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Der geniale Erfinder Watanabe taucht in eine Welt voller Geheimnisse, Gefahren und unerwarteter Gefühle ein. Er reist von Paris in seine Heimatstadt Tokio. Dort soll er als Agent für die mysteriöse "Agency" arbeiten. In einem düsteren Bezirk Tokios macht er Bekanntschaft mit Menschen, Künstlicher Intelligenz und seinen eigenen Gefühlen. Nervenkitzel mit Seele und einer Prise Humor.
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Seitenzahl: 328
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1. Die Entscheidung
2. JayBird 7
3. Die Entscheidung
4. Cheryll
5. Kirschbäume
6. Im Spiegel
7. Shinyuu
8. Skylight
9. Oumu
10. Obasan Hana
11. Hinter der Rutsche
12. Takumi
13. Wäsche
14. Chaos
15. Brüder
16. Fremde Heimat
17. Augenblicke
18. S.O.S.-Save our Souls
19. Frequenzen
20. Die Show
21. Der Apfel
22. Express
Paris, 2123
Takumi Goro Watanabe nannte sich nur »T. G. Watanabe«. Das fand er praktischer. Wenn er mit sich allein war und das war er neunzig Prozent des Tages, dann nannte er sich »Watanabe«. Er sprach auch mit sich und sagte: »Watanabe isst Frühstück« oder »Watanabe kocht sich einen schönen Jasmintee«. Es war, als würde das bloße Aussprechen der Tätigkeiten diesen mehr Wert verleihen und Watanabe mehr am Leben sein. Aber manchmal fielen die Worte ungehört zu Boden und nicht einmal er nahm Notiz von ihnen.
Es war im Jahre 2123, als Watanabe sagte »Watanabe sieht keine Nachrichten mehr.« Denn er hatte genug davon. Er schaffte sogar den riesigen Fernseher ab, der eine halbe Wand einnahm und ihn ein Vermögen gekostet hatte. Er schenkte ihn der Nachbarin, die sich gar nicht mehr einbekommen konnte vor lauter Freude. Es war keine leichte Aufgabe, das Gerät aus seinem Loft in ihr Appartement ein Stockwerk tiefer zu schleppen, doch Watanabe kannte die richtigen Leute dafür.
Nachdem sie gegangen waren, stand seine Nachbarin vor ihm im Flur. Wie er es befürchtet hatte, schenkte sie ihm ihren von ihr selbst gelobten, von ihm verabscheuten Rosinenkuchen, den er kurz darauf an die Katze der anderen Nachbarin verfütterte und den diese wiederum auf dem Balkon des Monsieur Principal ein Stockwerk tiefer erbrach. So machten das Katzen in Paris. Und so musste man es machen mit dem Rosinenkuchen von Madame de la Gorge.
Die Rosinen darin waren so dick und hart, dass T. G. Watanabe stets befürchtete, Madame de la Gorge würde die Kakerlaken im Keller von den Wänden pulen, sie zerhacken und trocknen, um sie dann mit einem gekonnten Löffelschwung unter den Teig zu heben. Oder der Kuchen stammte noch aus der Zeit, als ihr Mann noch gelebt hatte. Watanabe wusste es nicht und er wollte es auch gar nicht in Erfahrung bringen.
Er nannte sie »Madame de la Gorge«, weil er ihren echten Namen vergessen hatte. Wenn sie mal wieder vor ihm stand mit Kuchen oder Fragen, dann lächelte er nur, tat wie ein Japaner, der gerade erst vor dem Krieg geflohen war, und verbeugte sich vor ihr, obwohl er das eigentlich schon seit Jahren nicht mehr machte. Watanabe sah auf die Kathedrale hinaus und seufzte. Dann verließ er Notre-Dame und seine Küche. Er betrat sein hohes, ungemütliches Wohnzimmer aus Beton und Glas, das sich in nichts von einem sterilen Büro oder einer Hotellobby unterschied. Es gab zwei schwarze Ledersofas, einen großen Schreibtisch vor dem bodentiefen Fenster und rechts eine kleine, voll ausgestattete Bar mit zwei knallroten Barhockern davor. Watanabes Schreibtisch war hochmodern und mit noch moderneren technischen Errungenschaften ausgestattet, die auf Befehl ausfahren konnten wie die Gliedmaße eines reptilienartigen Außerirdischen.
Kurzum: Watanabes Wohnzimmer wäre ein perfekter Arbeitsraum für einen Börsenmakler gewesen oder er hätte als Kulisse für einen Krimi dienen können, in dem der reiche Geschäftsmann gleich zu Beginn ermordet wurde. Watanabe setzte sich auf sein schwarzes Ledersofa und wartete auf den Mörder.
Er sah die leere Wand an. Es tat gut, keine Nachrichten mehr zu sehen. Und dennoch hatte er eine erhalten, einen Brief, der in der Küche auf ihn wartete. Nachdem er die Schritte seiner Nachbarin gezählt hatte, stand er wieder auf. Madame de la Gorge trug heute wieder Stöckelschuhe, obwohl er sie mehrfach darum gebeten hatte, das nicht zu tun.
Watanabe schüttelte den Kopf und ging zurück in die Küche. Dort sah er den Brief an, als könnte dieser Beine bekommen oder ihn beißen. Aber er rührte sich nicht. Er lag nur da und wollte gelesen werden oder auch nicht. Nein, er wollte gar nichts. Er war schließlich nur ein Stück Papier aus einer sehr fernen Welt. Es war kein japanisches Papier, obwohl der Brief aus Japan kam. Das heißt: Vermutlich war es kein japanisches Papier. Watanabe untersuchte es. Er hob den Brief hoch, hielt ihn gegen die Deckenlampe, konnte aber nichts Besonderes erkennen.
Nur seine eigene Adresse, ganz altmodisch in Schreibschrift geschrieben. Wer schrieb denn im Jahre 2123 noch Briefe? Es war fast, als hätte er ein antikes Geschenk erhalten. Oben links stand auch »Watanabe«.
Diesen Brief hatte sein Vater geschrieben. Ob er noch lebte? Oder ob es eine seiner letzten Handlungen gewesen war, diesen Brief zu schreiben?
Was auch immer er enthielt, es konnte nichts Wertvolles sein, denn sein Vater hätte es per Sicherheitspost an das Büro von Watanabe geschickt. Aber er hatte es an seine Privatadresse geschickt, und das war merkwürdig, denn es war nicht leicht, die Privatadresse von T. G. Watanabe herauszufinden, dafür hatte er gesorgt. Wie hatte sein Vater also die Adresse herausbekommen? Hatte er jemanden bestochen? Einen Detektiv auf ihn angesetzt?
Sogar die Hausnummer des Lofts stimmte. Und er hatte seinen Namen ausgeschrieben. Das machte hier niemand, hier kürzten sie ihn alle ab. Er hatte ihn schreiben lassen, dachte T. G. Watanabe nun. Denn sein Vater beherrschte zwar Hiragana und Katakana, auch Kanji, aber keine Schriftzeichen, die mit dem römischen Alphabet gebildet wurden.
»An Takumi Goro Watanabe«.
Damals hatte er auch immer beide Namen ausgesprochen »Takumi« und »Goro«. Als er zehn Jahre alt gewesen war, hatte sein Vater ihm erklärt, dass »Takumi« der Zimmermann und »Goro« der fünfte Sohn bedeutete. Da Takumi Goro Watanabe weder Handwerker noch fünfter Sohn war, hatte der Name keinerlei Bedeutung für ihn. Er hätte lieber »Paul Schmidt« oder »Peter Berg« geheißen oder einen anderen europäischen oder amerikanischen Namen gehabt.
Er stand vor dem Brief. Dieser rief ihm zu, er sollte sich setzen. Er sollte ihn lesen. In Ordnung. »Was willst du?«, grummelte Watanabe. Was konnte ihm sein Vater nach all dieser Zeit noch sagen? Warum hatte er ihm einen Brief geschrieben?
Watanabe zögerte, den Brief zu öffnen, denn er hatte Angst, mit dem Aufreißen des Umschlags auch alte Wunden aufzureißen. Er befürchtete, dass dieser Brief ihm nichts Neues sagen würde oder dass er ihm etwas mitteilen würde, was sein Leben auf einen Schlag verändern könnte. Er fragte sich, ob das schlimm wäre. Seine eigene Firma lief besser ohne ihn.
Er hasste die meisten Menschen, Menschen überhaupt. Und er vegetierte hier vor sich hin, nicht anders als der struppige Kater von Simone. Auch ihm brachte man Essen. Nur streichelte ihn niemand.
Jetzt holte er tief Luft und schob das Küchenmesser unter die rechte Lasche. Er schnitt so vorsichtig, als würde er eine gefährliche Operation vornehmen. Dann zog er aufgeregt ein vergilbtes Blatt Papier und einen kleinen flachen Datenstick heraus. Der Brief war in einer krakeligen Handschrift geschrieben. Watanabe begann zu lesen.
Mein lieber Sohn, bestimmt bist du überrascht, nach so langer Zeit etwas von mir zu hören. Ich weiß, dass du mich hasst. Es ist verständlich, dass du mich nie wiedersehen wolltest. Und auch, dass du mir nie verzeihen wirst. Du hast alles Recht der Welt dazu. Ich schreibe dir diesen Brief, weil ich dir etwas sagen muss, bevor ich sterbe. Aus deiner Sicht bin ich ein Monster. Denn du denkst, ich hätte deine Mutter ermordet. Lieber Sohn, du bist wütend und der Meinung, ich hätte dich im Stich gelassen. Du hasst mich, weil ich dir alles genommen habe.
Watanabe sah auf. Es stimmte. Jedes Wort war wahr. Alle Gefühle, die sein Vater ihm zuschrieb, stimmten. Er las weiter:
Aber jetzt ist an der Zeit, dass ich dir die Wahrheit sage. Ich muss dir die ganze Geschichte erzählen. Ich muss dir erklären, warum ich getan habe, was ich getan habe. Und ich muss dir endlich sagen, wer ich wirklich bin.
Ich bitte dich darum, mir zuzuhören und diesen Brief zu lesen. Bitte gib mir eine Chance! Dein Vater Hiroshi
T. G. Watanabe legte den Brief beiseite und griff nach dem Stick. Er ging in den großen, kombinierten Wohn- und Arbeitsraum und sagte: »Work!«, woraufhin ein gläserner Bildschirm aus dem Tisch fuhr, der sich nun in einen Schreibtisch verwandelte. Watanabe setzte sich und steckte den Speicherstick in seinen Computer. Dann sagte er: »Play!«
Anschließend sah er wie gebannt zum Bildschirm. Dort erblickte er das Bild eines blühenden Kirschbaumes und hörte die Stimme seines Vaters aus den Lautsprechern. Nun sprach er Japanisch mit Takumi.
Mein lieber Sohn, lieber Takumi Goro,
ich weiß nicht, ob du diesen Brief jemals lesen wirst oder ob du dir diese Nachricht jemals anhören wirst. Ob du mir antworten wirst? Auch das weiß ich nicht. Aber ich muss es versuchen. Ich muss dir meine Geschichte erzählen und dir die Wahrheit sagen. Ich bin nicht der Mann, für den du mich hältst. Ich bin auch nicht der, der ich zu sein scheine. Nie konnte ich sein, wer ich wirklich war. Es ist ein solch hohes Gebäude der Lügen um mich herum entstanden, dass es mich zu erdrücken scheint. In meinem letzten Albtraum hast du vor mir gestanden und »Warum?« gerufen.
Ich habe dich festgehalten und wollte mit dir sprechen, doch du bist weggerannt, so wie damals. Bitte lauf jetzt nicht weg, Takumi Goro! Schalte nicht aus!
Du musst wissen: Ich bin kein Japaner. Ich bin kein Geschäftsmann. Und vor allem bin ich kein Mörder.
Ich bin ein Amerikaner. Ein Spion. Ja, du hast richtig gehört, Takumi. Ich wurde in New York geboren, als Sohn eines amerikanischen Agenten und einer japanischen Übersetzerin. Ich wuchs in einer Welt voller Lügen, Intrigen und Gefahren auf. In dieser Welt lernte ich, wie man kämpft, wie man hackt und betrügt. In kurzer Zeit stieg ich schnell auf und wurde über die Jahre zu einem der besten amerikanischen Agenten mit Spezialisierung auf Asien. Man gab mir den Codenamen »JayBird 7«. Ich wurde nach Japan geschickt, um eine geheime Mission zu erfüllen. In Tokio sollte ich die Firma deiner Großeltern infiltrieren, die an einer neuen Technologie arbeitete, die das militärische Gleichgewicht verändern könnte. In »Goto-X-SF« sollte ich Informationen sammeln, Kontakte knüpfen und Sabotageakte durchführen. Ich sollte alles tun, was ich konnte, um die Interessen der USA zu schützen. Und dann lernte ich deine bezaubernde Mutter kennen. Das war gleich zu Beginn, als ich in der Firma angefangen habe.
Wie du weißt, war sie die Tochter des Firmenchefs und des Leiters der Forschungsabteilung. Sakura war schön, klug, freundlich. Sie war alles, was ich nicht war. Diese ruhige Kirschblüte war alles, was ich mir wünschte, dass sie es wäre. Ich habe mich in sie verliebt.
Ich weiß, das klingt unglaublich und unmöglich. Denn es war falsch. Aber es ist die Wahrheit. Ich habe mich in sie verliebt, auch wenn ich es nicht durfte. Und ich habe Sakura Goto darum gebeten, mit mir auszugehen, obwohl ich es nicht sollte. Sie hat »Ja« gesagt. Denn auch sie hatte sich in mich verliebt.
Ich habe sie geheiratet. Wir bekamen dich. Und wir waren eine Familie. Mit zunehmender Zeit vergaß ich meine Mission. Ich vergaß meine Loyalität. Takumi Goro, ich vergaß auch meine Identität. Ich wurde ein anderer Mensch, ein besserer. Denn ich war glücklich.
Aber das Glück währte nicht lange. Denn die Agency fand heraus, dass ich mich in deine Mutter verliebt hatte. Sie schickten Spione, sie hatten ihre Leute überall. Man war nirgends vor ihnen sicher. Sie fanden heraus, dass ich dich gezeugt hatte. Und auch, dass ich sie verraten hatte. Sie waren wütend, enttäuscht und sie waren rachsüchtig. Sie haben einen Mörder geschickt, der mich töten sollte. Er kam in der Nacht, als du zehn Jahre alt warst. Dieser widerliche Mann brach in unser Haus ein. Er schoss auf mich. Aber er hat deine Mutter getroffen. Verstehst du?
Er war es! Und er hat auch auf dich geschossen. Aber du hast dich versteckt und überlebt. Und dann habe ich uns verteidigt.
Wir wurden ins Krankenhaus gebracht und operiert. Wir wurden gerettet. Doch für Sakura war es zu spät. Später fand die Polizei einige Unterlagen. Sie fanden heraus, wer ich war. Und dann haben sie mich im Krankenhaus verhaftet. Sie haben mich beschuldigt, deine Mutter getötet zu haben. Ich habe versucht, ihnen die Wahrheit zu sagen. Immer und immer wieder habe ich ihnen gesagt, ich wäre unschuldig. Aber sie haben mir nicht geglaubt. Nach einer Weile haben sie mir nicht einmal mehr zugehört. Sie haben mich einfach weggesperrt.
Es war schrecklich, was sie mir im Gefängnis angetan haben. Du sollst nur wissen, dass ich während der ganzen Zeit immer nur an dich gedacht habe und daran, wie sehr ich an meiner Familie festhalte und für sie da sein möchte. Für dich. Doch das war mir zu der Zeit leider nicht möglich. Zwanzig Jahre lang war ich im Gefängnis. Takumi Goro, wenn du dies hier hörst, dann bitte ich dich um Verzeihung, dass ich dir nicht früher die Wahrheit gesagt habe. Aber ich habe deine Mutter nicht getötet. Ich war es nicht!
Er machte eine Pause und räusperte sich. Dann sprach er weiter.
Ich denke viel an dich. Ich habe deine Karriere mitverfolgt. Ich habe über meine Quellen herausgefunden, dass du eine Küchenmaschine entwickelt hast, ein Unternehmen gegründet hast und abwechselnd in Paris und New York lebst. Das gefällt mir! Du bist weltoffen und ein guter Geschäftsmann. Das hast du aus der Familie deiner Mutter. Nur New York musst du von mir haben.
Jetzt möchte ich dich um einen Gefallen bitten, nein, ich muss. Es geht um deine eigene Sicherheit. Ich will nicht, dass sie dir etwas antun. Die Agency kann gnadenlos sein. Du musst einen geheimen Chip finden und ihn zur Agency bringen. Aber das wird nicht so einfach sein, denn der Chip ist in Tokio. Du musst ihn finden und ausgraben. Ich habe dir die GPS-Daten auf der Rückseite des Briefes notiert. Sie führen dich zu dem Chip, der unter der Erde liegt. Sie führen dich dorthin, wo ich den Mörder deiner Mutter vergraben habe. Mein Sohn, du musst die Leiche dieses Mannes ausgraben. Denn den Chip mit den Geheiminformationen habe ich damals in einem seiner Backenzähne versteckt. Mehr kann ich dir nicht sagen. Du musst ihn herausholen und der Agency bringen! Sie brauchen diese Daten. Und sie brauchen sie jetzt so schnell wie möglich. Das ist keine Bitte. Es ist ein Auftrag. Denn eigentlich sollte ich es tun, doch ich bin zu schwach dafür. Du musst die Aufgabe deines Vaters übernehmen!
Wenn du es nicht machst, dann werden sie dich töten. Vorher werden sie dich noch erpressen und dich öffentlich in den Schmutz ziehen und sie werden dein Unternehmen vernichten. Ganz zu schweigen davon, was sie alles mit dir anstellen werden...
Wenn du eine Frau hast, dann werden sie sie entführen und ihr auch etwas Schlimmes antun. Hast du eine Frau? Hast du Kinder? Eine Familie?
Ach, Takumi, wie gern ich dich jetzt sehen würde! Bitte besuch mich, sobald du den Auftrag ausgeführt hast. Bitte lass mich dich ein letztes Mal sehen!
Es tut mir leid. Vernichte diesen Brief und diesen Stick, sobald du die Nachrichten gelesen und gehört hast. Merke dir nur die GPS-Daten und fliege so schnell du kannst nach Tokio, um alles zu erledigen!
An der Hauptpost in der Kirschblütenallee in unserem alten Distrikt wird ein Mann namens »Jack« auf dich warten. Sag ihm nur, dass du das Paket mit dem Geschenk für Takumi bringst. Dann kommt jemand anderes und holt dich ab.
Nenn ihm meinen alten Codenamen: »JayBird 7«. Es tut mir leid. Ich weiß, dass du richtig handeln wirst. Du wirst dich nicht schnappen lassen, nicht wahr? Pass auf dich auf!
Er atmete schwer. Dann war er fertig und schaltete die Aufnahme aus.
Watanabe starrte auf den blühenden Kirschbaum auf seinem Flachbildschirm. »Er ist verrückt geworden«, murmelte er. »Vollkommen verrückt!« Dann stand er auf. Als es an der Tür klingelte, vermutete er Madame de la Gorge. Doch irgendetwas war anders als sonst. Sie klingelte sonst immer mindestens drei Mal und klackerte dann vor der Tür mit ihren Stöckelschuhen herum. Doch jetzt vernahm er keine Schritte und die Klingel hatte auch nur einmal geläutet.
Watanabe schaltete die Kamera neben der Eingangstür an. Anschließend sah er auf dem Bildschirm einen fremden Mann. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, weil er einen Hut trug.
Hut und Mantel. So sah ein Auftragskiller aus, dachte Watanabe. Schnell schlich er zurück zum Schreibtisch. Dort öffnete er die Schublade und holte sein Cleverphone heraus. Er steckte es zusammen mit dem Brief und dem Stick seines Vaters in die Innentasche seines Jacketts, da er jetzt beides nicht mehr schnell genug vernichten konnte. Verdammt, seine Pistole hatte er Pierre ausgeliehen. Watanabe stöhnte leise. Anschließend kletterte er durch das Schlafzimmerfenster auf die Feuerleiter hinaus. Dort maunzte ihn Simones Kater an, dem er einfach einen Tritt gab. Während der Kater mitsamt Rosinenkuchen vom Balkon stürzte, fiel ein Schuss.
Watanabe schaute sich nicht mehr um, sondern kletterte auf der Feuerleiter zum Innenhof hinunter. Dabei rang er kurz mit sich, denn instinktiv wollte er lieber nach oben fliehen. Das musste noch aus der Zeit der Säbelzahntiger stammen, dachte er. Aber Takumi wusste, dass das Dach dieses Gebäudes eine Sackgasse für ihn wäre, also musste er den Weg nach unten antreten. Da der Innenhof zur Straße hin durch eine hohe Gittertür verschlossen war, erwartete ihn hier zum Glück noch kein zweiter Killer. Da hockte nur der Kater und fauchte ihn wütend an. Was denn, das Vieh lebte noch?
Madame de la Gorge ging mit einem Müllsack auf den Container zu. »Aber Herr Watanabe, was machen Sie denn da?« Dann schrie sie kurz auf, ließ den Müllsack fallen und bückte sich hinunter, um den vom Balkon gestürzten Kater zu begutachten. Noch bevor sie die Reste ihres Rosinenkuchens neben ihm liegen sehen konnte, schritt Watanabe an ihr vorbei in den Hausflur. Seine Nachbarin rief: »Haben Sie den Schuss gehört? Jetzt schießen die Verrückten schon auf Katzen! Ist das zu glauben?« Er kümmerte sich nicht um sie, sondern sah zum Treppenhaus hinauf. War der Kerl etwa noch da oben? Der Auftragskiller musste allen Ernstes auf seine Tür geschossen haben. Was für ein Anfänger! Ein Profi konnte das nicht sein. Oder er wollte Watanabe so schnell wie möglich loswerden. Aber dafür auf eine Hochsicherheitstür zu schießen, das war schon ziemlich dämlich. Als ob eine Metalltür wie die Stella Stone 3 jemals so eine blöde Kugel durchlassen würde!
Als Watanabe Schritte von oben hörte, riss er kurzerhand den Besenschrank neben sich auf, stellte sich hinein und zog die Tür schnell wieder zu. Mit klopfendem Herzen stand er nun da wie ein Feigling, wie ein dummer Schuljunge. So würde er seinem Vater bestimmt keine Ehre machen!
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch die oberen Schlitze des Metallschranks, die wie Lüftungsschlitze aussahen. Wer hatte diesen Schrank entworfen? Vermutlich ein ewiger Fremdgänger, der sich vor der vorzeitigen Rückkehr eines Ehemannes fürchtete?
Der Mantelmörder verschwand durch die Haustür. Madame de la Gorge trug den Kater durch den Flur und sagte dabei: »Minou, Minou, armes Schätzchen, bist du schon wieder runtergefallen? Ich bringe dich nach Hause zu deiner Mami!« Jetzt ging sie so schwerfällig und laut die Treppe hinauf, als wäre das Minou-Schätzchen tonnenschwer. Watanabe atmete erleichtert auf. Anschließend öffnete er die Schranktür und stolperte hinaus in den Haus-flur. Noch einmal sah er hinauf. Dann hörte er, wie die de la Gorge klapperte und säuselte, bis sie bei Simone klingelte, um ihr ihr Schätzchen zurückzubringen.
Natürlich hätte Watanabe nun nach oben in seine Wohnung gehen können. Er hätte sich einen Jasmintee kochen, die Ruhe und die leere Wand genießen und einfach nichts tun können, außer sich über den Erfolg der Watanabe-Küchenmaschine zu freuen. Er hätte es sich mal wieder bewusstmachen können, dass sie ihm genau das ermöglichte: sich den Luxus zu gönnen, nichts zu tun und sogar den unglaublich teuren Fernseher zu verschenken und eine Wand anzustarren, einfach nur, weil er es konnte. Aber der Brief und der Stick in der Innentasche seines Jacketts drückten auf einmal gegen seine Brust und erinnerten ihn daran, dass er soeben einen Agentenauftrag von seinem Vater erhalten hatte. In diesem Moment fühlte sich Takumi Goro Watanabe so lebendig wie schon lange nicht mehr.
»Ich muss nach Tokio«, sagte er sich. »Jetzt sofort.« Für einen Geschäftsmann wie ihn war das kein Problem. Er hatte sein Cleverphone, mehr brauchte er nicht. Es war sein Ausweis, seine Bankkarte, seine Identität. Und er hatte sogar seine Iris mit dem neuen System von Hu-U-Re (Who you are) irisieren lassen, sodass er sich im Notfall auch ohne Smartphone ausweisen und bezahlen konnte. Er bräuchte nichts zu packen. Ein Koffer würde auch nur auffallen. Und was sollte er Madame de la Gorge sagen? Nein, er müsste jetzt so los, wie er war. In seinem hellgrauen Alltagsanzug und seinen bequemen weißen Sneakers. Alles andere müsste er sich dann eben unterwegs kaufen oder vor Ort.
Kurzerhand schritt Takumi Goro Watanabe durch den hohen Hausflur, an den Briefkästen vorbei und fühlte sich ein wenig feierlich und zugleich auch melancholisch beim Anblick des bunten Jugendstilfensters. »Wann Watanabe wohl wiederkommt?«, fragte er sich, bevor er die Tür öffnete.
In seiner Straße, der Rue des Ursins, im ältesten Viertel von Paris, der Île de la Cité, brauchte er nur ein paar Meter bis zum Jardin des Ursins zu gehen, um ein Lufttaxi zu nehmen. Und das tat er. Es war kühl und ungemütlich. Der Himmel war so grau wie die Straße. Die Luft roch verpestet wie immer. Die Verrückten zündeten schon wieder Feuer am Fluss an.
Kaum jemand ging hier zu Fuß. Seit dem Ende des Dritten Weltkrieges hatten sich hier nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Wegelagerer niedergelassen. Sie lebten trotz aller Verbote und Kontrollen an den Ufern der Seine. Diese armseligen Kreaturen hatten sich den Fluss zu eigen gemacht, als würde er sie hervorbringen. Jede Nacht gebar er neue Gestalten. Jeden Morgen wurden sie von der Gendarmerie entfernt. Anschließend räumten Maschinen die Reste weg. Und dann ging das Ganze wieder von vorn los. Manchmal fischten sie auch Leichen aus dem Fluss.
Watanabe ließ die Jalousien mit Blick zur Seine immer geschlossen, obwohl Nathalie gesagt hatte, wie schön es wäre, auf die Seine hinauszuschauen. Aber Nathalie war nur eine Nacht geblieben und die Typen da unten kamen jede Nacht wieder. Also blieben die Jalousien geschlossen. Watanabe schaute aus seiner Wohnung nur vorn hinaus zur Kathedrale.
Verdammt, jetzt war er in eine Pfütze getreten. Die guten Schuhe! Diese Sneakers hatten ihn ein Vermögen gekostet. Watanabe ging schneller. Dabei verschränkte er die Arme vor der Brust, um seine Wertsachen zu schützen und weil es recht kühl war. Heute trug er nicht seinen besten Anzug. Das war gut so. Er sah aus wie ein Vertreter. Ein Japaner, der hier nur Klinken putzte. So wie er es tatsächlich vor vielen Jahren gemacht hatte, bevor er Herrn Sack und Mister Bright kennengelernt hatte. Es war seltsam, aber »Sack und Bright«, die nun wirklich einen guten Grund dafür gehabt hätten, einen neuen Namen für ihre Firma zu erfinden, hatten sofort etwas in ihm gesehen, mehr als Takumi damals selbst. Es war nur gut, dass er darauf bestanden hatte, seine Küchenmaschine »Watanabe-Express« zu nennen und nicht »Sack & Bright Special«.
Jetzt winkte er einem Flugtaxi zu. Dieses hielt, senkte sich herab und er stieg ein. »A l'aéroport Charles de Gaulle, s'il vous plaît!«, sagte er und wunderte sich selbst darüber, dass es akzentfrei geklungen hatte. Der Fahrer nickte. Dann hoben sie wieder ab und flogen, wie es sich für die Flugtaxis dieses Arrondissements gehörte, nur in Höhe des zweiten Stockwerks der Gebäude in Richtung des Flughafens Charles de Gaulle, der 3,6 km nordöstlich von hier lag.
Es war sonderbar, dachte Watanabe. Hier sprachen nur noch die Chauffeure der Flugtaxis Französisch. Alle anderen sprachen Deutsch oder Englisch. Amerikanisches Englisch. Eine Wohnung in der Rue des Ursins schienen sich nur noch wenige Franzosen leisten zu können. Woran das lag, wusste Watanabe nicht. Vielleicht lebten die wohlhabenden französischen Geschäftsleute auch lieber beim Sacre-Coeur, in der Nähe des höchsten Gebäudes der Stadt. Der neue Towerteiffel sollte an den Eiffelturm erinnern. Watanabe fand ihn hässlich. Die Lofts dort waren allerdings gar nicht so schlecht, das musste er zugeben.
Als sie an der Kathedrale vorbeiflogen, vermutete er, dass man hier nie höher fliegen durfte, als Notre-Dame war. Er lächelte der alten Dame zu. »Drück mir die Daumen!«, flüsterte er in Gedanken dem von Plexiglaswänden umgebenen Dinosaurier der Kirchenbaukunst zu.
Watanabe saß in dem autonomen Flugtaxi, das ihn in rasanter Geschwindigkeit zum Flughafen Charles de Gaulle brachte. Der Himmel war übersät mit fliegenden Fahrzeugen, die in perfekter Synchronisation ihre Bahnen zogen. Während des Fluges streckte er die Hand aus und öffnete das holografische Display, um seinen Flugplan zu überprüfen. In diesem Moment drehte sich der Chauffeur des Flugtaxis, ein freundlicher, menschenähnlicher Roboter, zu ihm um. Plötzlich fragte er ihn auf Japanisch: »Guten Tag, Herr Watanabe. Wie ist Ihre Reise bisher verlaufen?«
Watanabe war überrascht, denn er hatte nicht bemerkt, dass er von einem Roboter geflogen wurde. Erstaunt antwortete er: »Oh, sehr gut. Der Flug ist sehr komfortabel und reibungslos. Wie lange werden wir unterwegs sein?«
»Wir erreichen den Flughafen Charles de Gaulle in etwa zehn Minuten, wenn es keine unvorhergesehenen Probleme mit dem Flugverkehr gibt.«
Watanabe lehnte sich zurück und betrachtete fasziniert die futuristische Skyline von Paris, die sich am Horizont abzeichnete. Als das Flugtaxi den Flughafen erreichte, öffnete sich eine Art Schleuse in der Fassade des Gebäudes und das Fahrzeug glitt sanft in den Empfangsbereich.
Am Flughafen angekommen, stieg Watanabe aus dem Flugtaxi und sah sich beeindruckt um. Futuristische Architektur und modernste Technik prägten die Umgebung. Überall waren Roboter und Drohnen zu sehen, die effizient ihre Arbeit verrichteten. Passagiere wurden von automatisierten Checkin-Systemen begrüßt, während sich autonom fahrende Gepäcktransporter mühelos zwischen den Reisenden bewegten.
Watanabe ging zu seinem Gate und ließ den Flughafen von 2123 auf sich wirken. Die Geräuschkulisse war gedämpft, da die meisten Flugzeuge elektrisch oder sogar schallgedämpft waren. Die Menschen bewegten sich ruhig und zielstrebig, und überall hingen digitale Informationen in der Luft oder wurden an die Wände projiziert. Als er sein Flugzeug betrachtete, erkannte er, dass es sich um ein revolutionäres Hyperschallflugzeug handelte.
Die Welt hatte sich verändert, und Watanabe war mittendrin in diesem futuristischen Wandel. Er konnte seine Aufregung nicht verbergen, als er sich auf den bevorstehenden Flug vorbereitete. Er war bereit, seine erste Reise als Agent anzutreten. Dabei fühlte er sich aufgeregt wie ein Kind, das Räuber und Gendarm spielte. Aber das hier war kein Spiel. Es ging um Leben und Tod. Der Mann, der auf seine Tür geschossen hatte, hätte ihn treffen können. Es war verrückt, dass er ausgerechnet an dem Tag gekommen war, als Watanabe den Brief geöffnet und gelesen hatte. Er hätte dies schon viel früher tun können … und sollen.
Nun begann ein neues Kapitel in seinem Leben. Watanabe spürte es genau. Er war nicht mehr nur der Schöpfer der Watanabe-Express-Küchenmaschine, sondern viel mehr: ein Geheimagent im Auftrag der Agency. So etwas kannte er bisher nur aus Filmen.
Da der Abflug der Superior XL1 unmittelbar bevorstand, hatte er keine Zeit, sich Kleidung oder Proviant zu kaufen, und begab sich direkt in die Abflughalle. Dort setzte er sich in einen der ergonomischen Sessel und ließ sich den Rücken massieren. Hier war nicht viel los, was ihn ein wenig verwunderte. Vielleicht lag es aber auch an dem enorm teuren Flug, den er gerade gebucht hatte. Nicht jeder konnte sich so etwas leisten.
Watanabe ließ seine Gedanken schweifen und dachte an seine Heimat. Mit zehn Jahren hatte er Tokio verlassen. Seine Erinnerungen waren wie ein schnell durchgeblättertes Bilderbuch. Wie ein Reiseführer war es auf das Wesentliche reduziert. Jetzt würde er sehen, was davon noch stimmte und was nur den Klischees eines Weggezogenen entsprach.
Innerlich schmiedete er einen Plan: Zuerst wollte er sich vom GPS zur Leiche des Mörders führen lassen und den Chip aus dem Backenzahn entfernen. Nachdem er den Chip mit den Geheiminformationen dem Kontaktmann der Agency übergeben hätte, wollte er seine Großmutter besuchen, falls sie noch lebte. Und dann könnte er zu seinem Geburtshaus und zu Yui gehen. Was wohl aus ihr geworden war? Sie war die Nachbarstochter und seine große Liebe gewesen. Wurde er auf einmal sentimental? Konnte sich ein Zehnjähriger unsterblich in eine Zwölfjährige verlieben? Das war verrückt. So verrückt wie das alles hier!
Jetzt öffnete sich die Schleuse und eine der japanischen Damen, von denen er nicht wusste, ob sie echt waren oder nicht, winkte ihm zu. Erfreut stand er auf und hielt ihr kurz darauf sein Cleverphone hin, damit sie den Code seines Tickets einscannen konnte. »Haben Sie kein Handgepäck?«, fragte sie ihn auf Französisch. »Nein. Das ist schon in Tokio«, antwortete er auf Japanisch und grinste. Er hielt es für einen guten Scherz, aber leider hatte sie wohl keinen Humor oder nicht seinen. Als er weiterging, drehte er sich noch einmal zu ihr um und sagte sich, dass sie wohl nur eine gut gemachte und gut gekleidete, aber leider humorlose KI war. Erst als er im Gang erneut von den japanischen Damen und Herren des Flugpersonals auf Französisch und auch auf Englisch begrüßt wurde, kam ihm der Gedanke, dass die Frau an der Schleuse vielleicht gar kein Japanisch konnte. Wer sagte denn, dass die hier arbeitenden Personen alle in Japan geboren und aufgewachsen waren? Aber wenn es sich um eine KI handelte, dann war es wirklich dumm, sie nicht mit einem japanischen Sprachchip auszustatten. Er würde mit seinem Wunsch danach, mal wieder Japanisch zu sprechen, wohl noch ein wenig warten müssen. In Paris sprach er nur mit Kaito Japanisch. Er war ein guter Freund und arbeitete als Künstler. Aber da bis auf Watanabe ihm niemand seine Gemälde abkaufte, arbeitete er nebenbei als Touristenführer in Notre-Dame. Er hatte Geschichte und einige Semester Architektur studiert und kannte die Kathedrale wie kein Zweiter. Ohne Kaito hätte Watanabe vielleicht auch schon verlernt, Japanisch zu sprechen.
Jetzt ging er durch die letzte Glasröhre zur Superior XL 1. Zum wiederholten Male wurde er begrüßt, diesmal sogar auf Japanisch, was ihn freute. Ein junger Mann führte ihn zügig zu seinem Platz Nr. 127.
Watanabe bestellte einen Jasmintee und ein zusätzliches Kissen. Er ließ die Fußstütze hochfahren und lehnte sich zurück. Wunderbar! Nun atmete er tief durch, während sich die Kabine mit gedämpftem Licht und leiser Musik füllte. Anschließend griff er nach seinem Cleverphone, um die neuesten Nachrichten abzurufen, als plötzlich eine große blonde Frau neben ihm Platz nahm. Dieses Gesicht! Diese Augen! Aber das war doch ... Cheryll Etranger! Der berühmte amerikanische Filmstar!
Die Bodyguards, die sie begleiteten und nun vor und hinter ihr Platz nahmen, ließen keinen Zweifel zu: Es war Cheryll Etranger!
Nachdem Watanabe sich auch noch mithilfe seines Cleverphones vergewissert und gelesen hatte, dass ihr nächster Film in Tokio gedreht werden sollte und sie dort auch eine extravagante Bühnenshow aufführen würde, geriet er in Panik. Er war ein einfacher japanischer Geschäftsmann und hatte nicht damit gerechnet, mit einem Hollywoodstar auf Reisen zu gehen! Watanabe wusste nicht, wie er nun auf diese unglaubliche Begebenheit reagieren sollte und versuchte, seine Nervosität zu verbergen. Schließlich dachte er, es wäre unhöflich, gar nicht auf sie zu reagieren und so sagte er auf Englisch: »Ähm, ... Verzeihung, ... Guten Tag! Ich bewundere Sie und Ihre Filme sehr.«
Cheryll Etranger lächelte charmant. Mit amerikanischem Akzent antwortete sie ihm: »Danke. Es freut mich, dass Ihnen meine Arbeit gefällt. Wie ist Ihr Name?« »Ich bin Takumi Goro Watanabe. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich bin ein großer Fan von Ihnen.«
Watanabes Gedanken überschlugen sich, während er versuchte, ruhig zu bleiben. Er konnte nicht glauben, dass er neben diesem weltberühmten Filmstar saß. Er fragte sich, ob Cheryll in Tokio vielleicht einen Agententhriller drehen würde, was ihm jetzt absurd vorkam.
Sie sagte: »Danke für die freundlichen Worte, Herr Watanabe. Und was führt Sie zu dieser Reise?«
Watanabe stotterte: »Oh, nun... es ist geschäftlich. Ich ... ähm ... bin in der Küchenindustrie tätig und habe ein wichtiges Treffen in ... in ...«
Cheryll lächelte verständnisvoll. »Ich verstehe, also eine Geschäftsreise. Lassen Sie mich raten, es geht aber auch um etwas Privates und Geheimnisvolles, oder?«
Watanabe antwortete überrascht: »Ja, in der Tat. Es gibt ... sensible Informationen, die ausgetauscht werden müssen. Dann lachte er und fügte hinzu:
»Über eine Küchenmaschine. Kennen Sie die Watanabe-Express?«
Cheryll zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich kenne mich mit Küchenmaschinen nicht aus. Ich habe Köche, wissen Sie?«
»Ja, natürlich«, antwortete er und ärgerte sich über seine dumme Frage.
Cheryll sagte: »Das klingt nach einer vielversprechenden Reise.« Dann wirkte sie seltsam kühl, als sie hinzufügte: »Vielleicht steckt ja mehr hinter Ihren geschäftlichen Aktivitäten, als Sie zugeben wollen, Herr Watanabe.«
Er fühlte sich von Cherylls Blick durchbohrt. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Die Tatsache, dass sie ihn zu durchschauen schien, verstärkte seine Anspannung. Also antwortete er mit einem verlegenen Lächeln: »Nun, ich ... ähm, ... darf leider nicht allzu viele Details über meine geschäftlichen Transaktionen preisgeben. Als Schauspielerin haben Sie doch sicher auch Geheimnisse, oder?«
Darauf antwortete Cheryll mit einem verschmitzten Lächeln: »Oh, da haben Sie recht. Aber manchmal sind die Geheimnisse auch das, was uns gerade ausmacht, nicht wahr?«
Watanabe fühlte sich von ihrem Charme und ihrer geheimnisvollen Art angezogen. Sie unterhielten sich weiter über Paris, New York und Tokio, während das Flugzeug sie durch den Himmel trug. Übermütig bestellte Watanabe sogar einen Skylight-Cocktail für Cheryll und sich, obwohl er sonst nie Alkohol trank. Sie schlug ihm vor, sie »Cheryll« zu nennen. Er nickte strahlend. »Nenn mich Watanabe«, sagte er.
Sie fand das so lustig, dass sie sich vor Lachen kaum halten konnte. Er war überglücklich, während sie durch den Himmel sausten. Es war, als wäre er in Sekundenschnelle in die High Society aufgestiegen.
Nachdem Cheryll Etranger beschlossen hatte, sich in Tokio gleich eine »Watanabe Express« zu bestellen und nachdem sie mit einem Lächeln auf den Lippen neben ihm eingeschlafen war, atmete Watanabe tief durch. Na, das fing ja gut an!
Während die Leibwächter aus den Reihen vor und hinter ihm ihn misstrauisch beäugten, wurde Takumi Goro Watanabe einmal mehr bewusst, dass er sich auf ein Abenteuer eingelassen hatte, das weit über das hinausging, was er sonst täglich erlebte.
Watanabe verließ den Flughafen und ließ die pulsierende Energie Tokios auf sich wirken. Seine Ankunft wurde von einem Medienrummel um Cheryll Etranger begleitet, während er selbst glücklicherweise im Schatten der Aufmerksamkeit blieb. Er machte sich allein auf den Weg, um nicht aufzufallen.
Ohne zu zögern suchte er sich ein Flugtaxi und stieg ein. Leise glitt das Flugtaxi über die Dächer der Metropole und ließ ihn die atemberaubende Aussicht genießen. Er spürte den Wind der viel zu hoch eingestellten Klimaanlage in seinem Gesicht und sah, wie die Stadt unter ihm zum Leben erwachte. Futuristische Fahrzeuge bevölkerten die Straßen, holografische Werbetafeln zogen die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich.
Die markanten Wolkenkratzer reckten sich in den Himmel, als würden sie die Zukunft selbst in die Höhe strecken.
Tokio war für Watanabe mehr als eine moderne Metropole. Es war die Stadt seiner Kindheit, eine Welt voller Erinnerungen und Schatten. Er fühlte eine tiefe Traurigkeit, als sein Blick auf die Kirschblütenallee unter ihm fiel.
Die rosafarbenen Blüten der Kirschbäume, die die Allee säumten, bildeten einen starken Kontrast zu der hochmodernen Stadtlandschaft. Watanabe musste an seine ermordete Mutter denken, die einst unter den blühenden Kirschbäumen ihren letzten Atemzug getan hatte. Die Erinnerung an ihren Tod erfüllte ihn mit Trauer und Schmerz.
Das Blut, das damals den Boden getränkt hatte, hatte eine erschreckende Ähnlichkeit mit der intensiven Farbe der Kirschblüte. Das leuchtende Rot erinnerte Watanabe daran, wie vergänglich das Leben sein und wie schnell alles zerbrechen konnte.
Die Ereignisse von damals hatten seinen Lebensweg geprägt und ihn zu dem gemacht, was er heute war: ein Geschäftsmann, der nach außen keine Emotionen zeigte. Jemand, der lieber allein mit seiner Küchenmaschine war, als sich auch noch privat mit anderen Menschen auseinandersetzen zu müssen.
Cheryll Etranger war soeben eine Ausnahme gewesen. Sein Herz schlug noch schneller als sonst. Sie war nicht sein Typ und viel zu groß für ihn. Trotzdem hatte er sich während des Gesprächs sehr zu ihr hingezogen gefühlt, und es war ihm vorgekommen, als hätte er eine Audienz bei einer Präsidentin gehabt.
Seit er aus dem Badezimmerfenster über die Feuerleiter nach unten geklettert war, hatte er sich verändert. Kaum zu glauben, wie schnell alles passiert war. Erstaunlicherweise fühlte er sich nicht verwirrt und erschlagen, wie die meisten Menschen, die in Tokio ankamen. Im Gegenteil, er hatte sich gerade so schnell und sicher durch die Menschenmenge am Flughafen bewegt, als würde er das jeden Tag tun. Paris war zwar auch eine Metropole, aber in seinem Arrondissement herrschte keine permanente Hektik. Im Sommer waren die Rue des Ursins und die Flugrouten darüber nicht so überfüllt wie die Straßen hier. Die meisten Pariser fuhren dann in den Urlaub an die Küste.
In diesem Moment fühlte Watanabe sich an Bord des japanischen Lufttaxis wie ein Reisender mit dunklen Geheimnissen, der sich in den Schatten der Welt bewegte. Oder besser: sich in die Schatten hineinbegab. Beim Gedanken an seinen Auftrag beschleunigte sich sein Puls. Er stellte sich vor, wie er gleich in der Erde wühlen würde. Verdammt, er hätte sich eine Schaufel kaufen sollen!
Watanabe musste und wollte diesen Chip aus dem Backenzahn des Mannes holen. Er hatte nie darüber nachgedacht, was aus dem Mörder seiner Mutter geworden war. Schließlich hatte er immer geglaubt, sein Vater hätte sie getötet. Er hatte ihn, Hiroshi, für all den Schmerz und die Trauer verantwortlich gemacht und ihn dafür gehasst. Nun bot sich ihm die Gelegenheit, seinen Vater endlich in einem anderen Licht zu sehen und damit nicht nur eine Wunde in seinem Inneren zu schließen, sondern auch die beschädigte Ehre der Familie wiederherzustellen. Und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Stolz. Dass sein eigener Vater den Bastard getötet hatte, machte Takumi Goro auch stolz.
Das änderte alles. Sein Vater war nicht der Mörder seiner Mutter, nein, im Gegenteil: er hatte sogar ihren Tod gerächt, in dem Moment oder kurz nachdem der Agent sie getötet hatte.
Doch etwas war nach wie vor merkwürdig: Die Agency hatte damals den Killer geschickt, weil Takumis Vater sich in Japan niedergelassen hatte, anstatt weiter als Agent tätig zu sein. Warum hatten sie dann nicht noch einen zweiten Killer geschickt?
Das konnte nur bedeuten, was sein Vater angedeutet hatte: dass er unmittelbar danach und all die Jahre danach wieder als Spion und Agent für sie gearbeitet hatte. Dabei hatte er doch die Firma Goto-X-SF von Sakuras Vater, Watanabes Großvater, übernommen.
Der Gedanke, dass aus den Rohren von Goto-X-SF auch Kanonenrohre, Gewehrkolben und andere Produkte für die Waffenproduktion hergestellt werden konnten, schnürte Watanabe nun die Kehle zu.
Die Möglichkeit, solche Produkte herzustellen, hatte vor drei Jahren Watanabes letzte Freundin, eine Rüstungsgegnerin, in die Flucht geschlagen. Er hatte ihr kaum eine Träne nachgeweint, weil er sich ständig lautstark mit Ines gestritten hatte. In einem Wutanfall hatte sie sogar eines von Kaitos Bildern mit Rotwein besudelt, obwohl Kaitos Kunst nichts mit Gotos Produkten zu tun hatte. Außerdem war nicht bewiesen, dass die Firma seines Vaters in Tokio Waffen herstellte.
Doch ausgerechnet jetzt musste Watanabe wieder daran denken. An den Streit. An die Rohre und Kanonen. Er sah sie vor sich, überdimensioniert wie in einem Comic. Und er dachte, dass er dringend etwas daran ändern müsste, aber wahrscheinlich war die Firma, wie von langer Hand geplant, längst in den Händen der Aktionäre.