Was ist und was soll Political Correctness?. [Was bedeutet das alles?] - Christoph Sebastian Widdau - E-Book

Was ist und was soll Political Correctness?. [Was bedeutet das alles?] E-Book

Christoph Sebastian Widdau

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Beschreibung

Political Correctness spaltet: Für einige ist sie moralisch unabdingbar, für andere ein unangemessener Freiheitseinschnitt. Der Band untersucht das Konzept »Political Correctness« als Kampfbegriff, der oft instrumentalisiert wird und die Demokratie vor ein Dilemma stellt. Denn was ist Political Correctness eigentlich? Was bezweckt sie? Und was ist von ihr zurückzuweisen und zu bewahren? Der Band gibt Antworten.

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Jörn Knobloch / Christoph Sebastian Widdau

Was ist und was soll Political Correctness?

Reclam

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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962272

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962272-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014494-7

www.reclam.de

Inhalt

1 Zur Sache

Worum es geht

Frontstellungen

Wir müssen reden

Befunde

Wie wir vorgehen

2 Geschichte und Begriff

Import durch Sprechkunst

Hip-Hop unter Linken

Streit um Worte, Streit um Freiheit

Milieu und Gegenmilieu

Ein Kampfbegriff

Von der starken zur schwachen Kritik

3 Political Correctness und Politische Philosophie

Eine Quelle: der Liberalismus

These und Antithese

Was man sich gegenseitig vorwirft

Ein fundamentaler Streit?

Ein fruchtbarer Streit?

Korrekt!

Bekannte Urteile

Die Rolle der Moral

Ein sinnvoller Streit?

4 Political Correctness und politische Kultur

Vom Streit zum Kampf

Kulturkämpfe

Kultur und Kulturkreise

Neue Kulturkämpfe

Kulturkampf als Konflikttyp

Das Dilemma der Kulturkämpfe

Unlösbare Konflikte in der Demokratie?

Gefährdete Demokratie

5 Erfolg und Krise des Liberalismus

Erfolg des Liberalismus

Krise des Liberalismus

Liberalisierung des Liberalismus

6 Wie weiter?

Erster Schritt: Wiederentdeckung der eigenen Motive

Zweiter Schritt: Inventur vor Intervention

Lösbarkeit des Unlösbaren?

Möglichkeiten der Partizipation und Reglementierung

Lösungswege

Nicht vergessen: die Inventur

Die ›Mohrenstraße‹ und die republikanische Lösung

Literaturhinweise

Zu den Autoren

1 Zur Sache

Pippi Langstrumpf, die Heldin aus den Kinderbüchern der Schriftstellerin Astrid Lindgren (1907–2002), nennt ihren Vater »Negerkönig« (»negerkung«). Darf sie ihn so nennen? Oder sollte sie ihn beispielsweise als »Südseekönig« bezeichnen, wie es seit Längerem in deutschsprachigen Ausgaben der Fall ist, weil diese Bezeichnung als unproblematisch gilt?

In der deutschen Hauptstadt Berlin wird seit Jahren darum gestritten, ob die im Bezirk Mitte liegende »Mohrenstraße« umbenannt werden soll oder nicht. Einige halten den Begriff des »Mohren« für ein Relikt rassistischen und kolonialistischen Gedankengutes, das zu tilgen ist. Muss man also die Straße umtaufen? Oder sollte der altbekannte Name erhalten bleiben?

In einigen liberalen Demokratien wird darüber diskutiert, ob Statuen von historischen Persönlichkeiten, deren Handlungen und Einstellungen heute als verwerflich gelten, aus der Öffentlichkeit entfernt werden sollen. Müssen öffentliche Plätze und Gedenkstätten umgestaltet werden? Oder sollten die Statuen unangetastet bleiben, weil sie und die Dargestellten Teil der eigenen, wie auch immer gearteten Geschichte sind, an die es zu erinnern gilt?

An der Europa-Universität Flensburg wurde im Sommer 2023 darüber diskutiert, ob die kurz zuvor erfolgte Entfernung der Gartenplastik »Primavera« aus einem Gebäude der Hochschule angemessen sei. Fritz Durings (1910–1993) Skulptur stellt eher abstrakt eine unbekleidete Frau dar, die, so deren Kritiker, ein Frauenbild repräsentiere, das den gesellschaftlichen Wertvorstellungen der Universität nicht entspricht. Der Gleichstellungs- und Diversitätsausschuss der Universität hatte erfolgreich beantragt, »Primavera« umzustellen. Ist der Abbau Beleg für eine angemessene Sensibilität oder für eine unangemessene Überempfindlichkeit?

Der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant (1724–1804) wird inzwischen von einigen als Rassist bezeichnet. Ist in Neuausgaben seines Werkes immer deutlich darauf hinzuweisen, dass dann, wenn man aktuelle normative Maßstäbe heranzieht, Kant (geht man nach einigen Äußerungen aus seiner Frühzeit) Rassist war? Oder wäre es akzeptabel, auf diesen Kommentar zu verzichten? Oder sollte man ihn als eine Fußnote setzen, weil er für die Analyse von Kants Philosophie letzten Endes womöglich nur nebensächlich ist?

Ein letzter Fall: Im Mai 2023 trat der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (*1972) aus der Partei Bündnis 90 / Die Grünen aus und legte sein Amt für einen Monat nieder, nachdem er in einer Veranstaltung den Begriff »Neger« (heute meist umschrieben als »N-Wort«) benutzt hatte und dafür heftig kritisiert worden war. Die Erwähnung eines Begriffs, der im deutschen Sprachraum noch vor Kurzem gebräuchlich war und heute tabuisiert ist, erhitzte die Gemüter. Erfuhr der Politiker angemessene Reaktionen auf die Nennung?

Dies sind wohlbekannte Fälle, an denen exemplarisch gezeigt werden kann, wie in liberalen Demokratien wie der Bundesrepublik Deutschland um politisch korrektes Sprechen und politisch korrektes Darstellen gerungen wird – oft erbittert, unversöhnlich, sogar feindselig.

Diese Fälle, die mit dem öffentlichen Sprechen über etwas, dem öffentlichen Bezeichnen von etwas, der öffentlichen Darstellung und Zurschaustellung von etwas und der Frage nach der politisch relevanten moralischen Angemessenheit des Sprechens, Bezeichnens, Darstellens und Zurschaustellens zu tun haben, gelten als Fälle von Political Correctness.

In ihnen geht es um Kontroversen darüber, wie man etwas auszudrücken hat; wie man sich ausdrücken darf und soll; was man öffentlich sagen und zeigen darf und was nicht; ob und wie man dies in der Gesellschaft regeln darf und soll. In all diesen Fällen wird darum gestritten, wie die Angemessenheit des öffentlichen Gebrauchs von Begriffen, Ausdrücken und Symbolen zu bestimmen und ihr Gebrauch zu regeln ist.

Worum es geht

Entsprechende Regeln legen Rahmenelemente öffentlicher Diskussionen und Darstellungen fest. Anders ausgedrückt: Mit ihnen werden Diskussionen und Darstellungen normiert. Solche Normierungen werden sowohl von ihren Gegnern als auch von ihren Befürwortern unter dem Begriff der Political Correctness gefasst.

In seiner wechselvollen Geschichte wurde der Begriff »Political Correctness« selbst zu einem Kampfbegriff. Heute wird der zwischen gesellschaftlichen und politischen Lagern hin- und hergespielte Begriff häufig und vermutlich zumeist von Gegnern der Political Correctness aus dem rechten politischen Spektrum verwendet, jedoch nicht nur von ihnen.

Das Hauptanliegen von Vertretern der Political Correctness besteht darin, zu normieren, wie man sich öffentlich äußern darf und wie man sich äußern soll, um allen Diskursteilnehmenden als solchen gerecht zu werden und nicht politisch diskriminierend zu sprechen und zu handeln oder jemanden auszuschließen bzw. zu exkludieren. Es geht um den Schutz von Minderheiten und um den Schutz Marginalisierter.

Regeln der Political Correctness sind aus der Sicht derjenigen, die sie aufstellen, solche, an die man sich halten muss, wenn man sich moralisch angemessen am öffentlichen Diskurs beteiligen möchte.

Regeln der Political Correctness sollen die am gesellschaftlichen Leben und am öffentlichen Diskurs Beteiligten vor Diskriminierungen schützen, damit ihre Position im Dialog nicht von vornherein, also vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzung, geschwächt wird und sie nicht abgewertet oder gar erniedrigt werden.

Wie in dem Fall des Tübinger Oberbürgermeisters soll beispielsweise die Regel, den einst gängigen Begriff »Neger« nicht mehr nennen zu dürfen, die rassistische Abwertung von Menschen mit dunkler Hautfarbe verhindern. Mit dieser Regel soll sichergestellt werden, dass Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, also mit physischen Merkmalen, die an sich politisch und moralisch irrelevant sind, aber nicht immer so behandelt werden, im öffentlichen Diskurs gleich geachtet werden.

Bricht man diese Regeln, die nur zum Teil größeren Kreisen, in Gänze oft aber nur Kreisen von Spezialisten bekannt sind, kann es einem widerfahren, nicht nur kritisiert und womöglich juristisch sanktioniert zu werden, sondern auch, öffentlich auf heftige Ablehnung zu stoßen. Vertreter der Political Correctness können etwa versuchen, die Person, deren Rede und Handlungen sie missbilligen, zu canceln, sie also aus der Öffentlichkeit zu verbannen und zur unerwünschten Person zu erklären.

Ein bekannter Fall ist der der englischen Schriftstellerin Joanne K. Rowling (*1965), der Verfasserin der Harry-Potter-Romane: Ihr wird sogenannte Transfeindlichkeit vorgeworfen. Ihre Äußerungen über Transgeschlechtlichkeit lösten teils heftige Reaktionen aus.

Jene, die jemanden direkt oder indirekt diskriminieren oder diskriminiert haben, sollen, weil sie sich nicht an die Regel hielten oder halten, als Regelbrechende bestraft werden. Vertretern der Political Correctness scheint es dabei oft gleichgültig zu sein, wann die Regelbrechenden gelebt haben; unter welchen Umständen sie gelebt haben oder leben; angesichts welcher Konventionen sie gelebt haben oder leben; in welchem Kulturraum sie gelebt haben oder leben.

Hochproblematisch und kompliziert wird es, wenn Menschen mit dunkler Hautfarbe sich selbst bewusst als »Neger« oder, schlimmer noch, als »Nigger« bezeichnen. Denn diese Art selbstironischer Identifikation sprengt bereits einfache Begründungen der Political Correctness, denen zufolge niemand von jemandem als »Neger« oder als »Nigger« bezeichnet werden darf bzw. die Begriffe überhaupt nicht mehr gebraucht werden dürfen.

Heute ist politisch korrektes Sprechen zu einer wirkmächtigen Praxis der Regelbefolgung geworden, die alle, die sich am öffentlichen Diskurs in liberalen Demokratien beteiligen, auf ihre Einhaltung zu verpflichten sucht.

Frontstellungen

Angesichts des großen Einflusses der Political Correctness gilt es mehr denn je, sie politisch-philosophisch und kulturtheoretisch einzuordnen. Zweifelsohne ist dies bereits oft geschehen.

Eine Vielzahl informativer, aber auch polemisierender Beiträge zu diesem Thema belegt nicht nur das öffentliche Interesse an dem Phänomen, sondern auch, dass anscheinend unauflösbar Frontstellungen bestehen: Man ist entweder für Political Correctness oder gegen sie, dafür oder dagegen, und zwar jeweils ganz und gar.

Wir gehen in dem vorliegenden Essay davon aus, dass noch Neues über Political Correctness gesagt werden kann; dass man genauer über die Möglichkeit des Dazwischen nachdenken sollte; dass einiges von dem, was nicht neu ist, stärker in den Fokus gerückt werden sollte; dass der Streit um Political Correctness in liberalen Demokratien angesichts seiner historischen, multiperspektivischen und politisch-praktischen Dimensionen versachlicht werden sollte. Für all das muss man der Political Correctness analytisch und kritisch gerecht werden.

Man sollte sich nüchtern mit dem Phänomen auseinandersetzen, um den Streit, der zu einem Kulturkampf ausgewachsen ist, befrieden zu können und nicht in Frontstellungen zu verharren.

Wir müssen reden

Die Sorge, selbst gecancelt, böswillig, falsch oder verkürzend zitiert oder irrtümlich dem einen oder dem anderen Lager in dem Streit um Political Correctness zugeordnet zu werden, hat zur Folge, dass manche versuchen, sich dem Streit so weit wie irgend möglich zu entziehen.

Wer dies als feige abtut, macht es sich zu leicht. Es mag sich nur um Einzelfälle handeln, in denen sich zu entziehen versucht wird, doch sind sie ein bedrohliches Anzeichen für die Debattenkultur in liberalen Demokratien.

Wir halten es für unabdingbar, ausgleichend an das Phänomen Political Correctness heranzutreten. Voreingenommene Leser werden einige unserer Ausführungen missverstehen wollen. Damit müssen wir leben und können es. Nicht über das Phänomen zu sprechen, ist eine schlechte Alternative, und zwar unter anderem deswegen, weil der Streit um Political Correctness mehr ist, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Er steht nämlich nicht nur für sich, sondern repräsentiert auch weitere polarisierende Konflikte, die zu Themen wie »Migration und Integration« und »Klimaschutz« schwelen, und denen man sich als Bürger kaum entziehen kann.

Der Streit um Political Correctness ist mehr als ein Streit um ein bestimmtes Thema. Political Correctness ist sowohl selbst ein Streitpunkt als auch ein Element anderer Streitpunkte. Der Streit um Political Correctness hat sich sogar zu einem Kulturkampf gemausert und ist selbst ein Bestandteil anderer Kulturkämpfe.

Jede weitere Eskalation des Streits birgt Gefahren in sich: Denn wenn sich in einem Streit Widersacher unversöhnlich gegenüberstehen, dann fördert dies die Erosion einer der zentralen Fähigkeiten liberaler Demokratien, nämlich die Fähigkeit, politische Konflikte beizulegen, indem ein Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen geschaffen wird. Die Unversöhnlichkeit bedingt eine Entwicklung, die ordnungsgefährdend ist.

Befunde

Fünf Gründe sprechen dafür, sich heute eingehend mit Political Correctness zu beschäftigen: