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Sie sind die Verlorenen. Waisenkinder, auf der Flucht vor dem Krieg. Und Féra ist eine von ihnen, doch sie hütet ein Geheimnis. Sie ist was alle Menschheit hasst. Anders. Was bleibt? Wenn die Zukunft absehbar ist?
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Seitenzahl: 46
DIE VERLORENEN
FORT
GLEICH
ANDERS
DORT, FERN
UNVORSICHT
WAHRES UND FALSCHES
EIN STERBENDES TIER
ATMEN
WAS VERLOREN IST
LIALHALAËN
GESCHICHTEN EINER STADT
GUTES UND SCHLECHTES
NICHT ZU WÄHLEN
OFFENBARUNG
ZERFALL
DIE DRITTE FRAGE
ALL IHR LEBEN, DIESER MOMENT
Die Sehne singt.
Der Pfeil rauscht.
Ein sicheres Ziel, und dann Blut. Über den Ästen und dem Laub, das bis eben ihre Schritte gedämpft hat. Nun braucht sie keine Vorsicht mehr.
Féra. Flammenhaar.
Der Wald ist leer und nur die Hitze verbleibt. Ein Pochen unter ihren Rippen, fiebrig, ein Kribbeln auf ihren Armen. Der Rausch.
Sie schüttelt ihn ab, aber ein Teil von ihr will, dass er bleibt. Früher hat sie das verängstigt, aber nun verschwendet sie keine Gedanken mehr daran.
Sie ist gleichgültig geworden.
Still.
Wie der Tote, der ihr zu Füßen liegt, die Augen verzerrt zu den Sternen gerichtet.
Der Mann in der Schenke interessierte sich nicht dafür, dass sie erst dreizehn Jahre alt war. In seiner Zeit in den Kriegen hatte er mit Sicherheit Schlimmeres gesehen, als ein Kind, das einen Soldaten ermordete. Oftmals war es andersherum. Und selten stoppte es dort.
Nein, es interessierte ihn bloß, dass der Soldat tot war. Warum er das tat, hatte sie nicht zu interessieren. Sie interessierte sich nur dafür, dass es echtes Silber war. Und das war es, als sie mit den Zähnen hineinbiss und sich gleichdarauf aus dem Staub machte, bevor der Wirt sie auf die Straße prügeln würde. Schon das ganze Treffen über hatte er hinübergeäugt, argwöhnisch. Zweifelsohne dachte er, sie wäre ein Bettelskind. Sie, mit ihren Lumpen und ungekämmten Haaren.
Aber Bettelkinder besaßen keine Bögen.
Sie war etwas anderes.
Vogelwild.
Wolfsfrei.
Ihre Schritte wurden schneller.
Sie begann zu singen.
Im Wald in der Kuhle wartete ein Junge auf sie, mit Haaren wie Stroh und einem Lachen wie die Sonne. Sie reichte ihm das Brot, ohne zu erwähnen, dass sie es gestohlen hatte und er lachte wissend.
Er lachte immer.
Leoth. Sommerfreund.
Sie mochte es nicht, wenn Menschen sie berührten, aber sie mochte es wenn Leoth sie berührte. Sie mochte auch, dass er ihr Schweigen verstand. Sie nicht zum Reden zwingen musste. Vielleicht würde sie einmal mehr wollen, aber noch fürchtete sie sich. Noch mochte sie es, seinem Lachen bloß zuzusehen.
Ein Rascheln im Unterholz und das Lachen verschwand. Langsam. Keine Gefahr. Bloß Unbehagen in Anbetracht der beiden Neuankömmlinge.
»Warum bist du alleine gegangen?«, fragte der Erste, mit den roten Haaren und dem einen Auge.
Anik. Ältester.
Da war Ärger in seiner Stimme und darunter, verborgen, Enttäuschung. »Es ist gefährlich alleine. Das ist ein Auftrag für uns alle. Gemeinsam.«
Doch es war nicht gefährlich gewesen. Sie war eins mit dem Bogen, und des Toten Leben verwirkt seit dem Moment da sie seinen Namen erfahren hatte. Niemand würde sich ihren Pfeilen stellen und leben.
»Dennoch«, erwiderte er, eine Hand auf ihre Schulter legend, sich bückend. Sein Gesicht sehr nah an dem ihren. »Die Gemeinschaft ist unsere Stärke. Zerbricht die Gemeinschaft, zerbrechen auch wir. Wir müssen eins sein. Wir sind eins. Die Verlorenen.«
Die Verlorenen.
Alle nickten sie.
Anik ließ ihre Schulter los und richtete sich wieder auf. Sie traute sich zu atmen.
Hinter ihm trat nun die letzte Person hervor, aber sie hielt sich zurück, vorsichtig, abschätzend, ein unruhiges Zucken hinter ihren Augen.
»Was gibt es Neues im Norden?«
Die Stimme war so leer, dass Féra erschrak, wie jedes Mal, dass die Gestalt sprach.
Veikur. Schattenkind.
Eine kühle Windböe fuhr durch die Zweige der Bäume, wirbelte Staub auf. Tote Blätter regneten herab. Es war Herbst. Der Wald starb.
»Die Front nähert sich«, flüsterte Féra.
Ihr war sehr kalt geworden.
Der Himmel in ihrem Rücken war schwarz als sie den Weg in den Süden einschlugen. Dort wurden die Dörfer verbrannt. Die Wälder. Alles, wo ein Feind hätte Schutz finden können. Sie wandten sich nicht um, blickten nicht zurück. Die einzigen Menschen, die ihnen noch begegneten waren die Soldaten, die ihnen als Nachhut entgegenritten und vor diesen verbargen sie sich. Anik war fast sechzehn, sie würden ihn einziehen, wenn sie ihn entdeckten. Vielleicht auch die anderen. Schon lange interessierte sich niemand mehr wirklich für die Zahlen.
So streunten sie durch die Felder, die nicht mehr bestellt worden waren, und entlang der vom Marschvolk zu Schlamm zertretenen Straßen. Irgendwo im Süden lag die Stadt Lialhalaën und dort herrschte noch Frieden, hatten sie gehört. Nur, wohin würden sie gehen, wenn die Front auch dorthin vordrang?
Irgendwann würde es keinen Süden mehr geben.
Am Tag schwiegen sie und des Nachts entfachten sie kein Feuer.
In dem kleinen Dorf am Fluss Brun hatten sie eine Hexe gefangen. Féra sah die hagere Gestalt in dem Käfig, mit weißen Knöcheln das Gitter umklammernd und spürte ihren Blick unter ihrer Haut brennen. Und sie sah die sieben Soldaten, die sie bewachten.
»Sie bringen sie in den Norden, zu ihrem Krieg«, erklärte Anik, als Féra von ihrem Spähzug zurückkehrte und berichtete, dass es dort nichts zu stehlen gab. Die Menschen waren längst fort. Bloß noch Soldaten verblieben.
Féra zweifelte. Wie wollten sie eine Hexe dazu bringen, für sie zu kämpfen?
»Es gibt Wege«, antwortete Anik und erklärte nicht, was er damit meinte.
»Soll sie dort verrecken«, sagte Veikur. Veikur hasste Hexen.
»Lasst uns fort von hier«, sagte Leoth, denn sie hatten sich schon viel zu lange dort aufgehalten.
Féra hatte einen merkwürdigen Traum in dieser Nacht.