Wasser, Wind und Weite - Katja Fiona Graf - E-Book

Wasser, Wind und Weite E-Book

Katja Fiona Graf

4,4

Beschreibung

"Papa, ich bin so weit gefahren, bis da kein Land mehr war und es fühlte sich noch immer nicht weit genug an." Lenas Welt gerät aus den Fugen, als sie entdeckt, dass Robert sie die ganze Zeit nur belogen hat. Sie flieht vor ihrem alten Leben auf eine kleine ostfriesische Insel und lernt Dierk kennen, ein Mann der irgendwie immer für alles eine Lösung hat, und Lenas Welt droht plötzlich kopfzustehen. Soll sie wirklich alles stehen und liegen lassen und ihrer Heimat für immer den Rücken kehren? Ein Roman über die Wandlungen im Leben und die Veränderungen, die es manchmal braucht, um etwas Neues zu beginnen.

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Seitenzahl: 219

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Für Stefan

In Erinnerung an einen wunderschönen Urlaub. Love you to the moon and back.

Zum Buch

„Papa, ich bin so weit gefahren, bis da kein Land mehr war und es fühlte sich noch immer nicht weit genug an.“

Lenas Welt gerät aus den Fugen, als sie entdeckt, dass Robert sie die ganze Zeit nur belogen hat. Sie flieht vor ihrem alten Leben auf eine kleine ostfriesische Insel und lernt Dierk kennen, ein Mann, der irgendwie immer für alles eine Lösung hat, und Lenas Welt droht plötzlich kopfzustehen.

Soll sie wirklich alles stehen und liegen lassen und ihrer Heimat für immer den Rücken kehren?

Ein Roman über die Wandlungen im Leben und die Veränderungen, die es manchmal braucht, um etwas Neues zu beginnen.

Über die Autorin

Katja Fiona Graf schreibt seit über 20 Jahren Romane und Kurzgeschichten. Am liebsten schreibt sie über das Meer und das malerische England, wo sie eine Zeit lang gelebt hat. Ihre Geschichten handeln von Menschen und den Veränderungen des Lebens. Aber immer mit Happy End Garantie. Ihre Bücher sollen Mut machen, auch wenn es im Leben mal nicht so läuft, wie geplant.

Katja Fiona Graf wohnt mit ihrem Mann im fränkischen Nürnberg.

Neben dem Beruf studiert sie Psychologie und betreibt ihre eigene psychologische Beratungspraxis Lebensfreude.

Wasser, Wind und Weite war ihr erster Roman.

Weiter erschienen sind:

2016 - Wasser, Wind und Weite

2017 - Küss mich, bevor du gehst

2019 - Keine Sekunde länger

2021 - Evan – always forever

Inhaltsverzeichnis

1. Die Flucht

2. Im Watt

3. Dierk

4. Robert

5. Die Entscheidung

6. Simon

7. Wasser, Wind und Weite

8. Freising

9. Dreamteam

10. Elton John

11. Die Überraschung

12. Tage am Meer

Epilog

Danksagung

Leseprobe

1. Die Flucht

Lena saß am Strand und blickte hinaus aufs Meer. Sie hatte die Lehne ihres Strandkorbs etwas zurückgestellt und das kleine Fußbänkchen ausgezogen. Geschützt vor der steifen Brise, die hier immer wehte, genoss sie es, in der Sonne zu liegen. So hatte sie es sich vorgestellt. Es war wie im Bilderbuch. Die See war heute ruhig und die Wellen schwappten sanft ans Ufer. Das Geräusch der Wellen machte sie ein wenig schläfrig und sie streckte sich gemütlich aus. Der Himmel war blau, hellblau! Ganz anders als zuhause. Hier schien der Himmel durchsichtig und die wenigen Wolken am Himmel wirkten wie dünnes Papier oder Seide, durchscheinend und klar. Sie konnten der Sonne nichts entgegensetzen. Der Tag war strahlend schön und die Sonne zauberte tausende von Lichtreflexen auf die Wasseroberfläche, die wie winzige Spiegel in einem Kaleidoskop auf den Wellen tanzten.

Die Möwen zogen kreischend ihre Kreise über dem Wasser und tauchten ab und zu pfeilschnell in die Wellen, um kurz darauf mit einem Fisch im Schnabel wieder nach oben zu steigen.

Lena sog die frische Luft mit geschlossenen Augen ein und genoss den Geruch nach Salzwasser und Meer. „So könnte es immer sein“, dachte Lena und machte es sich in dem geräumigen Strandkorb gemütlich.

Das hatte sie sich gewünscht. Gleich nach der Trennung von Robert hatte sie die Reise gebucht. Sie wollte nur eins: Weg!

Weit weg! Es war weniger ein Urlaub, es war eine Flucht. Ja, wenn sie ehrlich war, war sie weggelaufen. Weg von der leeren Wohnung, den einsamen Abenden, den mitfühlenden Freunden und dem schonungslosen Gerede ihrer Mutter, die natürlich mal wieder „gleich gewusst hatte, dass Robert nicht der Richtige für sie war“. Sie wollte das alles hinter sich lassen. Vor allem die Erinnerung daran, wie sie ihn aus dem Babygeschäft hatte kommen sehen, glücklich, mit einem Zwillingskinderwagen und seiner über das ganze Gesicht strahlenden, hochschwangeren Frau. Lena hatte im Straßencafé gegenüber gesessen und wollte ihren Augen nicht trauen. Erst als Robert den Kinderwagen umständlich in sein kleines Cabrio verfrachtete, war sie sich wirklich sicher.

„Schatz, es wird jetzt wirklich Zeit, dass du dir ein größeres Auto kaufst, in ein paar Wochen sind die Zwillinge auf der Welt! – Wir brauchen eine Familienkutsche, Darling!“, hatte seine Frau lachend gesagt. „DU brauchst ein größeres Auto, Schatz!“, hatte Robert entgegnet. "Wir kaufen dir gleich nächste Woche ein hübsches Auto mit allen Raffinessen, zwei Kindersitzen, einer großen Ladefläche für den Kinderwagen und allem, was du dir wünschst. Für meine Fahrten ins Büro ist der Roadster genau richtig, umso schneller kann ich wieder bei euch sein“. Er geleitete seine Frau noch zur Eingangstür des Ärztehauses, gleich neben dem Café.

„Dr. Meier, Gynäkologe“, hatte Lena, von Weitem, das Schild neben der Tür entziffert. „Geh schon mal hoch zu Dr. Meier, ich komme gleich nach, sobald ich unseren „Einkauf“ nach Hause gebracht habe.“ Dabei hatte er lachend auf den großen Kinderwagen, der zur Hälfte aus seinem Cabrio hing, gedeutet. „Fangt nicht ohne mich an!“ Mit einem Lächeln war er in sein Auto gesprungen und davongebraust.

Lena war aufgesprungen und im Eilschritt zum Ärztehaus gelaufen. Sie war gleichzeitig mit der Frau am Aufzug angekommen und hatte ihr freundlich die Tür aufgehalten. Lena war sofort der Ehering am rechten Ringfinger aufgefallen. Sie waren also wirklich verheiratet!

Roberts Lüge mit dem Verlobungsring, der noch immer einen weißen Streifen auf seiner Hand zeichnete, obwohl er angeblich schon so lange Single war. Angeblich hatte er den Ring in einen See geworfen. Alles erfunden. Er hatte sie die ganze Zeit über angelogen. Jetzt war ihr auch klar, warum sie immer bei ihr waren. Sie kannte Roberts Wohnung nicht, nicht seine Freunde, nicht seine Familie. Auf einmal machte das alles Sinn, es fügte sich wie ein Puzzle zusammen.

Lena hatte die Praxis nach der hochschwangeren Frau betreten.

„Isabella Hammacher, ich habe einen Termin!“ Hammacher! Das war der endgültige Beweis.

„Frau Hammacher, ist denn ihr Mann heute gar nicht mit bei der Untersuchung?“ Die freundliche Sprechstundenhilfe schien sichtlich enttäuscht. „Doch, er kommt gleich nach, wir haben nur gerade den Zwillingskinderwagen gekauft, den muss er schnell zuhause ausladen. Er wird sicher da sein, bis ich drankomme!“ Frau Hammacher und die Sprechstundenhilfe tauschten ein vertrauliches Lächeln. Isabella strahlte und sah unglaublich glücklich aus. Lena wollte sich übergeben, einfach umfallen, schreien….was auch immer. Stattdessen blickte sie sich suchend in der Praxis um und erklärte der Sprechstundenhilfe, sie suche nach ihrer Freundin, die sie abholen wollte, habe sie aber vermutlich verpasst. Dann war sie aus der Praxis geeilt.

Robert hatte sich am nächsten Tag wie immer per SMS bei ihr gemeldet:

Ich vermisse deine heißen Küsse,

den Duft deines Haares,

deinen sinnlichen Mund.

Wann kann ich dich sehen?

R.

Lena hatte geantwortet:

Ich vermisse weder deine Lügen,

noch DICH!

Habe dich beim Einkauf des Zwillingswagens gesehen

und deine Frau beim Arzt getroffen!

Ruf mich nie wieder an!!!

L.

Dann hatte sie den Entschluss gefasst zu verreisen. Hierher, an die Nordsee. Sie mochte das raue Klima, es passte zu ihrer Stimmung. Die raue See, den Wind und die Menschen auf den Inseln. Sie waren freundlich und ehrlich. Kein unnützes Geschwätz. Wenn sie jemanden nicht mochten, dann zeigten sie es auch, und wenn sie dich mögen, dann geben sie ihr letztes Hemd für dich. Lena mochte die Mentalität der Ostfriesen. Sie waren gesellig, gerade heraus und hatten das Herz am rechten Fleck.

Eine Woche Strand, Sonne und Meeresrauschen, das war genau das, was sie jetzt brauchte. Vielleicht würde sie sich eine kleine Affäre gönnen? Vielleicht mit einem Fischer? Einem rauen Naturburschen mit weichem Kern. Vor Lenas geistigem Auge erschien ein groß gewachsener, dunkelblonder Mann mit einem kratzigen hellen Drei-Tage-Bart. Er trug einen Wollpulli mit Zopfmuster, ein Hanseat, wie er im Buche steht. Lena rekelte sich im Strandkorb. Es fiel ihr schwer, die Augen wieder zu öffnen und ihren kleinen Tagtraum zu beenden. Sie musste selbst über ihre albernen Gedanken lächeln. Zum Glück konnte sie das jetzt wieder. Nach der Trennung von Robert konnte sie nicht mal weinen. Was war das, was sie hatten?

Eine Beziehung? Nein, dazu sahen sie sich zu selten. Eine Affäre? Dazu dauerte es schon zu lange!

Lena war erst jetzt klar geworden, dass sie Robert nie wirklich geliebt hatte. Er war da, wenn sie es wollte und ließ sie in Ruhe, wenn sie keine Zeit hatte. Er war praktisch! Die meiste Zeit gab er vor, viel arbeiten zu müssen. Kongresse, Tagungen, Reisen. Angeblich war er ständig unterwegs und hatte selten Zeit zuhause zu schlafen. Er blieb fast nie über Nacht, sondern fuhr spät abends in seine Wohnung, unter dem Vorwand am nächsten Tag früh raus zu müssen.

Lena gab sich hier und jetzt im Strandkorb ein Versprechen: Robert war für sie gestorben, sie würde nie wieder auch nur einen Gedanken an ihn verschwenden. Um ihrem Versprechen eine symbolische Tat folgen zu lassen, stürzte sie sich in die Fluten. Sie würde in dem frischen kalten Wasser alle Erinnerungen an ihn abwaschen.

Am Strand war wenig los. Einige Kleinkinder badeten mit ihrem Sandeimer in flachen Kuhlen, die sie sich ausgehoben hatten, einige alte Damen hatten ihre Röcke gerafft, um in dem 18°C kalten Meer Wassertreten à la Kneipp zu veranstalten. Außer ein paar alten Herren mit Badekappe war kaum jemand im Wasser. Lena hielt die Luft an und lief mutig immer tiefer in die kalten Wellen hinein. Als ihr das Wasser bis zum Bauchnabel schwappte, entfuhr ihr ein kleiner Schrei. Es war herrlich, kostete aber auch Überwindung. Lena gab sich einen Ruck und tauchte mit einem Satz unter. Sie genoss das kalte Wasser, die klare Luft. Nach ein paar kräftigen Zügen im Meer fühlte sie sich wie neu geboren. Ihr Kopf war frei, die Gedanken klar und rein wie die See, und sie fühlte sich glücklich, unendlich glücklich und entspannt.

Lena kehrte zurück zu ihrem Strandkorb. Sie hatte den schönsten bekommen, wie sie fand. Er war weiß-blau gestreift und schien nagelneu. Zudem hatte sie Glück und einen Platz in der begehrten ersten Reihe zugeteilt bekommen. Man merkte, dass die Saison zu Ende ging. Die Urlauber wurden weniger, die Ferien waren vorbei, es gab fast nur noch Rentner und Familien mit Kleinkindern auf der Insel.

Lenas Blick fiel auf den Strandkorb gegenüber. Ein Mann saß einsam mit einem Buch auf dem grün-gelben Polster. Lena merkte, dass er sie beobachtete. Er hatte schon seit Minuten keine Seite umgeblättert und schien immer wieder dieselbe Stelle zu lesen.

Lena musste lächeln. Sie wickelte sich in ihr Handtuch und griff ebenfalls zu ihrem Buch, jetzt konnte der Urlaub beginnen!

Das Frühstück hatte für Lena eine Überraschung parat, am Nachbartisch saß „Mr. Right“. Lena traute ihren Augen kaum. Sie hatte sich am Morgen schnell geduscht und war in ihre neue Leinenhose geschlüpft, dazu hatte sie das neue rot-weiß geringelte Top gewählt. Jetzt kam sie sich vor wie ein Vollidiot. Sie sah aus wie die Millionen von Rentnern, die jedes Jahr die Insel bevölkerten und meinten sie müssten sich herausputzen wie die Teilnehmer einer Segelregatta. Lena kam sich unendlich albern vor. Die neuen roten Segelschuhe unterstrichen ihr peinliches Outfit nur noch mehr. Dazu kam, dass Lena noch nasse Haare hatte. Sie hatte sie kurz vor der Abfahrt auf Kinnlänge abschneiden lassen, was sich als ungemein praktisch erwies. Jetzt konnte sie es wirklich einfach nur nach hinten kämmen und an der Luft trocknen lassen, die perfekte Strandfrisur. Allerdings nicht, um beim Frühstück dem Traummann zu begegnen. Lena erwog kurz, in ihr Zimmer zurück zu flüchten, doch die freundliche Pensionswirtin war schneller.

„Guten Morgen! Na? Haben Sie was Hübsches geträumt? Sie wissen doch, was man in der ersten Nacht träumt, geht in Erfüllung! Und bei uns auf der Insel stimmt das sowieso!“ Frau Hansen lachte mit ihrer tiefen rauen Stimme. „Tee oder Kaffee, min Deern?“

„Kaffee, bitte!“ Lena deutete auf die Kaffeekanne, um eine weitere Nachfrage der Wirtin auszuschließen. Tatsächlich blieb ihr kleines Gespräch am Nachbartisch unbemerkt. Der Fremde war fest in den Artikel seiner großformatigen Zeitung vertieft. Lena erkannte Börsenkurse und Diagramme auf der Rückseite, was den Schluss zuließ, dass es sich um ein Handelsblatt oder die Börsen-Zeitung handelte.

Der kleine Frühstücksraum war sehr nett und übersichtlich eingerichtet. An einer Seite stand ein langer Tisch, hier war ein liebevolles Buffet mit Wurst, Käse, Marmelade, Honig, Milch, Butter und diversen Müslisorten aufgebaut. Daneben stand ein antikes Küchenbuffet, das einen großen Korb mit Brötchen sowie ein Blech Kuchen, eine Karaffe mit Saft und einen großen Obstkorb bereithielt. Hier war wirklich an alles gedacht. Lena fühlte sich unendlich wohl. Das kleine Haus strahlte so viel Liebe und Wärme aus und wurde von Frau Hansen mit alten ostfriesischen Mustern, Keramik und Tischwäsche liebevoll dekoriert.

Lena hatte sich ein Brötchen geholt und genoss den frisch gepressten Saft, ein Ei und den köstlichen Kaffee, als Frau Hansen erneut den Frühstücksraum betrat. Diesmal steuerte sie zielsicher auf den Unbekannten am Nachbartisch zu: „Na, Dierk? Willst noch büsschen Kaffee? Du büscht schooon wiedder voll am Arbeiten, was?“ Frau Hansen verfiel leicht ins Plattdeutsche, während sie mit den Händen die Krümel vom Tisch wischte.

Der Unbekannte hob jetzt endlich den Kopf und schenkte seinem Gegenüber ein strahlendes Lächeln. Lena nutzte die Gelegenheit, um ihn eindringlich zu mustern. Er war wirklich der Mann aus ihrem Tagtraum am Strand. Dierk hatte dunkelblondes Haar, nicht zu kurz geschnitten, und einen perfekt getrimmten 3-Tage-Bart. Die dunklen Stoppeln unterstrichen das kantige Kinn und gaben ihm ein sehr markantes Aussehen. Seine Augen waren dunkelblau und schienen zu leuchten, wenn er lachte.

„Nein, danke Tante Wiebke. Ich muss los“, damit stand er auf, drückte Frau Hansen einen Kuss auf die Wange und war im nächsten Moment lächelnd zur Tür hinaus verschwunden.

Langsam leerte sich der kleine Raum und Frau Hansen fing an, das Buffet abzutragen.

„Möchten Sie noch Kaffee?“, fragte sie fröhlich in Lenas Richtung. „Nein, vielen Dank! Aber können Sie mir sagen, ob ich in der Nähe ein Fahrrad ausleihen kann?“

Frau Hansen griff nach einer der Visitenkarten der kleinen Pension und kritzelte einen Gruß darauf. „Hier, damit gehen Sie nach Hansens Fahrradverleih. Gleich am Ende der Straße. Das Geschäft gehört meiner Schwester. Wenn Sie sagen, dass Sie von mir kommen, bekommen Sie nen guten Preis“, und mit einem Augenzwinkern fügte sie flüsternd hinzu, „und die neuesten Fahrräder“.

Lena machte sich sofort auf den Weg. Sie hatte nur kurz den kleinen Rucksack und die neue Regenjacke aus ihrem Zimmer geholt und war schon wieder draußen vor der Tür. Mit geschlossenen Augen sog sie die frische Luft ein, die vom Meer her wehte, und fühlte sich so wohl wie ein Fisch im Wasser.

Der Fahrradverleih befand sich direkt am Ende der Straße. Ein mürrischer alter Mann betrachtete sie misstrauisch, als Lena den Hof betrat. Nur mühsam erhob er sich von seiner Bank vor dem Haus. „Een Radd min Deern?“, fragte er jetzt in bestem Plattdeutsch, wobei er das Wort Rad mit einem äußerst kurzen a aussprach, dafür das d aber umso mehr betonte.

„Ja, bitte!“ Lena überreichte ihm die Visitenkarte. „Ich wohne im Haus Wiebke, Frau Hansen meinte, Sie haben hier die schönsten und besten Räder.“ Das Gesicht des Alten hellte sich sichtlich auf. „Ah, Sie wohnen also hier? Ich dachte schon, Sie sind eine von den Tagesgästen, die hier am Wochenende immer von den Ausflugsdampfern ausgespuckt werden“, er lachte ein tiefes grollendes Lachen. „Nix für ungut, min Deern.“ Er griff nach dem ersten Rad in der vordersten Reihe. „Wie wär’s damit? Ich mach dir noch Luft auf´ de Schläuche und dann kann dat losgehen“. Der Alte mühte sich mit der Luftpumpe, während er zum Haus hoch rief: „Christel, komm du mal! Da is wer von deiner Schwester ihrer Pension“.

Mit wenigen Handgriffen hatte er einen schönen großen Korb am Lenker des Rades befestigt und Glocke und Bremsen auf Funktion getestet. Dann kam Christel aus dem Haus. Sie war eine fröhliche, groß gewachsene Frau mit einer Mähne aus kinnlangen, blonden Locken, die ihr vom Wind ständig ins Gesicht geblasen wurden. Sie reichte Lena freundlich die Hand: „Willkommen auf der Insel! Ich hoffe, mein Vater hat Sie nicht erschreckt, er ist manchmal ein wenig ruppig.“ Lena musste lachen, „Nein, ganz und gar nicht.“ Überrascht blickt Lena auf die kleine Papiertüte, die Christel jetzt in den Fahrradkorb stellte. „Ein kleiner Gruß für unsere Gäste“, erläuterte Christel herzlich. Lena griff in die Tüte und fand einen Apfel, einen kleinen Orangensaft, ein belegtes Brot sowie einen Inselplan. Lena war so ergriffen, dass sich ihre Augen beinahe mit Tränen füllten. „Wie lieb! Vielen, vielen Dank.“ Lena schwang sich aufs Rad und radelte davon, bevor sie echt noch anfing zu heulen. Was war denn nur mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so nah am Wasser?

Der Inselplan führte sie direkt ans östliche Ende der Insel. Dank des liebevollen „Ausflugspaketes“ konnte sie direkt durchradeln, ohne sich in einem Supermarkt um Verpflegung kümmern zu müssen.

Lena fuhr durch einen kleinen Kiefernhain, vorbei an den zahlreichen schönen Villen und Ferienhäusern der besser betuchten Feriengäste, hinauf zum Damm und über die Deichkrone hinunter zum Wattenmeer. Dort machte sie Halt und erkundete die Informationstafel. Sie erfuhr, dass es täglich geführte Wattwanderungen gab, Anmeldung im Haus des Gastes.

Lena entschied, sich gleich für den nächsten Tag anzumelden. Da studierte sie die Tafel weiter, lernte etwas über die Vögel und Tierarten im Watt, den Wattwurm und die Gezeiten.

Lena schob das Rad weiter über die Deichkrone, bis sie das Naturschutzgebiet wieder verlassen hatte, dann machte sie an einer Bank auf einer kleinen Düne Rast. Es war herrlich hier oben zu sitzen und aufs Meer zu schauen. Der Wind blies kräftig und bewegte das Dünengras, das sich in der Sonne in leuchtendem Grün vom weißen Sand abhob. Lena genoss das Brot und den Saft und hatte das Gefühl, noch nie so eine gute Vesper gegessen zu haben. Der Wind und die Luft machten hungrig und die Erinnerung an Christel und den Fahrradverleih ließen es noch mal so gut schmecken.

Lenas Ausflug endete am neuen Leuchtturm. Hier musste sie den Deich verlassen und wieder auf den geteerten Straßen des Inselzentrums fahren. Sie entschied sich für einen Abstecher durch die Fußgängerzone. Dort wollte sie ein paar Postkarten kaufen und sich dann gemütlich in ihren Strandkorb zurückziehen.

In der Fußgängerzone herrschte reges Treiben. Heute war kein Badewetter. Am Nachmittag waren Wolken aufgezogen und ein kräftiger Wind hielt die Leute vom Strand fern. Sie flanierten auf der Uferpromenade, standen Schlange vor der Eisdiele und bevölkerten die zahlreichen Strandcafés. Lena musste absteigen und das Rad schieben. An dem großen Schreib- und Spielwarenladen stellte sie das Rad ab und betrachtete die Ansichtskarten. Lena kaufte drei große Panoramakarten, ohne zu wissen, wem sie schreiben wollte, und entschied dann, den Strandkorb ausfallen zu lassen und sich stattdessen ein gutes Glas Weißwein im gegenüberliegenden Café zu gönnen.

Das inseltypische Bistro mit dem schönen Namen „Düne 17“ war gut besucht. Lena hatte Glück und fand in einer Ecke, auf der Terrasse, gerade noch einen kleinen Tisch vor einem Strandkorb. Erschöpft ließ sie sich in die grün-weiß gestreiften Polster fallen und betrachtete belustigt das bunte Treiben auf der Promenade. Genervte Großeltern versuchten, die schreienden Enkel an der Auslage des Spielwarengeschäftes vorbeizuziehen. Hier ließen aufblasbare Schwimmtiere, Sandeimer und Förmchen in fröhlichen Farben, eine große Auswahl Wasserbälle und jede Menge Windspiele und Drachen, die vor dem Geschäft angebunden waren, die Kinderaugen leuchten. Das Drama war natürlich vorprogrammiert und kaum einer schaffte es, die lieben Kleinen an dem Laden vorbei zu bugsieren, ohne nicht doch etwas zu kaufen. Lena nippte an ihrem Wein und betrachtete weiter die Rentner, die sich in der gegenüberliegenden „Strandboutique“ im neuesten Matrosenlook ausstaffierten. Weiter oben an der Straße drängten sich die Menschen in ein Eiscafé. Eine lange Schlange stand am Straßenverkauf an, während andere geduldig auf einen freien Platz im Café warteten. Lena war so vertieft in das Treiben, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass ein Mann auf ihren Tisch zusteuerte. „Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?“ Lena blickte in zwei wasserblaue Augen und glaubte, ihr Herz müsste gleich stehen bleiben. Sie erkannte Dierk aus dem Frühstücksraum sofort. „Gerne!“ Lena bot ihm mit einer Handbewegung den Platz neben sich an und schämte sich bereits im nächsten Moment schrecklich dafür. Noch auffälliger hätte sie ihm nicht zeigen können, wie erfreut sie war. Dierk nahm dankend in einem der geräumigen Korbsessel Platz. Als der Kellner kam, deutete er auf Lenas Glas: „Ich nehme das Gleiche wie die Dame“. Lena blickte ihn überrascht an: „Woher wollen Sie wissen, dass Ihnen der Wein schmeckt?“ Dierk schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Die haben hier nur eine Sorte im offenen Ausschank, einen ausgezeichneten Chardonnay. Wer die Insel besucht, trinkt bevorzugt unser gutes friesisches Bier oder Tee mit Kluntjes und Rahm. Wein wird hier selten verlangt. Sie sehen also, mein Risiko war relativ gering.“ Wieder schenkte er ihr sein umwerfendes Lächeln. „Dierk Hansen“, er streckte ihr freundlich seine Hand entgegen. „Lena, Lena Sachenbacher. Ich kenne Sie aus der Pension. Sie wohnen auch im Haus Wiebke, hab ich recht?“

Jetzt war es raus. Schon wieder hatte Lena gezeigt, dass er ihr aufgefallen war. Sie hätte sich ohrfeigen können.

Dierk Hansen nickte nur mit einem Lächeln. „Sie sind zum ersten Mal auf der Insel?“ Er musterte Lena und zog eine Augenbraue interessiert nach oben.

Schon zum zweiten Mal an diesem Tag schämte sich Lena für ihr Segeloutfit. Belustigt zog sie an ihrem Ringelshirt. „Sieht man das?“

„Nein!“ Auch Dierk musste lachen.

„Auch wenn man von uns immer sagt, wir Ostfriesen laufen den ganzen Tag nur im dunkelblauen Rollkragen Pulli rum. Ein bisschen stimmt das schon, und das gehört zum Land, das ist wie eine Tracht, verstehen Sie?“

„Hmmmm“, Lena nickte begeistert. „Ich finde das auch schön, die grob gestrickten Pullis, die so kuschelig und warm aussehen, irgendwie romantisch. Vor der Abfahrt habe ich mich extra mit ein paar Sachen ausstaffiert, die, wie ich finde, hierher passen, aber jetzt fühle ich mich doch ein bisschen albern.“ Lena deutete auf ihre knallrote Regenjacke mit der großen Kapuze und dem rot-weiß geringelten Futter. „Obwohl, ich glaub, die Regenjacke kann ich heute tatsächlich noch brauchen“, sagte sie mit einem Blick zum Himmel.

„Ja, mit Ölzeug ist man hier nie schlecht beraten“, stimmte Dierk ihr zu. „Gerade jetzt in dieser Jahreszeit werden Sie wohl eher mit den ersten Herbststürmen rechnen müssen, als mit Badewetter“, gab er zu bedenken.

„Ich hab nichts gegen raues Wetter“, konterte Lena. „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung, sagt meine Oma immer.“

Dierk legte den Kopf in den Nacken und lachte: „Dann muss Ihre Oma eine von uns sein“, sagte er heiter und zwinkerte ihr zu.

Nach einem weiteren Glas Wein bestellte Dierk für sie beide Friesengeist und überredete Lena, sie zum Essen einladen zu dürfen. Die Karte der Düne 17 war klein und überschaubar, aber alles klang so unglaublich lecker, dass man sich nicht entscheiden wollte. Schließlich wählten sie beide die Kressesuppe mit Räucherlachsstreifen und eine Ofenkartoffel mit Schmand und frischen Nordsee-Krabben.

Der Friesengeist wurde gebracht und zog alle Aufmerksamkeit auf sich, nicht nur, weil das Glas angezündet wurde und es nun auf ihrem Tisch brannte, sondern vor allem, weil die Bedienung mit einer winzigen Pfanne in der Hand einen Spruch vortrug, bevor sie die Flammen mit dem Pfännchen löschte:

Wie Irrlicht im Moor

flackert´s empor

Lösch aus…

Trink aus…

Genieße leise

auf echte Friesenweise

den Friesen zur Ehr

vom Friesengeist mehr.

Ein paar Urlauber spendeten spontan Applaus und Lena verbrannte sich beinahe den Mund am heißen Glasrand, als sie den Schnaps so schnell wie möglich runterkippen wollte, um nicht noch mehr im Mittelpunkt zu stehen. Dierk tat es ihr gleich, kippte den Schnaps hinunter, der ihnen scharf in der Kehle brannte, und schüttelte sich lachend.

Die Suppe war köstlich und Lena wusste nicht, wann sie zuletzt so entspannt und zufrieden gewesen war. Die Terrasse der Düne 17 lag windgeschützt. Hohe Glasscheiben, die das Straßencafé von der Fußgängerzone abgrenzten, dienten als Windschutz. Um die Tische gruppierten sich neben tiefen, bequemen Korbstühlen auch Strandkörbe, die nicht nur schrecklich gemütlich waren, sondern mit den warmen Stoffpolstern auch an kalten Tagen für Wohlbehagen sorgten. Gegen Abend brachte die Bedienung zudem noch weiche Decken, die sie auf den umliegenden Stühlen verteilte.

Lena verspeiste, warm in eine Decke eingepackt, ihre Ofenkartoffel. Der Schnaps tat sein Übriges, und bald fühlte sich Lena so satt und warm, dass sie nirgendwo auf der Welt lieber gewesen wäre.

In Dierks Gesellschaft fühlte sie sich einfach unglaublich wohl. Er war nicht nur extrem gutaussehend, sondern auch sehr belesen. Er war weit gereist und sie liebte es, ihm zuzuhören. Er kannte Land und Leute und erzählte ihr alte Geschichten, Seemannsgarn genauso wie wahre Anekdoten der Insel. Es gab sogar ein Heimatmuseum und Dierk empfahl ihr, bei Gelegenheit das Inselmuseum im alten Leuchtturm zu besuchen.

Insgeheim hoffte Lena, dass er sie dorthin begleiten würde, und freute sich auf die kommenden Tage.

“Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war.” (Genesis 1:10)

2. Im Watt

Das Licht, das durch die maisgelben Vorhänge fiel, schaffte die Illusion, dass draußen die Sonne schien. Lena befürchtete aber, dass draußen wie immer ein kräftiger Wind blies, der dunkle Wolken vor sich hertrieb. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen und hatte wenig Lust aufzustehen.

Der letzte Friesengeist war eindeutig schlecht gewesen, nur langsam kam die Erinnerung wieder. Sie war mit Dierk heimgeradelt. Nein, Moment, er war geradelt und Lena? Ja, genau, sie hatte auf dem Lenker gesessen. Keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte. Bei der Erinnerung daran schlug sie sich das Kissen vor die Augen…oh Mann!

Sie hatte gekichert wie ein Schulmädchen, er musste sie wirklich für eine totale Idiotin halten. Wie peinlich! Eigentlich hatte Lena keine Lust zum Frühstück zu gehen und auf Dierk zu treffen.

Hatten sie gestern wirklich Brüderschaft getrunken? Nein, aber sie duzten sich jetzt.

Das war ein Fortschritt, oder?

Verdammt! Schnell schwang sie ihre langen Beine aus dem Bett und verschwand unter der Dusche. Heute musste sie echt einen besseren Eindruck machen. Herrje!

Nachdem sie eine gefühlte halbe Stunde unter dem heißen Wasserstrahl gestanden hatte, ihre Beine, Achseln und