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Natalie Anders

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Beschreibung

Itan Gradi führt ein perfektes Leben: Er ist Zeitingenieur der Vereinten Regierung und wohnt im luxuriösen Innenbezirk. Die Ernährungs- und Lektürevorgaben seines Meddetektors sind erträglich, und wenn dieser der Meinung ist, dass Itan Sex braucht, schläft er mit einer passenden Person. Als er einen Assistenten beantragt, wird ihm ausgerechnet Viktor Silas, der berühmte Freak-Tech, zugeteilt. Viktor ist … anders. Und er scheint Dinge über Itan zu wissen, die er selbst längst vergessen hat. Woher? Die Anziehungskraft, die von Viktor ausgeht, stürzt Itan in tiefe Verwirrung, denn das ist eine Emotion, die es in seiner Welt nicht gibt. Während eine Selbstmordwelle die Bevölkerung erschüttert und gefährliche Wahrheiten aufgedeckt werden, muss Itan sich entscheiden: Will er sein perfektes Leben oder Viktor?

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Natalie Anders

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2015

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com/

Bildrechte:

© Kim D. Lyman – shutterstock.com

© Ahturner – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-945934-18-0

ISBN 978-3-945934-19-7 (epub)

Klappentext:

Itan Gradi führt ein perfektes Leben: Er ist Zeitingenieur der Vereinten Regierung und wohnt im luxuriösen Innenbezirk. Die Ernährungs- und Lektürevorgaben seines Meddetektors sind erträglich, und wenn dieser der Meinung ist, dass Itan Sex braucht, schläft er mit einer passenden Person. Als er einen Assistenten beantragt, wird ihm ausgerechnet Viktor Silas, der berühmte Freak-Tech, zugeteilt. Viktor ist … anders. Und er scheint Dinge über Itan zu wissen, die er selbst längst vergessen hat. Woher? Die Anziehungskraft, die von Viktor ausgeht, stürzt Itan in tiefe Verwirrung, denn das ist eine Emotion, die es in seiner Welt nicht gibt. Während eine Selbstmordwelle die Bevölkerung erschüttert und gefährliche Wahrheiten aufgedeckt werden, muss Itan sich entscheiden: Will er sein perfektes Leben oder Viktor?

Du schreibst niemals alleine.

Mitgeschrieben und mitgewirkt haben:

V.

Charlie

Barbara

S.

1

Es krachte. Schon wieder! Itan fluchte. Er verschob einen der Baumstämme um ein paar Millimeter. Als er die Zeit aktivierte, erschien dieser neben dem anderen, streifte ihn nur und fiel polternd zu Boden. Das Geräusch hallte hohl von den plastikweißen Wänden wider. Er seufzte. Diese Übung erschien ihm absolut sinnlos: In einem zeitleeren Raum mussten die Objekte so angeordnet werden, dass sie nach einem Mikro-Zeitsprung die gewünschte Position einnahmen. Eine Anfängerübung, die Itan nicht beherrschte. Er trat einen Schritt zurück und ging noch einmal den Verlauf durch. Doch seine Gedanken schweiften schnell ab und er fragte sich erneut, was er hier überhaupt tat. Irgendwie war er für den Ingenieurssektor der Vereinten Regierung ausgewählt worden. Dabei konnte er eine Unterlevelaufgabe nicht lösen. Die Durchschnittslösungszeit lag bei 3,46 Normminuten, wie das Hologramm beim Start mitgeteilt hatte. Seine Zeitanzeige blinkte blassblau auf 35 Stunden. Er rieb sich die Schläfen. Er brauchte etwas, um weiter klar zu bleiben. Als er den entsprechenden Wunsch an seinen Meddetektor weitergab, wies dieser ihn darauf hin, dass er bereits eine dreifache Überdosis eingenommen hatte und nichts mehr bekommen würde. Wunderbar! Dann sollte er für heute Schluss machen, bevor er den Lösungsdurchschnitt noch mehr verschlechterte.

Er wollte die Übung ein letztes Mal durchgehen, als er Schritte im Kontrollraum hörte. Um diese Uhrzeit war außer ihm selten jemand im Trainingsbereich zu finden. Außer wenn der Raum wieder einmal doppelt zugewiesen worden war.

„Ich bin gleich fertig!“, rief er und hoffte, der unerwünschte Zuschauer würde dort bleiben, wo er war. Er stellte den Baumstamm mit Hilfe der Gravitationsstrahlen aufrecht.

„Der schiefe Turm von Pisa?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Itan musste lächeln. Die Übung basierte tatsächlich auf einer wahren Begebenheit, als es ein Zeitreisender durch eine absurde Verkettung von Unfällen geschafft hatte, den Turm wieder aufrecht stehen zu lassen. Die Regierung hatte damals sehr viel Geld und Personal investiert, um den Turm in die ursprüngliche Position zu bringen und alles zu vertuschen. Im Beta-Netz ließen sich jedoch bis heute Kopien der Aufnahme finden, die jemand vom aufrechten Turm schießen konnte.

Itan gefiel die Stimme und immer noch lächelnd drehte er sich zu dem Fremden um. Beim Anblick der gelben Uniform verhärtete sich sein Gesicht. Wie kam er darauf ihn einfach so anzusprechen? Ein Techniker wurde schon für weniger gefeuert. Itan wollte ihn gerade darauf hinweisen, als er eine Art Stolz, die ihm selbst fremd war, in seinem Blick bemerkte. Dieser Stolz hielt ihn davon ab, etwas zu sagen. Der Techniker lächelte und schaute zu den Baumstämmen.

„Es zählen alle Variablen“, sagte er. Itan trat an ihn heran und wollte ihm entgegnen, was er bald alles zählen dürfe, als er plötzlich die Lösung wusste. Es war so lächerlich einfach! Er lief zu der Plattform mit dem Übungsaufbau und ordnete beide Baumstämme neu an. Nach dem Einsetzen des Zeitsprungs erschienen sie im perfekten Winkel zueinander und stützten sich gegenseitig. Sein Hologramm erstellte augenblicklich ein dreidimensionales Modell und erklärte, dass er die Aufgabe vorbildlich gelöst hatte. Itan atmete aus. Endlich.

Es muss an der Überdosierung gelegen haben, denn plötzlich musste er lachen. Der Techniker sah stumm zu, wie Itan minutenlang vor sich hin lachte, bevor er sich zur Ruhe zwang, damit sein Meddetektor keinen Alarm auslöste. Er schnappte nach Luft und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Langsam ging er auf den anderen Mann zu und streckte seine Hand aus.

„Itan.“

„Ja, ich weiß“, antwortete der Techniker und sah die Hand an. Es wurde schnell zu peinlich sie länger hinzuhalten und er zog sie zurück. Was zum Teufel? Er verfluchte innerlich den Techniker und die Drogen. Der andere salutierte und übermittelte Informationen von seinem Datenband an Itans.

„Viktor Silas. Technischer Assistent 0.009, Supportabteilung.“ Während Itan die Unterlagen an sein Hologramm weiterleitete, erwachten die Übungsräume entlang des Flurs zum Leben. „Ich wurde Ihnen auf Ihren Antrag hin als persönlicher technischer Assistent für die nächsten zwölf Monate zugewiesen. Eine bestandene Probezeit von einem Monat vorausgesetzt.“

Itan nickte und schickte eine Anfrage für die Akte von Viktor Silas. Er hatte den Antrag erst letzte Woche gestellt und schon bekam er jemanden mit einer solchen Rangnummer? Wollte Silas ihn als Sprungbrett benutzen? War er so ehrgeizig?

Seine Augen scannten Viktors Gesicht und Körper ab. Er war in jeder Hinsicht unauffällig: so groß wie Itan selbst, mit dunklen Haaren und einem einfachen Haarschnitt. Er hatte zwar grüne Augen, aber das Grün tendierte zu sehr zu Braun. Ein Jammer, dass seine Erzeuger anscheinend kein Geld und keine Motivation gehabt hatten, die Farbe rein generieren zu lassen. Itan verzog den Mund. Er hatte sogar Fältchen um die Augen und eine blasse Narbe über der Oberlippe. So arm konnte er nicht sein, dass er sich keine kosmetische Versorgung leisten konnte. Selbst eine Irisreinigung wäre noch möglich.

Viktor wich seinem Blick aus und sah zu Boden, salutierte dann wieder und ging wortlos an ihm vorbei, um mit dem Aufräumen zu beginnen. Es dauerte nur Augenblicke, bis der Übungsaufbau verschwand und die Zeitgeneratoren zum Aufladen geschickt wurden. Sogar die Dellen in der Plattform waren nicht mehr zu sehen.

„Ich habe die Raumbelegung für die nächsten zwölf Monate bereits beantragt und bestätigt bekommen“, sagte er, als er wieder vor Itan stand. „Kann ich Ihnen heute noch behilflich sein?“ Itan schüttelte den Kopf. Er hatte genug für heute.

„Nein, das war’s. Danke.“

„Ich stehe Ihnen bei Ihrer Rückkehr wieder zur Verfügung.“ Der Techniker salutierte, ohne ihn wirklich anzusehen, und eilte aus dem Übungsraum. Itan war zu müde, um sich noch mehr über den anderen zu wundern und bat sein Hologramm, Essen für seine Rückkehr bereitzuhalten.

„Wie überdosiert bist du denn?“, fragte eine bekannte Stimme.

„Farran.“ Itan nickte grüßend.

„Hast du gerade ernsthaft dem Abschaum gedankt?“, fragte dieser weiter. Itan verdrehte nur die Augen und holte seine Jacke. „Ach, komm! Was hatte er hier überhaupt zu suchen?“

„Er ist mein Assistent. Schon vergessen? Du hast mir doch den Antrag eingeredet.“

Farran begann auf eine Art zu grinsen, die Itan immer Unbehagen bereitete. „Was?“

„Was wohl!“

Itan zog seine Jacke an und verließ einfach den Raum. „Wir sehen uns gegen Mittag wieder. Meine freundlichsten Grüße an Mikka!“ Wie erwartet lief Farran ihm hinterher.

„Warte doch! Du hast wirklich keine Ahnung?“

„Ich habe keine Lust darauf, Farran!“

„Dein Assistent ist der Freak-Tech.“

Itan stolperte fast.

„Du hättest mir besser zuhören sollen. Dann hättest du es gewusst. Du hast dir ernsthaft den Freak-Tech geangelt!“, rief Farran aus und mehrere Personen drehten sich nach ihnen um. „Lässt du ihn die Probezeit bestehen? Du bist echt nicht zu beneiden. So eine Story! Ich muss das unbedingt den anderen erzählen!“, sprach er schnell weiter, ohne Itans Antwort abzuwarten und verschwand in einem der Trainingsräume.

Das Wasser war künstlich, aber perfekt temperiert und Itan versuchte die drei Minuten voll auszukosten. Das ungute Gefühl, das er seit dem Gespräch mit Farran hatte, ließ sich damit trotzdem nicht vertreiben. Natürlich hatte er vom Freak-Tech gehört. Jeder wusste eine Geschichte über ihn zu erzählen. Der Pausenraum in ihrem Teil des Sektors wurde wie alle Räume dieser Art zum Lästern genutzt. Oder „Informationsweitergabe unzuverlässigen Ursprungs“ wie Farran es gerne nannte. Und über den Freak-Tech gab es die wildesten Gerüchte: psychoprogrammiert, Androide, Zuchtversuch des Medsektors, ein illegal zeitimportierter Neandertaler ... Er dachte an Viktors fremdartigen Stolz und konnte verstehen, dass er auf manche befremdlich wirkte. Etwas, das man nicht kannte oder nicht benennen konnte, machte Menschen Angst. Auch ihm. Der Rest der Gerüchte war nur bösartiges Gerede. Er fühlte sich trotzdem unwohl. Er hatte nicht vorgehabt, ausgerechnet wegen seines Technikers aufzufallen.

Beim Essen teilte ihm das Hologramm mit, die Herausgabe der gewünschten Akte bedürfe der Zustimmung der Datentransfersektion. Itan zuckte mit den Schultern. Auch digitale Bürokratie war immer noch Bürokratie. Kurz darauf meldete sich auch sein Meddetektor, um darauf hinzuweisen, dass sein momentaner psychischer und physischer Zustand einer Verbesserung bedürfe. Er empfahl zwischenmenschliche Beziehungen auf körperlicher Ebene. Itan musste lächeln. War wieder eine Woche um? Um die KI zu ärgern, fragte er, ob es überhaupt legal sei, jemanden zusammenzuschlagen. Der Detektor erklärte daraufhin, er habe Geschlechtsverkehr gemeint, dass es jedoch Möglichkeiten gäbe, beide Definitionen miteinander zu verbinden. Sollte er nach geeigneten Partnern suchen? Itan bat um Bedenkzeit und gab später selbst die gewünschten Parameter ein.

Als er im Bett lag und seinen Trainingsplan für die Woche durchging, cancelte er seine Anfrage. Der Meddetektor trug wieder seinen Vortrag über die Wichtigkeit von körperlichen Beziehungen vor, injizierte aber die Drogen und ging diskret auf Stand-by. Itan hatte keine Lust sich mit einer fremden Person auseinanderzusetzen. Oder sich überhaupt Zeit für sie zu nehmen. Sein Training war wichtiger.

Er spürte sofort die Wirkung, die ihm den Atem nahm. Das Blut rauschte viel zu laut in seinen Ohren, während sein Herzschlag beschleunigte. Er musste sich kaum berühren, um zu kommen. Danach sank er in einen traumlosen Schlaf.

2

Früh am nächsten Morgen schälte er sich benommen aus dem Bett. Stützte sich den ganzen Weg bis zur Dusche an der Wand ab. Sie waren im 31. Jahrhundert! Der Medsektor konnte ganze Organe nachzüchten, war aber bis heute nicht in der Lage nebenwirkungsfreie Schlafmittel zu entwickeln.

Immer noch benommen zog er seine Uniform an und begab sich zum Trainingssektor. Ein Glück, dass sein Apartment im selben Abschnitt lag. Einen längeren Weg würde er ohne fremde Hilfe nicht schaffen. Die KI am Empfang lächelte zum Abschied, während er zum Ausgang stolperte. Draußen blieb er stehen und atmete tief ein. Die Luft in der Grünanlage vor seinem Apartmentblock hatte einen besonderen Geruch. Er hatte keine Ahnung, woran es lag. Im Rest des Sektors roch es anders. Obwohl alle Pflanzen gleich aussahen. Wie geklont.

Der Großteil der Räume war noch unbesetzt und er fühlte sich gleich etwas besser. Niemand würde ihn heute belästigen und er hatte sich fest vorgenommen den Pausenraum nicht aufzusuchen, um Farran aus dem Weg zu gehen. Umso enttäuschender war es, jemanden in seinem Trainingsraum zu finden.

„Wer bist du und was willst du?“, fragte er, während er seine Jacke öffnete. Die Person drehte sich um und salutierte.

„Viktor Silas. Ihr technischer Assistent.“

Itan hielt mitten in der Bewegung inne. Wer auch sonst, dachte er. Dann fiel ihm ein, dass er ihn am Vortag nicht über seine Abwesenheit informiert hatte. Und zuckte mit den Schultern. Nicht sein Problem. Dann hatte der Techniker eben einen freien Tag gehabt. Für einen Augenblick empfand er so etwas wie Schuld, aber das Gefühl verflog genauso schnell, wie es gekommen war. Er nickte nur grüßend und warf seine Jacke auf einen der Sitze im Kontrollraum. Das Hologramm bot ihm einen Katalog an Trainingseinheiten an, die er gelangweilt auf dem Sheet durchblätterte. Die Türen zum Raum schlossen sich und er fuhr herum. Die Anzeige zeigte, dass der Raum bis auf Weiteres versiegelt war. Und das ohne ihn gefragt zu haben! Was erlaubte der Techniker sich?

Itan entschied, dass es ihm eine gute Lehre sein würde, nach der Probezeit im großen Stil entlassen zu werden und legte seine ganze Missbilligung in seinen Blick, den Viktor ungerührt erwiderte. Er brachte es immer noch nicht fertig, ihn verbal zurechtzuweisen.

Es mag an dem hohen Einsatz der Medikamente der letzten Tage oder Farrans Gerüchten gelegen haben, aber er fühlte sich wieder unwohl. Das Verhalten des Technikers reizte ihn noch mehr. Er wandte sich der Liste zu und tippte auf eine der Aufgaben, ohne genau hinzusehen. Das Hologramm erinnerte ihn daran, dass er diese bereits erfolgreich abgeschlossen hatte und fragte, ob er mit der folgenden beginnen wolle. Itan murmelte seine Zustimmung und betrat den Hauptraum. Er hörte Viktor in einen der Sitze neben dem Bildschirm sinken.

Die nächsten zwei Stunden war es still in ihrem Trainingsraum. Itan arbeitete sich mühelos durch fast alle Aufgaben. Es blieb nur eine letzte Einheit übrig, um den Unterlevel abzuschließen. Er freute sich schon seit dem Beginn des Trainings darauf, weil er wusste, dass er in höheren Levels schneller sein würde.

Das Hologramm materialisierte sich und fragte, ob er für die nächste Übung bereit sei. Auf sein Nicken hin erstarrte es. Er blickte es sekundenlang an und sah dann zu Viktor, um zu fragen, ob eine technische Störung vorliege, aber da erwachte es wieder zum Leben und lächelte genauso freundlich wie zuvor.

„Verzeihen Sie die Verzögerung. Das Datenpaket war größer, als ich erwartet hatte. Ich lade jetzt die nächste Aufgabe.“

Misstrauisch blickte Itan auf das Zeitfeld in der Raummitte. Es war ihm neu, dass es Datenmengen gab, die ein Hologramm nicht bewältigen konnte. Die Zeitanzeige blinkte erwartungsvoll auf Null.

„Für diese Aufgabe haben Sie folgende Parameter. Zeit für die Lösung: Maximum von fünf Normstunden. Anzahl der Versuche: Eins.“

„Was geschieht, wenn die Lösung nicht korrekt sein sollte?“

„Die bereits gelösten Aufgaben werden nicht anerkannt. Das entsprechende Gehalt nicht angerechnet. Der Unterlevel muss mit einer neuen Auswahl an Aufgaben wiederholt werden.“

„Entspricht dieser Verlauf dem Sektorenstandard oder wurden individualisierte Änderungen vorgenommen?“, fragte er irritiert.

„Es ist der Standardverlauf.“

Er strich sich die Haare aus der Stirn. Von einer solchen Aufgabenstellung hatte er noch nie gehört. Nicht einmal während seines Studiums. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass bisher jeder sie gelöst haben musste, denn er hätte es erfahren, wenn jemand den Unterlevel wiederholt hätte.

„Soll ich die Aufgabe laden?“, fragte das Hologramm. Die Zeitanzeige blinkte immer noch ungeduldig. Sollte er die Aufgabe auf morgen verschieben?

Die Stille und die Erwartung der KI waren fast greifbar. Das Schweigen im Kontrollraum ließ Itan sich ausmalen, wie der Techniker erwartungsvoll und selbstgefällig auf sein mögliches Versagen wartete.

„Laden“, sagte er endlich und atmete tief durch.

Auf dem Feld materialisierten mehrere Objekte, die er nicht sofort einordnen konnte. Eine Kugel mit einer unregelmäßigen Oberfläche, die an gespannten Seilen hing. Sie hatten eine ähnliche Struktur wie die Kugel und Itan erkannte, dass es gar keine Kugel, sondern ein übergroßer Knoten war. Die Seile führten zum Rand der Plattform, wanden sich einmal um die dort kreisförmig angeordneten Pfähle und verschwanden wieder im Knoten. Über dem Knoten hing eine Metallklinge mit einem Zeitauslöser. Er hörte das Rascheln von Kleidung, als der Techniker sich in seinem Sitz bewegte. Er blickte zu ihm. Viktor trug einen unbeteiligten Gesichtsausdruck, aber Itan entging nicht das Zucken um dessen Mund. Als müsste er ein Lächeln unterdrücken. Itan sah schnell zurück zum Knoten. Er wusste es. Hitze stieg in sein Gesicht. Er wusste es! Viktor kannte anscheinend nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Lösung. Woher? Er dachte fieberhaft nach. Wie? Hatte er bereits jemandem assistiert, der die Aufgabe gelöst hatte? Er wünschte, er hätte Viktors verdammte Akte gestern bekommen. Mühsam zwang er seinen Kiefer auseinander und wandte sich an das Hologramm.

„Aufgabenstellung?“ Hatte seine Stimme anders geklungen?

„Lösung des Knotens vor Ablauf der Zeit“, antwortete es und machte eine Handbewegung Richtung Klinge. Itan wartete.

„Ist das alles?“

Das Hologramm nickte nur. Nach einigen Augenblicken fügte es hinzu: „Alle Methoden, Zeitsprünge eingeschlossen, sind erlaubt. Objekte außerhalb der Aufgabenstellung dürfen nicht hinzugenommen werden.“

Itan winkte ab. Nichts, was er nicht bereits wusste. Er schaute hoch zur Zeitanzeige. Acht Minuten waren vergangen. Die Anzeige des Auslösers bestätigte es. Er fuhr sich durch die Haare und merkte, wie kalt seine Hände geworden waren. Unauffällig rieb er sie kurz an seiner Hose, aber es half nicht.

„Rotieren“, bat er das Hologramm. Es erstellte ein Modell und ließ es nacheinander um mehrere Achsen drehen. Das Material der Seile und des Knotens sah sehr unregelmäßig und fremd aus. Nichts, was sich angenehm an seiner Haut anfühlen würde. Er überlegte, ob der Knoten und die Seile aus einem einzigen Stück Seil bestanden oder aus jeweils getrennten Stücken. In allen Fällen waren die Enden im Knoten verborgen. Er wandte sich den Pfählen zu. Die Seile waren fest darum gespannt, um den Knoten in der Schwebe zu halten. Ob man sie drehen konnte, um die Seilspannung zu ändern? Er verließ das Modell und trat an einen der Pfähle. Er wollte ihn probeweise drehen, als das Hologramm die Hand erhob.

„Jede Berührung wird als Versuch gezählt“, erklärte es. Itan blickte es nur stumm an. Ernsthaft? Wer hatte sich diese Aufgabe bloß ausgedacht? Er marschierte in den Vorraum und holte einen der Stühle. Viktors Augen verfolgten ihn, aber er wollte nicht nachsehen, was in ihnen zu lesen war. Er setzte sich vor den Übungsaufbau und winkte das Modell zu sich heran.

Die nächsten Stunden wurden zu den nervenaufreibendsten seines bisherigen Lebens. Er drehte das Modell in alle Richtungen und machte mit Hilfe des Hologramms eigene Skizzen und Notizen. Aus der Aufgabenstellung und den Reaktionen des Hologramms entnahm er, dass er wohl einen der Pfähle drehen müsste, um den Knoten zu lösen. Wenn er die Anzahl der Pfähle und die jeweils zwei möglichen Drehrichtungen bedachte, standen seine Chancen eins zu zwölf die Aufgabe richtig zu lösen. Und das war eine denkbar schlechte Ausgangslage in Anbetracht der möglichen Konsequenzen. Er musste irgendwie die Möglichkeiten reduzieren oder auf sein Glück vertrauen. Er strich sich über die Augen. Er glaubte nicht an Glück.

Die Zeit schritt unerbittlich voran und die Gedanken in seinem Kopf formten sich auch zu einem wirren Knoten. Irgendwann begann er Kreise um die Plattform zu laufen, hörte damit auf und ging dann auf und ab. Dabei wurde er sich Viktors Blicks bewusst und dachte daran, dass der Techniker die Lösung kannte. Er verging bestimmt innerlich vor Lachen! Itan fasste sich wieder in die Haare und erkannte, dass er dabei war einen Tick zu entwickeln. Er zwang seine Hände nach unten und versuchte gefasst auszusehen, verkrampfte sich dabei aber erst recht und fühlte sich mit jeder Sekunde unwohler. Die Blicke des Technikers lasteten bei jedem Schritt immer schwerer auf ihm. Seine Hände waren eiskalt, er hatte plötzlich furchtbaren Durst und wollte alleine sein. Und vor allem wollte er, dass Viktor ihn nicht mehr ansah.

Er trat in den Kontrollraum und sah den Techniker herausfordernd an. Hoffte er zumindest. Viktor erhob sich in Erwartung einer Anweisung.

„Hol mir etwas zu essen! Aus dem Soma“, sagte er. Sein Hologramm erschien zwischen ihnen, um die Bestellung aufzunehmen. Itan blickte immer noch zu Viktor, der es anscheinend besser wusste als zu widersprechen. Er schaute kurz zu der Aufgabe und wollte etwas sagen, aber Itan ignorierte es. Er übermittelte die Erlaubnis, seine Punkte zu benutzen, an Viktors Datenband.

„Was genau soll ich holen?“ Itan schaute auf. Er hatte keinen Hunger und war sich ziemlich sicher, dass er keinen Bissen herunterkriegen würde.

„Irgendwas. Lass dir was einfallen. Oder empfehlen.“ Der Techniker rührte sich nicht von der Stelle. Itan starrte ihn ungeduldig an. „Worauf wartest du?“ Viktor warf ihm einen letzten Blick zu und berührte kurz den Bildschirm, um die Türen zu entriegeln.

„Und hol dir auch was!“, rief Itan ihm noch hinterher und atmete auf.

3

Eine Stunde und neun Minuten später fragte ihn das Hologramm um Erlaubnis, Viktor Silas hereinlassen zu dürfen. Itan nickte und versuchte seine Haare glatt zu streichen.

Viktor blickte kommentarlos in den Hauptraum, wo alles unverändert war und begann das mitgebrachte Essen auszupacken. Itan blieb in der Tür stehen und beobachtete ihn. Er war nicht hungrig und stellte sich gedanklich eine Kombination aus Drogen zusammen, die ihm hoffentlich helfen oder ihn umbringen würde. Er wollte grade seinen Wunsch an den Meddetektor weitergeben, als ihm der Geruch des Essens auffiel. Es waren keine auserlesenen Gewürzkompositionen, sondern einfache, reine Düfte. Wie das von gegrilltem Fleisch und die süßliche Wärme von frisch gedämpftem Reis. Da war noch etwas darunter, das er nicht benennen konnte. Es zupfte an seinen Erinnerungen und er wusste, dass er es nicht nur kannte, sondern auch liebte. Er trat an den schmalen Tisch. Alle Gerichte waren in den grüngoldenen Schalen vom Soma verpackt. Bis auf eines. Das Logo kannte er nicht. Er öffnete gespannt den Behälter und fand nur zwei unscheinbare Kuchenstücke. Diesen Duft hatte er also nicht zuordnen können.

„Erst nach dem Essen“, sagte Viktor hinter ihm und Itan drehte sich um. Er lächelte und diesmal blieb das Lächeln. Sie setzten sich an den Tisch und aßen schweigend. Itan schaffte es sogar, die Aufgabe in seinem Rücken zu vergessen.

Viktor lehnte ab, als Itan ihm eins der Kuchenstücke reichen wollte. Es war ein simpler Kuchen mit Apfelstücken. Immer noch warm. Wollte ihn immer noch an etwas erinnern. Beinahe hätte er Viktor gefragt, was es war.

Nach dem Essen stand Viktor wortlos auf, räumte die leeren Verpackungen weg und setzte sich an seinen Bildschirm. Itan schaute zu der Zeitanzeige. Er hatte nur noch eine halbe Stunde und seine Anspannung kehrte augenblicklich zurück.

Es fühlte sich surreal an, wieder vor der Aufgabe zu sitzen. Mit diesem wohligen Gefühl im Magen und der Schläfrigkeit. Er spürte Panik durch seinen Körper flirren, wie der Schweiß sich wie Nadeln durch seine Haut nach außen bohrte. In seinem Kopf spielten sich Szenen von allen möglichen Folgen ab, die sein Versagen nach sich ziehen würden. Sie würden erkennen, dass ein Fehler passiert war. Dass jemand anderes seine Stelle hätte bekommen sollen. Sie würden ihn entlassen und sein Leben wäre dann praktisch vorbei ... Wie damals bei Kerr. Vereidigung noch vor dem Studienabschluss. Der Neid war überall zu spüren gewesen. Besonders in Form von Farrans Lästereien. Kerr wurde zur Legende, noch bevor er seine erste Zeitreise hatte. Nicht einmal Farran kam dahinter, was bei dieser ersten Reise passiert war. Kerrs Leben wurde im Stundentakt ausgelöscht. Degradierung, Entlassung … Nach 48 Stunden war er komplett weg gewesen. Nicht einmal mehr bei Skalierungsergebnissen war sein Name aufgetaucht. Wo er jetzt wohl war?

Er fuhr zusammen, als das Signal der Zeittafel ertönte. Noch zehn Minuten. Er erhob sich und sah sich zum tausendsten Mal den Knoten an. Seine Gedanken sprangen suchend umher, fanden aber nur Leere.

Langsam, sehr langsam, drehte er sich um und sah zu Viktor hinter der Sicherheitsscheibe. Itan studierte sein Gesicht, aber es gab nichts preis. Er kannte die Lösung. Er könnte es ihm verraten. Würde er? Viktors Augen wirkten fast besorgt, dachte Itan. Sollte er fragen? Konnte er es überhaupt? Als hätte er seine Gedanken gelesen, erhob sich der Techniker ebenfalls, blieb aber vor seinem Bildschirm stehen. Itan atmete aus und schloss die Augen. Stolz. Das Wort flackerte in seinen Gedanken auf. Ja, Stolz. Es war nicht derselbe wie bei Viktor, aber er hatte auch seinen Stolz. Er würde es nicht ertragen, eine Lösung verraten zu bekommen. Nicht, wenn er selbst darauf kommen könnte.

Er öffnete die Augen und ging zum Zeitgenerator. Noch acht Minuten. Die er nicht warten wollte. Er gab den Sprung ein und ging zu seinem Sitz, wo das Modell immer noch verloren schwebte. Er löschte es und vergrub das Gesicht in den Händen. Er wollte es nicht sehen.

Er hörte das Summen des Generators einsetzen. Es waren nur Momente, bevor sich der Raum mit dem Geräusch von platzenden Fasern füllte und Seilstücke gegen die Wände sprangen. Er versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Jemand berührte seine Schulter. Konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Die Hand drückte leicht zu, als er immer noch nicht aufsah.

„Itan?“, rief das Hologramm. Er blickte nun doch auf. Nur um sicherzugehen, dass es nicht das Hologramm war. Die Hand gehörte Viktor, der ihn anlächelte und dann im Kontrollraum verschwand. Er wollte den Techniker anschreien oder für sein unverschämtes Grinsen schlagen, aber er war nur noch müde und leer. Das Hologramm lächelte auch, aber das tat es immer.

„Herzlichen Glückwunsch! Sie haben den Unterlevel abgeschlossen. Beginnen Sie bei Ihrer nächsten Trainingseinheit bei Level eins, überspringen Sie Level Zero“, verkündete es strahlend. Itan starrte auf das Lächeln der KI.

„Was?“

„Sie haben den Unterlevel abgeschlossen. Beginnen ...“

„Nein. Nein! Das habe ich gehört!“ Er knurrte, als sein Meddetektor eine Überprüfung seines Hörvermögens empfahl. „Ich kann nichts abgeschlossen haben. Ohne die Aufgabe zu lösen. Und einen Level überspringen?“

„Aber Sie haben die Aufgabe gelöst“, sagte das Hologramm.

„Aber wie?“ Die KI erstarrte überrascht und ihr Lächeln verschwand.

„Die Aufgabe war den Knoten zu lösen. Niemand hat gesagt, dass irgendwas ganz bleiben soll“, erklärte Viktor hinter ihm.

„Aber die Klinge! Zeitanzeige! Und es hat doch ...“ Itan zeigte auf das Hologramm. Viktor zuckte mit den Schultern.

„Es hat bestimmt entsprechend der Anforderungen gehandelt.“ Itan wandte sich an die KI.

„Warum soll ich Level Zero überspringen?“

„Das Instruktionsprogramm erachtet Level Zero als irrelevant.“ Ein erneutes aber lag Itan auf der Zunge und er blickte zu Viktor.

„Du bist vermutlich der Erste, der es gelöst hat“, erklärte er und begann mit dem Aufräumen. Vermutlich?

„Stimmt das?“, fragte er die KI.

„Das stimmt. Die Aufgabe dient nur zur Messung psychischer Belastung und Entscheidungsfähigkeit in Situationen mit hohem Stressfaktor. Das Lösen der Aufgabe ist zweitrangig.“

Er schüttelte den Kopf und erhob sich, während Viktor die Lichter im Hauptraum auszuschalten begann. Das Hologramm fragte nach Anweisungen für seine Rückkehr und verschwand. Viktor reichte ihm seine Jacke und entriegelte die Türen.

„Bis morgen.“

Er war fast draußen, als ihm etwas einfiel. Er drehte sich hastig um und stieß in der Tür mit Viktor zusammen, der überrascht zurückprallte.

„Wo hast du den Kuchen geholt?“ Viktor schaute in den Flur und dann zurück auf Itans Gesicht.

„Geheimnis“, gab er unbewegt zurück und salutierte. „Kann ich Ihnen noch behilflich sein?“

Itan schüttelte den Kopf und verließ wieder den Trainingsraum.

Er grüßte abwesend Ingenieure, die auf dem Weg zu ihren Räumen waren, und fühlte sich auf gleiche Art in einer surrealen Zwischenwelt gefangen, wie bei seinen Zeitreisen.

Zu Hause fiel er sofort in sein Bett. Seine Gedanken trieben träge dahin. Er versuchte sich an das zu erinnern, was der Duft des Kuchens wachrütteln wollte. Zu verstehen, dass er als Einziger diese Aufgabe gelöst hatte. Ohne die geringste Ahnung zu haben. Nur Glück. Es erfüllte ihn mit Freude und Angst. Und Wut über diese grauenhafte Erfahrung, die nur ein psychischer Belastungstest gewesen war. Er dachte an Viktor und woher er die Lösung kannte. Dann spürte er die Hand auf seiner Schulter und sah das Lächeln, das doch nicht schadenfroh gewesen war. Er griff nach der Hand, aber da war natürlich keine.

4

Der nächste Tag begann wie gewohnt, deswegen dachte er nicht daran, was erst vor Stunden geschehen war. Viktor wartete bereits auf ihn, salutierte und begab sich auf seinen Platz. Itan fühlte sich wie sein altes Selbst von vor ein paar Tagen und begann mit den Übungen. Wie er erwartet hatte, fielen ihm die Aufgaben wesentlich leichter.

Als es Zeit zum Mittagessen war, sprach er das erste Mal mit dem Techniker. Er teilte ihm mit, dass sie in einer Stunde weitermachen würden. Er gab dem Hologramm seine Bestellung durch, die zum Pausenraum geliefert werden sollte.

Der Raum war wieder viel zu voll und er sah sich nach einem freien Tisch um.

„Itan!“, rief jemand rechts von ihm. Er überlegte kurz, ob er nicht besser im Trainingsraum essen sollte, ging dann doch hinüber und sank in einen der Sitze an Farrans Tisch. Dieser blätterte gerade wild durch die Holonachrichten.

„Hast du schon gehört?“, fragte Farran und sah ihn mit leuchtenden Augen an. Itan wusste, dass er keine bestimmte Reaktion erwartete und nur die Spannung steigern wollte. „Die Regierung will den Selbstmord für illegal erklären lassen!“, sagte er. Itan lachte auf.

„Was? Wie kommen sie auf so etwas?“

„Wenn du mir schon nicht zuhörst, solltest du wenigstens Nachrichten lesen.“ Er begann einige Artikel zusammenzustellen und schob Itan das Sheet zum Lesen hin. Er überflog es nur, denn Farran erzählte bereits.

„Seit einiger Zeit häufen sich wohl die Selbstmorde. Die höchste Rate seit 700 Jahren ... Hier steht es. Der Medsektor spricht von einer Welle. Und es sind ...“ Er nahm ihm das Sheet weg und wählte neue Artikel hinzu. „6..., 8..., 9000 Tote!“

Itan zeigte sich beeindruckt von der hohen Zahl, auch wenn er sie unrealistisch fand. Und machte den Fehler Farran genau das zu sagen.

„Du hast keine Ahnung! Wenn sie öffentlich von 9000 sprechen, werden in Wirklichkeit doppelt so viele - nein! Bestimmt dreimal so viele gestorben sein!“

„Und wie kommen all diese Menschen dazu sich umzubringen? Hast du darüber nachgedacht? Es ergibt keinen Sinn.“

„Was weiß ich. Es gibt Tausende von Gründen.“

„Es gab. Oder denkst du, jemand konnte sein Leben im Wohlstand nicht ertragen?“

„Grins nicht so! Mir fällt bestimmt etwas ein!“

Itan hoffte, dass sein Hologramm ihm die Lieferung melden würde, bevor Farran irgendein Grund einfiel. Er hatte keine Lust auf diese sinnlose Unterhaltung und Farrans Verschwörungstheorien.

„Was ist mit Unterdrückung?“, fragte Farran. Itan starrte ihn ungläubig an. „Ach, komm! Dauernd kriegst du irgendwas vorgeschrieben. Geh auf diese Schule! Studiere das! Wohne dort! Trink was! Lies diesen alten Schinken!“

„Und das ist schlimm?“

„Ich musste Tolstoi lesen! Und das blöde Ding hat mich sogar allen Ernstes abgefragt!“ Farran zeigte auf seinen Meddetektor und Itan musste lachen.

„Und jetzt willst du dich umbringen, weil du Krieg und Frieden gelesen hast?“

 „Hast du es denn gelesen?“

„Nein. Ich hab einen gänzlich anderen Büchergeschmack und stehe nur auf Texte aus der Antike.“

„Sagt wer?“

„Mein Meddetektor.“

„Siehst du! Genau das meine ich ...“, sagte Farran und begann mit seinem Vortrag über die Unterjochung der Menschheit durch den Medsektor. Itan hörte nicht wirklich zu. Es war lächerlich von Unterdrückung zu sprechen und Farran wusste es auch. Sie hatten genug Geschichte studiert, um einen Eindruck davon zu bekommen, was echte Unterdrückung war. Und dass die Menschen dann um ihre Freiheit kämpften, statt sich umzubringen. Ihre Welt funktionierte und drehte sich wie eine perfekt durchdachte Maschine. Wo jeder seinen Platz hatte. Und man drehte sich mit, weil ... weil es nun mal so war. Es war einfacher zu leben, als zu sterben. Er bewunderte fast diese 9000, die sich die Mühe gemacht hatten ihr Leben zu beenden. Farran erzählte weiter und beschwerte sich bald darüber, dass die Berichte keine Details über die Art der Selbstmorde enthielten.

„Kein Wunder“, antwortete Itan. „Sie wollen bestimmt nicht, dass du auf dumme Ideen kommst, wenn man dich wieder zum Lesen zwingt.“

„Witzig“, sagte Farran und suchte im Netz nach neuen Informationen. „Wenigstens etwas hätten sie dazu sagen können.“

„Ist ein Wunder, dass sie überhaupt irgendwas gesagt haben.“

„Vielleicht sind sie verzweifelt. Wenn jeden Monat so viele sterben, haben sie bald niemanden, den sie regieren können. Und dann verlieren sie ihren Lebenssinn und bringen sich auch um und die Menschheit ist ausgestorben“, sagte Farran und machte eine explodierende Geste mit den Händen.

„Selbstmorde für illegal erklären zu lassen, ist mehr als verzweifelt. Wollen sie die Toten in Sicherheitsverwahrung nehmen? Oder Geldstrafen verteilen?“

„Irgendwas wird ihnen schon einfallen. Wie immer.“

Sein Hologramm schob sich an den Tisch und gab ihm Bescheid, dass er die Essenslieferung abholen konnte. Als er an den Tisch zurückkehrte, war Farran weitergezogen, um die Nachrichten und seine Meinung dazu zu verbreiten. Er aß alleine, ohne wirklich das Essen zu schmecken. In seinen Gedanken versuchte er eine Aufgabe zu lösen. Wie brachte man sich trotz der Anwesenheit eines Meddetektors und eventuell eines Hologramms um?

Zurück im Trainingsraum hatte er kein Interesse mehr die Übungen fortzusetzen. Er setzte sich an den Tisch und dachte weiter nach. Viktor beobachtete ihn. Als er sich nach einer Viertelstunde immer noch nicht bewegt hatte, ging Viktor zum Getränkeautomaten, holte einen Becher und schob ihn Itan zu. Er schaute auf die dunkle Flüssigkeit.

„Ich mag keinen Kaffee.“

„Es ist Tee“, antwortete Viktor und setzte sich mit einem eigenen Becher zu ihm. Itan griff nach dem Tee und roch daran. Es war ein einfacher schwarzer Tee. Er trank, um der Unterhaltung zu entgehen, die der Techniker anscheinend erwartete. Der Tee war heiß, nicht zu stark und nicht zu süß. Er warf Viktor, der das Gesicht hinter seinem Becher verbarg, einen anerkennenden Blick zu.

„Hast du eine Lieblingsfarbe?“, fragte Itan, überrascht von sich selbst, dass er tatsächlich gesprochen hatte. Viktor studierte sein Gesicht.

„Ja.“ Itan wartete und zog dann eine Augenbraue hoch, woraufhin Viktor lächelte. „Blau.“ Itan blickte auf die Tischplatte vor seinen Händen.

„Ich habe keine.“ Viktor gab einen Laut von sich, der wohl anzeigen sollte, dass er zuhörte.

„Lieblingsessen?“, fragte Itan weiter. Viktor drehte den Becher zwischen seinen Händen und schwieg.

„Apfelkuchen“, sagte er endlich und Itan verschluckte sich an seinem Tee. Hustend blickte er hoch. Viktors Grinsen war ansteckend und er lachte mit.

„Dann hättest du mir nicht alles abgeben sollen.“ Viktor erhob sich und brachte seinen Becher weg.

„Ich nehme an, wir sind fertig für heute?“, fragte er, während er dem Spülroboter bei seiner Arbeit zusah. Itan nickte.

„Wie findet man eine Lieblingsfarbe?“, fragte er. Und kam sich dumm vor. So etwas fragte doch niemand. Und bestimmt keinen Techniker. Viktor schaltete die Geräte im Hauptraum aus und setzte sich wieder an den Tisch.

„Man merkt sich, welche Farbe das hat, was man liebt.“

Itan trank den Rest seines inzwischen kalten Tees und verzog das Gesicht. Sagte man dieses Wort noch? Lieben? Wie auch immer. Sein Problem wäre somit aus der Welt geschafft, weil er nichts hatte, das ihm etwas bedeutete. Von lieben ganz zu schweigen.

Er brachte seinen Becher auch weg und ging nach Hause. Beim Verlassen des Gebäudes fiel ihm ein, dass er sich nicht verabschiedet hatte und das nagte an ihm, bis er daheim war. Er ließ sich vom Detektor ein Entspannungsmittel geben und glitt betäubt in den Schlaf.

5

In den nächsten Tagen stand Itan jeden Morgen zur gleichen Zeit auf, duschte, frühstückte und ging zum Trainingsraum. Er sprach nur das Nötigste mit Viktor und mied den Pausenraum. Und jeden Abend ging er um die gleiche Zeit nach Hause, aß nur noch etwas, lernte und ging schlafen. Er vergaß vieles. Dachte nicht mehr daran. Er konnte nicht mehr sagen, wann genau Viktor sein Assistent geworden war. Oder wann er die letzte Unterlevelaufgabe gelöst hatte. Auch sein Meddetektor meldete sich immer seltener.

An einem Nachmittag Wochen später blickte er auf den halbleeren Becher in seiner Hand, als sähe er ihn zum ersten Mal. Es war irgendwann zu einem Ritual zwischen ihnen geworden, dass Viktor ihm Tee brachte, wenn Itan zu lange an einer Übung saß. Er drehte sich zu Viktor um, der gerade die Überreste der letzten Übung beseitigte.

„Danke“, sagte er. Der Techniker blickte vom Bildschirm hoch und sah ihn erstaunt an. Und nickte, ohne zu fragen wofür.

Als sie einige Stunden später mit dem Tagespensum durch waren, ging Itan nicht nach Hause. Er setzte sich an den Tisch. Und wartete. Er war trotzdem überrascht als Viktor sich tatsächlich zu ihm setzte. Itan wusste nicht, worüber er reden wollte. Ob er überhaupt reden wollte. Er suchte mit den Augen die Tischplatte ab, um irgendein Thema zu finden. Oder zumindest eine Beschäftigung für die Hände, aber der Tisch war leer. Er erhob sich etwas ungelenk und holte für sie Tee. Viktor beobachtete ihn die ganze Zeit und nahm nickend seinen Becher in Empfang.

„Warum Blau?“, fiel Itan endlich etwas ein, nachdem er sich ihre letzte Unterhaltung in Erinnerung gerufen hatte. Der Techniker blickte in seinen Becher und schwieg. Itan rutschte in seinem Sitz herum. Diese Art von Unterhaltungen lag ihm eindeutig nicht.

„Weil der Himmel blau ist“, sagte Viktor irgendwann. Itan nickte. Klang einleuchtend. Oder auch nicht. Der Himmel war nicht blau. Schon lange nicht mehr. Der Techniker grinste ihn an, als Itan ihm das sagte. Er hätte auch schweigen können, statt sich über ihn lustig zu machen.

„Hast du inzwischen eine Lieblingsfarbe?“, fragte Viktor. Er dachte nach. Aber ihm fiel nichts ein. Er schaute sich um. Auf der Suche nach einem Farbton, der ihm auffiel oder angenehmer erschien als andere. Der Raum selbst wechselte zwischen verschiedenen Weiß- und Grautönen. Selbst die Becher waren einfach nur weiß. Seine eigene Uniform war dunkelblau mit schwarzen und silbernen Abzeichen. Viktors Uniform hatte ein helles Gelb. Er nahm einen Schluck von seinem Tee und versuchte ein Lächeln zu unterdrücken.

„Grün“, antwortete er. Viktor, der seinem Blick jedes Mal gefolgt war, lachte.

„Wie hieß es doch? Auge um Auge ...“, begann er und brach ab. Er erhob sich hastig und ging zu seinem Bildschirm zurück, gab irgendetwas ein. Itan blieb verwirrt zurück. Der Techniker schien den Witz doch verstanden zu haben. Hinter ihnen glitten die Türen auf.

„Itan!“ Er zuckte beim Klang von Farrans Stimme zusammen. Er schien über irgendetwas aufgeregt oder aufgebracht zu sein und das führte immer zu anstrengenden Gesprächen. Viktor salutierte vor dem Besucher und auch Itan stand auf.

„Das war aber nicht nett, so ein Geheimnis vor mir zu verbergen“, sagte Farran und stieß mit einem Finger unangenehm in seine Schulter.

„Geheimnis?“, wiederholte Itan. Sein Gehirn knüpfte sofort die Verbindung zu Viktors Worten. Ging es etwa um den Kuchen?

„Was glotzt du so?“, zischte Farran plötzlich und riss Itan aus seinen Gedanken. „Hast du nichts zu tun?“ Itan sah auf Viktors unbewegtes Gesicht und wusste nicht, was er tun oder sagen sollte.

„Schick es weg!“, verlangte Farran. „Es steht ohnehin nur nutzlos rum.“

Itan nickte hilflos Viktor zu, der noch einmal vor ihnen salutierte und hinausging. Farran sah ihm nach und ging zu den Türen, um sie zu verriegeln. Er drehte sich grinsend zu Itan um.

„Also?“, fragte er erwartungsvoll.

„Also was?“, gab Itan irritiert zurück und trat einen Schritt zur Seite. Farran verdrehte die Augen.

„Wie hast du die Aufgabe gelöst?“

Itan zuckte mit den Schultern und brachte seinen Becher zum Spülroboter. Üblicherweise kam er gut mit Farran aus. Hauptsächlich, weil dieser keine Gerüchte über ihn verbreitete, aber diesmal war ihm seine Anwesenheit besonders unangenehm.

„Woher weißt du überhaupt davon?“

„Mir war langweilig, also habe ich die Skalierungsergebnisse durchgelesen. Wusstest du, dass du einen ziemlich netten Bonus dafür bekommst?“

„Wusste ich nicht.“ Noch mehr Geld und nichts, was er damit kaufen wollte.

„Wirst du mir endlich sagen, wie du das geschafft hast?“, fragte Farran ungeduldig. Itans Hologramm erschien zwischen ihnen.

„Ich habe eine Nachricht für Sie“, sagte es und lächelte. Erleichterung überströmte Itan, weil er Farran ausweichen konnte. Vielleicht würde er dann aufgeben und ihn in Ruhe lassen.

„Abspielen.“

„Die Nachricht ist vertraulich.“ Itan blickte überrascht zwischen dem Hologramm und Farran, der angesichts eines neuen Geheimnisses vor Neugier zu platzen schien, hin und her.

„Ich werde die Nachricht später abrufen“, teilte er der KI mit.

„Sag doch einfach, wie du es gelöst hast! Ist ja nicht so, als könnte ich sie wiederholen.“ Die KI drehte sich zu Farran um.

„Geht es um die Abschlussprüfung des Unterlevels?“, fragte es. Farran warf Itan einen beinahe komischen Blick zu, aber er zuckte nur mit den Schultern.

„Ja“, antwortete er zögernd.

„Das Protokoll sieht vor, dass die Lösung dieser Aufgabe unter den einzelnen Teilnehmern nicht diskutiert werden darf, außer es liegt eine schriftliche Genehmigung der Sektorleitung vor. Zuwiderhandlungen führen zu Sanktionen unter allen Gesprächsteilnehmern, die im äußersten Fall zu einem unwiderruflichen Ausschluss vom Ingenieurssektor und jedem Sektor der Vereinten Regierung führen können.“ Farrans Augen waren bei jedem Satz des Hologramms immer größer geworden. Itan hätte gelacht, wenn da nicht die Erkenntnis gewesen wäre, in welch gefährlicher Lage sie sich befunden hatten. Ausschluss vom Sektor? Itan räusperte sich.

„Ich denke, unser Gespräch ist beendet. Nicht wahr, Farran?“ Dieser nickte und eilte aus dem Raum. Das Hologramm wandte sich wieder Itan zu.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht daran erinnert habe.“

„Erinnern?“, fragte Itan. „Ich höre das alles zum ersten Mal! Ich hätte es ihm beinahe erzählt!“ Seine Stimme zitterte unangenehm und er holte sich etwas zu trinken.

„Die Warnung erschien nach dem Beenden der Aufgabe“, erklärte das Hologramm. „Ich war davon ausgegangen, dass Sie diese gelesen haben.“ Itan versuchte sich an irgendwas zu erinnern, aber das Einzige, was er danach gesehen hatte, war Viktors Gesicht gewesen. Er winkte ab. Es spielte keine Rolle mehr. „Wünschen Sie, dass ich jetzt die Nachricht abspiele?“

„Ja.“

„Ich habe meinen Tee stehen lassen“, ertönte Viktors Stimme. „Räum ihn bitte weg.“ Er starrte auf das lächelnde Hologramm.

„Das war’s?“ Die KI nickte. „Aber ...“

Etwas wie freudiges Erkennen glitt über die Gesichtszüge des Hologramms, bevor es zu erklären begann.

„Ich habe die Nachricht vor 13 Minuten und 18 Sekunden von Viktor Silas empfangen. Mit Anweisungen diese genauso zu übermitteln, wie ich es zuvor tat.“

„Aber ...“, setzte er wieder an.

„Herr Silas ist eine sehr kompetente Person. Also kam ich seiner Bitte und den Anweisungen mit Vergnügen nach.“ Itan wollte nicht fragen, warum das Hologramm glaubte, der Techniker sei kompetent. Vermutlich hatte es die KI beeindruckt, dass er auf Itans Fragen antworten konnte, als sie nicht weiter wusste.

„Seid ihr jetzt Freunde oder was?“, murmelte er und ging zu Viktors Arbeitsplatz, wo tatsächlich noch dessen Becher stand. Als er an der KI vorbeiging, hatte sie einen nachdenklichen Gesichtsausdruck.

„Nach den mir zur Verfügung stehenden Informationen würde ich unser Verhältnis als das von Haustier und Herrchen bezeichnen.“ Itan ließ beinahe den Becher fallen.

„Was?!“

„Er hat mir einen Namen gegeben!“, sagte die KI stolz.

„Er hat was?“

„Soll ich es nochmal wiederholen oder war es eine Unglaubensbekundung?“ Itan winkte ab und schob den Becher zum Spülroboter.

„Und wie sollst du heißen?“

„James!“

Itan tat langsam der Kopf weh. Wie kam der Techniker auf diesen antiken Namen? Er wollte dem Hologramm sagen, dass es das Ganze vergessen sollte, weil es ihm und nicht Viktor gehörte, aber es … James sah so glücklich aus. Wie ein Hund, der gerade für einen Trick belohnt worden war.

6

Am nächsten Vormittag war Itan hauptsächlich damit beschäftigt Viktor und seinem Hologramm vernichtende Blicke zuzuwerfen, während sich die beiden unterhielten.

„Wie findest du das Wetter, James?“

„Ausgezeichnet, Herr Silas! Aber ich befürchte, heute Abend wird es regnen.“

„Gut, dass du nicht nass werden kannst, James.“

„In der Tat, Herr Silas.“

„Nenn mich ruhig Viktor.“

„Jawohl, Herr Viktor!“

Und so ähnlich ging es alle paar Minuten weiter, wobei der Techniker einen so unglaublichen Spaß daran zu haben schien, dass Itan ihn beinahe fragte, welcher Witz ihm entgangen war.

Kurz vor der Mittagspause stürmte er in den Kontrollraum, wo beide ihn erwartungsvoll anblickten.

„Eine Stunde Pause!“

„Was soll ich liefern lassen?“, fragte die KI hilfsbereit.

„Keine Ahnung. Irgendwas.“ Er sank in einen der Sitze am Tisch und fuhr sich durch die Haare. „Lass es aber hierher liefern.“ Er hörte Viktor den Raum entriegeln und sich erheben.

„Bleib!“, rief er und wandte sich dann zum Hologramm. „Bestell für zwei.“

„Sehr wohl, Itan!“, kam es freudestrahlend zurück.

„Danke ... James“, würgte Itan hervor und hörte Viktor lachen, während die KI sich überglücklich entmaterialisierte.

„Irgendwas?“, fragte Viktor, als sie eine Viertelstunde später eine Expresslieferung von Soma auspackten.

„Sei ruhig“, knurrte Itan und stellte die letzte Schale auf den Tisch. Es waren genau die gleichen Gerichte, wie Viktor sie damals geholt hatte.