die Haare zurück. »Es wird kommen und auch wieder gehen. Weiß Duchess davon?«

Star fragte ihn nach ihrer eigenen Tochter.

»Die ganze Stadt weiß es.«

»Meinst du, er hat sich verändert?«

»Haben wir doch alle.«

»Du nicht, Walk.« Es sollte bewundernd klingen, doch er hörte nur Geringschätzung heraus.

Fünf Jahre lang hatte er Vincent jetzt nicht mehr gesehen, obwohl er es versucht hatte. Am Anfang hatte er ihn häufiger besucht, war mit Gracie King in ihrem antiquierten Auto hingefahren. Dass der Richter einen fünfzehnjährigen Jungen in ein Gefängnis für Erwachsene steckte, war gefühllos und hart gewesen. Stars Vater hatte im Zeugenstand von Sissy erzählt, hatte berichtet, was für ein Mädchen sie gewesen war. Sie hatten Fotos vom Tatort gezeigt, von den kleinen Beinen, dem Blut an der winzigen Hand. Schulleiter Hutch hatte ausgesagt, was für ein Junge Vincent war. Dass er ständig Ärger machte.

Dann war Walk an der Reihe gewesen, und sein Vater hatte zugesehen, braunes Hemd, ehrliches Gesicht. Er war Vorarbeiter bei Tallow Construction gewesen, in deren Fabrik zwei Ortschaften weiter sich Träume in Rauch auflösten. In jenem Sommer war Walk mit ihm hingefahren, zur beruflichen Orientierung. Er hatte im Overall dagestanden und es sich angesehen, das ganze Grau, die Röhren und Gerüste, verschlungen wie Gedärm, eine Kathedrale aus Stahl.

Im Gerichtssaal hatte Walk den stolzen Blick seines Vaters gesehen, die ganze Wahrheit gesagt und das Schicksal seines Freundes besiegelt.

»Ich muss nicht mehr in die Vergangenheit schauen«, sagte Star.

Er kochte Kaffee, und sie gingen damit raus auf die Terrasse. Vögel hockten auf der Schaukel, flatterten davon, als Walk sich in den alten Sessel setzte.

Sie fächerte sich Luft zu. »Holst du ihn ab?«

»Er hat gesagt, ich soll nicht. Ich hab ihm geschrieben.«

»Aber du fährst trotzdem.«

»Klar.«

»Erzähl ihm das nicht … das mit mir.« Ihr Knie wippte, sie tippte nervös mit ihrem Finger an die Lehne des Sessels.

»Er wird fragen.«

»Ich will ihn nicht hier haben. Ich glaube nicht, dass ich das kann, in meinem Haus.«

»Okay.«

Sie zündete sich eine Zigarette an und schloss die Augen.

»Übrigens, da gibt’s so eine neue Einrichtung, drüben in …«

»Spar dir das.« Sie hob eine Hand. »Ich hab’s dir gesagt. Das ist jetzt Vergangenheit.«

Sie hatten es mit Therapie versucht, Walk hatte sie jahrelang regelmäßig nach Blair Peak gefahren, der Psychiater schien zu ihr durchzudringen, sie hatte gute Fortschritte gemacht. Walk hatte sie dort abgesetzt und in einem Diner gewartet. Drei Stunden, manchmal länger, hatte es gedauert, bis sie ihn dort anrief. Manchmal waren die Kinder mitgekommen, hatten schweigend auf der Rückbank gesessen, ihrer Unschuld nachgesehen, die hinter dem Streifenwagen herlief und immer weiter zurückfiel.

»Es kann … so kann das nicht weitergehen.«

»Nimmst du noch Pillen, Walk?«

Er wollte ihr sagen, dass das was ganz anderes war, aber dann wusste er nicht mehr, ob das überhaupt stimmte. Es hatte sie beide erwischt. So einfach war das.

Sie griff rüber und drückte seine Hand, meinte es nicht böse.

»Ich glaube, du hast Buttercreme am Hemd.«

Er schaute runter, und sie lachte.

»Sieh uns an. Weißt du, manchmal fühle ich mich immer noch so.«

»Wie?«

»Wie mit fünfzehn, Baby.«

»Wir werden alt.«

Sie blies einen perfekten Rauchring. »Ich nicht, Walk. Du wirst älter, aber ich, ich fang gerade erst an.«

Er lachte laut, und dann lachte sie auch. Und da waren sie, Walk und Star, dreißig Jahre fielen von ihnen ab, bis nichts mehr übrig war als ein paar Kinder, die Blödsinn redeten und Quatsch machten.

Sie verbrachten eine weitere Stunde zusammen, schweigend, keiner sagte es, aber beide wussten, dass sie nur an eins dachten.

Vincent King kam nach Hause.

4

Auf der Fahrt behielt Walk das Wasser immer im Auge, blickte auf goldene Wogen und brüllende Gischt.

Hundert Meilen nach Osten bis zur Haftanstalt Fairmont County.

Gewitterwolken türmten sich auf wie geballte Irrtümer, die Männer im Hof blieben stehen und schauten zum Himmel.

Er bog in eine breite Parklücke ein und machte den Motor aus. Summer ertönten, Männer schrien, eine einsame Woge eingesperrter Seelen walzte in die gottlose Ebene hinaus.

Das war kein Ort für einen Fünfzehnjährigen, egal, was geschehen war. Der Richter hatte das Strafmaß mit versteinerter Miene verkündet, Welten lagen zwischen dem Gerichtsgebäude in Las Lomas und dem brutalen Ort des Vollzugs. Walk fragte sich manchmal, welcher Schaden an jenem Abend angerichtet worden war, ein Spinnennetz aus Schmerz, das so viele Leben zerstörte, das Neue durch das Alte ersetzte, Frisches durch Verdorbenes. Er sah es bei Star und hatte es zuvor bei ihrem Vater gesehen, aber bei niemandem mehr als bei Duchess, deren Bürde ihr lange vor ihrer Geburt auferlegt worden war.

Klopfen auf dem Kofferraum, er stieg aus und lächelte den Wärter an, Cuddy, groß, schlank, grinsend. Keine Spur von Verbitterung, Cuddy war durch die ihm aufgezwungene Gesellschaft nicht mürbe oder unbarmherzig geworden, er war immer freundlich und nett.

»Vincent King«, sagte Cuddy und lächelte. »In Cape Haven kümmert ihr euch um eure Leute. Wie ist es denn da drüben, immer noch so himmlisch?«

»Das ist es.«

»Ich muss schon sagen, ich wünschte, alle hier wären so wie Vincent. Die Kollegen sagen, meistens vergessen sie, dass er überhaupt da ist.« Cuddy setzte sich in Bewegung, und Walk ging neben ihm her.

Sie passierten ein Tor, dann noch eins, betraten ein flaches, gedrungenes Gebäude, dessen grüner Anstrich jedes Jahr aufgefrischt wurde, wie Cuddy behauptete. »Für das menschliche Auge ist das die beruhigendste Farbe. Signalisiert Vergebung und persönliche Veränderung.«

Walk betrachtete ein paar Männer, die vorsichtig mit Pinseln über die Sockelleisten strichen, die Münder fest geschlossen vor Konzentration.

Cuddy legte Walk eine Hand auf die Schulter. »Hör mal. Vincent King hat seine Zeit abgesessen. Aber ihn so weit zu bringen, dass er das auch begreift, wird nicht einfach werden. Wenn du was brauchst, ruf mich an.«

Walk stand im Wartezimmer und betrachtete die Aussicht, die Männer, die ihre Runden drehten, die Köpfe so hoch erhoben, als hätte Cuddy sie gelehrt, dass Scham eine Sünde sei. Wäre der Drahtzaun nicht gewesen, der die Landschaft mit solcher Brutalität zerschnitt, hätte das ein atemberaubender Anblick sein können, ein amerikanisches Gemälde, Our Good Earth, Männer in Overalls, immer noch die verlorenen Kinder, die sie einst waren.

Vor fünf Jahren hatte Vincent aufgehört, Besucher zu empfangen. Wären seine blauen Augen nicht gewesen, hätte Walk ihn kaum wiedererkannt. Groß, dünn, fast schon hager, eingefallene Wangen, ganz anders als der arrogante Fünfzehnjährige, als der er hergekommen war.

Aber dann sah Vincent ihn und lächelte. Sein Lächeln hatte ihm häufiger Probleme beschert, als Walk sich erinnern konnte. Er steckte noch immer in ihm, ungeachtet der Warnungen, und obwohl es hieß, dass einen das Gefängnis verändert, war sein Freund immer noch da.

Walk trat einen Schritt vor, überlegte, ob er ihn umarmen sollte, streckte ihm dann aber langsam seine Hand entgegen.

Vincent schaute sie an, als hätte er vergessen, dass diese Geste der Begrüßung dient. Kraftlos schüttelte er Walks Hand.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht kommen.« Er sprach ausdruckslos, leise. »Aber danke.« Seine Bewegungen hatten etwas Ehrfürchtiges.

»Schön, dich zu sehen, Vin.«

Vincent füllte Formulare aus, ein Wärter sah ihm schweigend zu. Wenn jemand nach dreißig Jahren entlassen wurde, war das kein Ereignis, das kommentiert werden musste. Ein ganz gewöhnlicher Tag im Staat Kalifornien.

Eine Stunde später befanden sie sich am letzten Tor. Als Cuddy zu ihnen kam, drehten sich beide um.

»Das wird hart da draußen, Vincent.« Er umarmte ihn, schnell und fest, etwas geschah zwischen ihnen, endlich ein Verstoß gegen dreißig Jahre vorschriftsmäßige Routine.

»Mehr als die Hälfte.« Cuddy hielt Vincent noch einen Augenblick länger fest. »So viele kommen zurück. Pass auf, dass du keiner davon wirst.«

Walk fragte sich, wie oft Cuddy diesen gewichtigen Spruch im Lauf der Jahre schon gebracht hatte.

Sie gingen nebeneinander her, am Streifenwagen legte Vincent eine Hand auf die Haube und schaute Walk an.

»Ich hab dich nie in Uniform gesehen. Nur das Foto, aber jetzt stehst du hier vor mir in Fleisch und Blut, und du bist Polizist.«

Walk lächelte. »Bin ich.«

»Ich weiß nicht, ob ich mit einem Polizisten befreundet sein kann, Mann.«

Walk lachte, die Erleichterung haute ihn fast um.

Zuerst fuhr er langsam, Vincent schaute sich die Umgebung genau an, das Fenster war heruntergelassen, und der Wind wehte zu ihnen herein. Walk wollte reden, doch während der ersten Meilen fühlte sich die Fahrt an wie ein zäher Traum.

»Ich hab neulich dran gedacht, wie wir uns auf der Saint Rose versteckt haben«, sagte Walk und versuchte, beiläufig zu klingen, als hätte er auf der Hinfahrt nicht alle möglichen Gesprächseröffnungen geübt.

Vincent blickte auf, lächelte müde bei der Erinnerung.

Sie hatten sich früh am Morgen getroffen, als Zehnjährige, es waren die ersten Sommertage gewesen. Sie waren zum Wasser geradelt, hatten die Fahrräder versteckt und sich auf den Kutter geschlichen, schwer geatmet unter der Plane, während die Sonne aufging und das Licht zu ihnen durchdrang. Walk erinnerte sich noch an das Tuckern des Motors, als Skip Douglas und seine Männer den Kahn auf den unendlichen Ozean lenkten. Er war noch nicht mal wütend gewesen, als sie herauskrochen, hatte stattdessen nur per Funk an Land Bescheid gegeben, dass er sie den Tag über bei sich behalten würde. Walk hatte noch nie so hart gearbeitet, Holz und Kisten geschrubbt, doch der Gestank von Fischblut konnte dem Gefühl nichts anhaben, dem Vorgeschmack auf ein Leben jenseits der Grenzen.

»Weißt du, dass Skip immer noch arbeitet? Für einen Mann namens Andrew Wheeler. Skip muss an die achtzig sein.«

»Meine Mutter hat mich damals ganz schön zur Schnecke gemacht.« Vincent räusperte sich. »Danke. Für die Beerdigung und so.«

Walk klappte die Sonnenblende runter.

»Willst du mir von ihr erzählen?« Vincent rutschte mit angezogenen Beinen auf seinem Sitz herum.

Walk hielt an einem Bahnübergang, ein Güterzug fuhr vorbei, stählerne Kästen, rostrot und quietschend.

Sie rollten über die Schienen und durch einen der Bergbauorte, dann sagte Walk endlich wieder etwas. »Es geht ihr gut.«

»Sie hat Kinder.«

»Duchess und Robin. Weißt du noch, als wir Star das erste Mal gesehen haben?«

»Ja.«

»Wenn du Duchess siehst, fühlst du dich direkt in die Zeit zurückversetzt.«

Vincent wirkte abwesend, und Walk wusste, wo er mit den Gedanken war. Stars Vater war damals mit seinem Riviera nach Cape Haven gekommen. Vincent und Walk waren mit den Rädern näher rangefahren, hatten ein ganzes Leben im Kofferraum entdeckt, Klamotten, Koffer und Kisten, bis an die Heckscheibe gepresst. Seite an Seite, die Hände an den Lenkern ihrer Stelbers, die heiße Sonne im Nacken. Der große Mann war als Erster ausgestiegen, hatte sie gemustert, als würde er ihre Sorte genau kennen. Aber sie waren Kinder gewesen, daran erinnerte sich Walk, hatten keine anderen Sorgen gehabt, als möglichst bald das Football-Bildchen von Willie Mays zu finden, weil Vincents magische Billardkugel ihnen eine Glückssträhne vorausgesagt hatte. Dann hatte er ein kleines Mädchen aus dem Wagen gehoben, das schlafend den Kopf auf seine Schulter legte, und sich die neue Straße genau angeschaut. Sissy Radley. Sie hatten gerade kehrtmachen wollen, zurück zu Walks Garten und weiter an ihrem Baumhaus arbeiten, als die hintere Tür des Wagens aufging und die längsten Beine zum Vorschein kamen, die Walk je gesehen hatte. Vincent hatte geflucht und das Mädchen mit offenem Mund angestiert, das ungefähr so alt war wie sie und mindestens so schön wie Julie Newmar. Sie war ausgestiegen, hatte sie Kaugummi kauend angeschaut. Ach du Scheiße, hatte Vincent noch einmal gesagt. Dann war ihr Vater in das frühere Haus der Kleinmans gegangen. Bevor sie ihm gefolgt war, hatte sie den Kopf ohne zu lächeln zur Seite gelegt und sie mit einem Blick bedacht, der sich in Vincents Seele brannte.

»Ich hab dich vermisst. Ich hätte dich besucht, wenn du mich gelassen hättest. Ich wäre jedes Wochenende gekommen und hätte dich besucht.«

Vincent ließ die Landschaft nicht aus den Augen. Es war der aufmerksame Blick eines Mannes, der all das nur aus dem Fernsehen kannte.

Auf dem Central Valley Highway hielten sie an einem Diner in der Nähe von Handford und aßen Burger. Vincent ließ die Hälfte liegen, starrte aus dem Fenster und beobachtete eine Mutter mit Kind sowie einen alten Mann, der vornübergebeugt ging, als würde er jedes einzelne seiner Jahre auf dem Buckel tragen. Walk fragte sich, was er sah. Autos, deren Namen er nicht kannte, Ladenketten, die er immer nur auf dem Bildschirm gesehen hatte. Ein verpasstes Leben. 1975 war ihnen 2005 wie Science-Fiction vorgekommen, eine Zeit der fliegenden Autos und Roboter. Und jetzt war es so weit.

»Das Haus …«

»Ich hab’s mir angesehen. Da muss einiges gemacht werden, das Dach, die Veranda, die Hälfte der Bretter ist morsch.«

»Okay.«

»Es gibt einen Bauunternehmer, Dickie Darke, der schleicht im Frühsommer alle paar Wochen dort herum. Wenn du es verkaufen willst …«

»Will ich nicht.«

»Na schön.« Walk hatte seinen Text aufgesagt. Wenn Vincent Geld brauchte, konnte er das Haus im Handumdrehen verkaufen, das letzte Haus am Meer, an der Sunset Road, knapp eine Million Dollar wert, ohne dass er auch nur einen Dachziegel erneuern müsste.

»Bist du bereit, nach Hause zu fahren?«

»Mein Zuhause hab ich gerade verlassen, Walk.«

»Nein, Vin, hast du nicht.«

Es gab keine Fanfarenstöße, als sie Cape Haven erreichten, keine freundlichen Gesichter, keine Party. Walk fiel auf, dass sein Freund am höchsten Punkt über dem Pazifik tief Luft holte, das endlose Wasser kam ihnen entgegen, die Wipfel der Kiefern und die herrschaftlichen Häuser am Cape und dahinter.

»Die haben gebaut«, sagte Vincent.

»Allerdings.«

Am Anfang hatte es Widerstand gegeben, aber nicht genug, denn die Hoffnung auf einen Geldregen wog schwerer. Geschäftsinhaber wie Milton hatten das Wort ergriffen und erklärt, sie seien das ewige Kämpfen leid. Ed Tallow hatte behauptet, seine Baufirma stünde kurz vor dem Bankrott.

Die neue Version von Cape Haven wurde in die Klippen geschlagen, ruhig und behütet, eine Ortschaft, die direkt aus Disneyland zu stammen schien. Walk spürte, wie sich jeder neue Mauerstein auf seine Kindheit legte, auf die Erinnerungen, an denen er so verzweifelt festhielt.

»Der Wunschbaum.« Vincent schaute rüber, als sie an der alten, hoch aufragenden Eiche vorbeifuhren. »Das ist so ziemlich das Einzige, was ich noch erkenne. Weißt du noch, dass wir dort immer Zigaretten versteckt haben?«

»Und ein Sixpack Bier.«

Walk schaute seinem Freund auf die Hände, auf die unzähligen tiefen Narben, die seine Fingerknöchel kreuzten. Er war immer schon hart im Nehmen gewesen.

Schließlich rollten sie den Hang hinunter auf die Sunset Road. Kings Haus stand dort wie ein unwillkommener Schatten an einem strahlend hellen Tag.

»Die Nachbarhäuser sind weg.«

»Abgestürzt. Die Klippen brechen weg und mit ihnen die Häuser, so wie auf Point Dume. Das letzte erst gestern. Das Grundstück der Fairlawns. Dein Haus steht weit genug hinten, außerdem wurden vor ein paar Jahren Wellenbrecher gebaut.«

Vincent schaute sich die Stelle an, abgesperrt wie der Tatort des Verbrechens, der sie war.

Weiter hinten befanden sich andere Häuser, nah genug, um die Straße vor Abgeschiedenheit zu bewahren, aber weit genug entfernt, dass Kings Haus die mit Abstand spektakulärste Aussicht bot.

Vincent stieg aus und stellte sich davor, sah sich die baufälligen Giebel und herunterhängenden Fensterläden an.

»Ich hab den Rasen gemäht.«

»Danke.«

Walk folgte Vincent über den gewundenen Weg, dann die Stufen hinauf und in die kühle, dunkle Diele. Die Blümchentapete an den Wänden beschwor die Siebzigerjahre und eine Million samtener Erinnerungen herauf.

»Ich hab dir ein Bett bezogen.«

»Danke.«

»Und den Kühlschrank aufgefüllt. Es ist Huhn da und …«

»Danke.«

»Das musst du nicht andauernd sagen.«

Über dem Kamin hing ein Spiegel, und Vincent ging daran vorbei, ohne hineinzuschauen. Walk fand, er bewegte sich jetzt anders, jeder Schritt ein Musterbeispiel an Einordnung und Einsicht. Er wusste, dass die ersten Jahre hart gewesen waren für einen hübschen Jungen, der sich plötzlich inmitten der gemeinsten Männer wiederfand. Walk und Gracie King hatten Briefe an den Richter und den Obersten Gerichtshof geschrieben, sogar an das Haus in der Pennsylvania Avenue. Wenigstens darum gebeten, ihn von den anderen Häftlingen zu trennen, aber erreicht hatten sie nichts.

»Soll ich noch bleiben?«

»Fahr ruhig, mach deine Arbeit.«

»Ich schau nachher noch mal nach dir.«

Vincent brachte ihn zur Tür und hielt ihm eine Hand hin.

Walk zog ihn an sich, umarmte seinen Freund, der jetzt wieder da war. Er versuchte, Vincents Zurückhaltung und Anspannung zu übersehen.

Beide drehten sich um, als sie den Wagen hörten. Walk sah den Escalade. Dickie Darke.

Darke stieg aus. Er trug seine Körpermasse wie einen schlecht sitzenden Anzug. Seine Schultern hingen, den Blick hielt er gesenkt. Jeden Tag trug er Schwarz, Jackett, Hemd, Hose. Er wirkte fahrig, unecht.

»Vincent King.« Seine Stimme war tief, ernst. »Ich bin Dickie Darke.« Kein Lächeln. Niemals ein Lächeln.

»Ich habe Ihre Briefe bekommen«, sagte Vincent.

Endlich schaute Darke auf, blickte Walk so starr in die Augen, dass diesem das Blut in den Adern gefror. Dann betrachtete Darke das Haus. »Das letzte in der ersten Reihe. Das hinten angrenzende Grundstück gehört Ihnen auch.«

Vincent schaute Walk an.

»Ich leg zehn Prozent drauf.«

»Es steht nicht zum Verkauf.«

»Kommt auf den Preis an, und Sie haben bestimmt einen.«

Walk lächelte. »Komm schon, Darke. Der Mann ist gerade erst nach Hause gekommen.«

Darke starrte ihn noch ein bisschen länger an. Dann drehte er sich um und ließ sie stehen, schlenderte gemütlich davon, sein Schatten fiel weit voraus, so massig war er.

Vincent sah ihm nach und fixierte Darke, als könnte er etwas sehen, das Walk entging.

* * *

Duchess hatte eine Vereinbarung mit der Kindergärtnerin Miss Dolores getroffen; sie ließ Robin jeden Tag drei Stunden länger bleiben, bis Duchess’ Unterricht zu Ende war. Miss Dolores hatte vor allem deswegen eingewilligt, weil Walk sich eingeschaltet und sie darum gebeten hatte, aber auch, weil Robin praktisch gar keine Umstände machte.

Als Robin sie sah, packte er seine Sachen zusammen, nahm seine Tasche und rannte zu ihr. Duchess bückte sich und drückte ihn, dann winkte sie Miss Dolores zu, und sie machten kehrt.

Sie half Robin, die Riemen über die Schultern zu ziehen und sah nach, ob er sein Lesebuch und die Wasserflasche eingepackt hatte.

»Du hast dein Brot nicht gegessen.« Sie guckte böse.

»Tut mir leid.«

Der Schulbus und Eltern in SUVs fuhren vor, Lehrer standen draußen auf dem Rasen und unterhielten sich, während neben ihnen Kinder einen Football warfen.

»Du musst was essen, Robin.«

»Aber …«

»Was?«

»Du hast nichts draufgeschmiert«, sagte er zögerlich.

»Quatsch.«

Er schaute auf seine Schuhe.

Duchess sah in seine Tasche und nahm das Sandwich raus.

»Mist.«

»Schon gut.«

»Nein, ist nicht gut.« Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich mach uns Hotdogs, wenn wir nach Hause kommen.«

Er grinste.

Gemeinsam kickten sie einen Stein vor sich her, bis sie ans Ende der East Harney kamen und Robin ihn in einen Gully beförderte.

»Haben die Kinder was gesagt über Mom?«, fragte er, als sie seine Hand nahm und sie die Straße überquerten.

»Nein.«

»Ricky Tallow aber. Er hat gesagt, seine Mom hat ihm von unserer Mom erzählt.«

»Was hat sie denn gesagt?«

Sie duckten sich unter den Ästen einer Weide hindurch und nahmen den Weg zwischen der Fordam und der Dupont.

»Sie hat ihm verboten, zu uns nach Hause zu kommen, weil Mom nicht richtig auf uns aufpasst.«

»Du kannst ja zu ihm gehen.«

»Seine Mom und sein Dad schreien sich ständig an.«

Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Soll ich mit ihr reden und mal sehen, ob sich was machen lässt?«

»Ja.«

Duchess kannte Leah Tallow. Bei der Polizei in Cape Haven gab es nur sie und Walk, außerdem eine steinalte Aushilfe namens Louanne. Duchess konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals an einem echten Verbrechen arbeiten würden.

»Ricky hat gesagt, er zieht in das Zimmer von seinem Bruder, wenn der aufs College kommt. Er hat gesagt, sein Bruder hat ein Aquarium. Können wir auch eins haben?«

»Du hast doch eine Taucherbrille. Geh und schau dir die Fische im Meer an.«

Als sie auf die Main kamen, sahen sie eine Gruppe Mädchen draußen vor Rosie’s Diner, immer dieselben, sie tranken Shakes und besetzten zwei Tische in der Sonne. Getuschel und Gelächter, als sie vorbeigingen.

Sie betraten den Lebensmittelladen, wo Mrs Adams hinter dem Tresen stand. Duchess nahm eine Dose Frankfurter aus dem Regal, und Robin holte Brötchen. Sie zog ihr Portemonnaie aus der Tasche und zählte drei Dollarscheine ab, mehr hatte sie nicht.

Robin schaute auf. »Können wir auch noch Pommes kaufen?«

»Nein.«

»Aber wenigstens Ketchup. Sonst ist es so trocken.«

Duchess nahm die Dose und die Brötchen.

»Wie geht’s eurer Mutter?« Mrs Adams schaute über ihren Brillenrand.

»Gut.«

»Da hab ich aber was anderes gehört.«

»Warum fragen Sie dann, verdammte Scheiße?«

Robin zog an ihrer Hand. Duchess knallte die drei Dollarscheine auf den Tresen, bevor Mrs Adams auf die Idee kam, sie rauszuschmeißen.

»Du sollst nicht solche Schimpfwörter benutzen«, sagte Robin, als sie weiter die Main entlanggingen.

»Wie geht’s eurer Mutter denn heute?«

Duchess drehte sich um und sah Milton draußen vor seinem Geschäft. Er wischte sich die blutverschmierten Hände an seinem Kittel ab.

Robin ging an die Scheibe und schaute sich die Kaninchen an, die mit durchstochenen Hälsen an Haken hingen.

»Der geht’s gut«, sagte Duchess.

Milton machte einen Schritt auf sie zu, der Gestank war so heftig, dass er ihr in den Rachen kroch. Der Gestank von Blut und Tod.

»Du bist ihr wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten, weißt du das?«

»Das hast du schon mal gesagt.«

Ihr fiel auf, dass kleine Fleischbröckchen in den dichten Haaren auf seinen Armen klebten. Er starrte sie eine Zeit lang an, fasste sich aber wieder beim Blick auf ihre Einkaufstüte.

Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Das sind doch keine Würstchen. Die Dinger da werden im Labor gezüchtet. Warte.«

Er ging hinein, schnaufte bei jedem Schritt.

Ein paar Minuten später kehrte Milton mit einer braunen Papiertüte zurück, versiegelte sie mit einem blutigen Fingerabdruck. »Morcilla. Sag deiner Mutter, woher du sie hast. Wenn sie wissen will, wie man sie richtig zubereitet, schickst du sie zu mir.«

»Brät man sie nicht einfach?«, fragte Robin.

»Im Gefängnis vielleicht. Wenn du den Geschmack so richtig schön rauskitzeln willst, musst du dir einen Schmortopf zulegen. Weißt du, es kommt immer auf den Druck und die …«

Duchess schnappte sich die Tüte, packte Robin an der Hand, eilte mit ihm davon, spürte noch lange Miltons Blick im Rücken.

Als sie bei Rosie’s Diner ankamen, holte Duchess tief Luft und schob Robin hinein, ließ die blöd gaffenden Mädchen draußen sitzen. Drinnen war es voll, Urlauber bevölkerten die Tische, es roch nach starkem Kaffee. Laute Stimmen, Ferienhäuser, Pläne für den Sommer.

Duchess stand am Tresen und sah das Glas mit den Ketchup-Tütchen, die man nehmen durfte, wenn man etwas bestellt hatte. Sie schaute rüber zu Rosie, die an der Kasse zu tun hatte.

Duchess nahm ein Tütchen für Robin heraus und wollte kehrtmachen.

»Bestellt man nicht erst was, bevor man sich Ketchup nimmt?«

Sie schaute auf. Cassidy Evans aus ihrer Klasse. Robin schaute sie nervös an, trat von einem Fuß auf den anderen.

Cassidy grinste verächtlich, Lipgloss-Schnute, Glanz-Gel im Haar, dazu eine Zickenvisage.

»Ist nur ein Tütchen.«

»Miss Rosie, muss man nicht erst was bestellen, bevor man sich Ketchup nimmt?« Cassidy sagte es laut, ihre Stimme triefte vor Unschuld.

Das Stimmengewirr verstummte, Duchess spürte die Blicke der Fremden, so brennend, dass ihr heiß wurde.

Rosie stellte einen Becher ab und kam zum Tresen. Duchess steckte den Ketchup hastig wieder ins Glas und zuckte zusammen, als es dabei verrutschte, zu Boden fiel und zersprang.

Sie schnappte Robins Hand und zog ihn hinaus. Cassidy folgte ihr dicht auf den Fersen, Rosie rief ihr etwas hinterher.

Sie gingen schweigend durch stille Straßen.

»Wir brauchen gar keinen Ketchup«, sagte Robin. »Wäre bloß schön gewesen.«

Auf der Sunset Road sahen sie ein paar Kinder, die einen Ball auf den Sand weiter unten warfen. Robin schaute ihnen gebannt zu. Duchess spielte oft mit ihm, mit Spielsachen, Soldaten, Autos oder einem Stock, der wie ein Zauberstab aussah. Manchmal rief er nach Star, damit sie herauskam, aber meistens lag sie im dunklen Wohnzimmer, wo stumm der Fernseher lief. Duchess hatte Leute über bipolare Störungen, Angstzustände, Abhängigkeit reden hören.

»Was ist da los?«, fragte Robin.

Drei Jungs kamen ihnen entgegengerannt und flitzten schnell vorbei.

»Das ist das Haus von King«, sagte Duchess, und sie blieben auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und schauten. In der Scheibe des Wohnzimmerfensters klaffte ein schartiges Loch von der Größe eines Steins.

»Sollen wir’s sagen?«

Sie betrachtete das Haus, sah einen Schatten, der sich darin bewegte, und schüttelte den Kopf. Dann nahm sie Robins Hand und schob ihn weiter.

5

Walk saß ganz oben auf der Tribüne und sah, wie der Football fünfzig Meter weit in die Endzone flog, wo ihn der Receiver verfehlte. Sie hatten es wieder vergeigt.

Walk war schon sein ganzes Leben Fan von The Cape. Vincent hatte selbst mal gespielt, als Wide Receiver. Ein Naturtalent, sogar vom All-State-Team war die Rede gewesen. Seitdem hatten sie nicht viel gewonnen, nie mehr als ein paar Spiele in Folge. Trotzdem nahm Walk jeden Freitagabend zwischen Scharen von stark geschminkten Teenagermädchen, die sich heiser schrien, auf der Tribüne Platz. Nach einem Sieg war Rosie’s Diner brechend voll, Spieler und Cheerleader feierten, und die Stimmung, die dort herrschte, zauberte Walk jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht.

»Guter Wurf«, sagte Vincent.

»Allerdings.«

Walk hatte ein Sixpack Rolling Rock mitgebracht, aber Vincent hatte keinen Schluck davon getrunken. Als er nach Dienstschluss zu Vincent gegangen war, hatte dieser trotz des schwindenden Lichts immer noch am Haus gearbeitet.

Der Großteil der Terrasse hinter dem Gebäude war bereits abgeschliffen, man sah ihm die Anstrengung im Gesicht an, und er hatte Blasen an den Händen.

»Der wird noch Profi.« Vincent sah zu, wie der junge Mann den nächsten Ball warf. Dieses Mal fing ihn der Receiver und stieß einen Freudenschrei aus.

»Hättest du auch werden können.«

»Willst du mich danach fragen?«

»Wonach?«

»Nach allem.«

Walk nahm einen Schluck Bier. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für dich war.«

»Kannst du schon, du willst nur nicht. Aber das ist okay. Ich hatte es auf alle Fälle verdient.«

»Hattest du nicht. Nicht so, wie’s gelaufen ist.«

»Ich war an ihrem Grab. Ich hab nicht … ich hab keine Blumen hingelegt oder so. Ich wusste nicht, ob ich das machen darf.«

Unter dem Flutlicht wurde ein Pass nach dem anderen platziert. Ganz unten, in der hintersten Ecke, sah Walk die Umrisse von Brandon Rock, der seine Basecap verkehrt herum aufgesetzt hatte. Walk sah ihn bei jedem Spiel.