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Die gewaltfreie, einfühlsame Kommunikation lebt aus einer spirituellen Tiefe. In der Haltung schlichter Achtsamkeit, absichtsloser Aufmerksamkeit löst sich vieles in Beziehungen. Die Kommunikation wird frei und leicht. Gefühle und Bedürfnisse klären sich, belastende Gedanken hellen sich auf. Aus ihrer Erfahrung als Trainer zeigen die Autoren mit Beispielen und praktischen Übungen, wie dieses Ziel im Alltag Schritt für Schritt verwirklicht werden kann.
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Seitenzahl: 204
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Isolde Macho Wagner & Thomas Wagner
Wege zum achtsamen Miteinander
Gewaltfreie Kommunikation und Spiritualität
Das Buch
Die Haltung schlichter Achtsamkeit, absichtsloser Aufmerksamkeit liegt auch der gewaltfreien Kommunikation zugrunde. Aus ihrer reichen Erfahrung als Trainer und Kursleiter zeigen die Autoren mit vielen Beispielen und praktischen Übungen, wie dieses Ziel im Alltag Schritt für Schritt praktisch verwirklicht werden kann. Gefühle und Bedürfnisse klären sich, belastende Gedanken lösen sich. Leserinnen und Leser üben sich im empathischen Zuhören, indem sie beispielsweise lernen, Anschuldigungen in Einladungen zu wandeln. Die praktischen Kommunikationsbeispiele ergänzen und vertiefen sie durch spirituelle Impulse, Übungen und gelegentliche Anekdoten und Lehrgeschichten aus den spirituellen Traditionen. Der „rote Faden“ des Ganzen ist das Leben als „Weg“, als Prozess vielfacher Veränderung, stetigen psychischen und spirituellen Wachsens und Reifens. Ein neuer, ein mystischer Zugang zur GFK.
Der Autor
Dr.Isolde Macho Wagner, geb.1968, evang. Theologin; Zen-Praxis. Ausgebildete Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation nach M.Rosenberg. Verheiratet, gemeinsam haben sie zwei Kinder.
Dr.Thomas Wagner, geb.1958, kath. Theologe, Diplom-Pädagoge, Mitarbeiter im Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.
Titel der Originalausgabe:
Wege zum achtsamen Miteinander. Gewaltfreie Kommunikation und Spiritualität
ISBN 3-451-61090-5
© Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
www.herder.de
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany
© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2015
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © kokouu – iStock
E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
ISBN (Buch) 978-3-451-06801-0
ISBN (E-Book) 978-3-451-80648-3
Über das Buch und die Autoren
Hier bin ich
1. Leitlinie: Wahrhaftigkeit mir selbst gegenüber
2. Leitlinie: Aufrichtigkeit in der Beziehung
Gewaltfreie Kommunikation und Spiritualität
Ein lebenslanger Übungsweg
Ein Weg der Achtsamkeit
Was verstehen wir unter spiritueller Lebenspraxis
Was verstehen wir unter einer empathischen Begegnung
Die vier Schritte der Einfühlsamen Kommunikation
Wie ergänzen sich Spiritualität und die Gewaltfreie Kommunikation
Emphatische Präsenz und mystisches Bewusstsein
Wahrhaftigkeit mir selbst gegenüber
Ich will auch mal explodieren oder Wie langweilig sind Giraffen
Alles nur wegen dir
Ich habe das alles nur für euch getan
Mir gelingt auch nichts
Willst du gesund werden?
Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen
Ich werde immer hässlicher
Ich will, dass du mich achtest
Das wollte ich nicht
Ich habe mir immer die Schuld dafür gegeben
Ich kann nicht logisch denken
Ich genieße
Aufrichtigkeit in der Beziehung
Ich will nicht immer verstehen
Du denkst nur an dich oder Von der Einsamkeit zu zweit
Immer kritisierst du an mir herum
Hör mir doch bitte einfach nur zu
Was soll aus dem Jungen bloß werden?
Schrei mich nicht so an
Wie schaut es denn hier schon wieder aus?
Du hast nie Zeit für mich
Du erwartest zu viel von mir
In Beziehung leben und doch ich sein
Wer bin ich, wenn ich nichts tue
Solange ich dich kritisiere, bist du mir wichtig
Ich kann dich nicht verlassen
Wenn du nicht mehr weiter weißt, mache den nächsten Schritt
Ich bin zufrieden
Anmerkungen
»Hier bin ich«, so antwortet Abraham auf den Ruf Gottes. Dieses »Hier bin ich« hat mich immer beeindruckt. Es ist eine schlichte, klare und starke Antwort des Menschen auf Gottes Ruf. Gleichgültig, ob jemand an oder in Gott glaubt oder gar nicht. Wir Menschen sind gerufen und gefragt. Eine jede und ein jeder einzelne von uns. Und wir haben die Größe »Ja«, zu sagen, »Hier bin ich!« Die Welt ruft mich, begrüßt mich und ich sage: »Ja!«.
Wenn kleine Kinder gerade stehen oder gehen lernen und zum ersten Mal selbst spüren, erkennen, dass sie auf eigenen Beinen stehen, wirklich stehen, losgelassen von allen, was sie bisher gehalten hat und doch getragen, bringen sie diesen Moment des freudigen Staunens und der Offenheit für das, was gerade ist, zum Ausdruck. »Wow, hier bin ich, hier stehe ich. Die Welt steht mir offen. Ich bin bereit.«
Hören wir diesen Ruf? Diesen Ruf, der uns gilt? Ich nenne ihn gern göttlichen Ruf, denn er lädt ein zu einer lebenslangen Entdeckungsreise in jenes »Ich bin, der ich bin«, das allen Beschreibungen und Etikettierungen trotzt. Wer ist es, der dieses »Hier bin ich« sagt? Wer sind wir wirklich?
Wer bist du?
»Eine Frau träumte, sie wäre gestorben und befände sich vor dem Himmelstor. ›Wer bist du?‹, fragte eine Stimme.
Die Frau nannte ihren Namen.
›Ich will nicht deinen Namen wissen, ich möchte erfahren, wer du bist.‹…
›Ich bin katholisch‹, gab sie zur Antwort.
›Deine Konfession interessiert uns hier wenig. Wer bist du denn wirklich?‹
›Ich bin die, welche täglich zur Kirche ging und den Armen stets Almosen spendete.‹
›Ich erkundige mich nicht nach deinen Taten, sondern nach deinem wahren Sein.‹
Da die Frau auf die Frage, wer sie in Wirklichkeit sei, keine befriedigende Antwort geben konnte, wurde das Himmelstor vor ihren Augen so geräuschvoll zugeschlagen, dass sie… erwachte.1
Wo wir uns in Frage gestellt finden, können wir uns wie diese Frau auf den Weg machen, die Antwort auf die Frage: »Wer bin ich eigentlich?« zu leben. Es ist ein Weg des Fragens, Zweifelns, des Loslassens. Ein Weg voller Einsichten, Freuden und Tränen.
Dieser Weg der Erkenntnis, wer wir sind, ist ein irdischer Weg, kein himmlischer oder abgehoben elitärer, transzendenter.
Im Zen heißt es, der »alltägliche Geist ist der Weg«: Geschirrspülen, mit Kindern wachsen, mit Partnern streiten, arbeiten, im Wald spazieren, krank sein. Inmitten all dieser Alltäglichkeiten ergeht der Ruf: »Bist du da? Bist du wirklich da?« Und wir dürfen antworten: »Ja, hier bin ich.« In diesem jeweils konkreten Dasein verwirklicht sich die Antwort auf die Frage: Wer bist du wirklich? Im Hier und Jetzt sind wir wirklich. Dabei ist unser Dasein mehr, als raumzeitliche Denkkategorien erfassen können. Wir sind immer mehr und anders als unsere biologischen Daten.
Deshalb ist jeder Moment so kostbar. Weil ein jeder Moment, eine jede Begegnung, die Einladung ist, das »was die Welt im Innersten zusammenhält« ein Stückweit zu erkennen und zu verwirklichen. Dieser Einladung folgt dieses Buch. An konkreten Beispielen aus dem Alltag zeigen wir, wie spirituelle Haltungen und Methoden der Einfühlsamen oder Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg den Weg ebnen, um selbstbewusster auf die jeweiligen Anfragen des Lebens antworten zu können. Wir üben uns ein in einer Achtsamkeit für die lebensbejahenden Werte und Bedürfnisse, die sich hinter Vorwürfen oder Glaubenssätzen verbergen können. Wir laden ein, verwickelte Situationen ohne Bewertung zu beschreiben, sodass Entwicklungsprozesse stattfinden können. Wer sich in Verwicklungen einlässt, kann sich entwickeln.
Unsere Impulse sind Einladungen, die eigene Präsenz zu stärken durch eine wertschätzende Achtsamkeit für das, was in konkreten Situationen, Äußerungen, Etikettierungen oder Vorwürfen dem Leben dient. Dabei haben wir zwei grundlegende Leitlinien, die einander sicher bedingen, doch auch voneinander unterschieden werden können. Die eine Leitlinie gründet im Bedürfnis, mir selbst gegenüber wahrhaftig zu sein. Die andere im Bedürfnis, in einer Beziehung aufrichtig für sich selbst einzutreten und offen für die Werte und Interessen des anderen zu sein. Den Weg, diese beiden grundlegenden Bedürfnisse zu erkennen und für die Alltagspraxis wirksam werden zu lassen, skizziert dieses Buch. Dazu verhilft uns nicht nur die Gewaltfreie Kommunikation nach M.Rosenberg, vielmehr noch ein tiefer Glaube in den Menschen als bedingungslos geliebt und vollkommen unvollkommen.
In einer rabbinischen Geschichte wird erzählt, dass ein jüdischer Schneider seinen Sohn eines Tages fragte: »Weißt du, warum wir immer zwei Hosentaschen in eine Hose nähen?« »Nein, warum?«, fragte der Sohn.
»Weil«, sagte der Vater. »Es gibt Tage, da steckst du deine eine Hand in die eine Hosentasche und ziehst einen Zettel hervor, da steht drauf: Ich bin Gottes Ebenbild. Das liest du und freust dich. Dann kommen Tage, da steckst du deine andere Hand in die andere Hosentasche und holst auch einen Zettel hervor und liest, was da drauf steht.
Da steht drauf: Ich bin nichts als Staub und Asche. Dann atmest du auf. Und so lebst du immer fort.
Deshalb haben wir zwei Hosentaschen. Jetzt weißt du’s.«2
Die einzelnen Beispiele dieses Buches folgen in ihrer thematischen Zuordnung diesen beiden Bestrebungen:
Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber und
Aufrichtigkeit in der Beziehung.
Wir erörtern grundlegende Aspekte dieser zwei Leitlinien und klären unser Verständnis von Spiritualität und dem gemeinsamen Übungsweg von Gewaltfreier Kommunikation und spirituellen Haltungen.
Am Beispiel von Vorwürfen oder Aussagen aus dem Alltag zeigen wir diesen gemeinsamen Übungsweg auf. Eine wesentliche methodische Vorgehensweise lautet, negative Formulierungen in eine lebensbejahende, bedürfnisfundierte Sprache zu wandeln.
Die ausgewählten Praxisbeispiele entstammen unserer Seminartätigkeit und Supervisionspraxis der vergangenen fünfzehn Jahre. Für dieses Buch haben wir sie literarisch aufgearbeitet.
Inhaltliche und methodische Grundlagen unserer Seminare sind die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg, Elemente der Aufstellungsarbeit, Konflikttheater und das Clownspiel. Achtsamkeitsübungen, Meditationen in Ruhe und Bewegung und spirituelle Impulse unterstützen im Seminaralltag, konstruktive Haltungen aus der Konfliktarbeit zu vertiefen. Alle Themen, die für dieses Buch aufbereitet wurden, betreffen in mittelbarer oder unmittelbarer Weise auch uns Autoren. Wir geben keine fertigen Antworten auf die großen und kleinen Fragen des Lebens, doch freuen wir uns, wo wir Impulse setzen für die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Spiritualität und Konfliktfreudigkeit. Wir danken auf diesem Weg all jenen Menschen, die uns wegweisend auf unserem eigenen Reifungsprozess waren und sind, seien es unsere Eltern, Lehrer, die vielen Teilnehmerinnen an den Kursen und vor allem unsere beiden Kinder.
Dem Kreuz-Verlag danken wir für die Anfrage, dieses Buch zu schreiben und zu veröffentlichen. Insbesondere gilt unser Dank dem Lektor, Herrn Peter Raab, für seinen engagierten Einsatz für dieses Buch.
So wie wir unseren Körper reinigen, äußerlich und innerlich, so braucht auch unser Geist Zeiten der Entschleunigung. Momente des bewussten Schweigens im Alltag verhelfen zu einer inneren Klarheit und Beruhigung von Gedankenströmen. Es reichen schon ein paar bewusste Atemzüge, um sich in der Geschäftigkeit des Tages wieder zu sammeln und im Hier und Jetzt zu verankern. Dabei können wir uns vorstellen, dass wir beim Ausatmen in uns hinein atmen, dadurch schicken wir die verbrauchte Luft nach außen und stärken gleichzeitig energetisch unseren Körper. Wo wir uns vorstellen, in uns hinein auszuatmen, richtet sich unser Körper auf. Bildhaft gesprochen verlieren wir uns beim Ausatmen nicht an die Welt, vielmehr bleiben wir innerlich gesammelt und gestärkt. So können wir uns vorstellen, mit unserem Atem den ganzen Körper von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln mit neuer Lebenskraft zu erfüllen. Mit jedem Ausatmen wandern wir mit unserer Achtsamkeit ein Stück höher in unseren Körper. Dieser Atem, der uns innerlich erfüllt, kann uns wie eine Schutzhülle im Äußeren umgeben. Wir stellen uns einfach vor, dass wir mit jedem Ausatmen über unseren Körper hinaus eine Schutzhülle aufbauen. Diese »Schutzzone« um unseren Körper beträgt in unserem westlichen Kulturkreis ungefähr eine Armlänge. Bei Begrüßungsritualen mit Fremden halten wir sie üblicherweise ein. Mit gezielten Atemübungen kann ich mir dieser Schutzhülle bewusst werden. Diese einfache Übung stärkt bereits ein Stück weit mein Selbstbewusstsein und Auftreten, gerade in herausfordernden Situationen.
Wahrhaftigkeit mir selbst gegenüber beginnt mit dem Vertraut-werden mit der Kraft des eigenen Atmens. Denn unser Atmen gleicht einem Taktmesser. Mit unserem Atemfluss können wir den Rhythmus unserer Befindlichkeit schon recht weit steuern. Sind wir erregt oder verärgert, so beschleunigt sich oft unser Atemrhythmus. Hier können wir die Geschwindigkeit des Atmens, die uns möglicherweise zu übereilten Handlungen oder Äußerungen verleitet, entschleunigen, indem wir tief ausatmen und uns dabei erden und innerlich sammeln. Werden wir im Alltag mit Vorwürfen konfrontiert, kann es sein, dass wir erst mal den Atem anhalten. Hier gilt es wieder in Fluss zu kommen. »Zu erstarren« ist eine archaische Schutzreaktion, die wir auch aus der Tierwelt kennen. Wir stellen uns quasi tot und tun so, als ob wir gar nicht da wären. Das kann Leben retten. In kommunikativen Konfliktsituationen können wir diese erste Schockstarre oder Sprachlosigkeit (»Da bleibt mir ja die Spucke weg!«) durch ein paar bewusste Atemzüge wieder in Fluss bringen. Mit jedem Ein- und Ausatmen schüttle ich ein bisschen den ersten Schreck oder die erste Empörung ab und verbinde mich innerlich mit meinen gegenwärtigen Gefühlen und Bedürfnissen, und wenn möglich mit denen des Gesprächspartners. Diese Atempausen schaffen eine gewisse Distanz zu dem gehörten Vorwurf. Diese Distanz oder anders gesagt, dieser Raum, den ich mir durch mein Atmen schaffe, ermöglicht, mich mit dem zu verbinden, was hier und jetzt an lebensbejahenden Bedürfnissen hinter dem Vorwurf ausgesprochen wird.
Gerade in kritischen Situationen ist ein achtsames Atmen, ein wieder Einklinken in einen ruhigen Atemfluss hilfreich, um sich selbst wahrzunehmen. Sich selbst achtsam wahrzunehmen meint, Gedankenströme, Ideen, Vermutungen kommen und gehen zu lassen wie die Wellen einer aufgewühlten See. All die Gedanken, die auf uns einströmen, wenn wir mit konkreten Vorwürfen konfrontiert sind, dürfen kommen und sie dürfen wieder gehen. Wo mit dem geregelten Atemfluss die wilde Gischt verebbt, können wir besser spüren, was an wesentlichen Gefühlen und Werten da ist. Was ist mir wirklich wichtig in dieser Situation? Wirklich wichtig ist das, was dem Leben dient. Die Gewaltfreie Kommunikation nach M.Rosenberg spricht hier von lebensbejahenden Bedürfnissen: Geborgenheit, Anerkennung, Sicherheit, Respekt, der Austausch von Geben und Nehmen, Klarheit und vieles mehr.
Mir selbst gegenüber wahrhaftig sein meint, diese Bedürfnisse und Werte zuzulassen, wahrzunehmen und wertzuschätzen. Sie sind meine Geschenke an das Leben und sie sind die Geschenke des Lebens an mich. Es ist nicht wichtig, hier und jetzt alle Bedürfnisse zu verwirklichen. Es ist wesentlich, anzuerkennen, dass wir ein Bedürfnis nach Respekt, Wertschätzung, Selbstwirksamkeit, Kreativität oder Gemeinschaft haben und haben dürfen.
Wahrhaftigkeit mir selbst gegenüber bedeutet, bewusst zu wählen, mich für die Verwirklichung meiner Bedürfnisse einzusetzen und bewusst Verzicht zu üben. Sich bewusst einzusetzen für die Erfüllung konkreter Bedürfnisse ist Ausdruck meiner Eigenverantwortung. Bewusst Verzicht zu üben ist Ausdruck meiner Freiheit und Stärke. In beiden Fällen bin ich als Person gefragt und sage ja zum Leben und seinen konkreten Anforderungen.
In einer Beziehung oder in einer Gruppe für sich selbst einzutreten, bedarf eines ruhigen Atems und der Klarheit über eigene Werte und Interessen.
Was richtet uns auf in einer Beziehung oder allgemeiner gesagt, im Miteinander, in der Begegnung mit anderen?
Spüren wir in unseren Körper hinein, dann schenkt uns Aufrichtigkeit, also ein gerades Rückgrat, alles, was uns den Rücken stärkt. Wir können beispielsweise die Augen schließen und uns vorstellen, wen oder was wir gerne hinter unserem Rücken hätten, der oder das uns Halt gibt. Gerne sind es Familienmitglieder, die eigenen Eltern, gute Freunde oder Vertraute. Sie stehen oft für stärkende Traditionen oder Werte, unsere Verbundenheit und Verwurzelung mit dem Leben. In aufrechten Dialog treten kann ich da, wo ich gefestigt bin, den »Boden unter meinen Füßen spüre.« Anders gesagt, wo ich ganz da bin, weil ich meinen Platz gefunden habe. Ich muss nicht um meine Daseinsberechtigung kämpfen oder froh sein, überhaupt wahrgenommen zu werden. Ich bin da und mit mir ist das Leben da. Hier bin ich.
Im biblischen Kontext zeigt uns die sogenannte Berufungserzählung von Mose vor dem brennenden Dornbusch (Ex. 3), was es heißt, in aufrechten Dialog zu treten. Mose zieht seine Sandalen aus, denn heiligen Boden betreten wir nackt, barfüßig. Der Dialog, der sich hier anbahnt, ist nicht einfach ein Geschwätz unter Freunden. Hier will ein Mensch erkennen und erkannt sein durch (dia) Worte (logoi). Wo wir einander erkennen oder uns zu erkennen geben, mit dem was uns wesentlich ist, da entsteht ein heiliger Raum. Dieses Entblößen der Füße ist nicht einfach nur ein kulturelles Gut, wie wir es heute noch in Moscheen oder Hindutempeln praktiziert finden. Es ist ein Hinweis auf jene paradiesische oder ursprüngliche Nacktheit, wo wir uns ohne Scham, Angst oder Schuld begegnen und erkennen. Erkennen in unserem Sosein, ungeschminkt. Wo wir in der zwischenmenschlichen Begegnung aufrichtig sind, sind wir nicht nur stark; wir machen uns auch verletzlich. Diese Verletzlichkeit gibt einer aufrichtigen, wahrhaftigen Begegnung ihre Würde, ihre Qualität.
Das bedeutet, wo ich mich auf aufrichtige Begegnungen einlassen möchte, darf ich mich immer wieder auch mit meiner eigenen Verletzlichkeit und der des anderen auseinandersetzen.
Meine Verletzlichkeit als eine immer vorhandene Möglichkeit anzunehmen heißt mein Scheitern anzunehmen. Das Wort »Scheitern« ist für viele emotional negativ besetzt. Es leitet sich ab von den »Holzscheiten«, die bei einer missglückten Schiffslandung entstehen können. Wenn es »Schiffbruch« erleidet, dann scheitert es, kippt vielleicht oder geht teilweise oder ganz zu Bruch. Scheitern bedeutet immer wieder eine Kurskorrektur, ein Abweichen oder Verändern einer Zielvorgabe. Unser ganzes Leben ist ein Scheiterprozess, da wir immer in Veränderung sind. Die Frage ist, ob wir offen für Veränderungen und Prozesse sind? Der Narr weiß, nur »wer scheitert, wird gescheiter.« Wissen wir das auch? Leben wir auch so? Lassen wir Scheitern und Kippen und Veränderungen zu? Oder halten wir an dem, was wir für richtig und gut erachten, fest?
Beobachten wir unseren Körper und seine Sprache, dann richtet uns auf, was uns den Rücken stärkt, was uns mit dem Leben verbindet. Werte können uns verwurzeln und verorten. Aus der Balance bringen, können uns unverrückbare Ziele. Wo Ziele, Ansichten oder Perspektiven zu weit von uns selbst entfernt sind, da drohen wir zu scheitern, zu kippen, die Balance zu verlieren. Wo wir in unserer Haltung nicht präsent sind, in dem was ist, sondern verhaftet in Erwartungen und Soll-Vorstellungen, da verlieren wir den Boden unter den Füßen. Da droht unser Körper nach vorne zu kippen, aus der Mitte, aus dem Dasein gerissen, in etwas noch unerreichbar Vorgegebenes.
Hier entsteht ein Bewegungsraum zwischen dem was ist – meine Position – und dem, was sein soll – meine Ziele oder Erwartungen. Diesen Bewegungsraum gilt es in der Begegnung oder im Miteinander mit anderen und im Klärungsprozess mit einem selbst auszuloten.
Aufrichtige Begegnung braucht also ein klares Bewusstsein über eigene Werte und Bedürfnisse, über das, was mich hier und jetzt bewegt, damit ich mich gemeinsam mit dem anderen bewegen kann. In einem aufrichtigen Dialog entsteht dieser gemeinsame Weg im Gehen, im Austausch und Mitteilen der jeweiligen Interessen, Werte und Ideen. Für einen aufrichtigen Dialog brauchen wir einen offenen, fragenden Geist.
Zum einen erkennt Mose in der paradoxen Erzählung vom brennenden Dornbusch den bekannten Gott seiner nomadischen Vorfahren, den »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs«. Das Bekannte oder die Tradition wird hier bewahrt. Gleichzeitig, kommt in der Selbstoffenbarung Gottes: »Ich bin der ich bin« ein neues, unbekanntes und unverfügbares Moment hinzu. Obwohl oder vielleicht gerade weil sich Gott bereits vorgestellt hat als der Bekannte, fragt Mose doch weiter: »Wer bist du? Wie ist dein Name? Was soll ich dem Pharao erzählen, wer mich schickt?« Mose ist vertraut mit diesem Gott des Dornbuschs. Es ist der Gott seiner Ahnen, gleichzeitig ist er unvoreingenommen oder zeigt »Anfängergeist«, um bewusst einen Begriff aus der Zen-Tradition zu verwenden. Diese offene Geisteshaltung eröffnet den Raum zur Begegnung und zu einem Dialog des gemeinsamen Erkennens und Wachsens. Wo einer nur am Bekannten festhält, an festen Zielen oder Vorstellungen, und den Weg dorthin mit seinen unterschiedlichen Phasen und Prozessen nicht wahrnimmt, droht er zu erstarren. Im Dialog reden wir dann oft aneinander vorbei, indem wir nur Positionen austauschen oder bestimmten Lösungsstrategien anhaften.
Scheitern wir mit unseren Zielen und Anliegen, dann ist das die Chance, sich wieder aufzurichten und neu zu orientieren, sich wieder zu verankern im Hier und Jetzt.
Aufrichtigkeit im Dialog bedarf des Muts zum Scheitern, zum Loslassen, Fallen, Neuorientieren und Verändern. Das Scheitern ist hier der Fluss des Lebens. Das Scheitern ist ein Prozess nicht nur des Aufgebens oder Veränderns unrealistischer Vorstellungen, es ist vielmehr eine Gabe, das Geschenk von Humor und Leichtigkeit. Wo wir ein Scheitern und Kippen wirklich zulassen, kommt wieder Bewegung in die Begegnung. Starre Fronten können sich auflösen und neu formen. Wo wir unser Scheitern nicht verleugnen oder vertuschen, sondern zulassen, beginnt das Leben wieder in neue Bahnen zu fließen. Aufrichtige Begegnung braucht daher die Offenheit für Scheiterprozesse.
»Für den Clown markiert das Scheitern nicht das Ende eines Spiels, sondern den Anfang eines Neuen.«3
Was haben die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg und Spiritualität gemeinsam?
Unter beidem verstehen wir einen lebenslangen Übungsweg. Es ist ein Weg des Wachsens und Reifens, des Scheiterns und Verzeihens.
Die Einfühlsame oder Gewaltfreie Kommunikation zeigt für den Konfliktfall in der Mediation, Supervision oder Beratung, wie für das alltägliche Miteinander eine einfühlsame Haltung und Kommunikationswege auf, damit wir besser mit dem in Verbindung kommen, was uns in einer konkreten Situation wirklich bewegt. Üben wir uns in der Gewaltfreien Kommunikation, so werden wir uns selbst bewusster. Wir können uns besser in den anderen einfühlen, in das, was ihn dazu bewegt, so und nicht anders zu handeln.
Spirituelle Übungswege, wie beispielsweise die Kontemplation oder Zen, schenken unserem alltäglichen Leben Sinn und Tiefe. Eine spirituelle Übungspraxis bezeichnet für uns einen lebenslangen Weg der Wandlung, der Ver-Antwortung auf Gottes Ruf: »Wo bist du, Adam?« Für uns lautet der Ruf im erweiterten Sinne: »Wo bist du, wer bist du und wie bist du, Mensch?« In der alltäglichen Verantwortung werden wir uns dabei unseres Selbst bewusster.
Üben wir uns in der Einfühlsamen Kommunikation, so arbeiten wir an unserem alltäglichen Selbst, unserem Ich-Bewusstsein, geprägt durch Erziehung, Erfahrungen, Anlagen, getrieben durch Ängste, Freuden und im Laufe der Jahre typisch gewordenen Handlungs- und Interpretationsmustern.
»Immer verkriechst du dich im Büro, wenn wir mal Besuch haben.«
Sie zeigt den Weg, sich mit den Gefühlen und Bedürfnissen des Sprechers oder der Sprecherin zu verbinden und mit denen des »Partners«, der »seine eigene Welt« aufsucht.
Sprecher:
»Wenn ich sehe, dass du nach Hause kommst, unseren Besuch begrüßt und dann für die nächste Stunde in dein Büro gehst, bin ich wütend, verwirrt und traurig, weil mir Gemeinschaft wichtig ist, Höflichkeit, und ich gern verstehen möchte, warum du so handelst. Kannst du mir das bitte erklären.«
Empfänger:
»Wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, Besuch auf der Terrasse sehe, fühle ich mich erschöpft. Ich brauche dann erst mal meine Ruhe, um zu mir zu kommen, meine Sachen zu klären, Abstand zu nehmen von dem, was tagsüber war. Das bitte ich dich zu respektieren.
Auf dem Weg der Gewaltfreien Kommunikation wandeln wir Vorwürfe in eine bedürfnisorientierte Sprache, die ein gegenseitiges Verstehen erleichtert.
Praktizieren wir intensiv einen spirituellen Übungsweg, dann werden wir im Schweigen und in der Stille mit unseren alltäglichen Ängsten und Sorgen konfrontiert. Darüber hinaus treiben uns essentielle Fragen und Zweifel: Wer bin ich, unabhängig von Geburt, Haarfarbe, Charakter oder Geldstatus? Was ist der Sinn deines und meines Lebens? Was ist wesentlich? Zur Pflege des Ich-Bewusstseins gesellt sich bei einem spirituellen Übungsweg noch die Frage nach dem wahren Sein, ob ich das jetzt »Wahres Selbst«, »Buddhanatur« oder den »göttlichen Funken« in uns nenne. Wir reden vom »größeren oder wahren Selbst«, weil dieser Begriff jene Qualität unseres Seins bezeichnen will, der der Urgrund allen Lebens ist, anders gesagt, wo wir alle miteinander verbunden sind.
Ein Meister fragte einst einen Zen-Schüler: »Was machst du da?« »Ich poliere den Ziegelstein, damit ein Diamant daraus wird«, erklärte der Mönch. »Ein sinnloses Unterfangen«, meinte der Meister und ging.
Die Gewaltfreie oder Einfühlsame Kommunikation mit ihrer wertschätzenden Haltung ist das Handwerkszeug, mit dem wir im Alltag »den Stein polieren«, indem wir beispielsweise Vorwürfe in Einladungen verwandeln. Wir üben uns darin, Interpretationen von Beobachtungen zu unterscheiden sowie unsere Bedürfnisse authentisch zu äußern ohne den anderen dafür verantwortlich zu machen. Diese Haltung: immer wieder das Lebensbejahende in einzelnen Handlungen und Äußerungen zu erkennen und anzusprechen, ist wie der Putzlappen des Zen-Schülers, der mit Feuereifer und großem Glauben den Diamanten in jedem noch so verdreckten Ziegelstein zum Strahlen bringen möchte. Spirituelle Übungen, wie das Sitzen in der Stille oder Achtsamkeitsübungen im Alltag: Bügeln, Waschen, Kochen unterstützen dieses kommunikative Handwerkszeug.
Weshalb aber lobt der Zen-Meister seinen eifrigen Schüler nicht? Er gibt doch sein Bestes! Er bemüht sich redlich, hat großes Vertrauen in Unmögliches. Diese Leistung sollte doch gewürdigt und gefördert werden. »Ein sinnloses Unterfangen!«
Eine befreiende Geste. Er wischt mit einem Handstreich all unser Bemühen, ein perfekter Mensch sein zu wollen, erleuchtet und erfüllt vom göttlichen Funken, vom Tisch. Sinnlos! Wir können weder durch meditative Anstrengung noch durch Verinnerlichung der einfühlsamsten und gewaltlosesten Kommunikationsmethode der Welt dieses »Gott-in-uns-und-wir-in-Gott« erschaffen. Wir können und brauchen keine Buddhanatur zu erzeugen, geschweige denn uns in eine zu verwandeln. Ein sinnloses Unterfangen. Wir sind immer schon Buddhanatur. Wir sind immer schon unser »wahres Selbst«. Das Wesentliche, was unser Menschsein ausmacht, welche Begriffe und Metaphern wir auch dafür gebrauchen, lässt sich nicht durch Leistung erzwingen oder verdienen.
Unser Mensch sein mit all seinen Brüchen, Schatten- und Lichtseiten ist immer Geschenk. Unser Leben, so unvollkommen es auch sein mag, so erschreckend oder glückend, ist immer ein Mysterium. Ein Mysterium, das Gnade ist und Liebe.
Am nächsten Morgen sieht der Zen-Meister, wie der Ziegelstein samt Lappen achtlos in einer Ecke liegen. Als er dem Schüler begegnet, fragt ihn der Meister: »Warum putzt du nicht mehr?« »Es ist doch sinnlos!«, meinte der Mönch. »Du Esel, gerade deswegen darfst du es tun!«, antwortete der Meister.
Die Einsicht in die völlige Sinnlosigkeit ist das befreiende Moment für den leistungsorientierten Zen-Schüler.