Was wir bereit zu geben sind - Katharina Glück - E-Book

Was wir bereit zu geben sind E-Book

Katharina Glück

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Beschreibung

Emmas Existenz ist geboren aus dem Verlust ihrer Großmutter. In einer Welt, in der ein Leben nur entstehen darf, wenn ein anderes erlischt, scheint das Gleichgewicht zwischen Bevölkerungskontrolle, Wohlstand und Umweltschutz perfektioniert. Emma glaubt fest an dieses System – bis das Schicksal in Gestalt ihrer alten Schulfreundin Nora anklopft. Mit einem unerlaubten Leben unter dem Herzen steht Nora vor der Zerreißprobe ihres Daseins, gefangen in einem Netz aus Verzweiflung und Angst davor, entdeckt zu werden. Widerwillig, doch getrieben von einer alten Schuld, entscheidet sich Emma, alles zu riskieren. Ihre Hilfe für Nora entpuppt sich als Reise in die Abgründe ihres Landes und offenbart Geheimnisse, die im Dunkeln besser aufgehoben gewesen wären.

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Seitenzahl: 307

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© 2024 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Juri Pavlovic – textehexe.com

Printed in the EU

ISBN TB 978-3-95869-543-6

Alle Rechte vorbehalten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

v1/24

Inhaltsverzeichnis
/Content Notes/
/Die Autorin/
/Prolog/
/01/
/02/
/03/
/04/
/05/
/06/
/07/
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/20/
/21/
/22/
/23/
/24/
/25/
/26/
/Epilog/
/Danksagung/

Was

wir bereit zu geben sind

Katharina Glück

/Content Notes/

In diesem Buch werden einige Themen berührt, die für manche Menschen problematisch sein könnten. Damit diejenigen, die wissen, dass sie sich mit bestimmten Themen nicht auseinandersetzen können oder möchten, vorgewarnt sind, stelle ich diese Content Notes voran. Alle anderen können, gerne jetzt weiterblättern, damit nichts vorweggenommen wird.

Folgende Themen kommen in diesem Buch vor:

Schwangerschaft und Geburt

medizinische Schwierigkeiten während der Schwangerschaft

Zwangsadoption

Abtreibung

Totgeburt

Tod

Euthanasie

Flucht

Zahnbehandlungen

/Die Autorin/

Katharina Glück, geboren 1979 in Münster, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Köln. Danach arbeitete sie als Dramaturgin in der Filmproduktion. Inzwischen ist sie freie Lektorin und Texterin in München und schreibt Kurzprosa und Romane. Ihre Geschichten hat sie in dem Band „Der ewige Anfang“ zusammengeführt. Ihr erster Roman „Entgleist“ wurde mit dem Skoutz Award 2020 in der Kategorie Contemporary ausgezeichnet.

/Prolog/

Der erste Abschied, an den ich mich erinnere, war der meines Großvaters. Ich war sieben Jahre alt, wir hatten gerade den ersten Geburtstag meines Bruders gefeiert und waren bei meinem Großvater zu Besuch. Seine Wohnung roch nach alten Zeitungen und Espresso. Er tobte mit mir auf der Ledercouch herum, las mir aus meinen Lieblingsbüchern vor, während meine Eltern ausladende Mahlzeiten kochten und sich um den kleinen Matthes kümmerten. Ich hatte die Besuche bei meinem Großvater immer genossen, doch diesmal war etwas anders als sonst. Wie eine schwere Decke, die sich manchmal auf ihn legte, wenn ich kurz wegsah. Dann wurde er kleiner, seine Bewegungen schwerfälliger. Manchmal hielt er Matthes gedankenverloren im Arm und sah ihm zu, wie er an einem Keks lutschte, ohne eine Miene zu verziehen. Ich verstand sie nicht, seine plötzliche Fremdheit, seine Wortkargheit, und so setzte ich mich abseits in den Erker und schaute Videos auf meinem Tablet an.

Es war ein ausgedehnter Besuch, sicher über eine Woche, in der Papa und Opa lange Spaziergänge unternahmen. Sie ließen Mama, Matthes und mich zurück, nahmen ihre Schwermut mit nach draußen, und es wurde ein wenig leichter in meinem Bauch. Mama und ich sangen Matthes Lieder vor, und er gluckste, griff mit seinen speckigen Händchen nach meiner Wange und grub seine scharfen Nägel in meine Haut. Wenn sie zurückkamen, wurde es wieder leiser, bis Opa sich zu mir beugte und mich in die Seite kniff als Startschuss für unsere nächste Couchtoberei. Ich machte mit, doch so sehr ich mich anstrengte, so laut ich auch lachte, es fühlte sich anstrengender an als sonst.

Meine Eltern hatten mir erklärt, was beim Abschied passieren würde. Sie hatten das Kino-Gleichnis benutzt. Viel später stellte ich fest, dass die Anteilsverteilungszentrale, die wir nur AVZ nannten, ein Handbuch herausgab, in dem dieses Gleichnis stand. Als anschauliche Erklärhilfe. Das Land sei wie ein Kino, in dem es nur eine begrenzte Anzahl von Plätzen gebe. Anfangs habe Matthes auf Mamas Schoß sitzen können, aber inzwischen brauche er seinen eigenen Platz. Und Opa habe sich bereit erklärt, seinen Platz zu räumen.

Ich verstand nicht. Zugegeben, ich war erst einmal im Kino gewesen, hatte mich schrecklich gegruselt in der Dunkelheit und sah keinen Grund, wieso wir gemeinsam mit Opa ins Kino gehen sollten. Er schaute nie Filme mit uns.

»Er kann auf dem Boden sitzen«, sagte ich. »Er kann stehen bleiben, hinten an der Wand, wo er niemandem den Blick versperrt. Er kann meinen Platz haben, ich nehme Matthes auf den Schoß.« Es gab so viele Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen, und ich listete sie alle auf, doch Mama schüttelte nur den Kopf.

»Aber wo soll er dann hin?«, fragte ich, und sie strich mir über die Wange und lächelte nur. Heute bilde ich mir ein, dass ich es da verstand, obwohl das wahrscheinlich nicht stimmt. Wahrscheinlich verstand ich es erst am Tag des Abschieds.

Mama zog mir mein bestes Kleid an, dazu die Lackschuhe, die an der Seite drückten. Es machte nichts, ich sah gerne hübsch aus. Auch Mama zog sich schick an, Papa trug einen Schlips, Opa ebenso. Matthes steckten sie in ein langes, weißes Kleidchen, was ich nicht verstand. Erst bei der Parade stellte ich fest, dass alle Babys solche Kleider anhatten. Eine Uniform für Kleinkinder.

Es gab Fahnen und Musik und Zuckerwatte. Überall liefen Menschen mit Kameras umher, filmten und knipsten, und Eltern hielten sich ihre leuchtend weißen Babys entgegen, stupsten auf Näschen. Ich schloss mich ein paar anderen Kindern an, kletterte mit ihnen auf einem Gerüst herum, fiel irgendwann und schürfte mir das Knie auf, woraufhin Mama mich fest am Arm packte und nicht losließ. Ihr Griff schmerzte mehr als die Wunde. Ich verstand ihre Anspannung nicht, entschuldigte mich für den vollgebluteten Strumpf, über den sie sich unter anderen Umständen nicht so aufgeregt hätte, aber sie reagierte nicht.

Später gab es eine Ansprache, der ich nicht zuhörte. Stattdessen protestierte ich, wollte mich aus Mamas Griff winden. Sie zog mich aus der Menge, blieb erst hinter einem Baum stehen, beugte sich zu mir hinab und sagte: »Du wirst artig sein. Du wirst dich zusammenreißen und bei mir bleiben und still sein, einen Tag lang, denn heute geht es nicht um dich, verstanden? Heute geht es um deinen Opa, und zwar nur um deinen Opa. Das ist ein wichtiger Tag für ihn und für deinen Vater. Und für mich. Und für dich auch. Hast du verstanden?«

Nein, ich hatte nicht verstanden, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht erschreckte mich so sehr, dass ich nickte.

Als wenig später die Prozession losging und wir uns in die Familien einreihten, die über die Hauptstraße Richtung Rathaus marschierten, flankiert von den anderen Besuchern, die jubelten und winkten, war ich mir des Blutflecks auf meinem Strumpf schmerzhaft bewusst. Ich schämte mich, dass alle mich so sahen, und schaute beim Gehen auf meine Schuhspitzen. Opa trug Matthes auf dem Arm, Papa ging an seiner Seite, hatte sich untergehakt, als wären die beiden ein Paar. Niemand von uns sagte etwas, nur Matthes gurgelte vor sich hin und testete die wenigen Silben, die er schon beherrschte.

Vorm Rathaus warteten die Limousinen. Ich war aufgeregt, weil ich hoffte, mitfahren zu dürfen. Ein Mann in einem Anzug führte uns zu einer hin und sagte dann: »Es ist Zeit für den Abschied.«

Opa übergab Matthes meiner Mutter und nahm sie in den Arm.

»Danke«, flüsterte sie in seine Schulter.

Dann beugte Opa sich zu mir hinunter. »Verstehst du, warum das hier gerade passiert?«, fragte er. Er roch nach Aftershave. Seine Augen waren ungewöhnlich blau.

Ich nickte. »Wegen Matthes.«

Er legte seine Hand an meine Wange. »Sorge dafür, dass er sich an mich erinnert, so wie du dich an deine Oma erinnerst. In euren Erinnerungen leben wir weiter.«

Ich nickte, obwohl ich nicht verstand. Ich erinnerte mich nicht an Oma, ich war ja noch ein Baby gewesen, damals, als sie mit mir auf dem Arm diesen Gang getan hatte. Es gab Fotos, eines stand sogar auf meinem Nachttisch, und an das dachte ich jetzt. Galt das als Erinnerung? Ich ahnte, dass Opa es anders meinte.

»Ich habe dich sehr lieb, Emma.« Dann küsste er mich auf die Stirn und stieg in den Wagen.

Papa drückte Mamas Hand. Erst jetzt bemerkte ich, wie rot seine Augen waren. Dann stieg auch er ein, und der Wagen fuhr an.

Ich bekam Panik. »Papa«, rief ich, wollte dem Auto hinterherlaufen, doch Mama griff mich wieder am Arm, hielt mich fest.

»Er kommt später nach«, sagte sie nur.

Nach Opa fragte ich nicht.

Als Papa am Abend in die Wohnung kam, waren Matthes und ich schon im Bett. Ich konnte nicht schlafen, stellte mir die ganze Zeit die Kinosessel vor, vier Stück. Oma und Opa in der Mitte, Mama und Papa an den Seiten. Ich stellte mir vor, wie Oma aufstand, rekonstruierte ihre Bewegungen aus den wenigen Videos, die ich von ihr gesehen hatte. Sie verschwand in der Dunkelheit, und plötzlich saß ich auf ihrem Platz. Dann passierte dasselbe mit Opa und Matthes. Papa setzte ich in Gedanken neben mich, spürte seine Hand auf meiner, sah vor meinem inneren Auge, wie er mir Popcorn hinhielt, und fragte mich, ob er lieber neben Oma gesessen hätte. Und als ich schließlich die Schlüssel hörte, seine Schritte im Flur, die ich unter Tausenden hätte erkennen können, und dann seine Stimme, löste sich das Bild endlich auf. Trotzdem schlief ich erst ein, als Mama und Papa zu uns in das winzige Gästezimmer kamen. Wieso sie nicht Opas leeres Bett benutzten, wagte ich nicht zu fragen.

Seitdem hasse ich Abschiede.

/01/

Es begann mit einer Fernsehaufzeichnung. Ich mochte keine Videos von mir, hatte auch als Jugendliche selten welche gemacht und hatte nie Schauspielerin oder Sängerin oder auf irgendeine andere Art berühmt werden wollen, ganz im Gegensatz zu meinen Freundinnen. Bis heute spreche ich nicht gerne vor Menschen. Schulaufführungen waren traumatisierend für mich, Vorlesen vor der Klasse ein Graus, und bei dem Gedanken, bei Tausenden, vielleicht Millionen von Fremden im Wohnzimmer zu erscheinen, wenn auch nur stumm und im Hintergrund, versetzte mich in Panik. Aber ich bin auch loyal, und ich hasse es, Menschen zu enttäuschen, vor allem jene, die ich liebe. Vor allem Amal.

Also stand ich an dem Morgen vor dem Spiegel in unserem Schlafzimmer, meine komplette Garderobe vor mir ausgebreitet, und wischte mir mit einem Taschentuch den Schweiß aus den Achseln.

Amal kam aus dem Bad, hatte die Haare in ein Handtuch gewickelt. Ich versuchte, sie nicht zu beachten, souverän zu wirken, aber nach beinahe fünfzehn Jahren konnte sie mich lesen wie ihre Architect Digests, die sie in ihrem Studio sammelte. Sie zögerte nur kurz und griff dann zielsicher in den Kleiderhaufen.

»Das Grüne!«

Es war kein Vorschlag, sondern eine Tatsache, und ich dankte ihr stumm. Wie immer war ihre Wahl perfekt: ein dunkelgrünes Kleid mit schmalem Rock, wadenlang, klassisch, elegant, unauffällig. Sie würde mir die passenden Schuhe raussuchen, später, hatte sicher schon eine Idee, welche es sein würden. Solche Entscheidungen fielen Amal leicht.

Ich nahm ihr das Kleid ab, und sie küsste mich auf die Wange. »Es wird ganz unspektakulär, du wirst schon sehen.« Ihre Hand lag warm auf meinem Rücken, ihr Daumen streichelte mich sanft, eine Geste, die sie sich angewöhnt hatte, um mich zu beruhigen. Weil sie wusste, dass ich in solchen Momenten nicht mehr Nähe ertrug.

Eine Stunde später trafen wir bei Amals Bruder ein. Der E-Wagen, den wir per Handy bestellt hatten, hielt vor dem Tor des Grundstücks und ließ uns aussteigen. Mo hatte uns gewarnt, dass die Einfahrt von den Transportern des Fernsehteams blockiert sein würde. Wir gingen die weite Auffahrt entlang, schlängelten uns durch die Fahrzeuge, an deren Seiten das Logo des Fernsehsenders prangte. Amal schwebte in ihren Stöckelschuhen elegant über die Pflastersteine. Der Rasen war frisch gemäht, die Beete bunt bepflanzt. Es sah hier immer makellos aus, doch heute lag ein besonderer Glanz auf allem, als hätte eine riesige Hand das Anwesen blank poliert. Selbst das Haus schien zu leuchten.

Die Tür stand offen, und von drinnen schwappten uns Gesprächsfetzen und Gelächter entgegen. Wir traten ein, ich folgte Amals zielstrebigen Schritten durch die Eingangshalle und den Salon auf die Terrasse. Überall schwirrten Menschen umher, verlegten Kabel, stellten Scheinwerfer auf, rückten Blumenbouquets und Beistelltischchen zurecht. Mir hatte die Üppigkeit von Mos und Sabines Haus nie gefallen. Es war zu überladen für meinen Geschmack. Mehr ein Museum als ein Zuhause. Alles war mit so viel Bedacht platziert, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass hier tatsächlich jemand lebte. Wie sie diese Ordnung mit sieben Kindern aufrechterhielt, war mir ein Rätsel.

Auf der Terrasse schoben Produktionshelfer Sitzmöbel zusammen, ein Rattansofa, zwei Sessel zur einen, zwei zur anderen Seite. Ein Sonnensegel sollte uns vor der Hitze schützen. Ein junger Mann hievte einen Ficus in den Hintergrund, um den Blick auf das Fernsehequipment zu versperren.

Wir blieben in der Terrassentür stehen wie ungebetene Gäste, während Unbekannte vorbeihuschten und uns keines Blickes würdigten. Irgendwann kam eine kleine Frau mit einem Klemmbrett auf uns zu.

»Sie sind?« Ihr Ton war herrisch und kühl. Ich musste den Impuls unterdrücken, mich bei ihr zu entschuldigen.

»Ich bin Mos Schwester«, sagte Amal. »Meine Frau Emma.« Sie reckte das Kinn. Nein, Amal ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

»Wir machen nicht alles overhead, das hatten wir schon besprochen«, sagte die Frau scharf, während sie etwas auf ihr Klemmbrett kritzelte.

»Ich verstehe nicht«, sagte Amal, aber die Frau tippte sich ans Ohr als Zeichen, dass sie nicht mit ihr geredet hatte. Sie wandte sich ab, und kurz konnte ich das winzige Earpiece erkennen, über das sie mit der Crew sprach.

Sie winkte uns, ihr zu folgen, und wir eilten über die Terrasse in den Wintergarten, wo man die Maske aufgebaut hatte. Endlich bekannte Gesichter. Mo saß vor einem Spiegel, ein weißes Tuch um den Hals, und schäkerte mit der Frau, die ihm die Stirn puderte. Auf einer Bank saß Sabine neben einer alten Dame. Die Person der Stunde, wenn Mo ihr nicht die Show stehlen würde. Auch Lisa und Joel waren hier, Sabines Schwester und ihr Mann, auch sie wurden gerade geschminkt. Lisa sah uns als Erste, winkte nur, während ein junger Mann ihr ein vulgäres Pink auf die Lippen malte.

»Ami«, rief Mo, stand auf und kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Die Maskenbildnerin nahm es mit professioneller Gelassenheit. Er umarmte uns gleichzeitig. »Emma. Wie schön, dass ihr da seid.«

Wieder einmal fiel mir auf, wie ähnlich er und Amal sich sahen. Die scharfen Nasen, die schmalen Gesichter, hohe Wangenknochen. Ihre Augen machten immer den Eindruck, als trügen sie Lidstrich und Wimperntusche. Makellose hellbraune Haut, schwarzes Haar, das nicht ergrauen wollte, obwohl er auf die Fünfzig zuging. Bis heute sind Mo und Amal die schönsten Menschen, denen ich je begegnet bin.

Er führte uns in den Raum, und nun kam auch Sabine auf uns zu und hauchte Küsschen neben unseren Gesichtern in die Luft. »Entschuldigt, aber ich bin schon fertig mit der Maske.« Ihre perlweißen Zähne leuchteten, wenn sie lächelte. »Aber kommt, ihr müsst jemanden kennenlernen.«

Sie führte uns zu der Bank hinüber, wo wir vor der winzigen Dame stehen blieben. Wie riesig wir auf sie wirken mussten. Aber vielleicht erinnere ich es auch falsch. Vielleicht war sie nicht so klein, wie das Bild in meinem Kopf es mir weismachen will. Doch so sehe ich sie vor mir: silbernes Haar zu einem Knoten gebunden, gebeugter Rücken, die seidig-faltige Haut des Alters. Gerne hätte ich sie berührt, traute mich aber nicht.

»Dies hier ist Louise Sommer«, sagte Sabine und leuchtete dabei ein wenig.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Amal.

»Sie sind Ihrem Bruder ja wie aus dem Gesicht geschnitten.« Die Stimme der alten Frau klang erstaunlich weich und hell. »Wenn ich gewusst hätte, dass es zwei von Ihnen gibt.« Dann sah sie zu mir. »Und Sie, meine Liebe, haben ganz schön Muffensausen, was?«

Ich legte mir eine Hand an die Wange. Ja, ich fühlte mich warm an. »Ist es so offensichtlich?«

»Wenn die da vorne«, sie wedelte mit der Hand in Richtung der Maskenbildnerin, »mit Ihnen fertig ist, wird man nichts mehr davon sehen. Außerdem geht es heute sowieso um mich. Machen Sie sich also keine Sorgen.«

Und plötzlich fiel mir wieder ein, was hier passierte, was dieser Tag für Louise Sommer bedeutete, und ich schämte mich, dass sie sich um mich kümmerte.

»Und wo ist der Wonneproppen?«, fragte Amal. Ich war dankbar für den Themenwechsel.

»Kommt mit!«

»Maske in zehn!«, rief uns die Klemmbrettfrau hinterher, als wir den Wintergarten verließen. Wir folgten Sabine in den ersten Stock, das Kindergeschoss, wie Sabine es nannte.

Wir kamen an einer offenen Tür vorbei, hinter der die anderen sechs Kinder saßen, jedes an einem eigenen Bildschirm, nur die kleine Sophia auf dem Schoß der Nanny. Schwarze und weiße Haarschöpfe, als hätten Mos und Sabines Gene keine Kompromisse eingehen wollen.

»Sie dürfen zocken, dann sind sie nicht im Weg und machen keinen Lärm«, sagte Sabine mit der ruhigen Rationalität einer trainierten Mutter.

Am Ende des Flurs öffnete sie eine Tür. Leise traten wir in das dunkle Zimmer. Amal und ich warteten, während Sabine die Jalousie hochfahren ließ und vorsichtig ihren Jüngsten weckte. Zuerst hörte ich nur das sanfte Kinderschnaufen, dann hob sie ihn hoch, setzte ihn auf ihre Hüfte, und er rieb sich die Augen und musterte uns schlaftrunken.

»Hallo, Louis«, säuselte Amal, und er lächelte.

Kinder. Sie waren ... sind ein wertvolles Gut in unserer Gesellschaft. Jede Empfängnis ist geplant, jede Geburt froh erwartet. Viele Menschen werfen uns Grausamkeit vor, Zwang, Unterdrückung, dabei wird jedes Kind gefeiert, die Eltern bekommen jede nur erdenkliche Unterstützung. Für Gesundheitsversorgung und Ausbildung ist gesorgt. Man verlangt lediglich, dass die Entscheidung, ein Kind in diese scheidende, heiße, karge Welt zu setzen, bewusst getroffen wird. Ist diese Erwartung so falsch? Ist es nicht die größte Verantwortung, die man tragen kann? Die für einen anderen Menschen, und nicht nur das, sondern auch für die Bedeutung dieses Menschen in der Welt? Für die Konsequenz, die seine Existenz hat? Ein weiterer Esser, ein weiterer Stromverbraucher, Transportsystembenutzer, Shopper. Eine weitere Belastung für die schwindenden Ressourcen unseres Planeten.

Ich weiß nicht, ob dieser Gedanke es war, der mich davon abgehalten hat, selbst Kinder zu bekommen. Vielleicht fehlte mir einfach der Instinkt. Sogar Louis mit seinem dichten, schwarzen Haarschopf und seinen klugen Augen brachte meine Hormone nicht in Schwingung. Was nicht heißt, dass ich ihn nicht mochte. Oder andere Kinder. Ich wollte nur keine eigenen. Und zum Glück teilte Amal diese Einstellung. Bei Kindern gibt es keine Kompromisse.

Sabine machte Louis zurecht, während wir uns in die Maske begaben. Dicke Schichten Fernseh-Make-up. Ich fühlte mich wie ein Clown, doch Mo beruhigte mich, man werde es mir nachher nicht ansehen. Dann war es Zeit für die erste Aufnahme, Interview mit den Erwachsenen. Man setzte uns auf die Rattanmöbel, Mo, Sabine, Louis und Frau Sommer auf das Sofa, die alte Dame natürlich in die Mitte. Sie verschwand beinahe neben Mo, weswegen ein Assistent ihr ein Kissen unter den Hintern schob, sodass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Lisa und Joel saßen zur einen, Amal und ich zur anderen Seite auf den Sesseln. Man wollte uns nur vorzeigen, die Familie präsentieren, die sich um Louis kümmern würde. Die Phalanx an Personal, die Mo und Sabine beschäftigten und die einen Großteil der Arbeit übernahm, wurde unterschlagen.

Die Interviewerin war eine enge Kollegin von Mo. Sie arbeiteten im gleichen Sender und besprachen sich mit einer lockeren Professionalität, um die ich sie beneidete. Seit ich auf dem Sessel Platz genommen hatte, war mir übel.

»Dann fangen wir mal an«, sagte die Interviewerin und setzte sich uns gegenüber zwischen vier kleine Kameras, die auf uns gerichtet waren. Sie räusperte sich, streckte den Rücken, obwohl man sie in der Aufnahme nicht würde sehen können. »Frau Sommer«, sagte sie. Ihre Stimme war eine Spur tiefer geworden. »Heute ist Ihr Tag des Abschieds, und Sie verbringen ihn mit der Familie meines lieben Kollegen Mo Ahmadi. Erklären Sie uns, wieso Sie sich entschieden haben, ihm und seiner Frau Sabine Ihren Anteil zu überschreiben.«

Ich sah sie nur von hinten. Ihr Kopf wackelte ein wenig, bevor sie sprach.

»Nun, wissen Sie, ich habe keine Familie mehr. Ich habe alle überlebt, hatte selbst keine Kinder, und nun, da meine Zeit langsam kommt, bin ich ins Grübeln geraten. Ich hätte meinen Anteil in die Lotterie übergehen lassen können, aber das schien mir so unpersönlich. Und Herr Ahmadi ...«

Er unterbrach sie, indem er ihr die Hand auf den Arm legte. Sie kicherte.

»Natürlich, Mo, also, ich habe seine Sendungen immer gerne geschaut. Er ist ein kluger Mann mit einer wunderbaren Familie. Und all die Dinge, für die er sich einsetzt. Die Stiftungen und all das. Ich könnte mir niemanden vorstellen, bei dem ein Kind mit meinem Anteil besser aufgehoben wäre.«

Sie lächelte Mo beseelt an, und ich fragte mich, wie viel sein schneidiges Aussehen und sein Charme mit ihrer Entscheidung zu tun hatten.

»Sie haben in dem obligatorischen Übergangsjahr, seit der kleine Louis geboren wurde, viel Zeit mit der Familie Ahmadi verbracht«, sagte die Interviewerin.

»Jaja, sie haben mich ganz herzlich aufgenommen. So brave Kinder, die kleine Sophia ist ein Goldstück. Und natürlich habe ich mitansehen dürfen, wie der kleine Louis gewachsen ist. Mit zehn Monaten konnte er schon laufen. Ein sportlicher Kerl.« Sie stupste dem Jungen mit dem Finger auf die Nase. Er gluckste glücklich und griff nach ihrer Hand. »Ich bin sehr dankbar für dieses Jahr. So lernt man die Person kennen, der man seinen Anteil vermacht. Eine gute Sache, diese Übergangszeit.«

»Das finden wir auch«, erwiderte die Interviewerin und wandte sich dann Sabine zu. »Frau Ahmadi, Louis ist Ihr siebtes Kind. Eine ungewöhnliche Anzahl.«

Ich betrachtete Sabine von der Seite. Ihr Lächeln wirkte echt und einstudiert zugleich. Vielleicht bemerkte ich die Fassade nur, weil ich Sabine kannte.

»Wir sind sehr gesegnet«, sagte sie und drückte Louis ein wenig an sich. »Kinder sind etwas Wunderbares, und dass ich so viele aufziehen darf, ist ein großes Glück. Ich bin dankbar, natürlich auch der lieben Louise. Wir werden ihre Großzügigkeit immer in Ehren halten.« Jetzt lehnte sie sich vor und fasste die Hand der alten Dame.

Der Blick der Interviewerin glitt kurz über uns hinweg, und ich stellte mir vor, welche Fragen ihr auf der Zunge liegen mochten, welche Kritik sie hätte implizieren können. Wusste sie, dass Louise schon die vierte Person außerhalb der eigenen Familie war, die ihren Anteil Mo und Sabine vermachte? Hatte sie die Statistiken gelesen, die belegten, dass reichen oder berühmten Menschen beinahe doppelt so viele Anteile zukamen wie Normalsterblichen? Dass das Verschenken von Anteilen immer populärer wurde unter denjenigen, die keine Erben hatten oder deren Erben keine Kinder wollten?

Aber sie war Mos Kollegin, vielleicht sogar eine Freundin, also lächelte sie wieder und wandte sich an ihn. »Mo, der kleine Louis hat nicht nur sechs Geschwister, sondern auch Erwachsene außer euch beiden, die sich um ihn kümmern werden.«

»Allerdings«, sagte Mo und drehte sich zu uns. »Das sind Sabines Schwester Lisa und ihr Mann Joel. Joel ist vor beinahe zwanzig Jahren aus Brasilien über die Anteilslotterie zu uns gekommen. Sie haben zwei Kinder, mit denen Louis spielen kann. Und das sind meine Schwester Amal und ihre Frau Emma. Amal wird irgendwann mal die Häuser unserer Kinder entwerfen, sie ist Architektin. Und Emma ist Zahnärztin. Wenn Louis also mal Karies kriegt, darf sie den Bohrer ansetzen.«

»So weit lässt sie es hoffentlich nicht kommen«, sagte Amal und legte Mo die Hand auf die Schulter.

Wir lachten anständig, sogar der kleine Louis stimmte ein.

Die Interviewerin wendete sich wieder an Louise. »Und was haben Sie für den heutigen Tag noch geplant?«

»Ich möchte noch einmal ins Museum«, sagte sie. Ihre Stimme klang leiser, aber es lag keine Trauer darin. »Noch einmal einen Rubens sehen, einen Rembrandt. Kunst habe ich immer geliebt.« Sie schwieg, als hätte sie den Faden verloren.

»Und werden Sie an der Parade teilnehmen?«

Sie kicherte. »Nein, das ist mir zu viel Trubel. Ich kann auch gar nicht mehr so lange laufen. Es wird wirklich langsam Zeit für mich, nicht wahr?«

Wir lachten wieder, diesmal betreten.

»Und wer begleitet Sie später bis ans Ende?«

»Das werde ich tun«, sagte Mo. »Es ist mir eine Ehre.«

Abrupt stand die Interviewerin auf und klatschte in die Hände. »Gut, das hätten wir. Machen wir dann jetzt die Einstellung mit den spielenden Kindern im Garten?«

Wie aus dem Nichts erschien die Frau mit dem Klemmbrett. Ihre Stimme klirrte in meinen Ohren. »Umbau auf Einstellung vier, zehn Minuten.«

Sabine sprang auf und reichte das Kind weiter an Mo. »Dann hole ich mal die Rasselbande.«

Ich stand auf, merkte erst jetzt an den Schmerzen in meinem Rücken, wie verkrampft ich gesessen hatte. Amal hauchte mir einen Kuss auf die Wange, lächelte mich an, wischte mit dem Daumen ihren Lippenstift von meiner Haut. »Okay?«

Ich nickte.

»Ich helfe Sabine.« Sie ging ins Haus.

Die Kameras und Scheinwerfer wurden weggetragen, Lisa und Joel waren in die Maske geflüchtet, um sich die Schminkeschichten abwischen zu lassen, Mo besprach sich mit seiner Kollegin. Nur Louise saß noch auf dem Sofa und schaute entspannt dem Treiben zu. Plötzlich schmerzte es mich, sie so zu sehen, allein und beinahe vergessen in all der Geschäftsmäßigkeit, und das an ihrem letzten Tag. Also setzte ich mich neben sie.

Ein paar Minuten saßen wir schweigend da. Ich war mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt bemerkt hatte, doch dann legte sie ihre Hand auf mein Knie, tätschelte es leicht, ohne mich anzusehen.

»Sehen Sie, meine Liebe, war doch gar nicht so schlimm, oder?«

»Das werden wir noch sehen«, erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass ich mir die Ausstrahlung nicht anschauen würde.

Jetzt drehte sie sich zu mir. Wie faltig ihre Haut war. Man sah nicht mehr viele so alte Menschen.

Hinter mir wurde es laut, als die Kinder über die Terrasse in den Garten strömten. Die Älteren hielten kurz bei mir, drückten mir schnelle Küsse auf die Wange und rannten dann kreischend über den penibel geschnittenen Rasen. »Macht doch nicht so einen Lärm«, rief Sabine ihnen hinterher, während sie die kleine Sophia an der Hand hinausführte.

Louise betrachtete das Treiben und lachte leise. Wie konnte sie an diesem Tag so heiter sein?

»Geht es Ihnen gut?«, fragte ich, weil ich keine anderen Worte fand für das, was ich wissen wollte.

»Natürlich, natürlich.« Sie drehte sich wieder zu mir. Ihr Blick war forschend.

»Ich dachte nur«, murmelte ich, »weil Sie ... also, was Sie gesagt haben, über Ihre Familie.«

»Sind Sie eine Systemkritikerin?«

Vor Überraschung musste ich schnaufen. »Nein, überhaupt nicht. Ich bin überzeugt, dass das System funktioniert, dass wir gar keine andere Möglichkeit haben, wenn wir den nächsten Generationen einen gesunden Planeten ...«

Sie hob ihre winzige, faltige Hand. Jetzt erst bemerkte ich die dunklen Flecken auf ihrer Haut.

»Sie müssen mir keinen Vortrag halten. Ich habe mich nur gewundert. Sie scheinen die schwermütigste Seele hier zu haben. Beinahe könnte man meinen, Sie wären selbst betroffen. Dabei kennen wir uns gar nicht.«

»Muss ich Sie kennen, um um Sie trauern zu dürfen?«

Wieder tätschelte sie mein Bein. »Sie müssen nicht trauern. Es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Wir feiern heute das Leben.«

Ich senkte den Blick, fürchtete mich mit einem Mal davor, dass sie etwas in meinen Augen würde sehen können. Das Leben feiern – ich hasste diesen Satz. Bei jedem Abschied wurde er gepredigt wie ein Mantra, von Podien und in Mikrofone gerufen, immer mit Vehemenz, als müsste man sich selbst davon überzeugen, dass er stimmte. Wenn es so war, dass wir am Tag des Abschieds das Leben feierten, wieso musste es dann immer wieder aufs Neue betont werden?

»Wissen Sie«, sagte Louise, »meine Großmutter ist in der Zeit vor dem Anteilssystem aufgewachsen. Manchmal hat sie mir davon erzählt, von den Unruhen, dem sozialen Ungleichgewicht. Sie hat damals bei der Abstimmung für die Neuordnung gestimmt. Durfte gerade wählen. Eine Frau mit hohen Idealen, meine Großmutter. Aber bei jedem Abschied hatte sie denselben Gesichtsausdruck, den Sie jetzt haben.« Dabei deutete sie mit ihrem kleinen Finger auf mich, als hätte sie mich ertappt.

»Wem hat sie ihren Anteil vermacht?«

Louise senkte die Hand. »Sie ist bei einem Autounfall gestorben. Leider gab es in unserer Familie niemanden, der zu der Zeit Kinder haben wollte oder konnte, also ist ihr Anteil in die Lotterie übergegangen.«

»Das tut mir leid.«

Sie lachte auf. »Wieso? Ich glaube, das mit der Lotterie hätte ihr gefallen.« Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne, die sich gerade hinter dem Segel hervorstahl, und schloss die Augen. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Dies ist das, was ich will. Ich bereue nichts.«

Amal und ich fuhren nicht mit ins Museum. Wir wollten uns nicht aufdrängen, ließen Mos Familie und Louise lieber allein die letzten Stunden miteinander verbringen. Stattdessen gingen wir heim, duschten uns die schwere Schminke von den Gesichtern, bestellten indisches Essen und setzten uns in Schlafanzügen vor den Fernseher. Als um acht das wöchentliche Anteilsspecial begann (Heute im Interview unser Moderator Mo Ahmadi mit Familie und Anteilsspenderin), schüttelte ich nur sanft den Kopf, und Amal schaltete auf einen Film um. Kurz bevor der Kanal wechselte, erhaschte ich einen letzten Blick auf Louise. Ihre Augen blitzten im Scheinwerferlicht, und ich fragte mich, ob sie inzwischen schon tot war.

/02/

Es dauerte eine Woche, bis Nora mich fand. Es war ein Freitag, ich kam gerade aus der Praxis, so gut gelaunt, dass ich, als die Computerstimme des E-Wagens beim Aussteigen »Vielen Dank, fahren Sie bald wieder mit uns« sagte, ein fröhliches »Aber sehr gerne doch!« in den Fond rief. »Darauf freuen wir uns«, sagte die Stimme, dann schloss sich die Tür, und der Wagen rauschte davon.

Ich bemerkte sie erst, als ich mich vor der Haustür zu den zwei Kühlkisten mit Einkäufen beugte, die, so hatte mir die Haushalts-App verraten, vor einer Stunde geliefert worden waren. Aus dem Augenwinkel sah ich Nora hinter der Hausecke hervorlugen. Ich richtete mich auf, als sie aus den Schatten trat.

»Hallo, Emma.«

Ich erkannte sie sofort, auch wenn wir uns beinahe zwanzig Jahre nicht gesehen hatten. Ihre Haare hatten denselben Honigton wie damals, und auch wenn ihr Gesicht schmaler geworden war, auch wenn ihre Augen müder aussahen, war ihr Lächeln dasselbe. Ungestüm erstreckte es sich über ihr gesamtes Gesicht. Früher hatte ich sie damit aufgezogen, dass sogar ihre Ohren sich bewegten, wenn sie lächelte.

»Nora«, sagte ich, stockte, musste die Realität um mich neu zusammensetzen, doch ich riss mich zusammen, wie ich es immer tat. »Was für eine Überraschung!«

Ich trat zu ihr und nahm sie in den Arm. Fest griff sie in meine Jacke und drückte sich an mich. Sie roch nach Staub.

»Was führt dich hierher?«, fragte ich, als ich mich von ihr löste.

»Ich habe dich im Fernsehen gesehen.«

»Oh.« Ich hielt mir die Hand vors Gesicht, als könnte ich die Ausstrahlung so zurücknehmen.

»Nein, nein. Du hast wunderbar ausgesehen.«

»Wirklich?«

Sie nickte, und ich glaubte ihr. Einen Moment standen wir schweigend da, sahen uns an, doch bevor sich ein Klumpen in meinem Hals formen konnte, drehte ich mich zur Tür.

»Komm rein, ich mache uns einen Tee.«

Ich schloss auf, und Nora half mir dabei, die Kühlkisten in die Küche zu tragen. Während ich die Lebensmittel verstaute und Wasser aufsetzte, streifte Nora durch den offenen Wohnbereich, strich mit der Hand über die Lehne des Sofas, betrachtete die Fotos und Bilder. Vor der Bücherwand blieb sie stehen.

»Du hast tatsächlich noch echte Bücher?«

»Die meisten gehören Amal.« Ich goss Wasser in die Kanne. Die Teebeutel wirbelten wild umher. »Amal ist meine Frau.«

»Ich weiß.«

»Ach ja, die Sendung.« Dampf stieg mir ins Gesicht.

Sie trat vor die Fensterfront, die den Blick auf die Stadt freigab. Amal hatte darauf bestanden, ein Grundstück auf dem Hügel zu kaufen, nur für diese Aussicht.

»Schön habt ihr es hier.«

»Danke.«

Wir setzten uns an den Tresen in der Küche, ich stellte ein paar Kekse neben die Teekanne, und es wunderte mich nicht, dass Nora sofort zugriff. Süßigkeiten waren schon immer ihre Schwäche gewesen. Wir tranken und aßen schweigend. Vielleicht mussten wir uns beide erst daran gewöhnen, dass wir hier beieinandersaßen, nach all der Zeit, uns tief vertraut und fremd gleichzeitig.

Ich kannte Nora schon so lange, dass ich mich nicht mehr daran erinnerte, wann wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Meine Eltern erzählten verschiedene Geschichten, eine über den Spielplatz in unserem Viertel, eine andere über einen Supermarkt. Was in jeder Geschichte übereinstimmte, war, dass Nora mich fand. Sie war es, die auf mich zukam, mit mir befreundet sein wollte auf die direkte und unbegründbare Art, wie Kinder ihre Freunde auswählen. Dieses leuchtende, hübsche, forsche Kind hatte alle anderen stehen lassen und mich auserwählt, mich, und allein das erschien mir wie eine Ehre.

Wir waren unzertrennlich gewesen. Zumindest einige Jahre lang. Wo sie hinging, da musste ich sein und umgekehrt. Ich boykottierte unsere Urlaube, bis meine Eltern anboten, Nora mitzunehmen. Ich ließ mich nicht auf die teure Privatschule schicken, um bei Nora zu bleiben. Ein Leben ohne sie schien unmöglich. Aber Menschen verändern sich, genau wie Freundschaften.

»Also«, begann ich schließlich, »wie geht es dir? Was treibst du so?«

»Ach, über mich gibt es nichts Besonderes zu berichten. Gut geht es mir.« Sie schob sich demonstrativ einen Keks in den Mund und kaute einen Moment. »Aber du hast es weit gebracht. Zahnärztin, das Haus und verwandt mit Mo Ahmadi. High Society, was?«

»Amal und ich halten uns eigentlich aus dem Trubel raus. Die Fernsehaufzeichnung war eine Ausnahme.«

Das stimmte nicht. Mo schmiss jedes Jahr riesige Silvesterpartys, zu denen er Menschen aus der Filmbranche, der Politik und Kultur einlud. Ich ging gerne hin, hörte mir den ganzen Abend die außergewöhnlichen Lebensgeschichten an und hatte sogar einige der Gäste in meiner Praxis behandelt. Von den Titelseiten der Online-Illustrierten lächelten mir fast jeden Tag Leute entgegen, deren Telefonnummern ich gespeichert hatte. Doch etwas in mir sträubte sich dagegen, das vor Nora zuzugeben.

»Trotzdem, schön hast du es.«

Ich lächelte in meine Teetasse. »Ich kann nicht klagen.«

»Und Matthes? Und dein Vater? Wie geht es denen?«

»Allen geht es gut. Matthes ist in Papas Fußstapfen getreten und hat Jura studiert. Hat sich auf Baurecht spezialisiert. Ein echter Schlipsträger, der Kleine. Und Papa lehrt immer noch an der Uni.« Es klang dünn, dennoch nickte sie. »Und deine Eltern?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Endlich geschieden. Ben habe ich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Aber Eileen geht es gut. Ich besuche sie nicht oft.«

Als Kind hatte ich es schrecklich cool gefunden, dass Nora ihre Eltern mit dem Vornamen ansprach. Auch ich musste nicht Herr oder Frau Bernheim sagen, sondern nannte sie Ben und Eileen, als wären wir gleichwertig. Erst später verstand ich, wie wichtig Bezeichnungen sind, wie sie unsere Realität formen. Wie es sich für Nora angefühlt haben musste, mit Menschen zusammenzuleben, die sie nicht Mama und Papa nennen durfte.

»Das tut mir leid, also das mit der Scheidung.«

»Um Himmels willen.« Sie lachte auf. »Das muss es nicht. Die beiden waren so was von fällig.«

Ich nickte, erinnerte mich an die Traurigkeit in Noras Zuhause, die unterschwellige Dumpfheit, einen unsichtbaren Nebel, der die Luft schwer und die Geräusche leise machte. Wir hatten uns nie lange dort aufgehalten.

Wir schwiegen wieder. Draußen färbte sich der Himmel orange, und mir fiel auf, dass Nora noch nichts über sich erzählt hatte. Wie sonderbar schwerfällig diese Unterhaltung doch war. Gerade wollte ich ansetzen, da ergriff sie das Wort.

»Wann kommt denn deine Frau nach Hause?«

»Heute erst spät, sie hat ein Geschäftsessen.«

Sie nickte und nahm sich noch einen Keks.

»Hast du Hunger? Soll ich etwas kochen?«

Sie zögerte, aber ich konnte sehen, dass sie ihre Begeisterung unterdrückte. »Du kennst mich doch, ich kann immer essen.«

Also kochten wir. Die Geschäftigkeit entspannte uns, und während wir Gemüse schnitten und Wasser aufsetzten, plauderten wir über Belangloses, die Kinder in unserer Klasse, Lehrerinnen und Lehrer, Leute aus der Nachbarschaft. Und wir erinnerten uns. An den Tag, als wir für meinen Vater ein Festmahl hatten kochen wollen und er danach zwei neue Pfannen kaufen und die Küche streichen musste. An den Tag, als wir Matthes im Schwimmbad vergessen hatten. An den Tag, als wir einen aus dem Nest gefallenen Vogel mit nach Hause gebracht und stundenlang geheult hatten, als er starb. Ich reiste zurück, spürte die Leichtigkeit der Kindheit, die Unmittelbarkeit der Emotionen.

Nostalgie ist ein sonderbares Gefühl, schwer und leicht zugleich. Ich fühle sie jetzt, da ich über diesen Abend schreibe, das Wiedersehen mit Nora, das so einfach hätte sein können, ein Wiederaufleben einer Freundschaft, die ich zerstört hatte. Ich hoffte auf Vergebung in diesen ersten Stunden, war naiv genug, zu glauben, wir könnten dort weitermachen, in den guten Zeiten, in denen wir wie Schwestern gewesen waren. Ich denke gerne an diesen Moment zurück, zwinge meine Erinnerung, dortzubleiben und alles auszublenden, was danach kam.

»Jetzt aber wirklich«, sagte ich nach dem Essen, als wir über weiteren Keksen und Kaffee saßen und es keine gemeinsamen Bekanntschaften mehr gab, über die wir hätten reden können. »Wie sieht dein Leben aus?«

Sie rührte in ihrer Tasse, als müsste sie scharf nachdenken. Dann atmete sie ein, spannte den Rücken und sah auf. »Em, ich bin schwanger.«

Ich stutzte einen Moment, doch dann streckte ich mich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Das ist wunderbar, herzlichen Glückwunsch.« Und ich meinte es so oder wollte es so meinen.