Weder Kommunismus noch Kapitalismus - Carl Jentsch - E-Book

Weder Kommunismus noch Kapitalismus E-Book

Carl Jentsch

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Beschreibung

Für Jentsch und viele andere Deutsche war die brennende Frage des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht, ob die Sozialdemokratie, sondern wann das Elend siegen werde; das »ob« stand dabei außer Frage, wenn nicht binnen kurzem neue Lebensbedingungen geschaffen worden wären. Das Buch verstand sich als ein Vorschlag zur Lösung der europäischen Frage, den aber die Zeit - wie so vieles anderes - überholte.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus

Ein Vorschlag zur Lösung der europäischen Frage

Carl Jentsch

Inhalt:

Weder Kommunismus noch Kapitalismus

Vorwort

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Weder Kommunismus noch Kapitalismus, C. Jentsch

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849643492

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Weder Kommunismus noch Kapitalismus

Vorwort

Die Grenzboten schickten mir vorigen Sommer das Buch des Züricher Professors Julius Wolf zu, das der Freiherr von Stumm seitdem wiederholt im Reichstage empfohlen hat. Das Buch reizte mich zu einer Kritik, und da diese nicht an Einzelheiten kleben blieb, sondern aufs Ganze ging, so erweiterte sie sich zu einer Kritik der ganzen heutigen sozialpolitischen Diagnose und Therapeutik, sodaß sie den Leser berechtigte, am Schlusse positive Vorschläge zu fordern. So wuchs der Stoff über das Maß dessen hinaus, was eine Zeitschrift im Laufe eines halben Jahres verdauen kann und drängte zur Buchausgabe. In das dreizehnte Kapitel sind einige ältere Grenzbotenaufsätze mit aufgenommen worden.

Für uns Deutsche ist die brennende Frage der Zeit nicht, ob die Sozialdemokratie, sondern wann das Elend siegen werde; das »ob« steht außer Frage, wofern nicht binnen kurzem neue Lebensbedingungen geschaffen werden. Ohne Zweifel sind alle bedeutenden Publizisten derselben Meinung, und wenn diese Meinung nur selten und schüchtern ausgesprochen wird, so liegt das daran, daß es die Verleger der großen Zeitungen aus naheliegenden Gründen nicht gestatten.

Zu meinem im fünfzehnten Kapitel entwickelten Vorschlage bin ich nicht von der hohen Politik aus, sondern auf einem privatwirtschaftlichen Wege gelangt, auf den jeder Bewohner Schlesiens ganz von selber geraten muß, wenn er nicht ein Brett vor den Augen hat. Als Knabe hörte ich öfter von Gutsbesitzern, die für ihre Söhne im Posenschen billiges Land erworben hätten. Nachdem das Großherzogtum so ziemlich besetzt war, wandten sich unsre jüngern Landwirte nach Galizien, endlich nach Russisch-Polen, wo es jederzeit Güter um billigen Preis teils zu kaufen teils zu pachten gab. Plötzlich trat die bekannte Wendung der russischen Politik ein. Der Abzugskanal wurde verstopft, die deutschen Pächter wurden teils ausgewiesen, teils wurde ihnen das Verbleiben bis zum Ablauf der Pachtzeit nur unter erschwerenden Bedingungen gestattet, die einen großen Teil der Frucht ihres Fleißes zu nichte machten. Ich fragte mich nun: was soll fortan aus den überzähligen Gutsbesitzersöhnen werden? Sollen sie die Zahl der unverwendbaren Referendarien vermehren, oder sollen sie mit ihrem an kräftige Kost gewöhnten Magen Schulmeister mit sechs- bis achthundert Mark Gehalt werden, oder den brodelnden Kessel des Tagelöhner- und Fabrikarbeiterproletariats vollends zum Überlaufen bringen? Und ich meine, jeder Schlesier hat schon oft im stillen dieselbe Frage aufgeworfen. Dazu haben wir die oberschlesische Industrie vor Augen, die, in einen Sack gesperrt, erstickt. Seit etwa zehn Jahren verfolge ich die Spuren solcher, auch außerhalb Schlesiens, deren Gedanken sich in derselben Richtung bewegen. Nur schüchtern tauchen solche Gedanken auf, und es ist ja auch sehr schwierig, sie öffentlich auszusprechen, ohne ihr Ziel zu gefährden. Sie hätten so im verborgnen verbreitet und der Verwirklichung entgegengeführt werden müssen, wie in der Zeit von 1806 bis 1813 der Gedanke der Erhebung des preußischen Volks. Aber mittlerweile ist es spät geworden. Wenn schon Moltke dafür hielt, daß die europäischen Völker die Last des bewaffneten Friedens nicht mehr lange würden tragen können, so rückt die Gefahr in unheimliche Nähe, daß die Katastrophe an der unrichtigen Stelle ausbricht. Irgend einer muß also endlich einmal mit der Sprache heraus, wie in dem Märchen vom unsichtbaren Königskleide das Kind, und so habe ich denn die entgegenstehenden Bedenken überwunden.

In Beziehung auf das vierte Kapitel wird man vielleicht meine Zuständigkeit anfechten, da ich England nicht aus eigner Anschauung kenne. Aber was heißt denn das: England aus eigner Anschauung kennen? Kennt einer England, wenn er einen Sommer über bei einem Landsquire zum Besuch gewesen ist? Kennt einer Deutschland, wenn er ein Jahr auf einem schlesischen Rittergute oder in einem Berliner Hotel oder in einer Pension im Rheingau verlebt hat? Wie viele Engländer und Deutsche kennen denn ihr eignes Vaterland? Was weiß denn ein Bewohner der Tiergarten- oder der Wilhelmsstraße von Berlin-Ost, und ein Holsteiner von den bäuerlichen Verhältnissen Hessens und Thüringens, wenn ers nicht etwa in Büchern gelesen hat? Und was für tollen Urteilen über Schlesien bin ich in Baden begegnet! »Woher sind Sie?« fragte mich dort ein recht dürftiges Schulmeisterlein. Aus Schlesien, »Aus Schlesien? Ein aaarmes Land!« Na, dachte ich, dir wäre ein bißchen schlesische Armut zu gönnen. Laut aber sagte ich: Na ja, wenn sie ein Land mit etlichen Dutzend Millionären und vielleicht hunderttausend reichen Bauern arm nennen wollen. – Zuverlässige Angaben über die wirtschaftliche Entwicklung Englands liegen in solcher Fülle vor, daß sich darauf ganz sichere Urteile gründen lassen. Ein übrigens sehr wohlwollender Beurteiler meiner »geschichtsphilosophischen Gedanken« meint, ich hegte eine Abneigung gegen England. Das ist nicht der Fall. Die weltbekannten guten Eigenschaften des englischen Volkscharakters, deren Kehrseite die schlechten bilden, sind mir gerade ungemein sympathisch. Aber es kam in jenem wie in diesem Buche nicht darauf an, Völkerpsychologie zu treiben oder die Lichtseiten des englischen Lebens zu schildern, sondern die Deutschen vor dem Betreten eines Weges zu warnen, der ins Verderben führen müßte, selbst wenn es nicht schon zu spät dazu und für ein zweites Kolonialreich nach englischem Muster kein Raum mehr wäre auf Erden. Man braucht nur folgende Thatsachen nebeneinander zu stellen, um zu erkennen, daß die englischen Verhältnisse ungesund, unnatürlich und auf die Dauer unhaltbar sind. Großbritannien mit Irland hat auf 1000 Hektar 349 Hektar unproduktiven Boden (Deutschland 53) und nur 188 Hektar Ackerland (Deutschland 484, Preußen 503); es erzeugt nur etwa ein Fünftel der für den heimischen Bedarf notwendigen Brotfrüchte. Bei so enormem Übergewicht der Nachfrage über das Angebot müßte doch die englische Landwirtschaft eine Goldgrube sein. Statt dessen werden die Pächter bankrott, der Körnerbau nimmt von Jahr zu Jahr ab, und erst kürzlich ist, wie die Zeitungen melden, in der Grafschaft Norfolk ein 4000 Acres (1600 Hektar) großes Gut außer Kultur gesetzt worden. Die Pächter, die sich bis vor zehn Jahren in die Bewirtschaftung teilten, sind einer nach dem andern bankrott geworden. Dann versuchte es der Besitzer selbst zu bewirtschaften; da er aber nicht durchkam, so hat er das Inventar verkauft und läßt das Land brach liegen.

Da mit dieser Arbeit so wenig, wie etwa mit einer Kriminalstatistik oder einem Krankheitsbilde in einer medizinischen Wochenschrift, ein Kulturgemälde entworfen werden soll, so wird man mir hoffentlich nicht den Vorwurf machen, daß ich einzelne Stände oder gar unser ganzes Volk verleumdet hätte. Wenn der Arzt eine Krankheit beschreibt und die Heilmittel angiebt, so hat er nicht zugleich die Schönheit des Körpers zu beschreiben, in dem die Krankheit wütet. Aber je schöner und edler der erkrankte Leib ist, desto energischer müssen alle, denen an seiner Erhaltung liegt, die Krankheit bekämpfen; und von je edlern Absichten sich die meisten Angehörigen der höhern Stände beseelt wissen, desto dringender müssen sie sich aufgefordert fühlen, aus einer Lage hinauszustreben, die sie fortwährend zwingt, wider Willen Verkehrtes zu thun.

Neiße, im März 1893

Der Verfasser

Erstes Kapitel

Ein neuer Vorkämpfer des Kapitalismus

Wenn es im Hause an Geld zu fehlen anfängt, so pflegen Mann und Frau zunächst übler Laune zu werden und einander gegenseitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Zuweilen sind die Vorwürfe nach der einen oder der andern oder nach beiden Seiten hin begründet, zuweilen rührt auch die Not von äußern Verhältnissen her, für die keins von beiden kann.

Sämtliche europäische Völker, nur Frankreich vielleicht ausgenommen, gehen augenscheinlich ihrem Bankerott entgegen. Daher ist zur Zeit jedes Glied jedes Volkshaushalts mit Erbitterung gegen alle andern Glieder erfüllt, und mit der steigenden Not wird diese Erbitterung steigen. Was in diesem Falle die Schuld anlangt, so liegt sie teils an Fehlern, die von den herrschenden Klassen als Wirtschaftsleitern begangen worden sind und noch täglich begangen werden, teils an natürlichen Verhältnissen, für deren Entstehung die herrschenden Klassen nichts können, die aber, sobald sie erkannt werden, nicht mehr unabänderlich sind. Daß man sie sowie die begangnen Fehler erkenne, ist die selbstverständliche Voraussetzung der Besserung.

Nicht wenige denkende Männer haben beides erkannt und sind daran, diese Erkenntnis zu verbreiten. Wenn nun ein Mann aufsteht, der mit einem großartigen wissenschaftlichen Rüstzeuge und in packender populärer Sprache den Scheinbeweis führt, daß unsre Verarmung nur ein Schreckgespenst der Einbildungskraft sei, daß wir Heutigen reicher seien als alle unsre Vorfahren, und daß keine Fehler gemacht worden seien, so thut er damit etwas im höchsten Grade verderbliches; sollte er Erfolg haben, so würde er ein Werkzeug des Gottes gewesen sein, der da verblendet, die er verderben will. Professor Julius Wolf in Zürich hat dieses Verhängnisvolle unternommen in dem ersten Bande seines bei Cotta in Stuttgart erscheinenden Systems der Sozialpolitik, den er betitelt: Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung; kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik. Aus dem Buche spricht ein liebenswürdiger, edler und dabei klarer Geist; aber ins Studirzimmer eingeschlossen und dem wirklichen Leben fremd, hat dieser Geist die Bücher und Zahlentabellen, aus denen er sein Wissen und sein Urteil schöpft, nicht richtig zu deuten vermocht. Mit seinen ethischen, historischen und politischen Anschauungen stimmen wir in den meisten Punkten überein, aber diese Übereinstimmung läßt uns das Gefährliche des Buches nur um so viel gefährlicher erscheinen. Vielleicht wird sich aus dem zweiten Bande ergeben, daß seine Sozialpolitik ganz die unsre ist; allein wenn die Politiker, der Einladung des Verfassers folgend, auf die Voraussetzung der Vortrefflichkeit des herrschenden Wirtschaftssystems bauen, dann bauen sie auf Sand. So sehr wir den guten Gedanken des Buches die weiteste Verbreitung wünschen, so dringend müssen wir wünschen, daß die Herrschenden das süße Opiat seiner Reichtumsstatistik, das sie mit Wollust schlürfen werden, nicht ohne Gegengift einnehmen. Ein solches gedenken wir zu bereiten, dabei jedoch unserm eignen Gedankengange zu folgen, indem wir nur einzelne Stellen des Buches von Wolf kritisieren. (Die Überschriften seiner fünf Abschnitte lauten: 1. Eine Geschichte der sozialen Moral, gleichzeitig Geschichte der sozialen Grundrechte. 2. Das soziale Recht; moderner Standpunkt. 3. Kritik des Sozialismus. 4. Kritik der »kapitalistischen« Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. 5. Gerechtigkeit.)

Der Verfasser ist »jedem Streit über Begriffe aus dem Wege gegangen.« Streiten wollen auch wir nicht, aber so weit muß doch der Begriff berücksichtigt werden, daß man sich mit dem Leser über die Bedeutung der zu gebrauchenden Wörter verständigt, sonst schreibt man ins Blaue hinein. Nachdem der Verfasser die Nationalökonomie (er meint eigentlich die Nationalökonomik) richtig definirt hat, erklärt er die Sozialpolitik für einen »Abschnitt« der praktischen Nationalökonomie, nämlich für den, der sich mit der Güterverteilung zu beschäftigen habe. Diese Begriffserklärung ist offenbar viel zu eng. Zwar aus dem konfusen Geschwätz über Sozialpolitik, das seit einigen Jahren in Parlamenten, amtlichen Kundgebungen, Zeitungen, Vereinssitzungen, Volksversammlungen, Schullehrerkonferenzen und weiß Gott wo noch verführt wird, ist kein Aufschluß über den Sinn des Wortes zu erlangen. Aber nachdem Schäffle sein großes Werk über den Bau der Gesellschaft geschrieben, und nachdem sich eine ganze Schule von Soziologen gebildet hat, darf man wohl die Soziologie als die Lehre von dem Bau, den Lebensbedingungen und Lebensverrichtungen der Gesellschaft bezeichnen. Die Sozialpolitik würde dann die Wissenschaft vom dem sein, was der Staat zu thun hat, um den Gesellschaftsbau lebendig und in guter Gesundheit zu erhalten. Denn nicht um einen toten, sondern um einen organischen Bau, um einen beseelten Leib handelt es sich, und daher ist in dieser Wissenschaft zuerst nach der Gliederung des Gesellschaftsbaues oder Gesellschaftskörpers, oder vielmehr nach der Gliederung dieses Körpers, bei uns Deutschen des deutschen Gesellschaftskörpers, zu fragen, der ja ganz anders gebaut ist als der englische, italienische und russische; am ähnlichsten ist er dem französischen. Nun können die Glieder dieses Körpers zwar keinen Augenblick ohne Güter sein, aber die erste Frage lautet doch nicht, wie viel und welche Güter sie haben, sondern was sie selbst sind, z. B. ob sie Freibauern oder Pächter, Fabrikarbeiter oder Handwerksmeister und Gesellen sind, und in welchem Verhältnis der Über- und Unterordnung oder Beiordnung sie zu einander stehen oder stehen sollen. Eine der brennendsten sozialen Fragen unsrer Zeit z. B. – die beliebte Einzahl: »die soziale Frage« ist ein gräßlicher Unsinn – lautet: Ist ein freier Stand besitzloser Arbeiter möglich? Woher für Arbeiter, die keinen eignen Acker haben, das Brot genommen werden soll, ist keine soziale, sondern eine wirtschaftliche Frage. Freilich interessirt sie den Sozialpolitiker in hohem Grade; denn wenn es dem Arbeiter an Brot fehlt, so verfällt dieses Glied des Gesellschaftskörpers leiblichem und geistigem Siechtum, und zugleich tritt zwischen ihm und den übrigen Gliedern eine feindselige Spannung ein. Sozialwissenschaft und Volkswirtschaftslehre sind vielfach mit einander verflochten, aber die erste ist nicht ein Teil der zweiten; eher dürfte man die zweite der ersten unterordnen und sagen, die Volkswirtschaft habe zu untersuchen, wie die Glieder des Gesellschaftskörpers mit den notwendigen Gütern zu versorgen seien.

Ferner: hätte sich Wolf die Begriffe Sozialismus und Kapitalismus klar gemacht, so würde er sich nicht durch den Krieg der Sozialisten gegen das »Kapital« und den der Kapitalisten gegen die Sozialdemokraten haben verleiten lassen, beide als Gegensätze zu behandeln und für den zweiten gegen den ersten einzutreten. Der Gegensatz des Sozialismus ist nicht der Kapitalismus, sondern der Individualismus, und wer den Kapitalismus bekämpft, ist darum noch kein Kommunist. Darin sind heutzutage wohl so ziemlich alle Denker einig, ja auch Wolf selbst äußert sich gelegentlich so, daß sich Sozialismus und Individualismus nicht zu einander verhalten wie Gott und Teufel, wobei die Parteigänger jedes der beiden Systeme das ihrige für göttlich und das des Gegners für teuflisch erklären, sondern daß sie polare Gegensätze und einer so unentbehrlich wie der andre sind, sodaß in jedem einzelnen Falle nur um die Abgrenzung ihrer Berechtigung gestritten werden kann. Die Alleinherrschaft des Individualismus würde zunächst zur Vernichtung des Staats führen. In der That war in dem individualistischen England der Staat zeitweilig nahe daran, zu verschwinden, während dem preußischen Staatswesen das vorherrschende Staatsgefühl immer einen kräftigen sozialistischen Zug aufgedrückt hat. Der Kapitalismus nun findet seine Rechnung allerdings am besten bei schwacher Staatsgewalt und nach Sprengung aller sozialen Verbände; aber er weiß sich doch auch in die Verhältnisse zu schicken, eine starke Regierung sehr gut für seine Zwecke zu benutzen und der Organisation der Besitzlosen und der kleinen Besitzer seine eignen Organisationen gegenüberzustellen. Andrerseits ist nichts thörichter, als in dem Kampf gegen den Kapitalismus einen Angriff auf das Privatvermögen zu sehen. Im Gegenteil ist es gerade der Kapitalismus, d. h. die grundsätzliche und planmäßige Förderung der Übermacht des Großkapitals, der das Privateigentum von neun Zehnteln der Volksgenossen bedroht und zum Teil schon verschlungen hat. Im Mittelalter gab es Privateigentum, aber keinen Kapitalismus; dasselbe gilt noch heute von solchen orientalischen Ländern, die sich, wie Bulgarien, einen kräftigen Bauernstand bewahrt, und wo sich solche Kulturpflanzen wie die Großindustrie, das Staatsschuldenwesen, der Börsenschwindel und der Wucher noch nicht eingenistet haben. Wenn demnach Wolf mit seinem Buche dahin abzielt, »den Sozialismus als Volksbethörer lahm zu legen,« so ist es kein geringerer als der Staat, auf den sein tötliches Geschoß gerichtet ist; denn ein unsozialer Staat ist ein Unding. Was er meint, ist nun freilich nicht jener Sozialismus, den wir meinen, und den er selber für notwendig hält, sondern die Sozialdemokratie. Aber auch in diesem Sinne bleibt seine Absicht noch höchst bedenklich. Die Thätigkeit der Sozialdemokratie ist für unsre deutsche Gesellschaft und für unser Staatswesen nicht allein heilsam, sondern vor der Hand sogar noch notwendig. Sie übt an den herrschenden Zuständen eine Kritik, die zwar in vieler Beziehung der Berichtigung bedarf, die aber doch besser ist als gar keine, und ohne jene Partei würden wir keine haben. Zugleich strebt sie, die Lage der untern Klassen zu verbessern, und hat mit diesem Streben bereits einigen Erfolg gehabt, denn ohne sie würde u. a. das, was man heute Sozialpolitik nennt, gar nicht vorhanden sein. In dieser negativen und positiven Thätigkeit steckt nichts von Bethörung, sondern sie beruht auf Wahrheit und wirkt in dem teilweise erkrankten Gesellschaftskörper als Heilmittel. Als Bethörung kann man höchstens die Zukunftsträume der Sozialdemokratie bezeichnen; allein diese sind teils harmloser Natur, teils unter den obwaltenden Umständen, d. h. beim Abgange anderweitiger Ideale, fast unentbehrliche Illusionen.

Da Wolf auf die Grundlage klarer Begriffe verzichtet hat, darf man sich nicht wundern, daß ihm die ganze Anlage seines Baues windschief geraten ist, nicht allein in der falschen Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus, sondern auch noch in andrer Beziehung. Die volkswirtschaftlichen und die im engern Sinne sozialpolitischen Abschnitte seines Buches greifen schlecht in einander ein, und seine Sozialpolitik läuft zudem auf eine Rechtsphilosophie hinaus, eine Rechtsphilosophie, mit der wir für unsre Person so ziemlich übereinstimmen, die wir aber für sehr unwirksam halten. Er geht von einer geschichtsphilosophischen Betrachtung aus, die ganz in unserm Sinne gehalten ist, und sagt sehr schön: »Für uns hier stellen wir nur das eine fest: daß, wie immer der Menschheitszweck gefaßt wird, er sicherlich nur erreicht werden kann auf dem Wege über eine befriedigende materielle Existenz des Einzelnen.« Demnach stehe die Sozialpolitik »mitten auf der Brücke, die von den Bedingungen [Lebensbedingungen?] des Menschen zu seiner Aufgabe hinüberführt.« Nach folgendem Plane habe sie zu verfahren: »Sie hat festzustellen, was Rechtens ist, und auf dieser Basis, mit Beachtung der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mittel, ein Programm von Forderungen zu entwickeln.« Mit diesem Ideal habe sie die Wirklichkeit zu vergleichen, daraus zu erkennen, was verbesserungsbedürftig sei, endlich die Mittel und Wege zur Besserung anzugeben. Wir sind nun der Ansicht, daß auf Forderungen des Rechts deswegen keine Sozialpolitik gegründet werden kann, weil darüber, was Rechtens sei, die Menschen bis ans Ende der Welt streiten werden. Weder die volkswirtschaftlichen noch die im engern Sinne sozialpolitischen Fragen lassen sich juristisch lösen. Wie in aller Welt soll denn ermittelt werden, ein wie großer Teil, sei es des eignen Arbeitsertrages, sei es vom Volkseinkommen, dem Einzelnen von Rechtswegen gebühre, wenn unter Recht nicht ein positives Vertragsrecht, sondern das ideale Recht, das Recht an sich verstanden wird? Wie will man, nicht auf dem Boden eines historischen, sondern dieses idealen Rechts die Rechtsansprüche der Klassen und Berufsstände gegen einander abgrenzen? Eines ist so unmöglich wie das andre. Auch wir haben z. B. die Empfindung, daß eigentlich jeder arbeitende oder wenigstens arbeitswillige Mensch Anspruch habe auf ein Stück heimischen Bodens; aber wer dieser Empfindung in einem Gesetzvorschlage Ausdruck verleihen wollte, der würde sich damit doch nur lächerlich machen. Nicht aus solchen Empfindungen ist die kurbrandenburgische und preußische Bauernpolitik geflossen, sondern aus der Einsicht, daß der König für sein Heer »Kerls« und Pferde braucht, für die Staatsverwaltung aber Steuern, und daß alle drei Bedürfnisse nicht von Latifundien mit proletarischer Arbeiterschaft, sondern nur von Bauerhöfen bestritten werden können. Immer sind es nur solche, wenn man will gemeine, Erwägungen, nicht Ideale und Empfindungen, auf die der Gesetzgeber baut. So wohlthätig demnach auch ein lebhaftes und feines Rechtsgefühl auf die Volkswirtschaft wie auf die Sozialpolitik einwirken mag, und wie hoch wir demgemäß auch das Verdienst aller Staatsmänner und Richter, aller Geistlichen und Lehrer, aller Schriftsteller und Volksredner anschlagen, die den Rechtssinn wecken, schärfen und verfeinern, so fragen wir doch bei volkswirtschaftlichen und sozialen Dingen nicht darnach, was das Recht fordere, sondern was notwendig, was wünschenswert, was möglich und erreichbar sei, denn darüber kann unter Verständigen eine Einigung erzielt werden. Und wenn in der Kritik des uns vorliegenden Buches mehr als einmal auf schreiende Ungerechtigkeiten hingewiesen werden wird, so geschieht es nicht, um den sittlichen Unwillen zu erregen oder zum Emporstreben aus dieser schlechten Wirklichkeit in einen Idealzustand verwirklichter Gerechtigkeit anzuspornen, sondern zu zwei ganz andern Zwecken. Erstens sind diese Ungerechtigkeiten von einem hochzivilisirten Volke im neunzehnten Jahrhundert verübt worden, und indem wir sie hervorheben, wollen wir den Wahn zerstören, als ob heute und in Europa »so etwas nicht mehr vorkommen könne,« als ob unser Geschlecht durch seine Humanität und seinen Gerechtigkeitssinn allein schon vor dem Rückfall in eine Barbarei geschützt wäre, die Staat und Gesellschaft mit dem Untergange bedroht. Zweitens aber ist es von höchster Wichtigkeit, festzustellen, daß gewisse volkswirtschaftliche und soziale Übel keineswegs durch natürliche Ursachen erzeugt, sondern durch menschliche Bosheit verschuldet worden sind, daher geheilt und für die Zukunft vermieden werden können.

Von diesem Standpunkte aus können wir der übrigens sehr anziehenden Geschichte der sozialen Moral und der sozialen Grundrechte, die Wolf im ersten Abschnitte liefert, nur eine rein akademische, also für unsern praktischen Zweck untergeordnete Bedeutung beimessen. Doch dürfen wir sie, schon wegen der vielen Berührungspunkte mit unsern eignen bei verschiednen Gelegenheiten kundgegebnen Ansichten, auch nicht gänzlich übergehen. Indem Wolf die Frage nach dem Fortschritt der Moral im allgemeinen aufwirft, kommt er zu dem Ergebnis, daß die exoterische Sittlichkeit zweifellos fortgeschritten, die esoterische aber zurückgeblieben sei; doch will er auch an dem Fortschritt dieser nicht verzweifeln und glaubt, daß sie durch jene gefördert werde. Unter exoterischer Sittlichkeit versteht er nämlich »die zur Schau getragne und äußerlich geübte, unter esoterischer die innerlich empfundne, dem Drange des Herzens entquellende.« Mit den von Wolf wahrgenommenen Thatsachen hat es seine Richtigkeit, nur ist der Ausdruck exoterische Sittlichkeit nicht ganz zutreffend; die Sittlichkeit sitzt immer inwendig. Was er mit jenem Ausdruck meint, ist einerseits die Legalität, andrerseits die öffentliche Meinung über Sittlichkeitsfragen. Jene wächst selbstverständlich mit der bei enger Zusammendrängung der Menschen notwendigen Zwangsgewalt des Staates, der gegenüber die Willkür des Einzelnen niemals so ohnmächtig gewesen ist wie heute. Ihrem sittlichen Werte nach steht die Legalität auf einer Stufe mit der Sittsamkeit großstädtischer Hunde, die durch bescheidne Zurückhaltung und vorsichtige Anpassung an eine gefahrvolle Umgebung das harte Schicksal, bald auf den Schwanz, bald auf die Pfoten getreten, bald durchgeprügelt, bald hinausgeworfen zu werden, klug zu mildern verstehen. Wie weit sie einen günstigen Einfluß auf die wirkliche, die innerliche Sittlichkeit übt, weiß Gott allein; gewisse ungünstige Einflüsse verraten sich auch dem menschlichen Beobachter. Daß die erzwungne Legalität mit den animalischen Lebensgeistern zugleich auch den Schwung der Seele niederdrücke, ist schon oft beklagt worden, von den stärkern Geistern aber pflegen die Rohern im Widerstande gegen das Joch einer erzwungnen »Herdenmoral« Verbrecher zu werden, die Feinern überzuschnappen und sich an den Wahngebilden eines erträumten Übermenschentums zu erlaben. Bei leidlicher Freiheit bleibt das Menschentier ein ziemlich harmloses Geschöpf, in den Käfig gesperrt, wird es leicht zur rasenden Bestie. Was aber die öffentliche Meinung anlangt, so ist es nicht ganz überflüssig, sich darauf zu besinnen, seit wann, wie und wodurch ihr Urteil so scharf geworden ist. Das Verdienst dafür gebührt der Reformation, die ihre Berechtigung zunächst aus der sittlichen Verderbnis des Papsttums ableitete. Daraus entsprang einerseits für die neue Kirche die Ehrenpflicht, am Leben ihrer Mitglieder bessere Früchte nachzuweisen, andrerseits für die alte die Notwendigkeit, sich äußerlich mehr als bisher zusammenzunehmen, zugleich aber die notgedrungne und bald zur Gewohnheit werdende Taktik aller Konfessionen und Sekten, an einander Kritik und über einander Sittenpolizei zu üben und jede Blöße des Gegners der Öffentlichkeit zu denunziren. Diese Gewohnheit und Taktik ist dann auf die politischen Parteien übergegangen, und nachdem sich der Klatschsucht Presse und Telegraph, der Verfolgungssucht die großartigsten Staatsveranstaltungen zur Verfügung gestellt haben, ist es höchst lustig oder für Leute von anderm Geschmack erbärmlich anzusehen, wie ein jeder Sünder auf die Sünder der andern Parteien aufpaßt und ihnen das Publikum, die Polizei und den Staatsanwalt auf den Hals hetzt. Für die Echtheit der sittlichen Entrüstung, die solchergestalt jahraus jahrein die Öffentlichkeit durchtobt, giebt es einen ziemlich sichern Prüfstein: verdammt einer solche Sünden, zu denen er selbst keine Versuchung hat, so meint ers aufrichtig. Darum ist die Entrüstung der Reichen über die Diebereien, das Vagabundentum und die Unbotmäßigkeit der Armen so ehrlich wie deren Entrüstung über die Härte und die ungerechten Gewinne der Reichen und über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten parteiischer Richter. Zu sinnlichen Genüssen fühlen sich die meisten Menschen in allen Klassen gleich stark versucht, daher ist, wo es sich nicht gerade um wirkliche Verbrechen und Schandthaten handelt, die Entrüstung über Ausschreitungen der Genußsucht in neun von zehn Fällen erheuchelt und mit ein wenig Neid versetzt, mögen die sich Entrüstenden Protestanten oder Katholiken, Konservative, Deutschfreisinnige oder Sozialdemokraten sein.

Die Geschichte der sozialen Moral teilt Wolf auf zweierlei Weise ein. Einmal läßt er drei Zeiten der Unterdrückung von drei Zeiten der Humanität abgelöst werden. Die der Humanität sind die römische Kaiserzeit, die Renaissance und die im vorigen Jahrhundert beginnende Periode – eine geistreiche und nicht unbegründete Auffassung. Sodann aber teilt er die ganze Zeit der sozialen Entwicklung in drei sehr ungleich lange Perioden. Die erste umfaßt das ganze Altertum, das Mittelalter und die neuere Zeit bis ins vorige Jahrhundert hinein. In dieser ganzen Zeit galt nach ihm das Recht des Stärkern. Die zweite »Epoche« soll sich erstrecken »von der Gewährung des Rechts auf Freiheit bis zur Erkenntnis von der Unfähigkeit des Rechts auf politische Freiheit, der wirtschaftlichen Vergewaltigung Schranken zu ziehen.« Die dritte ist die »in unsern Tagen begonnene Epoche der Verwirklichung des Rechts auf Freiheit auch nach der wirtschaftlichen Seite hin und der Realisirung des Rechts auf Existenz und auf den vollen Arbeitsertrag.« Demnach würde der zweite Abschnitt für Frankreich 1789, für Preußen 1807 anfangen. Für England läßt er die zweite 1848 schließen; wir werden sehen, daß sie da eigentlich noch nicht einmal begonnen hatte.

Schon jetzt aber mag angemerkt werden, daß es um die praktische Verwirklichung der »Menschenrechte,« die von den Theoretikern seit anderthalbhundert Jahren so pomphaft verkündigt worden sind, recht kläglich bestellt ist, ja daß wir sogar in der Theorie noch nicht über die antike Anschauung hinaus sind. Diese charakterisirt Wolf ganz richtig dahin, daß sie keine allgemeinen Menschenrechte, sondern nur Rechte der freien Volksgenossen kannte, während dem Sklaven und dem Ausländer, wenn überhaupt ein Recht, nur das Recht von Schützlingen und Gästen eingeräumt wurde. Nun hat der schottische Geistliche Townsend in seinem Buche »Die Armengesetze, beurteilt von einem Menschenfreunde« folgendes geschrieben: »Die Armen wissen wenig von den Beweggründen, die die höhern Klassen zur Thätigkeit reizen: Stolz, Ehrgefühl und Ehrgeiz. Im allgemeinen ist es der Hunger allein, der sie zur Thätigkeit stacheln kann. Aber unsre Gesetze wollen sie nicht hungern lassen. Freilich sprechen sie zugleich aus, daß sie zur Arbeit gezwungen werden sollen. Noch ist gesetzlicher Zwang zur Arbeit mit zu viel Mühe, Gewaltsamkeit und Aufsehen verbunden, während der Hunger nicht nur einen friedlichen, schweigsamen und unaufhörlichen Druck ausübt, sondern auch als natürlichster Antrieb zur Arbeit am wirksamsten die kräftigste Anstrengung hervorruft.« Wolf findet, daß solche Äußerungen englischer Moralisten eine starke Ähnlichkeit mit des Aristoteles Sklaventheorie haben: »Hier wie dort die Behauptung: die Natur will und die Gesellschaft braucht zweierlei Menschen: Bevorrechtete und Gemißbrauchte.« Wir werden sehen, daß Wolf selbst über diesen Satz nicht hinauskommt. So viel über das Sklavenrecht. Was aber das Fremdenrecht anlangt, so fällt es keiner der europäischen Nationen, die sich jetzt um den schwarzen Erdteil balgen, auch nur im Traume ein, den Negern, die sie teils unterjocht, teils mit Feuer und Schwert aus ihren Dörfern vertrieben haben, Gleichberechtigung zu gewähren; die Sklaverei wird mit einem großen Aufwande sittlicher und christlicher Entrüstung nur bekämpft, damit man die Farbigen ärger ausnutzen könne, als sie von ihren einheimischen Herren ausgenutzt werden. Das einzige, worum die Schwarzen gebessert werden würden, wenn die vollständige Unterwerfung Afrikas gelänge, würde die Beseitigung der Metzeleien bei Sklavenjagden und bei den Opferfesten einzelner Negerhäuptlinge sein. Einander haben die europäischen Völker Gleichberechtigung zugestanden, nachdem sie sich in blutigen Kriegen vergebens abgemüht haben, einander zu unterjochen. Daß es eben nur die Furcht vor neuen Niederlagen und nicht die Idee der allgemeinen gleichen Menschenrechte ist, was augenblicklich die Großmächte bestimmt, die Mordwaffen vor der Hand nur zu schärfen, anstatt sie zu gebrauchen, sehen wir an dem wilden Haß, mit dem überall in Europa, wo innerhalb desselben Staates verschiedne Nationen beisammen wohnen, die Minderheiten von den Mehrheiten unterdrückt werden. Auch in diesem Gebiete ist es nur die heuchlerische Phrase, was uns vor den Alten auszeichnet, nebst der Technik, die sich selbst die Mittel ihrer Verbreitung schafft und mit den Waffen, die wir selbst führen, auch unsre Feinde ausrüstet. Wolf zitirt folgenden Ausspruch aus »Lucrezia Borgia« von Gregorovius: »Wenn wir einen Menschen, wie ihn unsre Zivilisation erzogen hat, mitten in jene Renaissance versetzten, so würde die tägliche Barbarei, welche an den damals Lebenden eindruckslos vorüberging, sein Nervensystem zu Grunde richten und vielleicht seinen Geist verwirren.« Wolf fügt hinzu: »Ist hier bloß an die Schwachnervigkeit oder an die Charakterüberlegenheit unsrer Zeit gegen die der Renaissance gedacht? Wir glauben, es ist beides anzunehmen. Die erste wird unter Umständen vorerst der Beschönigung statt der Ausmerzung des Übels Vorschub leisten; aber die Ausmerzung wird doch ihr letztes Ergebnis sein. Von dieser Ausmerzung aber und den auf sie gerichteten Bestrebungen wird ein günstiger Einfluß auch auf den Charakter ausgehn.« Welches Glück, daß Gregorovius mit seiner zart besaiteten Seele niemals in die Arbeiterstadt von Manchester oder in gewisse russische Dörfer verschlagen Wir meinen nicht die Potemkinschen Dörfer, die Rudolf Virchows vom russischen Weihrauch benebelte eitle Seele gesehen hat, sondern echt russische Dörfer, wie sie neuerdings auf Grund amtlicher Untersuchungen von russischen Professoren beschrieben worden sind. worden ist! Er würde den Verstand verloren haben, und wir würden um seine schönen Werke gekommen sein. Die Fabrikanten von Manchester und die russischen Beamten haben stärkere Nerven; ihnen verdirbt der Anblick nicht einmal den Appetit an einer ihrer opulenten Mahlzeiten; übrigens verstehen es beide meisterhaft, das kompromittirendste vor den Augen unberufner zu verbergen. Ein solcher Herr in Manchester, dem Engels von den Zuständen der Arbeiterstadt zu sprechen anfing, sagte:And yet there is a great deal of money made here: good morning, Sir!Vielleicht wäre sogar schon in den Schlaflöchern der Burschen mancher Berliner Bäcker und Wurstmacher die Probe für unsre zarten Nerven zu hart; Sanitätskommissionen wenigstens pflegen sich vor solchen Proben zu hüten; sie beschränken sich auf die Besichtigung der Läden, wo selbstverständlich die peinlichste Sauberkeit herrscht und freundliche Gesichter strahlen. Die Besserung des Charakters durch die Nerven könnte wohl nach dem von Wolf entwickelten Programm vor sich gehen, aber wenn er meint, das sei im großen und ganzen wirklich schon geschehen, so täuscht er sich.

Er spricht in demselben Zusammenhange auch von der in sozialer Beziehung allerdings sehr wichtigen Empfindung des Mitleids und offenbart hier, während er andern Unwissenheit vorwirft, selbst bedenkliche Lücken. »Wenn man etwas mehr Geschichte kennte – sagt er –, dann würde man wissen, daß das Mitleid – nicht als Tugendbegriff, sondern als Tugendempfindung einer großen Zahl – eine kaum zweihundertjährige Geschichte hat.« Nicht zweihundert, sondern zweitausend und einige hundert Jahre ist die Mitleidsreligion Buddhas alt. Vor zweihundert Jahren schrieb man 1693, und damals lebte in Europa das mitleidloseste Geschlecht, das jemals die Sonne beschienen hat. Hundert Jahre früher war man auch schon hart gewesen, scheint aber doch nicht so aller zarteren Regungen bar gewesen zu sein. Shakespeare schrieb doch nicht zu seinem Privatvergnügen, sondern für ein sehr gemischtes Publikum; selbst ein Kind des Volkes, kannte er, wie das Menschenherz überhaupt, auch die Empfindungsweise seines Volkes aus dem Grunde. In seinen Stücken spielt nun das Mitleid eine ganz bedeutende Rolle. Wolf zitirt ein paar Seiten weiterhin zu einem andern Zweck eine Stelle aus König Johann; es ist sonderbar, daß ihm nicht die rührende Szene eingefallen ist, wo der kleine Arthur seinen Kerkermeister Hubert durch Mitleid bewegt, von der anbefohlenen Blendung abzustehen. An der ehernen Brust der Folterknechte des siebzehnten Jahrhunderts, an der Roheit englischer Fabrikanten und Fabrikaufseher des neunzehnten Jahrhunderts, an der Kälte der »klassischen« Nationalökonomen sind alle Klagen und Bitten gemarterter Kinder wirkungslos abgeprallt. Shakespeares Königsdramen dagegen enthalten eine Menge Stellen, die beweisen, daß schon die bloße Tötung eines Kindes im Jähzorn oder aus politischen Gründen damals noch als etwas Ungeheuerliches empfunden wurde; von Mißhandlungen und Grausamkeiten ist mit Ausnahme jener beabsichtigten, aber nicht ausgeführten Blendung überhaupt keine Rede. Man erinnere sich an die Urteile und Klagen über die am jungen Rutland und am Sohn der Königin Margaretha begangnen Mordthaten im dritten Teile Heinrichs des Sechsten und in Richard dem Dritten; »das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung,« spricht Anna in der so widerlich burlesk endenden Szene am Sarge ihres jugendlichen Gatten zu Gloster; und dann des zarten Monologs des wilden Tyrrel über die in seinem Auftrag vollzogne Ermordung der schlafenden Söhne des Königs Eduard. Den Alten spricht Wolf das Mitleid rundweg ab, was in Anbetracht des berühmten aristotelischen Wortes, die Tragödie habe Furcht und Mitleid zu erregen, ein starkes Stück ist von einem deutschen Professor. Vielleicht behandeln wir den höchst interessanten Gegenstand einmal besonders. Für heute mag die Bemerkung genügen, daß man die Wahrheit in dieser Sache leichter ermitteln wird, wenn man nicht fragt, ob die Alten mitleidig, sondern ob sie grausam waren. Die Grundstimmung der griechischen Volksseele wird zur Genüge durch die Thatsache charakterisirt, daß das athenische Volk einen Mann, der einen Widder lebendig geschunden hatte, zum Tode verurteilte, weil es meinte, ein Mensch, der solcher Grausamkeit gegen ein Tier fähig sei, könne ähnliches wohl auch einmal an Menschen verüben; und es hat dabei, nebenbei bemerkt, mit seiner gesunden Empfindung jenen einzig richtigen Grundsatz der Strafrechtspflege aufgedeckt, für den unser heutiges verkünsteltes Geschlecht beinahe blind zu sein scheint. Die Alten waren hart, wo harte Maßregeln zur Erreichung eines politischen oder sonstigen wichtigen Zweckes notwendig schienen, aber sie empfanden gegen nutzlose Grausamkeiten einen starken sittlichen und gegen Verstümmelungen und Verkrüppelungen des Menschenleibes einen sehr entschiednen ästhetischen Widerwillen, sie waren also zwar nicht sentimental, aber auch nicht grausam. Eine Bestätigung seiner Auffassung sieht Wolf in folgendem Ausspruche des Aristoteles: »Von Natur kräftigere Menschen lassen weinerliche Menschen nicht an sich heran. Dagegen erfreuen sich Weiber und weibische Männer an dem Mitgeseufze andrer und lieben sie als Freunde und mitleidige Menschen.« Aber das ist ja ganz genau auch die Seelenstimmung jedes tüchtigen Mannes von heute, namentlich jedes protestantischen Deutschen; wo er Unrecht thun und Unrecht leiden sieht, da setzt er sich nicht hin, um mit dem Leibenden zu seufzen und zu flennen, sondern er haut auf den Übelthäter ein, und ist er zu schwach zum Einhauen, so schimpft und agitirt er wenigstens. Auch das Neue Testament ist nicht sentimental. Man lese nur die trockne, kurzgefaßte Leidensgeschichte! Nur die nackten Thatsachen; kein Wort, das etwaiges Mitgefühl des Zuschauers oder Erzählers verriete oder darauf berechnet wäre, das Mitleid des Lesers zu erregen; keine Spur von solchen nervenpeinigenden Einzelheiten, wie sie Brentano aus Legenden gesammelt und sich dann von der ekstatischen Nonne Katharina Emmerich hat diktiren lassen. Von der Rolle, die das Mitleid in der englischen Arbeiterbewegung gespielt hat, wird später die Rede sein.

Wolfs Auffassung der geschichtlichen Veränderungen stimmt insofern mit unsrer eignen überein, als auch er es für verkehrt erklärt, alle Erscheinungen aus einem einzigen »Prinzip« abzuleiten, und daher auch selbstverständlich die einseitige materialistische Geschichtserklärung der Sozialdemokraten entschieden verwirft. Ob es nun gerade drei Kräfte sind, die die Menschheit vorwärts bringen oder vielleicht nur im Kreise herumtreiben, darüber würde sich freilich streiten lassen, wenn hier der Ort dazu wäre. Wolf schreibt nämlich: »Die Kulturmenschheit wurde vorzüglich durch drei einträchtig neben einander wirkende Kräfte vorwärts gebracht: durch Ansprüche jener, die sich eine halbe Geltung infolge ihnen günstiger Wirtschaftsverhältnisse bereits errungen hatten und eine ganze wollten; durch die Selbstkritik der herrschenden Klassen; und durch die zwischen beiden vermittelnde ethische Einsicht. Diese Faktoren, die das Rad der Menschheit vorwärts drehen, sind auch heute wirksam.«

Zweites Kapitel

Die Fragestellung

Nachdem Wolf im ersten Abschnitt festgestellt zu haben glaubt, »wie im Lauf der Menschheitsentwicklung ein soziales Grundrecht nach dem andern aufgetaucht ist, und wie in diesen Humanitätsrechten die Geschichte der sozialen Moral als exoterischer Moral sich wiederspiegelt,« soll der zweite »der Frage nach dem eigentlichen Inhalt dieser Rechte und insbesondre der beiden ökonomischen von ihnen gewidmet sein.« Als politische Grundrechte bezeichnet er das Recht auf Freiheit und das auf Gleichheit. Die beiden Namen seien freilich »trotz des sonoren Klanges« unzweckmäßig gewählt; nachdem sie ihre revolutionäre Aufgabe erfüllt hätten, habe die Wissenschaft festzustellen, daß unter Freiheit und Gleichheit Selbstbestimmung und Mitbestimmung verstanden werden. »Beide zusammen sind in der That das volle Recht, insofern jede Beschränkung im Selbstbestimmungsrechte wett gemacht wird durch Zuweisung eines Rechts auf Mitbestimmung über andre.« Da wir unsrerseits nicht nach dem Ideal fragen wollen, sondern nach dem unter den gegebnen Umständen notwendigen und möglichen, so können wir die sogenannten politischen Grundrechte erst erörtern, nachdem wir die wirtschaftliche Lage dargestellt haben werden.

Von den beiden wirtschaftlichen Grundrechten ist nach Wolf, und wir stimmen ihm darin bei, das Recht auf Existenz sowohl seiner Begründung als seinem Inhalt nach unsicher, während das Recht auf den vollen Arbeitsertrag wenigstens klar begründet werden kann, wenn auch in vielen Fällen nicht zu ermitteln ist, worin der volle Arbeitsertrag besteht. In vielen, nicht in allen Fällen, sagen wir; und diese Korrektur, die wir an Wolfs allgemein gehaltner These anbringen, ist, wie wir sehen werden, von entscheidender Bedeutung. Eben der noch unbestimmte Inhalt der beiden wirtschaftlichen Grundrechte, heißt es weiter, sei der Gegenstand des sozialen Streites, und die Verwirklichung dieses Inhalts sein Ziel. Indem man aber nach jenem Inhalt forsche, sehe man sich wieder »auf das Grundproblem der sozialen Ethik zurückgeworfen: was ist der Zweck des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sowie der Lebenszweck des einzelnen?«

Über dieses Grundproblem liegen nun, wie weiter ausgeführt wird, zwei »große Auffassungen« mit einander im Streit, die aristokratische, die einigen wenigen die Masse opfern will, und die demokratische, die alle einzelnen für gleichberechtigt hält. Wolf führt eine Anzahl berühmter Vertreter beider Richtungen an und geht näher auf Nietzsche ein, bei dem der Gegensatz in ungeheuerlicher Verzerrung als ein Kampf der angeblichen Sklavenmoral gegen die Herrenmoral erscheint. Daß von unsern beiden großen Dichtern Goethe der aristokratischen und Schiller der demokratischen Auffassung zuneigte, ist bekannt. Ein Streit darüber zwischen Treitschke und Schmoller, über den Wolf berichtet, berührt unsern Gegenstand unmittelbar. Als der sogenannte Kathedersozialismus hervortrat, bekämpfte ihn Treitschke in der Schrift »Der Sozialismus und seine Gönner.« Treitschkes aristokratische Moral ist freilich von der Nietzsches himmelweit verschieden, da er die Unterordnung der vielen unter die wenigen fordert, nicht um der Selbstsucht der Herren zu fröhnen, sondern weil das Wohl des Ganzen sie fordre. Den großen Talenten müsse auf Kosten des Lebensgenusses der Masse eine höhere Stellung und reichlicher Lebensgenuß gesichert werden, damit sie ihre Aufgabe als Kulturerzeuger erfüllen könnten. »Oft und bis zum Überdruß hat man nachgewiesen, daß ohne die Anhäufung großer Reichtümer weder die Großindustrie noch die Blüte der Kunst gedeihen kann. Die Persönlichkeit eines gereiften großen Volkes kommt nicht zur Durchbildung ohne starke soziale Gegensätze.« Darauf hat Schmoller geantwortet, daß selbst die höchsten Blüten geistigen Lebens zu ihrer Entfaltung großer Reichtümer nicht bedürften. In deraurea mediocritasgediehen sie am besten. »Die größten deutschen Dichter haben sich vor hundert Jahren in Weimar, die genialsten deutschen Maler und Architekten unsrer Zeit haben sich in dem armen Baiern, in München versammelt, als dort sicher noch kein Privatmann eine Million besaß.« Wolf schließt sich dieser Ansicht, die selbstverständlich auch die unsre ist, aus vollem Herzen an. »Nein, es leidet keinen Zweifel: auf dem Boden mittlern Wohlstandes kann nicht nur die mittlere Volkskraft reifen, sondern auch den Ausnahmeerscheinungen, den großen Künstlern und Denkern wird er der günstigste sein. Existenzbedingung jener, die den Fortschritt »leisten,« ist nicht Opferung der andern ... Der Weg, der zum Glücksziel führt, d. h. zur Bedachtnahme auf alle oder möglichst viele [wie ungeschickt ausgedrückt!], muß das Kulturziel nicht verfehlen.« Er schließt mit einigen Versen aus den »Schutzflehenden« des Euripides, in denen ausgeführt wird, daß weder die Reichen noch die Armen etwas taugen, Zucht und Ordnung nur beim Mittelstande zu finden sei, unterläßt es aber merkwürdigerweise, aus seinen richtigen Vordersätzen die allein zulässige Folgerung zu ziehen, daß die Begünstigung des Kapitalismus und somit auch der Zweck, zu dem er sein Buch geschrieben hat, verwerflich sei.

Aus der von Wolf beleuchteten Polemik Treitschkes wollen wir doch noch einen Satz hervorheben als ein Beispiel jener zahlreichen Fälle, wo hervorragende Männer offenbaren, wie wenig sie von wirtschaftlichen Verhältnissen verstehn. Treitschke spricht von den »jedes menschliche Gefühl empörenden Kontrasten der Großstadt,« durch die man sich aber in der aristokratischen Lebensansicht nicht irre machen lassen dürfe, und Wolf greift folgenden Satz heraus: »Dort auf den Tribünen des Rennplatzes drängt sich lachend die geputzte Menge, drunten wird ein edles Rennpferd durch eine Flasche Wein gestärkt, und einige Schritte davon bettelt eine arme Frau um Brot für ihre Kinder.« Otto Effertz führt denselben Satz an und fragt, was es wohl der armen Frau nutzen könnte, wenn der Gaul den Champagner nicht kriegte? Was sie braucht, ist nicht Wein, sondern Brot, und da der Roggen an Rebgeländen so wenig gedeiht wie der Wein auf Roggenacker, so stehen einander die beiden nicht im Wege, und der Gaul fügt der armen Frau kein Unrecht zu. Es ist demnach gar keine Herrenmoral nötig, um die Grundlosigkeit der Gewissensbisse einzusehn, die der Weingenuß empfindsamen und mitleidigen Seelen im Hinblick auf das menschliche Elend erregt. Klugheit und feine Empfindung mögen also wohl fordern, daß der Reiche den anstößigen Kontrast vermeide und entweder sich und seinen Gaul nur an solchen Orten mit Wein erquicke, wo keine hungernden Witwen und Waisen herumstehn, oder gleichzeitig diese Armen mit einem Almosen erfreue. Aber geholfen werden kann diesen Armen weder durch Almosen, noch durch den Verzicht der Reichen auf den Weingenuß, sondern nur durch Vergrößerung der Flächen, auf denen Roggen gebaut wird. Nicht daher rührt ihre Not, daß zu viel Wein, sondern daß zu wenig Roggen im Lande ist; denn entspräche der Roggenvorrat dem Bedarf, dann würde das Brot so billig sein, daß sich auch die Armen genug davon kaufen könnten, und Allerärmste, d. h. solche, die keine Arbeit finden und daher gar kein Geld haben, würde es nicht geben. So wenig also die Armen ihr Brot zu opfern brauchen, damit sich die großen Geister und die Rennpferde im Wein Lebensmut antrinken können, so wenig brauchen die Reichen auf den Wein zu verzichten, damit die Armen Brot bekommen.

Um nun zu dem Gedankengange Wolfs zurückzukehren, so stellt er, um der unliebsamen Folgerung auszuweichen, zu der er sich gedrängt sah, die angestellte Untersuchung des Grundproblems der sozialen Ethik als ergebnislos und daher eigentlich überflüssig dar. »Ein absolutes Maß, eine Lösung in ethischen Dingen giebt es eben nicht. Und noch eine Steigerung mag die Willkür darin finden [soll wohl heißen: und noch mehr wird der Spielraum, den die Willkür des persönlichen Geschmacks bei der Entscheidung solcher Fragen beansprucht, dadurch vergrößert], daß, wenn selbst der Streit über das Ziel, damit immer noch nicht jener [?] über das Recht beigelegt wäre. Eine gewisse Verteilung der Einkommen kann uns dem Ziel der Entwicklung näher bringen als eine andre. Stellt diese Verteilung das Recht schon dar? Hat X, weil er mit einem Einkommen von einem gewissen Betrage den ihm von Gesellschaftswegen gestellten Aufgaben am besten entsprechen würde, darum ein Recht auf dieses Einkommen? Heute muß er sich sein »Recht« auf dem Markte in Konkurrenz mit andern gegenüber einer vielleicht mißleiteten oder unverständigen Menge von Käufern zu erkämpfen suchen. Um Extreme herauszugreifen, denke man an den Börsianermillionär gegenüber einem in seiner Dachkammer verhungernden Jünger einer »wenig praktischen« Wissenschaft. Ist die Leistung des letztern nicht vielleicht von Gesellschafts wegen bessern Rechts als die Leistung jenes? Das Gesetz schützt trotzdem den Millionär, das Recht ist mit ihm, und ebenso [?] reicht das Recht des verhungernden Musensohns nicht weiter als die Wand seiner Mansarde.«

Wolf verzichtet also darauf, den Inhalt des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag aus dem Ziele der Kulturentwicklung zu ermitteln. Er begnügt sich damit, festzustellen, daß jenes Recht allgemein anerkannt werde, und findet, daß sich der Streit eigentlich nur darum drehe, ob es schon verwirklicht sei oder nicht. Die Sozialisten behaupteten, dem Arbeiter allein gebühre der ganze Arbeitsertrag, ein beträchtlicher Teil davon aber werde ihm vom Unternehmer vorenthalten, der demnach ein Räuber sei. Die Anhänger des bestehenden hingegen seien der Ansicht, »daß die Entlohnung In dieser jetzt so beliebten Zusammensetzung, hat uns ein Freund zu dieser Stelle bemerkt, liegt eine unfreiwillige bittere Ironie.Entlohnen kann nämlich vernünftigerweise nichts andres bedeuten, als einen seines Lohnes berauben. Vergl. entblättern, entlauben, entleiben, entmannen, entkernen, entseelen, entvölkern u. s. w. Denen, die das Wort gebildet haben, hat wohl dunkel vorgeschwebt: jemand seinen Lohn auszahlen und ihn damitentlassen. Das läßt sich aber eben nicht in einen Begriff zusammenquetschen. des Arbeiters von heute seiner Leistung ungefähr entspreche, daß also die Privateigentumsordnung von heute dem Rechte nicht entgegen sei, und Reformen nur karitativ, als Akte der Nächstenliebe über das nackte Recht hinaus gedacht werden können.« Wolf hätte, nachdem er einmal die aristokratische und die demokratische Moral in die Betrachtung hineingezogen hat, ausdrücklich darauf hinweisen müssen, daß die erste heut »vom Manchestertum und von der Feudalität« (in diese beiden Klassen teilt er die Anhänger der kapitalistischen Wirtschaft ein), die zweite von den Sozialdemokraten vertreten wird. Zwischen diesen beiden Parteien der Interessirten, deren Meinung klar sei, stehe die vermittelnde Partei der Uninteressirten, die die Klarheit vermissen lasse. Diese meine, »die gegenwärtige Wirtschaftsordnung führe die Möglichkeit einer Vergewaltigung des Arbeiters durch den Unternehmer mit sich, und diese Vergewaltigung sei heute bis zu gewissem [einem gewissen] Grade eine Thatsache. Inwieweit? Darauf wird uns eine höchst unsichre Antwort oder gar keine gegeben. Dagegen wird ausgeführt, jener Vergewaltigung und Vergewaltigungsmöglichkeit müsse ein Ende gemacht oder wenigstens müßten die Folgen der Vergewaltigung abgewendet werden, ersteres mehr im Wege privater Organisation der Arbeiter, letzteres mit Bevorzugung staatlichen Eingreifens in die »natürliche« Gestaltung der Dinge.« Der Kathedersozialismus oder Staatssozialismus, unter welchen beiden Benennungen die Männer der vermittelnden Richtung zusammengefaßt zu werden pflegen, unterscheidet sich also zunächst dadurch vom Sozialismus, daß er die Beraubung des Arbeiters durch den Unternehmer unter der Herrschaft des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht für notwendig und unvermeidlich, sondern nur für möglich und stellenweise wirklich erklärt. Außerdem begründet er auch noch die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer ein wenig anders als die Sozialisten. Der Arbeiter, so pflegen Professor Brentano und seine Gesinnungsgenossen auszuführen, habe nichts als seinen Arbeitslohn, um sein Leben zu fristen. Er befinde sich daher beim Verkauf seiner Arbeitskraft stets in der Lage des Falliten, der um jeden Preis, also auch um einen Spottpreis losschlagen müsse. Demnach könne ihm geholfen werden, wenn er, z. B. durch gewerkschaftliche Organisation, in den Stand gesetzt werde, eine Zeitlang auf Arbeitslohn zu verzichten; denn dann sei er stark genug, den Lohn zu erzwingen, der dem Werte seiner Leistung entspreche. Die Sozialisten dagegen erklären die Ohnmacht der Arbeiter nicht aus dem Mangel an Unterhaltsmitteln, sondern daraus, daß sie nicht im Besitz der Produktionsmittel sind und unter der Herrschaft des Kapitalismus angeblich niemals in ihren Besitz gelangen können. Vom Boden dieser Begründung aus gelangen sie dann auch zu viel weitergehenden Forderungen als die Kathedersozialisten. Denn, sagen sie, wenn die Arbeiter auch auf dem Wege der Koalition einen höhern Lohn zu erzwingen imstande sind, so ist dieser höhere Lohn immer noch nicht der volle Arbeitsertrag; diesen vermag der Arbeiter nicht zu erlangen, so lange es eine von den Arbeitern gesonderte Unternehmerklasse giebt, die unter den Bezeichnungen: Grundrente, Kapitalzins und Unternehmergewinn einen Teil des den Arbeitern gebührenden Arbeitsertrages für sich vorwegnimmt; das Unternehmertum muß also abgeschafft werden. So läuft denn Wolfs Untersuchung auf die Beantwortung der Frage hinaus, ob die Sozialisten oder die Anhänger des Kapitalismus oder die Kathedersozialisten mit ihren Behauptungen Recht haben.

Für uns ergiebt sich eine ganz andre Frage oder vielmehr Gruppe von Fragen als Hauptgegenstand der Untersuchung. Was zunächst die gerühmte Klarheit der beiden Interessentengruppen anlangt, so ist sie keineswegs eine Frucht mühsamer Geistesarbeit, sondern auf dieselbe leichte Weise gewonnen, wie in allen Wissenschaften die Doktrinäre, die sich um die ungeheure Mannichfaltigkeit der Welt nicht kümmern, durch Folgerungen aus einem »Prinzip« ihre reinlichen, folgerichtigen und durchsichtigen Systeme aufzubauen verstehen. Eben in dieser Einfachheit und Reinlichkeit, die durch das Absehen von der verwirrenden Mannichfaltigkeit des Lebens auf Kosten der Wahrheit gewonnen wird, liegt der gemeinsame Grundfehler beider Systeme, und eben dadurch werden die vermittelnden Kathedersozialisten unklar, daß sie der Wahrheit näher kommen. Aber freilich, die allerfalscheste Annahme der beiden folgerichtigen Systeme haben auch sie sich zu eigen gemacht und so ihre Untersuchungen auf dieselbe unhaltbare Grundlage gestellt wie jene beiden.

Alle drei, samt Wolf, nehmen ganz unbefangen an, die gesamte Bevölkerung der Kulturstaaten bestehe aus den beiden Klassen der Unternehmer und der Arbeiter, und alle sozialen und volkswirtschaftlichen Streitigkeiten drehten sich um die Aufgabe, den Arbeitsertrag zwischen diese beiden Klassen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu verteilen; sie alle übersehen die drei Thatsachen, daß erstens jene Scheidung keineswegs allgemein ist, daß demnach zweitens in vielen Fällen gar keine Verteilung notwendig ist, sondern dem Arbeiter sein voller Arbeitsertrag schon jetzt unmittelbar zufließt, und daß drittens in den Fällen, wo eine Verteilung stattfindet, die Ermittelung des gerechten Anteils bald leicht, bald schwierig, bald unmöglich ist.

Wolf selbst entnimmt einem Buche des Sozialisten Kautsky folgendes Beispiel: »Als bei den Indianern noch Bogen und Pfeile allein gebraucht wurden, kannte jeder Krieger seine Pfeile und hatte keine Schwierigkeit, die von ihm getöteten Büffel positiv zu erkennen. Diese waren ganz sein individuelles Eigentum. Fanden sich aber Pfeile von verschiednen Männern in demselben toten Büffel, so wurden die Eigentumsansprüche je nach deren Lage entschieden. Wenn jeder Pfeil eine tötliche Wunde verursachte, so wurde der Büffel geteilt.« Hier war also das Recht auf den vollen Arbeitsertrag verwirklicht, und dasselbe geschieht ja noch bis auf den heutigen Tag überall bei Jagd und Fischfang. Aber nicht bloß der Jäger und der Fischer, sondern auch der unverschuldete Kleinbauer, der seinen Acker mit Weib und Kindern selbst bestellt und keiner Lohnarbeiter bedarf, erleidet keinen Abzug. Ihm allein gehört die ganze Ernte, gehört die Milch seiner Kühe, der Erlös aus verkauftem Vieh, das Fleisch seiner Schweine. Der größere Bauer, der sich Knechte, Mägde und Tagelöhner hält, muß allerdings schon mit diesen teilen, oder vom sozialdemokratischen Gesichtspunkte aus betrachtet: sie müssen ihren Arbeitsertrag mit ihm teilen; allein die Schwierigkeit, die aus dieser Arbeitsgemeinschaft herausgediftelt werden könnte, ist rein theoretischer Natur und hat gar keine praktische Bedeutung. Denn der Bauerknecht hält sich für genügend belohnt, wenn er satt und gut zu essen hat, und wenn sein Geldlohn für die ortsübliche Kleidung, das ortsübliche Sonntagsvergnügen und einen Sparpfennig hinreicht. Zwischen ihm und dem Bauer besteht also kein Streit über die gerechte Teilung. Bei den Arbeitern der Rittergüter, auf die wir später zu sprechen kommen, verhält sich die Sache allerdings schon anders. Weil die »klassische Ökonomie« wie der »klassische Sozialismus« in England entstanden ist, wo es keinen Bauernstand mehr giebt, so haben die Herren Gelehrten diesen Stand, der in Deutschland noch vor fünfzig Jahren zwei Drittel der Bevölkerung ausmachte, und der noch heute in Frankreich und Deutschland den Kern des Volkes bildet, der Reinlichkeit und Einfachheit ihrer Systeme zuliebe übersehen und aus einer Frage, die nur einen Teil der städtischen und industriellen Bevölkerung angeht, eine allgemeine Frage gemacht.

Nur einen Teil! Auch der kleine Handwerker wird nicht davon berührt. Sodann giebt es Fälle der Arbeitsteilung, die immer auch Arbeitsgemeinschaft ist, wo von Scheidung in Unternehmer und Arbeiter keine Rede sein kann, und die Teilung des Arbeitsertrages auf dem Wege des Vertrags erfolgt, ohne daß der eine sich in Gefahr begiebt, vom andern vergewaltigt oder übervorteilt zu werden. So wenn sich Verleger, Schriftsteller und Buchdrucker zur Herausgabe eines Buches, Maurermeister, Zimmermeister und Schieferdeckermeister zum Bau eines Hauses vereinigen. In vielen Gegenden Deutschlands sind auch die Maurer und Zimmerleute noch keine reinen »Arbeiter,« die dem Meister als Unternehmer auf Gnade und Ungnade ausgeliefert wären. In kleinern Städten wenigstens beschäftigen die Meister vielfach Leute von den umliegenden Dörfern. Diese Leute sind meistens Söhne von Ackerstellenbesitzern. Sie haben das Maurer- und Zimmerhandwerk gelernt, um sich damit ihr Brot zu verdienen, bis sie selbst in den Besitz einer Stelle gelangen, wobei sie aber fortfahren, bei den Eltern zu wohnen und ihnen in der Ackerarbeit und im Hause zu helfen. Glückt es ihnen nicht, kleine Gutsbesitzer zu werden, so müssen sie allerdings zeitlebens beim Handwerk bleiben, bringen es aber dann meistens bis zum Polir. Übernehmen sie die väterliche Stelle, oder heiraten sie in eine Stelle ein, oder kaufen sie mit ihren Ersparnissen eine, und ist ihr Gütchen nicht groß genug, sie vollständig zu beschäftigen und – was immer die Folge davon ist – anständig zu ernähren, so betreiben sie die Maurerei oder Zimmerei als Nebenberuf weiter. Solche Leute stehen keineswegs in Gefahr, gleich zu verhungern oder zu verlumpen, wenn sie ein ihnen zu niedrig scheinendes Lohnangebot des Maurer- oder Zimmermeisters zurückweisen. Der Meister andrerseits aber ist auch nicht in der Lage, sich durch Lohndruck um alle diese zuverlässigen Leute zu bringen und mit hergelaufenem Volk zu arbeiten. Beide bedürfen einander gegenseitig, beide können sichs aber auch überlegen, ehe sie einen Vertrag abschließen. Sie stehen also wirtschaftlich so ziemlich auf gleichem Fuße, und nur als Betriebsleiter ist der Meister der Vorgesetzte, wenn man will, der Herr der Gesellen. Unter solchen Umständen fällt die Verteilung des Arbeitsertrages von selbst gerecht aus. Unternehmer war der kleinstädtische Maurer- und Zimmermeister bis vor etwa fünfzig Jahren überhaupt nicht. Damals kannte man nur in den größern Städten Mietkasernen; in den kleinern baute man nur Häuser, um sie selbst zu bewohnen. Der Bauherr bezahlte den Maurer- und Zimmermeister für den Entwurf und für die Materialien, falls er sie nicht selbst lieferte, für die Bauleitung aber bekamen sie unmittelbar gar nichts, sondern wurden in der Weise bezahlt, daß ihnen jeder Gesell von seinem Tagelohn einen Silbergroschen abtrat; so viel Gesellen der Meister beschäftigte, so viel Silbergroschen hatte er täglich. Die Möglichkeit eines unverhältnismäßigen Gewinns war also ausgeschlossen, und den Lohn der Gesellen zu drücken, daran hatte der Meister gar kein Interesse; nicht er, sondern der Bauherr zahlte ihn, zwischen Meister und Gesellen aber waltete die vollständigste Interessenharmonie. Hätten die Gesellen auf eigne Faust einen Bau übernehmen und einen aus ihrer Mitte als Betriebsleiter anstellen wollen, so würde der mit weniger als einem Silbergroschen von jedem Kameraden gewiß auch nicht zufrieden gewesen sein. Heute freilich sind in den größern Städten die Maurer- und Zimmermeister weit mehr Bauunternehmer als Handwerksmeister, und die Gesellen sind reine Arbeiter nach modernem Begriff, aber in den kleinern Orten finden sich, wie gesagt, noch Reste des ursprünglichen Verhältnisses, und wenn man dieses der Berechnung zu Grunde legte, so würde sich wohl auch der Lohn finden lassen, den der Maurer und Zimmermann der Großstadt zu fordern hat. Möglicherweise würde sich ergeben, daß er von seinem wirklichen Lohne nicht sehr abweicht.

Erst bei verwickelter Arbeitsteilung wird die Berechnung schwierig; sie wird unmöglich, wenn Personen, die weit entfernt von einander wohnen und einander gar nicht kennen, wenn gar die Rohproduktionen und Industrien verschiedner Länder zur Herstellung einer Ware zusammenwirken. Wenn eine elsässische Kattunfabrik englisches Garn verarbeitet und ihre Ware nach Schwaben verkauft, so ist es schon sehr schwierig, die beteiligten Personen alle anzuführen, ohne eine zu vergessen. In den fünfzig Pfennigen für eine Elle dieses Kattuns, die in einem Stuttgarter Kramladen verkauft wird, stecken die Bodenrenten, Kapitalzinsen, Geschäftsgewinne und Arbeitslöhne einer unübersehbaren Menge von Personen. Es sind u. a.: der amerikanische oder indische Baumwollenpflanzer, sein Aufseher und sein Arbeiter; die beim Transport der Baumwolle nach England auf der Bahn und auf dem Schiff beschäftigten Leute; die Aktionäre der Eisenbahnen; der Besitzer der Spinnfabrik, der Aufseher, der Krämpler, der Spinner u. s. w.; die Bauhandwerker, die an der Herstellung des Fabrikgebäudes beteiligt gewesen sind, die Maschinenbauer, aus deren Anstalt die Maschinen der Spinnerei hervorgegangen sind, das beim Transport nach dem Elsaß beschäftigte Personal, dort wieder Besitzer und Arbeiter der Webefabrik und die Leute, die das Gebäude und die Maschinen hergestellt haben, dann das Personal der Färberei und Druckerei, die Musterzeichner u. s. w., dann wieder die beim Transport nach Stuttgart beschäftigten, dann die amerikanischen, englischen und rheinischen Bergleute und Eisenarbeiter, die die Kohle und das Eisen für die Lokomotiven und Maschinen aus dem Schoße der Erde herausgeschafft und verarbeitet haben, sowie die beteiligten Gruben-, Hütten- Fabrikbesitzer und Aktionäre, endlich der Schnittwarenkaufmann, sein Personal, der Hauswirt, dem er Miete zahlt, und zu allerletzt die Leute, denen das Papier verdankt wird, worein er das Zeugläppchen hüllt, und das Schnürchen, womit er das Paketchen bindet. Dazu kommt noch, daß, während ein Kunstwerk und ein Erzeugnis des Kunsthandwerks, aber auch noch ein Schlüssel, ein Stiefel ganz das Werk eines einzelnen bestimmt zu bezeichnenden Mannes sind, der nur die Zuthat und das Werkzeug von andern fertig geliefert erhalten hat, eine Elle Kattun gar kein individuelles Erzeugnis ist. Maschinengarn und Maschinengewebe werden von vielen Arbeitern gemeinsam oder vielmehr unter ihrer Aufsicht von den Maschinen in Masse hergestellt, und von keinem Gewinde Garn, von keiner Elle Kattun wissen die Arbeiter anzugeben, welcher von ihnen bei der Herstellung besonders beteiligt gewesen sei. Schon das Durchdenken der Aufgabe, den rechtmäßigen Anteil aller Beteiligten an jenen fünfzig Pfennigen zu berechnen, könnte einen verrückt machen; an ihre Lösung ist nicht zu denken.

Bei solchen Waren giebt es schlechterdings keinen andern Weg, auf dem die Ansprüche der Beteiligten an den Erlös verwirklicht werden könnten, als den jetzt üblichen, nämlich daß die Rohstoffe, Halbfabrikate und Ganzfabrikat auf den Markt geworfen werden, wo das Spiel von Angebot und Nachfrage ihren Preis regelt, daß der letzte Verkäufer aus seinem Erlös dem Verkäufer des letzten Produktionsabschnittes die Auslagen erstattet und den Geschäftsgewinn zuteilt, der des letzten Produktionsabschnitts dem des vorletzten den gleichen Dienst erweist, dieser dem vorhergehenden bis zurück zu den Urproduzenten, und daß die Unternehmer jedes Produktionsabschnittes ihren Arbeitern den Lohn zuteilen, wiederum nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Wie weit die Zuteilung der Gerechtigkeit entspricht, bleibt dem Zufall überlassen, nur so viel ist klar, daß jeder Unternehmer die Macht hat, ungerecht zu sein, sobald das Angebot an »Händen« seinen Bedarf übersteigt. Gerade diese Industrien nun, in denen nicht allein die Möglichkeit der gerechten Verteilung, sondern schon die Möglichkeit der Berechnung aufhört, sind die Brutstätten jener Übel, an die man bei der Redensart »soziale Frage« zunächst zu denken pflegt, und es ist kaum eine Übertreibung, wenn man sagt, daß die Sozialdemokratie eine Frucht der Textilindustrie sei.

Demnach hat die Frage, ob der Arbeiter seinen vollen Arbeitsertrag erhalte, oder ob ihm der Unternehmer einen Teil davon vorenthalte, so allgemein gestellt gar keinen Sinn. Denn es giebt Arbeiter, die ihren Arbeitsertrag mit keinem Unternehmer zu teilen und niemandem etwas davon abzugeben haben als dem Staate und der Gemeinde. Es giebt ferner Arbeiter, die mit Arbeitsgenossen, aber nicht mit Unternehmern teilen. Es giebt ferner Unternehmer und Arbeiter, die gegenseitig mit einander zufrieden sind, und zwischen denen gar kein Streit entsteht, weil die Abrechnung einfach und klar ist. Bei den Arbeitern endlich, wo die Frage wirklich entsteht, ist sie – unlösbar.

Diese Lage der Dinge bestimmt uns, eine Reihenfolge ganz andrer Fragen zu stellen. Wir fragen:

1. Macht es der Kulturfortschritt notwendig, daß die einfachen Verhältnisse, in denen ein jeder seinen Arbeitsertrag überschauen und sein Recht daran sichern kann, gänzlich verschwinden, und ein unlösbarer Wirrwarr an die Stelle tritt? Und nachdem wir gefunden haben, daß dies keineswegs nötig sei, fragen wir weiter:

2. Wie läßt sich verhüten, daß immer mehr Menschen in den Wirrwarr hineingezogen werden, und durch welche Mittel könnte wohl die Zahl derer, die sichern Grund und Boden unter den Füßen haben und sich eines festumschriebnen Kreises von Besitzrechten erfreuen, wieder vermehrt werden? So lange aber eine große Anzahl unsrer Mitbürger mit ihrer Existenz dem Zufall preisgegeben bleibt, fragen wir wie die Kathedersozialisten:

Wie weit wird Marx durch den bisherigen Gang der wirtschaftlichen Entwicklung gerechtfertigt?