Was ist Nietzsches Zarathustra? - Heinrich Meier - E-Book

Was ist Nietzsches Zarathustra? E-Book

Heinrich Meier

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Beschreibung

Also sprach Zarathustra ist das berühmteste und das rätselhafteste Werk Nietzsches. Der Philosoph nahm für sich in Anspruch, der Menschheit mit seiner Dichtung das tiefste Buch gegeben zu haben. Um Klarheit über seine „Gabe“, eine Parodie der Bibel, zu gewinnen, lautet die entscheidende Frage: Was ist Nietzsches Zarathustra? Ein Erkennender oder ein Gesetzgeber? Ein Versucher oder ein Religionsstifter? Ein Philosoph oder ein Prophet? Heinrich Meiers Buch versucht am Leitfaden der Frage, ob Zarathustra ein Philosoph oder ein Prophet ist, zum Kern des Dramas vorzustoßen. Es begreift Nietzsches Buch für Alle und Keinen als ein Unternehmen der Klärung und der Scheidung, der Selbstverständigung und der Selbstvergewisserung. Es versteht Zarathustra weder als bloßes Gefäß einer Lehre noch als schlichtes Sprachrohr seines Schöpfers. Es bezieht den Gang der Handlung und die Ereignisse ausdrücklich in die philosophische Auseinandersetzung ein und schenkt dem inneren Dialog und der Rolle der Adressaten, der Charakterisierung der Figuren und Situationen nicht minder Beachtung als den Doktrinen. Das Ergebnis der eindringlichen Auslegung von Also sprach Zarathustra ist ein neues Verständnis von Nietzsche und der vielerörterten Lehren des Übermenschen, des Willens zur Macht und der Ewigen Wiederkunft.

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HEINRICH MEIER

Was ist Nietzsches Zarathustra?

Eine philosophische Auseinandersetzung

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Friedrich Nietzsche nahm für sich in Anspruch, der Menschheit mit Also sprach Zarathustra das tiefste Buch gegeben zu haben. Um Klarheit über seine Gabe, eine Parodie der Bibel, zu gewinnen, lautet die entscheidende Frage: Was ist Nietzsches Zarathustra? Ein Erkennender oder ein Gesetzgeber? Ein Versucher oder ein Religionsstifter? Ein Philosoph oder ein Prophet?

Heinrich Meiers Buch versucht am Leitfaden der Frage, ob Zarathustra ein Philosoph oder ein Prophet ist, oder, wenn er beides sein soll, ob Zarathustra den Philosophen und den Propheten in Eins zusammenzuschließen vermag, zum Kern des Dramas vorzustoßen. Es begreift Nietzsches Buch für Alle und Keinen als ein Unterfangen der Klärung und der Scheidung, der Selbstverständigung und der Selbstvergewisserung. Es versteht Zarathustra weder als bloßes Gefäß einer Lehre noch als schlichtes Sprachrohr seines Schöpfers. Es bezieht den Gang der Handlung und die Ereignisse ausdrücklich in die philosophische Auseinandersetzung ein und schenkt dem inneren Dialog und der Rolle der Adressaten, der Charakterisierung der Figuren und Situationen nicht minder Beachtung als den Doktrinen. Das Ergebnis der eindringlichen Auslegung von Also sprach Zarathustra ist ein neues Verständnis von Nietzsche und der vielerörterten Lehren des Übermenschen, des Willens zur Macht und der Ewigen Wiederkunft.

Über den Autor

Heinrich Meier, geboren 1953, leitet die Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München und lehrt als Honorarprofessor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie als ständiger Gastprofessor am Committee on Social Thought der University of Chicago. Seine Bücher zur Begründung der Politischen Philosophie und zur Kritik der Politischen Theologie wurden in neun Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck veröffentlichte er 2013 Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion sowie 2011 Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus «Rêveries» in zwei Büchern.

«Niemand vor Meier hat Rousseaus philosophische ‹Revolution› plausibler und subtiler beschrieben; sein Buch setzt einen auf lange Sicht kaum überbietbaren Standard.»

Frankfurter Allgemeine Zeitung

INHALT

VORWORT

WAS IST NIETZSCHES ZARATHUSTRA?

I

II

III

IV

NAMENVERZEICHNIS

Fußnoten

VORWORT

Friedrich Nietzsche nahm für sich in Anspruch, der Menschheit mit Also sprach Zarathustra das tiefste Buch gegeben zu haben. Wenn wir Klarheit darüber gewinnen wollen, was es mit dieser Gabe auf sich hat, lautet die erste Frage: Was ist Nietzsches Zarathustra? Wir können es nicht bei der Frage bewenden lassen, die Martin Heidegger stellte: Wer ist Nietzsches Zarathustra? Noch weniger können wir uns mit Heideggers Antwort zufriedengeben, Zarathustra sei der Lehrer der Ewigen Wiederkunft. Heidegger und alle, die seine Antwort nachgesprochen haben, scheinen sich auf Nietzsches Autorität berufen zu können. Denn Zarathustra wird in Nietzsches Dichtung einmal «der Lehrer der ewigen Wiederkunft» genannt. Aber es sind Zarathustras Tiere, die ihn so nennen. Sie sind sowenig mit dem Dichter gleichzusetzen, wie Zarathustra mit Nietzsche verwechselt werden darf. Tatsächlich sehen wir Zarathustra niemals die Lehre der Ewigen Wiederkunft verkünden. Und selbst wenn Zarathustra die Sendung erfüllte, mit der ihn seine Tiere betrauen, bliebe die wichtigste Frage: Was ist der Lehrer der Ewigen Wiederkunft? Ein Erkennender oder ein Gesetzgeber? Ein Versucher oder ein Religionsstifter? Ein Philosoph oder ein Prophet?

Das vorliegende Buch versucht am Leitfaden der Frage, ob Zarathustra ein Philosoph oder ein Prophet ist, oder, wenn er beides sein soll, ob Zarathustra den Philosophen und den Propheten in Eins zusammenzuschließen vermag, zum Kern des Dramas vorzustoßen, das der Autor in den vier Teilen des Werks entfaltet und mit größtem Interesse verfolgt. Es begreift Nietzsches Buch für Alle und Keinen als ein Unterfangen der Klärung und der Scheidung, der Selbstverständigung und der Selbstvergewisserung. Es versteht Zarathustra, mit anderen Worten, weder als bloßes Gefäß einer Lehre noch als schlichtes Sprachrohr seines Schöpfers. Es bezieht den Gang der Handlung und die Ereignisse ausdrücklich in die philosophische Auseinandersetzung ein und schenkt dem inneren Dialog und der Rolle der Adressaten, der Charakterisierung der Figuren und Situationen nicht minder Beachtung als den Doktrinen.

Mit Was ist Nietzsches Zarathustra? lege ich den ersten Ertrag einer Untersuchung vor, die mich seit fünfzehn Jahren in Atem hält. Das Buch dient der Vorbereitung und ist der Auftakt meiner Auseinandersetzung mit Ecce homo und Der Antichrist, der Dyade, in der Nietzsches Œuvre zum Abschluß kommt. Für die Zwillingsschrift, die ich im Vorwort von Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus «Rêveries»2010 in Aussicht stellte, erwies sich eine neue Auslegung des Zarathustra als erforderlich. Am selben Ort, an dem Nietzsche seinen Zarathustra als das tiefste Buch bezeichnete, kündigte er 1888 an, der Menschheit über kurzem das unabhängigste Buch zu geben. Die gegenwärtige Schrift legt dar, in welchem Sinne Also sprach Zarathustra die Unabhängigkeit von Antichrist und Ecce homo möglich gemacht hat und aus welchem Grund Also sprach Zarathustra an deren Unabhängigkeit nicht heranreicht.

Meine Auslegung von Also sprach Zarathustra arbeitete ich in jeweils zwei Seminaren zu den Teilen I–II und III–IV aus, die ich im Winter 2013–2014 und Sommer 2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie im Frühjahr 2014 und Frühjahr 2015 am Committee on Social Thought der University of Chicago unterrichtete.

München, den 28. Juni 2016

H. M.

WAS IST NIETZSCHES ZARATHUSTRA?

Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegenein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlichfindet: vielleicht gehörte eben dies zur Absichtseines Schreibers, – er wollte nicht von «irgend Jemand» verstanden werden.

Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft

* * *

Der Antichrist nennt Nietzsches Zarathustra einen Skeptiker. Erläuternd setzt er hinzu: «Ein Geist, der Grosses will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Nothwendigkeit Skeptiker.» Daß der Held, dessen Reden und Taten Also sprach Zarathustra der Welt zu Gehör bringt und uns vor Augen führt, Großes will, liegt am Tage. Doch wird das, was er will, durch Eins bestimmt? Will er Eins? Ist er Eins? Der Antichrist sagt von der «grossen Leidenschaft», die den Skeptiker als «der Grund und die Macht seines Seins» regiert, daß sie Überzeugungen verbraucht und sich ihnen nicht unterwirft: «sie weiss sich souverain». Die Charakterisierung der «grossen Leidenschaft», die sich souverän weiß und den Skeptiker vom «Menschen des Glaubens» scheidet, trifft auf genau Eine Leidenschaft zu. Sie gilt für die Leidenschaft, die Nietzsche nach der Krise, in die ihn sein philosophischer Glaube stürzte, als «die Leidenschaft der Erkenntniss» herausstellt. Mit dem Beginn des philosophischen Lebens im prägnanten Verstande spricht er die Leidenschaft der Erkenntnis dem Philosophen als die ihn kennzeichnende Leidenschaft zu. Der Skeptiker Zarathustra, auf den der Antichrist unsere Aufmerksamkeit lenkt, erweist sich bei näherer Betrachtung als Philosoph.[1] Der Philosoph trägt indes den Namen eines Propheten. Nach dem Willen des Autors, der ihn ins Leben gerufen hat, erinnert er, was immer er spricht, wie immer er handelt, an den Stifter eines neuen Glaubens, den Begründer einer neuen Ordnung, den Gesetzgeber einer neuen Herrschaft. Sein Name evoziert einen «Weisen aus dem Morgenlande», der sich aufmacht, wie sein mythischer Vorgänger der Geschichte eine andere Wendung zu geben, und der Gang der Handlung zeigt ihn am Ende im Advent «unseres grossen Hazar», in der Erwartung «unseres grossen fernen Menschen-Reichs», in der Hoffnung des «Zarathustra-Reichs von tausend Jahren», das «einst kommen» muß.[2] Damit stimmt zusammen, daß der Antichrist, unmittelbar bevor er Zarathustra einen Skeptiker heißt, ebendie Rede Zarathustras heranzieht, in der die «Jünger» Zarathustras den Jüngern des «Erlösers» begegnen und Zarathustra bekennt, daß sein Blut dem der Priester «verwandt» ist.[3] Als was also haben wir Zarathustra zu denken? Als Philosophen oder als Propheten? Findet er sein Genüge darin, die Welt zu verstehen? Oder kommt es ihm zuerst und zuletzt darauf an, sie zu verändern? Wird er von der Liebe zu den Menschen geleitet? Übt er Rache an der Wirklichkeit? Oder ist es die Leidenschaft der Erkenntnis, die ihn in der tiefsten Tiefe erfaßt und zur höchsten Höhe treibt? Wenn Zarathustra beides sein soll, ein Prophet und ein Philosoph, muß das Drama die Vereinbarkeit der beiden Personae unter Beweis stellen oder aber ihren Widerstreit offenbar machen.

Mit der Frage, ob Zarathustra Eins oder Zwei sei, aufs engste verbunden ist die andere Frage, ob es sich bei Nietzsches Zarathustra um eine Tragödie oder bis zu welchem Grade es sich um eine Parodie handele. Nietzsche hatte 1882 eine Tragödie angekündigt, als er den letzten Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, aus dem ein Jahr darauf das erste Stück von «Zarathustra’s Vorrede» wurde, «Incipit tragoedia» überschrieb. Nachdem sein Buch für Alle und Keinen vollendet war, ergriff er 1887 die Gelegenheit, die ihm die «Vorrede zur zweiten Ausgabe» der Fröhlichen Wissenschaft bot, die Ankündigung der Tragödie mit dem Kommentar zu versehen: «incipit parodia, es ist kein Zweifel …» In der Tat unterliegt es keinem Zweifel, daß Nietzsche Also sprach Zarathustra als Parodie konzipierte. Schon der Titel mit seiner Bezugnahme auf eine Gestalt, die einem anderen Zeitalter gehört, gibt die Dichtung als «Gegengesang» zu erkennen.[4] Dessen Gegenstand sind allerdings nicht die siebzehn Gathas des Zarathustra. Die Verbeugung vor den Liedern des persischen Religionsstifters ist Teil der eigentlichen Parodie. Sie hat die Bibel zum Gegenstand. Sie gilt der ganzen Heiligen Schrift, in den sechsundsechzig Teilen, die die Übersetzung Luthers umfaßt. Im besonderen aber betrifft die Parodie die vier Evangelien, das Leben und die Lehre Jesu. Denn Also sprach Zarathustra präsentiert Zarathustra als wahren Gegen-Jesus. Vom ersten Satz an werden Leben und Lehre Zarathustras in ständiger Rücksicht auf den biblischen Erlöser dargestellt, wobei der vorherrschende Gestus die Überbietung ist.[5] Die Wahl des Namens selbst, der Rückverweis auf einen Propheten, der Jesus um Jahrhunderte vorausging und die Geschichte des «Hebräers» in eine größere Geschichte einbegreift, gehorcht diesem Gestus. Jesus ist außer Zarathustra die einzige Person im gesamten Werk, die bei ihrem Namen genannt wird. Daß auch dies nur ein einziges Mal, im sechsundzwanzigsten Vers des einundzwanzigsten Kapitels des ersten Teils, geschieht, und an allen Stellen, an denen später von ihm die Rede ist, der Name geflissentlich vermieden wird, unterstreicht die Ausnahmestellung, die Jesus in der Parodie zukommt. Die Parodie schließt die Tragödie jedoch nicht aus. So wie der Zarathustra sich durch die nach Hunderten zählenden sprechenden Verweisungen, stillschweigenden Zitate und kontrastierenden Bezüge, die das Buch mit der Bibel verbinden, in eine Abhängigkeit vom parodierten Gegenstand begibt, so kann der Zarathustra übertragene Part des wahren Gegen-Jesus nicht ohne Rückwirkungen auf den Protagonisten des Dramas bleiben. Seine Tragödie könnte ebendarin ihren Grund haben, daß die Parodie, zum äußersten getrieben, ihm aufbürdet, was Keiner zu leisten vermag. Daß er in sich vereinen soll, was nicht zu vereinen ist. Zwei als Eins.

Die Begriffe Philosoph und Prophet, Tragödie und Parodie kommen in Also sprach Zarathustra nicht vor. Nietzsche stellt sich bewußt in den Umkreis der Sprache der Luther-Bibel, die er im nächsten Buch, in dem er wieder mit eigener Stimme spricht, als «Meisterstück der deutschen Prosa» preisen wird.[6] Der Anklang seiner in Verse gegliederten Dichtung an Luthers Poesie ist ihm so wichtig, daß er Fügungen und Wendungen aufnimmt, die außerhalb des Zarathustra nicht zu seinem Stil und Duktus gehören: wenn er etwa – um ein so spektakuläres wie subtiles Beispiel anzuführen – von Zarathustra sagt, was Luther von Gott sagt, er «sahe».[7] Nietzsche hält sich im Zarathustra an das Vorbild der Bibel, die «bisher das beste deutsche Buch» war, und verzichtet nach Möglichkeit auf Begriffe, die ihre Herkunft aus einer fremden Sprache nicht verleugnen können, wie Theater und Theologie, Politik und Religion, oder Christentum und Komödie. Der Prophet zeigt, daß Nietzsche als Dolmetsch gelegentlich über Luther hinausgeht. Für die Natur macht er eine Ausnahme. Sie wird Ein Mal, im neunzehnten Vers des siebzehnten Kapitels des Zweiten Teils, genannt. Der Philosoph, der Prophet und die Tragödie, die für uns von besonderem Interesse sind, treten in Übersetzungen auf. Sie werden umschrieben oder der Sache nach gekennzeichnet. Zarathustra spricht mit Nachdruck vom «Erkennenden». Er hat «die Erkennenden» zum vorzüglichen Adressaten. Und er wird vom «Leben» selbst «Erkennender» genannt. Er begegnet uns als «Seher», nimmt für sich in Anspruch, ein «Wahrsager» zu sein, stellt sich uns als zwischen alten zerbrochenen Tafeln und neuen halbbeschriebenen Tafeln sitzender und auf ein Zeichen wartender Gesetzgeber vor. Er glaubt, «über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste» hinaus zu sein.[8] Aber die Eröffnung des Buchs, die in der Fröhlichen Wissenschaft mit der Titelzeile «Incipit tragoedia» vorabgedruckt worden war, schließt, in Verse gebracht, unverändert mit der Ankündigung: «Also begann Zarathustra’s Untergang.»

Auch an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand.

Friedrich Nietzsche: Ecce homo

I

Die Tragödie beginnt mit der ersten Rede Zarathustras. Sie ist an die Sonne gerichtet und geht der Rede auf dem Markt voraus, «welche man» nach dem Zeugnis des neuen Evangelisten «auch ‹die Vorrede› heisst».[9] Wir können ihr entnehmen, was es mit der Verwandlung auf sich hat, die Zarathustra bestimmt, das Gebirge zu verlassen, in dem er «zehn Jahre nicht müde» wurde, «seines Geistes und seiner Einsamkeit» zu genießen. Offenbar glaubt er, der Weisheit mehr als genug zu haben, und sehnt sich nach Abnehmern für seinen vermeintlichen Überfluß: «Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken.» Seine Weisheit ist ihm, genauer besehen, nicht genug, weil er sich selbst nicht genug ist. Er trachtet danach zu geben, zu schenken, zu schaffen und hofft auf die Empfänglichkeit, die Liebe, das Mitschaffen derer, zu denen er hinabsteigen will. Die eigene Bedürftigkeit spiegelt er in der vorgestellten Bedürftigkeit der Sonne, zu der Zarathustra, wie der Erzähler berichtet, «also sprach»: «Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!/Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange./Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür.» Zarathustra verbindet sein Glück, so scheint es, mit seinem Sein für andere, mit seiner Wirkung auf ihr Geschick. Um eines zukünftigen Glücks willen ist er bereit, sich in die Abhängigkeit der Menschen zu begeben, ein Unterfangen, für das er sich eines ungeteilten kosmischen Rückhalts versichert. Nicht nur für das erhoffte Glück beruft er sich auf den Stern, der am hellsten leuchtet, auch seine Tat soll im Einklang mit der Sonne stehen und ihrem Vorbild folgen: «Ich muss, gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will.» Schließlich erbittet er für sein Handeln, mit dem er sich anschickt, den «Abglanz» der Wonne des großen Gestirns «überallhin» zu tragen, ausdrücklich den höchsten Segen. Dabei ist er sich gewiß, die Bitte an ein «ruhiges Auge» zu richten, «das ohne Neid auch ein allzugrosses Glück sehen kann». Zarathustra wird nicht im Namen und im Auftrag eines eifrigen Gottes zu den Menschen sprechen. Aber die Abhängigkeit, die er eingeht, um seine Mission zu erfüllen, ist im Unterschied zur imaginären Abhängigkeit des Adressaten der Rede höchst real. Und der Untergang, der ihm bevorsteht, ist anders als der alltägliche Untergang der Sonne kein Naturereignis. Zarathustra wird nicht als einundderselbe seine immergleiche Bahn ziehen, hinab- und wieder hinaufsteigen. Wenn der Erzähler im zwölften Vers von «Zarathustra’s Untergang» spricht, spricht er von einem geschichtlichen Ereignis. Ihm liegt die weitreichende Sinnesänderung zugrunde, auf die der erste Vers verweist und die Zarathustra am Ende in die Worte faßt: «Zarathustra will wieder Mensch werden.» Die Rede, in der Zarathustra sich an die Sonne wendet und sich mit sich selbst verständigt, zeigt uns die Wandlung zum Propheten.[10]

Der inneren Wandlung folgt das äußere Bekenntnis. Es findet sich in drei Sätzen ausgesprochen: Ich liebe die Menschen. Ich bringe ihnen ein Geschenk. Ich lehre sie den Übermenschen. «Ich liebe die Menschen» ist der erste Satz, den Zarathustra an einen Menschen richtet. Zarathustra antwortet auf die Frage eines Greises, der seinen Weg nach unten kreuzt, weshalb Zarathustra seine Einsamkeit aufgeben will. Er erkennt in Zarathustra einen anderen Prometheus, der sein Feuer zu Tale trägt: «Fürchtest du nicht des Brandstifters Strafen?» Die Erwiderung des Heiligen im Wald, daß er jetzt Gott, nicht mehr die Menschen liebe, da der Mensch ihm «eine zu unvollkommene Sache» sei, veranlaßt Zarathustra zu erklären: «Was sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk.» Zarathustra liebt die Menschen nicht als das, was sie sind, sondern als Empfänger seines Geschenks, als das, was sie durch ihn werden können. Der dritte Satz schließlich bestimmt das Geschenk als eine Forderung. «Ich lehre euch den Übermenschen» beginnt Zarathustra, als er die seiner Höhle am nächsten gelegene Stadt erreicht hat, unvermittelt, ohne sich vor seinen Zuhörern auszuweisen oder sie auf seine Lehre vorzubereiten, die berühmte Rede auf dem Markt. Er fährt fort: «Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?» Der Prophet liebt, verheißt und fordert. Seine Liebe geht auf die Veränderung des Menschen. Seine Forderung gilt der Überwindung des Bestehenden. Sein Geschenk ist eine Lehre, die der Menschheit ein Ziel setzen, dem Leben der Menschen einen Sinn geben, dem Menschen einen Ort im Ganzen zuweisen soll. In der Lehre vom Übermenschen, die die Rede zum Volk umreißt, werden wir des «Überflusses» an Weisheit ansichtig, den Zarathustra als Schenkender austeilen oder mit dem er als Schaffender einen Versuch unternehmen will. An die Spitze der in drei Stücken vorgetragenen, dreimal ansetzenden Rede stellt Zarathustra den Aufruf, daß der Mensch sich ins Ganze einfüge, indem er das Übersichhinausschaffen zum Gegenstand seines Willens mache. «Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus». Wenn die Menschheit nicht hinter den anderen Spezies zurückbleiben oder aus der Entwicklungsgeschichte herausfallen will, darf sie sich nicht als ein Ende betrachten. «Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.» Die Lehre vom Übermenschen entspricht, so gibt Zarathustra zu verstehen, den Erfordernissen des Lebens selbst und bringt den Menschen in Übereinstimmung mit dessen Grundprinzip. Doch sie macht nicht bei einer allgemeinen Einordnung Halt. Vielmehr spricht sie dem Menschen einen besonderen, ihn vor allen anderen auszeichnenden Zweck zu. Denn sie betraut ihn mit nichts Geringerem als dem natur- und weltgeschichtlichen Auftrag, den Sinn der Erde hervorzubringen. Zarathustra verkündet im siebten Vers der Rede: «Der Übermensch ist der Sinn der Erde.» Und da kein Sinn ist, der nicht als Sinn bejaht wird, doppelt er die Aussage im selben Vers durch die Aufforderung: «Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!» Diese Wendung macht den Sinn, an dem alles auszurichten und von dem her alles zu begreifen sein soll, was für den Menschen von Gewicht ist, zu einer Sache der Zukunft. Aus dem Zweck der radikal futuristischen Sinngebung bestimmt sich eine neue Ordnung von Wertschätzungen, von Verehrungen und Verachtungen, von Geboten und Verboten. Zarathustra verankert den verheißenen Höhepunkt in entschiedener Diesseitigkeit, bietet irdische Verpflichtungen gegen überirdische Hoffnungen auf, erklärt, da «Gott starb», «jetzt» den Frevel an der Erde zum «Furchtbarsten» und setzt den Affekt des Ekels gegen alles ein, was geeignet ist, den Menschen in einem «erbärmlichen Behagen» festzuhalten. Gegen das Herabsinken des Glücks, der Vernunft und der Tugend in ein solches «erbärmliches Behagen» stellt er ein Glück, das «das Dasein selber» zu «rechtfertigen» hat, eine Vernunft, die «nach Wissen wie der Löwe nach seiner Nahrung» begehrt, und eine Tugend, die «rasen» macht. Die Lehre vom Übermenschen als Lehre des Aufbruchs, der Überschreitung, der höchsten Aspiration hat die Überwindung des «erbärmlichen Behagens» zum ersten Ziel, da sie im «erbärmlichen Behagen» das erste Hindernis auf dem Weg zur Größe wie auf dem Weg zur Vortrefflichkeit sieht. «Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel». Gegen die Selbstzufriedenheit und Anspruchslosigkeit beschwört Zarathustra die dionysische und platonische Mania: «Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet?/Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!» Zarathustra spricht nicht nur als ein Prophet, er spricht auch wie ein Prophet.[11]

Da Zarathustra bei der Menge, die sich auf dem Markt eingefunden hat, um sich am Schauspiel eines Seiltänzers zu ergötzen, mit seiner Rede nur Gelächter erntet, wählt er für den zweiten Teil einen anderen Ansatz: «Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.» Mit dem Bild des Seiles geht Zarathustra einen ersten Schritt auf die Zuhörer zu, die er erreichen will. So improvisiert und irreführend die Metapher ist, sie stellt nicht nur einen Bezug zu dem her, worauf die Augen der Umstehenden gerichtet sind, sondern erlaubt ihm über die Assoziation des Seiltänzers außerdem rasch auf den wahren Gegenstand seiner Liebe zum Menschen zu sprechen zu kommen: «was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist». In achtzehn aufeinanderfolgenden Versen, die gleichlautend mit «Ich liebe» beginnen, trägt Zarathustra die Verachtungen und Verehrungen vor, die die neue Sinnstiftung verlangt. Sie alle treffen sich in der Hochschätzung der Hingabe, des Opfers, der Bereitschaft zum Verhängnis um des Einen Zieles willen, «dass die Erde einst des Übermenschen werde». Der zweite Teil verdeutlicht, daß die Lehre vom Übermenschen in der Rede zum Volk auf den tragsamen Geist, auf den Helden oder das Kamel zugeschnitten ist, das Zarathustra später als die erste von drei Verwandlungen beschreiben wird, die der Geist zu durchlaufen habe. Im Zentrum der «Vorrede» steht der «Wille zum Untergang».[12]

Mit dem zweiten Teil, in dem er sich, anders als im ersten, nicht gänzlich «unbezeugt gelassen» hat und an dessen Ende er zum Bild des Blitzes zurückkehrt, das er am Ende des ersten Teils einführte, stößt Zarathustra wiederum bloß auf Gelächter und Verständnislosigkeit. In einem Monolog, dem zweiten Monolog des Buchs,[13] stellt er zum erstenmal, oder für uns zum erstenmal vernehmbar, Erwägungen darüber an, wie die Zuhörer anzusprechen seien. Nach zwei Fehlschlägen will er sie jetzt bei ihrem Stolz packen, beim Stolz auf ihre Bildung, bei ihrer Eigenliebe, die sie auf Unterschiede achten, noch Unterscheidungen vornehmen läßt. «So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen: das aber ist der letzte Mensch.» Der «letzte Mensch» soll die Abstoßung befördern, zur Entscheidung zwingen. «Es ist an der Zeit» hebt Zarathustra zweimal an. «Es ist an der Zeit», nicht daß der Herr handle, wozu der Psalmist seinen Gott aufruft, da das Gesetz nicht geachtet wird (CXIX, 126), sondern daß «der Mensch sich sein Ziel stecke», daß er «den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze». Mit einem dreifachen «Wehe! Es kommt die Zeit» wechselt Zarathustra dann in das Register des Propheten, der von weither das drohende Unheil sieht und die Zeit der größten Gefahr beschwört – «wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft», «wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird» –, um diese Gefahr zu bannen. «Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.» Zarathustra zeigt den verächtlichsten Menschen, indem er viermal die Einlassungen des letzten Menschen zu Gehör bringt und viermal das Blinzeln vor Augen führt, das sie begleitet. «‹Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?› – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.» Der letzte Mensch stellt keine sokratischen Fragen, und bei seinem Blinzeln handelt es sich auch nicht um Winke oder verstohlene Mitteilungen des Vorstellens. Die vier Fragen sind Ausdruck der gleichgültigen Ablehnung, auf die Zarathustras Rede trifft. Die dritte und vierte lassen die Verkündigung der größten Gefahr ins Leere laufen: «Was redest du von Sehnsucht und von Stern?» Die erste weist das zentrale Anliegen der Rede ab: «Was heißt schon Liebe?» Und die zweite, die als einzige keine Aussage Zarathustras wörtlich aufnimmt, quittiert die ganze Lehre vom Übermenschen mit einem Achselzucken: «Was liegt an Schöpfung? Was an Übersichhinausschaffen?» Das Blinzeln bekräftigt die Unempfänglichkeit für die Verheißung wie die Warnung des Propheten. Dem letzten Menschen fehlt der freie Blick. Er sieht der Gefahr nicht ins Auge. Er hat keinen Sinn für die Wahrheit. Das viermalige Blinzeln des letzten Menschen im dritten entspricht der vierfachen Ausstellung des «erbärmlichen Behagens» im ersten Teil der Rede. Und so lautet die entscheidende Äußerung, die zweite und die vierte der vier Äußerungen, die Zarathustra den letzten Menschen in den Mund legt, in eins: «‹Wir haben das Glück erfunden› – sagen die letzten Menschen und blinzeln.» Das Wort vom erfundenen Glück, das als erfundenes auf Illusion gegründet ist, richtet die letzten Menschen. Nietzsche wird ihm im Antichrist die Antwort der Philosophen als spätes Echo folgen lassen: «Wir haben das Glück entdeckt».[14]

Die «Vorrede» geht im «Geschrei» und der «Lust der Menge» unter: «‹Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, – so riefen sie – mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!›» Das Scheitern des Propheten ist vollständig. Seine Lehre erreicht das Volk nicht. Auch der Versuch, den Stolz der Zuhörer anzusprechen, war irregeleitet. Die Rede vom letzten Menschen führt sie nicht etwa zur Selbstunterscheidung. Sie weckt nicht ihren Abscheu, sondern ihr Verlangen. Sie bewegt sie zur Identifikation. Zarathustra, der vom Gebirge herabstieg, um seinen Überfluß an Weisheit auszuteilen, wird auf dem Marktplatz seines Mangels an Weisheit gewahr. Er weiß nicht, zu wem er spricht. Er weiß deshalb auch nicht, wie er sprechen soll. Er weiß nicht einmal, zu wem er sprechen und zu wem er nicht sprechen kann. Seine Mißerfolge müssen ihn darüber belehren, daß er seine Rede auf den Adressaten abzustellen hat. Er muß sich von anderen sagen lassen und erst selbst erfahren, daß sie ihn in Gefahr zu bringen vermag. Die Warnung des alten Heiligen im Wald schlägt Zarathustra in den Wind, seines Geschenkes für die Menschen gewiß. Am Ende der «Vorrede» erkennt er, daß er mit seiner Lehre nicht bloßes Gelächter, sondern Haß erntet: «indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen.» So wird er empfänglich für die Warnung des Possenreißers, der den Seiltänzer in den Tod stürzen ließ. «Geh weg von dieser Stadt, oh Zarathustra», flüstert er ihm ins Ohr, «es hassen dich hier zu Viele. Es hassen dich die Guten und Gerechten und sie nennen dich ihren Feind und Verächter; es hassen dich die Gläubigen des rechten Glaubens, und sie nennen dich die Gefahr der Menge.» Zarathustra zeigt sich von der Rede des Possenreißers beeindruckt genug, um fortan von den «Guten und Gerechten» zu sprechen, wenn er die Verteidiger der bestehenden Ordnung als die Feinde seiner Lehre ins Auge faßt, und er knüpft ebenso an die Rede des Possenreißers an, wenn er in den «Gläubigen des rechten Glaubens» seine Widersacher ausmacht. Am Ende von «Zarathustra’s Vorrede» sehen wir den Propheten, nach einem langen Schlaf und im Besitz einer neuen Einsicht, entschlossen, aus dem Scheitern auf dem Markt Konsequenzen zu ziehen und einen anderen Weg einzuschlagen: «nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!/Viele wegzulocken von der Heerde – dazu kam ich.» Zarathustra wird nicht mehr zu allen sprechen. Er wird die Adressaten seiner Lehre unterscheiden. Er erstrebt keine unmittelbare, sondern eine mittelbare Herrschaft. Er setzt auf Subversion und eine neu zu schaffende Elite. Damit ändert sich auch sein äußeres Bekenntnis.[15]

Zarathustras Rede zum Volk, «welche man auch ‹die Vorrede› heisst», bestimmt den geschichtlichen Ort von Also sprach Zarathustra. Sie ist nicht an das Volk der Perser oder der Griechen, an das Volk der Juden oder der Deutschen gerichtet, sondern an das Volk auf dem Markt der «nächsten Stadt», das so gut wie das irgendeiner Stadt für die Menschheit einstehen kann. Der nachchristliche Prophet wendet sich an die Menschheit. Was er zu verkünden hat, betrifft alle und, so scheint es, keinen im besonderen. Er spricht weder von der treuen Stadt noch von der besten Polis. Er handelt nicht von diesem oder jenem Gemeinwesen, sondern von der Zukunft des Menschengeschlechts. Tatsächlich ist die Lehre vom Übermenschen und vom letzten Menschen, der wirkmächtige Kern von «Zarathustra’s Vorrede»,[16] eine in jedem Verstande nachchristliche Lehre. Sie versucht, eine Antwort zu geben auf das «grösste neuere Ereigniss», das zugleich ihre wichtigste Voraussetzung bezeichnet, das Ereignis, daß «Gott todt ist».[17] Sie will «die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch». Mit ihrer Zukunftsgespanntheit, der Betonung von Sehnsucht und Hoffnung, der Forderung nach Hingabe und Opfer, dem Aufruf zur Entscheidung angesichts der größten Gefahr und der höchsten Erwartung soll sie die christliche Eschatologie ablösen, die ihre Glaubwürdigkeit verloren hat. Daß die Lehre vom Übermenschen und vom letzten Menschen der junghegelianischen Erhebung des Menschen zum höchsten Wesen für den Menschen entgegentritt, gehört ebenso zu Zarathustras nachchristlicher Situation wie die Übernahme der darwinistischen Perspektive zu Beginn der Rede, in der der Übermensch als neue Spezies erscheint und noch nicht als «Blitz» figuriert, der seiner Auslegung harrt. Der geschichtliche Ort, den die sechsundsechzig Verse von Zarathustras Rede zum Volk markieren, wird durch die Handlung zusätzlich erhellt, in die die Rede eingebettet ist. Denn die «Vorrede» umfaßt nur drei der zehn Abschnitte des Kapitels, das unter dem Titel «Zarathustra’s Vorrede» den achtzig Reden bzw. Kapiteln des Buchs vorausgeht. Zarathustra begegnet am Tag seines Abstiegs vom Gebirge vier Personen, die ihn ansprechen. Die paarweise aufeinander bezogenen Figuren repräsentieren jede auf ihre Weise Positionen, in denen die nachchristliche Konstellation ihren Niederschlag findet. Die beiden Außenfiguren der symmetrischen Anordnung, der Greis, auf den Zarathustra im Wald stößt, bevor er die Stadt erreicht, und der Alte, an dessen Tor er im Wald klopft, nachdem er die Stadt wieder verlassen hat, zeigen, parodistisch überzeichnet, zwei Gestalten des zerfallenen Christentums. Der «Heilige», der Zarathustra vom Umgang mit den Menschen abrät, lebt als «Zweisiedler» mit seinem Gott, den er beständig lobt und der sein Halt ist. Er reduziert den christlichen Gott auf einen Gott der Innerlichkeit und läßt die öffentliche Bedeutung des Glaubens, die Wirkung auf die Welt, die christliche Moral und die christliche Politik fahren. Der Einsiedler, der Zarathustra und dem Leichnam des Seiltänzers «Brod und Wein» anbietet, übt christliche Nächstenliebe gegen jeden, ohne Unterschiede zu machen, ohne Rücksicht auf Umstände und ohne Ansehung der Würdigkeit. Er genügt der Pflicht, einerlei, ob er es mit Lebenden oder mit Toten zu tun bekommt. Er findet seinen Halt nicht in Gott, sondern in einer Moral, die dem Gebot der Verallgemeinerung gehorcht. Der erste Mensch und der letzte Mensch, auf die Zarathustra zwischen Morgenröte und Mitternacht trifft, repräsentieren den Glauben an den christlichen Gott ohne die christliche Moral und den Glauben an die christliche Moral ohne den christlichen Gott. Eins geteilt in Zwei. Die beiden Innenfiguren, der Seiltänzer und der Possenreißer, der ihm auf dem Seil folgt, ihn zur Eile treibt, über ihn hinwegspringt und zu Tode erschreckt, sind anders als die Außenfiguren keine innerlichen oder privaten Zerfallsgestalten des Christentums. Sie wohnen nicht im Wald, sondern gehören zum Marktplatz, wo sie als «Nebenbuhler» um den Beifall des Volkes wetteifern. Die Figuren im Zentrum treten öffentlich auf und sind politisch ausgerichtet. Der Seiltänzer steht für den konservativen Humanisten. Er sucht, über dem Abgrund die Balance zu halten, und stürzt in der Mitte des Seils ab, auf halbem Wege zwischen Tier und Übermensch. Er will den Menschen als Menschen bewahren, ohne Überschreitung, ohne Überwindung oder Untergang, ohne ein Darüberhinaus. Dagegen setzt der Possenreißer auf den Neuen Menschen. Er steht für den revolutionären Utopisten oder Millenaristen, der die Geschichte beschleunigen will und den Menschen, wie er ist, überspringt. Der Humanist fürchtet sich vor dem Teufel, den er im Utopisten am Werk wähnt. Er glaubt an das Wesen des Bösen. Vom Christentum bleibt ihm die Hölle, nicht der Himmel. Zarathustra fällt es nicht schwer, ihm in der Stunde des Todes Trost zu spenden. Der Seiltänzer hat einen schwachen Glauben. Der Utopist behält vom Christentum den Himmel, den er zu einem Himmel auf Erden machen will. Er vollbringt seine Kunststücke im Hier und Jetzt und weckt die Hoffnung auf die Tat der großen Verheißung für das Einst und Irgendwo. Der Possenreißer warnt Zarathustra nicht nur vor den Verteidigern der bestehenden Ordnung und den Gläubigen der herrschenden Orthodoxie. Er warnt ihn auch vor sich selbst. Der Possenreißer ist ein Rivale Zarathustras im Wettstreit um die Zukunft des Menschengeschlechts. Mit nicht weniger Grund können wir in ihm die ironische Vorwegnahme eines zarathustragläubigen Verfechters des Übermenschen erkennen, der meint, zum großen Sprung ansetzen und den Menschen, koste es, was es wolle, hinter sich lassen zu sollen.[18]

Der Philosoph tritt hervor, wenn Zarathustra am Tag danach, nach der Rede zum Volk und nach den Begegnungen, in der Einsamkeit von einer «neuen Wahrheit» spricht. Es ist das erste Mal, daß er von der Wahrheit spricht, und die Wahrheit, von der er spricht, als die Sonne «im Mittag» steht, geht ihn unmittelbar an: Zarathustra braucht Gefährten. Sie setzt sich fort in dem Entschluß: Nicht zum Volk rede Zarathustra, sondern zu Gefährten. Und gipfelt in der Zuversicht: Wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will Zarathustra sein Herz schwer machen mit seinem Glück. Die neue Wahrheit ist Ausdruck einer gebotenen Selbstkritik und Selbstkorrektur, insofern sie Zarathustra, wie er später sagen wird, in seiner Rede auf dem Markt eine «Einsiedler-Thorheit» erkennen läßt. Hier lautet die Einsicht: «Als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem». Sie erschöpft sich indes nicht in der Berichtigung eines Fehlers, sondern befördert Zarathustras Rückwendung auf sich auch und vor allem, da sie ihn über die Frage, was für Gefährten er braucht, notwendig zu der Frage führt, als was er sich selbst begreift. Zarathustra sagt «zu seinem Herzen», er brauche Gefährten, «die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will.» Daraus ergeben sich zwei Arten möglicher Gefährten. Zum einen Gefährten, die Zarathustra besser versteht, als sie sich selbst verstehen, so daß er sie in Übereinstimmung mit ihrem Willen zu führen vermag, wohin er will, ohne daß sie seinen Willen verstehen müssen. Zum anderen Gefährten, die ihm folgen, wohin er will, weil ihr Wille mit seinem Willen übereinstimmt, d.h., weil sie sich so verstehen, wie er sich versteht, oder weil sie mit ihm gemeinsam haben, was für sie und was für ihn das Wichtigste ist. Die zwei Möglichkeiten, die Zarathustras Formulierung zuläßt und auf die sie so von Anfang an hinweist, werden im weiteren Geschehen eine wichtige Rolle spielen. Am Ende der Vorrede tritt die Unterscheidung noch nicht zutage, da Zarathustras Wille die beiden Arten von Gefährten als «Mitschaffende» an Einem Werk verbindet, ohne daß Zarathustra das Schaffen über das «Schreiben neuer Werthe auf neue Tafeln» hinaus näher bestimmte. Aus demselben Grund bleibt offen, als was sich Zarathustra wirklich begreift. Klar ist dagegen, daß sein Glück, daß sein Beispiel für das Verhältnis zu den Gefährten, die er allererst «schaffen», für sich gewinnen und erziehen muß, von großer Bedeutung sein wird. Die «neue Wahrheit», die Zarathustras Aufmerksamkeit auf Gefährten lenkt, rückt zugleich Zarathustra ins Zentrum. Die Frage «Wer ist uns Zarathustra?» wird für den Kreis, zu dem er von nun an spricht, nicht zurückstehen hinter der Lehre vom Übermenschen. Leben und Lehre Zarathustras sind für seine zukünftigen Schüler aufs engste verbunden. Eins, nicht Zwei.[19]

Der Auftakt der «Reden Zarathustra’s» trägt der veränderten Lage Rechnung. Denn die Parabel von den «Drei Verwandlungen» handelt nicht vom Menschen im allgemeinen, sondern von Zarathustras Gefährten, oder genauer gesagt: von den Gefährten, die von Zarathustras Art sind, und mithin von Zarathustra selbst. Bevor der Menschenfischer seine Lehrtätigkeit im engeren Sinn beginnt, stellt er dem Adressaten, an den er sich vorzüglich wendet, die drei Verwandlungen zum Kamel, zum Löwen und zum Kind in Aussicht, die ihm bevorstehen und die Zarathustra schon durchlaufen hat oder von denen er zu wissen glaubt, daß er sie durchlaufen muß. Die drei Verwandlungen des Geistes, die Zarathustra umreißt, zeigen den Entwicklungsgang des Erkennenden, den Weg des Philosophen. Die Verwandlung zum Kamel, zum «tragsamen Geist», dem Ehrfurcht innewohnt, ist die Verwandlung zum Helden, der sich am Schwierigsten versuchen will. Sie läßt sich in dem Satz zum Ausdruck bringen: Es ist mein Wille, das Schwerste auf mich zu nehmen und der höchsten Aufgabe zu genügen. Die zweite Verwandlung geschieht «in der einsamsten Wüste», in die sich das Kamel mit dem Schwersten beladen begibt, mit der Forderung nach Redlichkeit oder Grausamkeit gegen sich selbst. Hier enthüllt sich ihm «der letzte Gott», der Herr, von dem er glaubte, daß er seiner Verehrung und Hingabe wert und würdig sei, als der Drache einer tausendjährigen Tradition, der den Willen des Erkennenden verneint. Der Löwe erkennt, daß das «Du-sollst», das er als «sein Heiligstes» liebte, auf «Wahn und Willkür» gegründet ist. Im Zentrum steht die Erhebung des Erkennenden gegen den Herrn und Gott des «Du-sollst». Die zweite Verwandlung besagt: Es ist mein Wille, keinem «Du-sollst» zu gehorchen und mich von jeder Autorität zu befreien. Dem «heiligen Nein» des sich befreienden Geistes folgt das «heilige Ja-sagen» des frei schaffenden Geistes der dritten Verwandlung. Das Kind steht für die «Unschuld», ein Jenseits der Moral der Pflicht, für das «Vergessen», ein Jenseits der Abhängigkeit vom Widersacher, und für das «Spiel», ein Jenseits der Last des Aufgetragenen und Überkommenen. Der Satz der dritten Verwandlung lautet: Es ist mein Wille, zu meinem Willen ja zu sagen, meine Selbstliebe zu bejahen, schaffend mitzuspielen im Spiel der Welt.[20]

Es gehört zur politischen Unterbestimmtheit von Also sprach Zarathustra, daß wir nichts darüber erfahren, wie Zarathustra seine Adressaten erreicht. Fährt er fort, auf öffentlichen Plätzen vor einer großen Zuhörerschaft zu sprechen? Oder umgibt ihn schon früh eine Schar von Anhängern, die ihm die «Vorrede» eintrug? Was bedeutete, daß die Rede zum Volk am Ende nicht der Fehlschlag gewesen wäre, als der sie Zarathustra erschien.[21] Dagegen teilt uns der Erzähler mit, daß sich Zarathustra, als er den Prolog «Von den drei Verwandlungen» sprach, in der Stadt aufhielt, «welche genannt wird: die bunte Kuh». «Die bunte Kuh», die viermal erwähnt und als einzige Stadt namentlich genannt wird, bezieht Buddha, der eine Stadt gleichen Namens aufsuchte, in die Parodie mit ein, und erhöht abermals die Reichweite, die Nietzsches Gestus der Überbietung dem Gegen-Jesus zumißt.[22] Zwanzig der zweiundzwanzig «Reden Zarathustra’s» von Teil I sind in der Stadt «die bunte Kuh» angesiedelt. Sie ist der Ort von Zarathustras erster Lehrtätigkeit. Bei der Lehre, die er für die Schüler entfaltet, handelt es sich im Kern um die futuristische Lehre vom Übermenschen als dem Sinn der Erde aus der «Vorrede». Aber Zarathustra geht jetzt anders vor. Nach der Parabel zum Weg des Philosophen (I, 1) beginnt er nicht noch einmal mit einem «Ich lehre euch den Übermenschen». Vielmehr macht er sich zunächst kundig, was der stärkste Konkurrent um die Aufmerksamkeit seines Adressaten zu bieten hat (I, 2). Zarathustra setzt sich «mit allen Jünglingen» vor den Lehrstuhl eines Weisen, den «man» ihm rühmte, weil er «gut vom Schlafe und von der Tugend zu reden wisse». Der Weise zieht, wie sich herausstellt, die Jungen an, da er nicht als Moralist auftritt, sondern die Tugenden im Hinblick auf das eigene Gute auslegt, dem sie zu dienen vermögen. Den verborgenen Sinn der christlichen Morallehre bestimmt der Weise als den «guten Schlaf», zu dem ihre Gebote und Verbote tatsächlich ebenso viele Mittel seien.[23] Zarathustra ist zuversichtlich, daß er seine Schüler einen besseren «Sinn des Lebens» zu lehren weiß – eine Fügung, der Zarathustra binnen weniger Jahrzehnte im deutschen Sprachraum zu allgemeiner Geläufigkeit verhelfen wird.[24] Wenn er in der ersten Rede, die die Doktrin der «Vorrede» wieder aufnimmt (I, 3), den «Sinn der Erde» einführt, läßt er seiner Lehre diesmal nicht nur eine ausdrückliche Kritik der Doktrinen der «Hinterweltler» vorausgehen, gegen die er den Leib und die Erde zu neuen Ehren bringen will, sondern er beginnt mit dem Bekenntnis: «Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern.» Er erklärt nicht mehr lakonisch, daß «Gott starb», sondern bezieht sich auf den Gott, an den er selbst früher glaubte und der jetzt bezeugen soll, daß Zarathustra weiß, wovon er spricht: «Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen Göttern!» Die Ablösung der alten Doktrinen durch die Doktrin vom «Sinn der Erde» verbindet er mit der Lehre eines «neuen Stolzes» und eines «neuen Willens», die ihren Grund in der «jüngsten der Tugenden» haben: in der Redlichkeit.[25] Erst am Ende der darauffolgenden Rede (I, 4) und nach weiteren terminologischen Klärungen zur Unterfütterung der Doktrin fällt schließlich der Begriff, mit dem Zarathustra auf dem Markt abrupt begonnen hatte, der Übermensch.[26] Als Bindeglied zwischen dem «Sinn der Erde», dem letzten Wort von I, 3, und dem «Übermenschen», dem letzten Wort von I, 4, führt die vierte Rede das «schaffende Selbst» ein, das ausgehend vom Leib und dessen «grosser Vernunft» das Ich, die «kleine Vernunft» und den Willen in ein handlungsfähiges Ganzes, einen Zwecke setzenden und verfolgenden Akteur einbegreift. Das «Selbst» bietet Zarathustra gegen das «Gespenst» der Hinterweltler, gegen einen Geist oder eine Seele ohne Leib auf. Es ist Ausdruck von Zarathustras Rekurs auf die Physiologia. Wir können es als Übersetzung für die individuelle Natur in ihrer konkreten, sich während des Lebensgangs verändernden Ausprägung lesen. Das «Selbst» ist vermittels des Leibes auf die Erde und vermöge des Schaffens – denn über sich hinausschaffen, das «will es am liebsten, das ist seine ganze Inbrunst» – auf den Übermenschen verwiesen. Zarathustra hat in der Präsentation seiner Doktrin damit den Stand der «Vorrede» eingeholt: Das Selbst oder vielmehr diejenigen Selbste, die «gesund» sind und im Einklang mit ihrem wahren Willen über sich hinausschaffen wollen, können «Brücken» sein zum Übermenschen, der als neue Spezies (wie in Vorrede, 3 zu Beginn) oder aber als «Blitz» (wie in Vorrede, 3 am Ende, 4 und 7), als ausgezeichneter Typus der Vortrefflichkeit ihrem Schaffen, ihrem Übersichhinausschaffen ein Ziel und ihrem Leben einen Sinn gibt.[27] Die Anwendung der Konzeption des «Selbst» auf die Tugenden und Leidenschaften (I, 5) verdeutlicht zum einen die Stoßrichtung gegen die gemein machenden Allgemeinbegriffe, zuallererst gegen das für alle gleichermaßen gültige Gesetz Gottes oder der Menschen und gegen die «Vernunft Aller». Hierher gehört die Ausrichtung der Tugenden, wenn nicht am eigenen, zumindest am selbstgewählten Guten und die Benennung eines höchsten Ziels, das die Leidenschaften in Dienst nimmt und ihnen eine Ordnung gibt. Zum anderen erlauben die Tugenden als Wege der Selbststeigerung und der Selbstüberwindung, die Hingabe heischen und Opfer gebieten, Zarathustra, vom «schaffenden Selbst» zu der Forderung zu gelangen und sie zu bekräftigen, von der die Rede zum Volk ihren Ausgang nahm: «Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst du deine Tugenden lieben, – denn du wirst an ihnen zu Grunde gehen.»[28] –– Dem Aufruf zum Heroismus um des Übermenschen willen läßt Zarathustra keine Ankündigung des letzten Menschen folgen. Tatsächlich wird die «Lehre vom letzten Menschen» außerhalb der Vorrede nie wieder vorgetragen.[29] Statt dessen lenkt Zarathustra die Aufmerksamkeit der Schüler in einer provozierenden Attacke auf die Sachwalter der bestehenden Ordnung (I, 6), deren alleiniges Interesse, lange «und in einem erbärmlichen Behagen» zu leben, ihm «Ekel» bereite. Eher noch ist er gewillt, dem Verbrecher, angesichts des von der Gesellschaft nicht zu domestizierenden «Wahnsinns», die Kraft der Selbstunterscheidung zuzusprechen, die er in seiner Prophezeiung auf dem Markt für den «verächtlichsten Menschen» verneinte. Zarathustra tritt als Revolutionär auf. Seine futuristische Lehre ist dem Status quo feind. «Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann! Eure Krücke aber bin ich nicht.»[30] Der letzte Vers der sechsten Rede leitet über zur siebten, in der Zarathustra emphatisch von sich selbst spricht. Und hier geschieht etwas Unerwartetes, für die Schüler buchstäblich Unerhörtes. Zarathustra setzt sich schroff von den Menschen ab, die ihn umgeben (I, 7). Während er in der Parabel des Prologs, die von ihm und den wahren Gefährten handelte, seine «Brüder» in die Aussicht auf den Weg des Erkennenden einbezog, erklärt er jetzt, über alle hinaus zu sein und auf alle, die nicht gleich ihm die höchste Höhe zu erklimmen wissen, herabzusehen. Er bedient sich keiner Parabel, sondern scharfer Sentenzen, die geeignet sind, die große Mehrzahl der Zuhörer zu schockieren und die meisten Schüler zu verletzen. Zarathustra ist nicht länger «ein schwerer Tropfen aus der Wolke», die den Übermenschen ankündigt. Er hat die «Gewitterwolke» der Menschen, aus der der Blitz des Übermenschen kommt, unter sich. Er «lacht» über ihre «Schwärze und Schwere». Zarathustra spricht nicht mehr als Prophet vom drohenden Verhängnis oder als ein anderer Johannes von dem, dessen Kommen verheißen wurde. Er spricht als Philosoph, der in seiner Heiterkeit «über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste» erhoben ist.[31] Die neue Höhe, aus der Zarathustra die Menschen, ihren Ernst, ihr Größtes und ihr Schwerstes betrachtet, findet ihren Niederschlag in seinen Aussagen zu Gott und Teufel. In einem Vers hält er fest, von welcher Art ein Gott sein müßte, wenn er ihn als Gott anerkennen sollte: Er müßte zu tanzen verstehen. Im nächsten führt er den «Geist der Schwere» ein, den er zu seinem Teufel macht. Zwar wird der «Geist der Schwere», durch den «alle Dinge fallen», als Gegenspieler in einem andauernden Agon bis zum Ende Teil von Zarathustras Wirklichkeit sein. Doch schon bei der ersten Erwähnung bekundet er, den «Geist der Schwere» durch Lachen töten zu wollen, und keiner kann seinen Widersacher durch Lachen töten wollen, wenn er nicht glaubt, im letzten Ernst sich von ihm befreit und mithin Grund zu haben, über ihn zu lachen. Die siebte Rede bezeugt die alte Wahrheit, daß die Komödie der Sicht des Philosophen näher ist als die Tragödie. Im letzten Vers beansprucht Zarathustra, fliegen gelernt zu haben und sich selbst aus der Höhe, von oben, unter sich zu sehen. Er schaut auf seine Lehre herab und scheint über den Propheten hinaus zu sein. Zwei, nicht Eins.[32]