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Adorno, Gehlen und der lange Schatten des Nationalsozialismus Freigeist trifft auf Demokratieverächter – Thomas Wagner enthüllt die so spannende wie eigenwillige Beziehung zwischen dem linken Philosophen Theodor W. Adorno und seinem rechten Widerpart Arnold Gehlen. Mit großer Erzählkunst nimmt er uns mit auf die aufregende Reise in eine sich mitten im Kalten Krieg rasant modernisierende Gesellschaft. Dabei gibt er überraschende und verstörende Einblicke in die Intellektuellengeschichte der jungen Bundesrepublik. Frühjahr 1958: Theodor W. Adorno bezichtigt seinen Kollegen Arnold Gehlen mit einem vernichtenden Gutachten des faschistischen Denkens – und verhindert dessen Berufung nach Heidelberg. Wenige Jahre später schreiben sie sich Briefe, treffen sich privat und führen eine Reihe von Rundfunkgesprächen – wieso? Vor dem Hintergrund von Wiederbewaffnung und deutscher Teilung schildert Thomas Wagner die Geschichte dieser außergewöhnlichen Begegnung. Er zeigt, wie sich die Soziologie als neue Leitwissenschaft etabliert und welchen Anteil ehemalige Nationalsozialisten dabei haben. Sein Erzählbogen reicht von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Hauptstadt der DDR. Mit illustren Figuren wie Arendt, Benn, Brecht, Augstein, Plessner und Harich entsteht ein plastisches Bild von der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik. Die Wurzeln der aufgeheizten Debatten unserer Gegenwart erscheinen dadurch in einem überraschend neuen Licht.
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2025
Thomas Wagner
Abenteuer der Moderne
Die großen Jahre der Soziologie
1949–1969
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.
Klett-Cotta
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Abbildungen S. 8: Theodor W. Adorno: Brigitte Friedrich/Süddeutsche Zeitung Photo, Arnold Gehlen: Kurt Bethke/hr Historisches Arch/Süddeutsche Zeitung Photo
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98705-8
E-Book ISBN 978-3-608-12296-1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Prolog. Blick durch den Eisernen Vorhang
Vor dem Tonbandgerät
Der Gesichtspunkt der Sicherheit
Marxistisches Liebeswerben
Ein Bündel von Fragen
2. Der Geist stand rechts
Tanz auf dem Vulkan
Bekenntnis zum Nationalsozialismus
Hitlers vollkommener Satz
An der Front
Der Bewunderer aus Ostberlin
Zurück in Frankfurt
Die amerikanische Bibliothek
In Amt und Würden
Neuanfang in Trümmerlandschaft
3. Erste Begegnungen
Gretel als Beichtmutter
Das Ende der Quarantäne
Im Zeichen des Misstrauens
Eine fragwürdige Empfehlung
Stalins Angebot
Dicke Fräulein und Arschkriecher
Habermas ist beeindruckt
Adorno mangelt es an Textkenntnis
4. Der Wirklichkeit zugewandt
Das beschädigte Leben
Alle wollen Daten
Mit Adenauer im selben Boot
Verdeckte Kooperation
Machtkämpfe unter Soziologen
Die Würfel sind gefallen
Ein vernichtendes Gutachten
Der Waffenstillstand
5. Modern, aber nicht links
Sie flogen aufeinander
Der Wille zur Form
Geistiger Führungsanspruch
Gescheiterte Einflüsterer
Das Publikationsverbot
Der Sperling in der Hand
Dialektisch überlegen
Wie im Labor
6. Das Abenteuer der Avantgarde
Das Eis bricht
Abstrakte Malerei und andere Scherze
Ausdruck von Gottesferne
Gehlens zweiter Frühling
Wie der Ochs vorm Berg
Mit dem Pinsel denken
Vierzig kleine Schlitten
Monstren und Missgeburten
7. Radio Days
Hannah Arendt fällt aus
Die Ehefrauen telefonieren
Mit dem Käfer in die Pfalz
Wiederauferstehung im Äther
Eine Sache für Eingeweihte
Die Kraft des Gegners nutzen
Interesse an Geheimhaltung
Ein Minister stürzt
8. Das Ende der Geschichte
Unübersichtliche Verhältnisse
Es geht bergauf
Nivellierte Mittelstandsgesellschaft
Die Entfremdung überwinden
Der austauschbare Mensch
Abschied von der Philosophie
Diktat des Sachzwangs
Nichts geht mehr
9. Die große Zeit der Soziologie
Momente der Freiheit
Man kommt sich näher
Der verweigerte Handschlag
Ein harter Vorwurf
Wiedergänger der 20er Jahre
Keine Experimente
Die neue Leitwissenschaft
Wo Marx richtig lag
10. Die andere Seite
Entsetzliches Grauen
Feindbild Kommunismus
Brecht liest Gehlen
Theater am Schiffbauerdamm
Der loyale Staatsfeind
Ein therapeutischer Standpunkt
Scharf wie eine Rasierklinge
Glaubensfragen
11. Der Sinn der Institutionen
Der schielende Löwe
Zwei Soziologen auf dem Bildschirm
Schrittmacher der Guillotine
Das Ende der Familie
Das Schuldkonto der Institution
Auf allen Vieren
Habermas spielt Verstecken
Die Möglichkeit der Freiheit
12. Der Streit um die Anarchie
Die richtige Frage
Feingefühl für Spontaneität
Tumult und Coca-Cola
Eine gefährliche Vision
Das interessante Buch
Mit offenen Augen
Zahnlose Tiger
Räuber am Wegesrand
13. Die Erfindung der Hypermoral
Fisch im Wasser
Grausliche Erfahrungen
Die Frage nach dem guten Leben
Unerwünschte Annäherung
Vom Monster zur Milchkuh
Das Reich des Teufels
Wie eine Freundschaft endet
Aus dem Tritt geraten
14. Die zweite Gründung der Bundesrepublik
Nicht Ereignis, sondern Prozess
Der Cousin
Ein Informant des Geheimdienstes
Rechte Gründerväter
Pragmatische Bündnisse
Deutsche Traditionen
Begegnung in der Bahn
Die Erfolge der Sowjetunion
15. Epilog. Die Geister, die sie riefen
Bürgerliche Freiheit
Mit ein bisschen Ironie
Geburt der »Anti-Soziologie«
Renaissance der Moralkritik
Von links gesehen
Marxistische Ökologie
Aufklärer wider Willen
Sturz einer Lichtgestalt
Danksagung
Anmerkungen
1. Prolog. Blick durch den Eisernen Vorhang
2. Der Geist stand rechts
3. Erste Begegnungen
4. Der Wirklichkeit zugewandt
5. Modern, aber nicht links
6. Das Abenteuer der Avantgarde
7. Radio Days
8. Das Ende der Geschichte
9. Die große Zeit der Soziologie
10. Die andere Seite
11. Der Sinn der Institutionen
12. Der Streit um die Anarchie
13. Die Erfindung der Hypermoral
14. Die zweite Gründung der der Bundesrepublik
15. Epilog. Die Geister, die sie riefen
Personenregister
Arnold Gehlen (1904–1976)
Theodor W. Adorno (1903–1969)
Berlin, Hauptstadt der DDR, irgendwann im Frühjahr oder in den ersten Sommermonaten des Jahres 1965. Zwei Männer sitzen vor einem Tonbandgerät. Der eine, Wolfgang Harich(1), ist ein an der Akademie der Wissenschaften beschäftigter Verlagslektor von Anfang vierzig Jahren. Der andere, Manfred Wekwerth(1), acht Jahre jünger, arbeitet als Chefregisseur am Berliner Ensemble, dem Theater, das von dem neun Jahre zuvor verstorbenen Dichter Bertolt Brecht(1) am Schiffbauerdamm gegründet worden war. Harich befindet sich nach einer langen Haftstraße erst seit ein paar Monaten wieder auf freiem Fuß. Der überzeugte Kommunist hatte in den 50er Jahren als Kopf einer konspirativen Gruppe einen waghalsigen Plan zur Überwindung der deutschen Teilung entwickelt. Da die Regierung Ulbricht(1) dem im Wege stand, wollte er sie stürzen. Er und seine Mitverschwörer flogen schon bald auf und Harich wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt, die ihn in die berüchtigte Vollzugsanstalt Bautzen brachte. Vier Jahre war es nun her, dass der Bau der Mauer den Riss zwischen Ost und West besiegelt hatte, doch am geistigen Leben, das auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs geführt wurde, war man in der DDR nach wie vor interessiert. Auch am nun von Brechts Witwe Helene Weigel(1) geleiteten Theater am Schiffbauerdamm.
Die am 3. Februar 1965 vom Südwestfunk ausgestrahlte und am 21. März 1965 im NDR wiederholte Sendung zum Thema »Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?« stieß hier jedenfalls auf so viel Interesse, dass Wekwerth(2) sie aufzeichnen ließ. Der Grund dafür dürfte allerdings weniger das Thema als die namhaften Kontrahenten gewesen sein, die zum Streitgespräch in ein Rundfunkstudio geladen worden waren: Theodor W. Adorno(1), ein wortgewandter linker Intellektueller von Gewicht, traf auf Arnold Gehlen(1), einen der profiliertesten Köpfe des Rechtskonservatismus. Von der in dieser Konstellation liegenden Spannung war zunächst nicht viel zu spüren. Denn die Diskutanten waren sich, wie Gehlen an einer Stelle bemerkte, »in tiefen Prämissen einig«.[1] Der Mensch in der modernen Welt, darauf liefen ihre jeweiligen Zeitdiagnosen fast deckungsgleich hinaus, hatte Institutionen geschaffen, die ihm gegenüber eine Gewalt ausübten, auf deren Eigendynamik er kaum noch gestaltenden oder gar steuernden Einfluss auszuüben in der Lage war. In einer Hinsicht unterschieden sie sich allerdings deutlich. Während Adorno(2) den Zustand dieser »verwalteten Welt« – die von dem Soziologen Max Weber(1) ein halbes Jahrhundert zuvor als »Gehäuse der Hörigkeit« beschrieben worden war – bei aller offen zutage liegenden Ohnmacht der Akteure gleichwohl auf ihre Veränderbarkeit hin kritisch befragen wollte, hielt Gehlen(2) derlei Bemühungen für chancenlos und zudem für brandgefährlich.[2] Und zwar deshalb, weil er die Institutionen, in die sich die Menschen verstrickt hatten, als überlebensnotwendig ansah. Sie entlasteten das nicht durch Instinkte festgestellte Tier, als das er den Menschen sah, gaben ihm den nötigen Halt und schützten es vor den Aggressionen seiner Artgenossen wie vor der Unbeständigkeit seiner eigenen Natur. Erst dadurch waren in seinen Augen die Voraussetzungen geschaffen, um das im Vergleich zur Tierwelt ungeheure kreative Potenzial, das dem Menschen innewohnte, in sozial verträgliche und für den Fortbestand der Gattung förderliche Bahnen zu lenken.
Anders als Adorno(3) sah er in der Entfremdung des Menschen durch die und von der von ihm geschaffenen künstlichen Welt nicht in erster Linie ein Übel, sondern die Bedingung der Möglichkeit für wirkliche Freiheit. Statt das Vertrauen der Menschen in die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohnehin schwer beschädigten Institutionen durch grundsätzliche Kritik weiter zu erschüttern, käme es nun vielmehr darauf an, das, was an ihnen noch intakt war, zu konservieren.[3] Er sei geneigt, sagte Gehlen(3) zum Ende der knapp einstündigen Sendung, »dem Gesichtspunkt der Sicherheit eine große Rolle einzuräumen.«[4] Nun nahm die Diskussion noch einmal merklich an Fahrt auf. Adorno erkannte in Gehlens Haltung – nicht ohne Verständnis für diese Gemütslage – »den Untergrund einer tiefen Verzweiflung«, die sein Gegenüber dazu verleite, »sich theoretisch mit eben der Macht zu identifizieren, die Sie selber, wie wir alle, fürchten«.[5] Er selbst wollte stattdessen dabei helfen, die Menschen von den Zwängen, die sie nicht durchschauten, zu befreien: »Ich will ja gar nichts anderes, als dass die Welt so eingerichtet wird, dass die Menschen nicht ihre überflüssigen Anhängsel sind, sondern – in Gottes Namen – dass die Dinge um der Menschen willen da sind und nicht die Menschen um der Dinge willen, die sie noch dazu selbst gemacht haben.«[6] Gut gebrüllt Löwe, könnte man sagen, doch Gehlen(4) war durch dieses Bekenntnis nicht zu beeindrucken. »Glauben Sie wirklich«, hub er an, »dass man die Belastung mit Grundsatzproblematik, mit Reflexionsaufwand, mit tief nachwirkenden Lebensirrtümern, die wir durchgemacht haben, weil wir versucht haben uns freizuschwimmen, dass man die allen Menschen zumuten sollte?« Adorno(4) nahm den Fehdehandschuh auf:
Darauf kann ich nur ganz einfach sagen: Ja! Ich habe eine Vorstellung von objektivem Glück und objektiver Verzweiflung, und ich würde sagen, dass die Menschen so lange, wie man sie entlastet und ihnen nicht die ganze Verantwortung und Selbstbestimmung zumutet, dass so lange auch ihr Wohlbefinden und ihr Glück in dieser Welt ein Schein ist. Und ein Schein, der eines Tages platzen wird. Und wenn er platzt, wird das entsetzliche Folgen haben.
Darauf Gehlen(5):
Da sind wir nun genau an dem Punkt, wo Sie ›ja‹ und ich ›nein‹ sage, oder umgekehrt, wo ich sagen würde, alles, was man vom Menschen seit je bis heute weiß und formulieren kann, würde dahin weisen, dass Ihr Standpunkt ein anthropologisch-utopischer, wenn auch großzügiger, ja großartiger Standpunkt ist …[7]
Doch sei dieser eben zugleich auch gefährlich, da Adorno(5) die Neigung habe, »den Menschen mit dem bisschen unzufrieden zu machen, was ihm aus dem ganzen katastrophalen Zustand noch in den Händen geblieben ist.«[8] Er selbst, richtete sich Gehlen(6) mit einem Stoßseufzer an sein Gegenüber, suche in der Wirklichkeit eigentlich nur eins: »eine honorige Sache, der man dienen kann.«[9]
Wer war als Sieger aus dem Disput hervorgegangen? Wer hatte die überzeugenderen Argumente, die nachvollziehbarere Haltung, das größere rhetorische Geschick? Für die beiden Zuhörer aus der DDR war die Sache klar. Beide waren sie überzeugte Marxisten. Der eine fühlte sich der Idee des engagierten, des politisch eingreifenden Epischen Theaters verbunden. Der andere hatte sich in der Haftzeit dazu entschieden, den ersten Versuch, auf deutschem Boden den Sozialismus aufzubauen, fortan gegen alle Anfechtungen zu verteidigen. In den letzten Kriegsmonaten war er in den Untergrund gegangen und hatte sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe angeschlossen. Seit dieser Zeit verstand er sich als ein mindestens ebenso überzeugter Antifaschist wie der aus dem amerikanischen Exil in seine Heimatstadt Frankfurt am Main zurückgekehrte Adorno(6). Was nun das Streitgespräch betraf, waren beide, sowohl Wekwerth(3) als auch Harich(2), jedoch nicht auf dessen Seite, sondern auf der seines Widersachers, mit dem Harich über die Zonengrenze und erhebliche weltanschauliche Differenzen hinweg seit Ende der 40er Jahre ein freundschaftlicher Briefkontakt verband. Zum ersten Mal auf den Namen »Gehlen(7)« gestoßen war er vermutlich schon 1941/42. Damals schwänzte der philosophisch interessierte Gymnasiast die Schule, um Veranstaltungen von Nicolai Hartmann(1) an der Berliner Universität zu besuchen.[10] Seine eigene intensive Beschäftigung mit der Philosophischen Anthropologie begann im Zuge seiner 1951 abgeschlossenen Doktorarbeit über Herder(1) und die bürgerliche Geisteswissenschaft. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits »seit einem Jahr Lektor im Aufbau-Verlag, zuständig für Philosophie und Klassikerausgaben«.[11] Durch seine Arbeit pflegte er Kontakt zu weltläufigen Intellektuellen wie Ernst(1) Bloch(1) und Georg Lukács(1), die auf unterschiedliche Weise der Sache der Arbeiterbewegung und des revolutionären Marxismus verbunden waren.[12] Gehlen(8) stand für das genaue Gegenteil. Er war an nichts mehr interessiert als am Erhalt der bürgerlichen Staatsordnung. Im Faschismus hatte er zu den Todfeinden Harichs und seiner Genossen gehört. Das wusste der junge Kommunist. Doch war er davon überzeugt, dass ein Mann von solch’ überragendem Intellekt wie Gehlen am Ende die Überlegenheit des marxistischen Denkansatzes einsehen müsste. Er hoffte, den Klassenfeind zum wissenschaftlich begründeten Sozialismus bekehren zu können. »Wenn Gehlen den Marxismus studiert und sich ihm gegenüber so aufrichtig prüfend verhält wie gegenüber seinen anderen Quellen«, notierte Harich(3) 1952 bei seiner Lektüre von Gehlens Schrift Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, werde er sich »unweigerlich der KP oder dem linken Flügel der Sozialdemokratie anschließen. (Was übrigens für die Arbeiterbewegung ein gewaltiger Gewinn wäre!!!)«[13]
Als ihm Gehlen(9) am 16. März desselben Jahrs mitteilte, dass seine Interessen sich nunmehr weniger philosophisch als positiv-wissenschaftlich entwickelten, erwiderte Harich(4) sechs Tage später:
Vortrefflich! Das ist ein Bekenntnis, das Ihnen jeder Marxist zur allerhöchsten Ehre anrechnen wird. Mit dieser Orientierung sind Sie schon beinahe bei uns, und wenn Sie es nicht wären, würde ich ja auch nicht ein so beharrliches Liebeswerben um Sie veranstalten, das mir bei zehn Vorlesungsstunden in der Woche viel Mühe kostet.[14]
Und um die gewünschte intellektuelle und politische Entwicklung Gehlens(10) zu befördern, schickte er ihm Bücher von Marx(1), Engels(1), Lenin(1), Stalin(1), Lukács(2) und Bloch(2).[15] Das war Literatur, an die in der Bundesrepublik der frühen Adenauerära nicht leicht heranzukommen war. In Harichs(5) Bekehrungsversuchen steckte eine gute Portion jugendlichen Größenwahns. Mehr als ein Jahrzehnt später war er in Sachen politischer Bekehrung keinen Schritt weitergekommen und hatte mittlerweile vermutlich eingesehen, dass aus Gehlen wohl kein Marxist mehr zu machen war. Die persönliche Beziehung der beiden Männer nahm daran offenbar aber keinen Schaden. Nun, am 23. Juli 1965, schrieb er Gehlen(11) in Reaktion auf die Radiosendung nach Aachen, Wekwerth(4) und er seien der Meinung, »dass Sie gegen Adorno(7) im Recht sind«.[16] Gehlens These, dass das menschliche Verhalten durch stabile Institutionen auf Schienen gelegt werden müsse, um nicht zu entgleisen, könnten sie akzeptieren, Adornos Ruf nach Emanzipierung der Individuen vom Institutionellen hingegen lehnten sie radikal ab. Allerdings gelte ihre Zustimmung nur in einem generellen Sinne. Denn im konkreten historischen Fall könnten bestimmte Institutionen – Harich bezieht sich auf die Rolle des kapitalistischen Privateigentums – selbst »ein Faktor der Chaotisierung und Unsicherheit« sein. Dass das Eigentum der Herren Krupp(1)(1) und Flick(1), so Harich(6) weiter, an den krisenhaften Entwicklungen des hinter ihnen liegenden Jahrhundertteils »nicht ganz unbeteiligt ist, scheint uns kaum zweifelhaft zu sein.«
Wirklich gestört hat Harich(7) an Gehlens(12) Radioauftritt nur, dass dieser »es sich streckenweise gefallen lassen« habe, dass sein Gegenüber ihn »gar nicht zu Wort kommen ließ«. Er habe es versäumt, Zitate aus seinen Büchern anzubringen, »die als schlagende Antworten auf Adornos(8) Argumentation am Platze gewesen wären«. Harichs Resümee lautet: »Ein Vortrag von Ihnen über Adorno wäre uns lieber gewesen.«
Der Vorgang wirft ein ganzes Bündel an Fragen auf. Warum schlug sich Harich(8), der in den 50er Jahren der Jungstar der DDR-Philosophie war, ausgerechnet auf die Seite Gehlens(13)? Als Kenner der Marx(2)’schen Theorie und überzeugten Streiter für eine vom Kapitalismus befreite Gesellschaft hätte ihn doch in zentralen Punkten sehr viel mehr mit Adorno(9) verbinden müssen als mit dem Fürsprecher autoritärer Institutionen, dem »Denkmeister der Konservativen«, wie einer der wichtigste Vordenker der heutigen Neuen Rechten, Armin Mohler(1), Gehlen voller Bewunderung bezeichnete. Und was brachte den führenden Kopf der Kritischen Theorie dazu, sich in den zunehmend reformoffenen 60er Jahren ausgerechnet mit dem von Rudolf Augstein(1) als Deutschlands »interessantesten Demokratieverächter« bezeichneten Gehlen zu einer Reihe von Radio- und Fernsehgesprächen zu treffen, die von einem über mehrere Jahre fortgesetzten Briefwechsel flankiert wurden? Anders als Adorno, der sich dem Geist der Aufklärung verbunden fühlte und angetreten war, überkommene Herrschaftsverhältnisse zu überwinden, setzte sich sein Gegenspieler schließlich dafür ein, repressive Instanzen vor fundamentaler Kritik möglichst zu schützen. Wer diese Fragen beantworten will, muss sich die besonderen politischen, sozialen und kulturellen Konstellationen im postfaschistischen, schon bald in zwei Staaten geteilten Deutschland anschauen. Ehemalige Nazis bekleideten hohe Posten in der Privatwirtschaft. Es gab sie in großer Zahl in den Behörden und Ministerien, in der Polizei, den Gerichten, den Länderparlamenten und im Bundestag.[17] Die Bundesrepublik, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildete, ein modernes Gemeinwesen mit florierender Wirtschaft und Verwaltung, wurde in beträchtlichem Umfang von einem Personal auf Fortschrittskurs gebracht, das noch wenige Jahre zuvor geglaubt hatte, sich mit dem »Tausendjährigen Reich« auf der Siegerstraße der Geschichte zu bewegen. »Der Bundesrepublik«, so schreibt der Journalist Willi Winkler mit erheblichen moralischen Bauchschmerzen, »gelang ausgerechnet mit den alten Nazis ein richtiger Neustart.«[18] Das lässt sich in ähnlicher Weise für die Wissenschaften zeigen – auch für die in den Augen vieler ihrer Gegner und Anhänger lange Zeit als eher linkslastige Disziplin wahrgenommene Soziologie. Der sich zeitweilig bis in freundliche private Begegnungen erstreckende Austausch zwischen Adorno(10) und Gehlen begann zu einer Zeit, als Verfolgte des Nazi-Regimes und Personen, die in mehr oder weniger intensiver Weise mit diesem verstrickt gewesen waren, sich einerseits kritisch beäugten und anderseits aus ganz praktischen Gründen nach Wegen suchten, im Berufsalltag miteinander zurecht zu kommen. Als die Bundesregierung in Bonn den Kurs der Westbindung einschlug, bot das wiederbelebte Feindbild »Kommunismus« zudem die Chance für ganz neue Allianzen zwischen Angehörigen von Täter- und Opfergruppen. In der Soziologie war das im Prinzip nicht viel anders als in den Behörden, den Medien und in anderen Fächern des Universitätsbetriebs. In der Nachkriegszeit galt das von den Westalliierten geförderte Fach als für den Wiederaufbau nützlich und schickte sich an, nach der Theologie, der Philosophie und der Geschichtswissenschaft zum neuen Leitmedium gesellschaftlicher Selbstverständigung zu werden. Hierbei fällt eines auf: Die Fähigkeit, mit soziologischen Mitteln über sich selbst zu reflektieren, lernte die westdeutsche Gesellschaft nicht allein von liberal gesinnten Demokraten sondern auch von Wissenschaftlern, die noch wenige Jahre zuvor zur geistigen Elite des nationalsozialistischen Deutschlands gehört hatten oder sich selbst gern dazu gezählt hätten. Auf diese Weise hatten diese Sozialwissenschaftler Teil an einem Prozess der Modernisierung, der in einer stark verkürzten Sicht der Nachkriegsgeschichte vor allem auf das Wirken der Frankfurter Schule zurückgeführt wird: der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik. In politischer Hinsicht waren sich Adorno(11) und Gehlen(14), die in den 60er Jahren zu den führenden Soziologen gezählt wurden, seit ihren Jugendtagen denkbar fern. Beide stammten sie aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern, waren zur gleichen Zeit unter ähnlichen Bedingungen groß geworden, hatten als Kinder das Kaiserreich und den Ersten Weltkrieg sowie als junge Männer den Untergang der von Beginn an krisengeschüttelten Weimarer Republik erlebt. Beide veröffentlichten in der Nachkriegszeit Bücher, die zu ihren Lebzeiten weit über engere Fachkreise hinaus wahrgenommen wurden, und sahen in der Kunst ein Medium, an dem sich gesellschaftliche Entwicklungen mit soziologischen Mitteln besonders gut aufzeigen ließen. Doch dreißig Jahre zuvor, als sich unter dem Beifall konservativer und deutschnational gesinnter Akademiker (das war damals die große Mehrheit) eine rechte Bewegungspartei anschickte, der parlamentarischen Republik den Garaus zu machen, standen sie mit großer Überzeugung auf den einander gegenüberliegenden Seiten der Barrikade.
Auf dem Platz vor dem Römer, dem altehrwürdigen Frankfurter Rathaus, war ein Holzstoß aufgeschichtet. Braun- und Schwarzhemden hielten die auf dem Platz versammelte Menge zurück. Fackelträger strömten aus den engen Gassen hinzu. Ein Gewimmel aus Parteiuniformen und den Mützen, bunten Bändern und Zipfeln studentischer Korporationen. »Das Licht der Fackeln«, erinnert sich Paul Tillich(1) an den regenfeuchten Abend des 10. Mai 1933, »flackerte durch die Dunkelheit und beleuchtete phantastisch die Giebel der Häuser.«[1] Von einem Fenster des Römers aus nahm der Professor für Philosophie und Soziologie die gespenstische Szenerie war. »Am Ende holperte ein Karren, gezogen von zwei Ochsen, über den Platz, er war beladen mit den Büchern, die als Opfer ausgewählt waren.«[2] Um diesen herum liefen als Metzger verkleidete Studenten in weißen Schlachterschürzen, hintendran schritt der Studentenpfarrer. Dazu intonierte eine Musikkapelle die Klänge eines Trauermarsches. Ziel der grotesken Prozession war die Feuerstätte zwischen Gerechtigkeitsbrunnen und Nikolaikirche.[3] »Als man vor dem Scheiterhaufen angekommen war, stieg der Pfarrer auf den Karren und hielt die Verdammungsrede. Er warf das erste Buch auf den nun entzündeten Holzstoß. Hunderte von anderen Büchern folgten.«[4] Zwei Tage später hieß es in den Frankfurter Nachrichten über das Spektakel: »Die akademische Jugend hatte einen Scheiterhaufen aufgerichtet und verbrannte marxistische und undeutsche Literatur.«[5] In den Jahren zuvor hatte es an der Universität immer wieder handgreifliche Auseinandersetzungen gegeben. Als die NSDAP in der Reichstagswahl vom 14. September 1930 die zweitstärkste parlamentarische Fraktion wurde, sangen Hunderte von uniformierten SA-Männern vor dem Haupteingang der Universität das Horst-Wessel-Lied.[6] Der akademische Geist stand damals mehrheitlich nicht links sondern rechts. Allerdings war die Frankfurter Hochschule eine der wenigen in Deutschland, »in denen die Nazis sich blutige Köpfe holten«.[7] In einer Rede als Dekan der Philosophischen Fakultät ergriff Tillich(2) die Partei jüdischer und linker Studenten, die im Juli 1932 von SA-Männern und faschistischen Kommilitonen angegriffen worden waren.[8] Die Monate vor der Wahl Adolf Hitlers(1) zum Reichskanzler waren ein Tanz auf dem Vulkan gewesen: Noch im Februar 1932 hatten Tillich und seine Frau Hannah(1) zu einer Faschingsparty in die gemeinsame Wohnung in Frankfurt-Niederrad geladen.[9] Tillichs Assistent Harald Poelchau(1) erschien in der Uniform eines Polizisten. Kurt Riezler(1), der im Ersten Weltkrieg ein Vertrauter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg(1) gewesen war, trug das Braunhemd der SA. Eine Persiflage roher Gewalt. Auch Adorno(12) war zugegen. Er zeigte sich im Kostüm des Napoleon(1) Bonaparte. Der junge Philosoph hatte sich im Jahr zuvor bei Tillich(3) mit einer Arbeit über Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen habilitiert und mit ihm zusammen Seminare über Hegels(1) Geschichtsphilosophie, zu Lessings(1)Die Erziehung des Menschengeschlechts und Georg Simmels(1)Hauptprobleme der Philosophie veranstaltet.[10] Am 14. April 1933 wurde Tillich auf der Grundlage des eine Woche zuvor erlassenen »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« beurlaubt. Im Oktober emigrierte er mit Frau und Tochter in die USA. Zwei Monate zuvor hatten sie sich noch einmal mit den Adornos(13) an deren Ferienort Binz an der Ostsee getroffen.[11]
Am 8. September 1933 wurde auch dem Privatdozenten Adorno(14), der nach den zwei Jahre später erlassenen »Rassegesetzen« als »Halbjude« stigmatisiert werden würde, die Lehrerlaubnis entzogen.[12] Wie Tillich(4) und viele andere von Repressionen betroffene Akademiker scheute er in Verkennung des Ernstes der Lage vor der Emigration zunächst zurück. Stattdessen versuchte er sich irgendwie mit der zunehmend sich verschlechternden Lage zu arrangieren, um in Deutschland bleiben zu können. Er veröffentliche im Amtlichen Mitteilungsblatt der Reichsjugendführung, dem Kampforgan der Hitlerjugend (HJ), eine ausgesprochen freundliche Rezension von Herbert Müntzels(1) Vertonung einer Reihe von Gedichten des HJ-Führers Baldur von Schirach(1). Das Werk sei überragend:
Nicht bloß, weil es durch die Wahl der Gedichte Schirachs(2) als bewusst nationalsozialistisch markiert ist, sondern auch durch seine Qualität: ein ungewöhnlicher Gestaltungswille. Es geht nicht um patriotische Stimmung und vage Begeisterung, sondern die Frage nach der Möglichkeit von neuer Volksmusik selber wird, durch die Komposition, ernst gestellt.[13]
Es werde, so Adorno(15) weiter, »dem Bild einer neuen Romantik nachgefragt; vielleicht von der Art, die Goebbels als ›romantischen Realismus‹ bestimmt hat.«[14] Als er sehr viel später von der Studentenzeitschrift Der Diskus für diese Veröffentlichung kritisiert wurde, bedauerte er, den Text verfasst zu haben: »Der wahre Fehler«, schrieb er 1963, »lag in meiner falschen Beurteilung der Lage; wenn Sie wollen, in der Torheit dessen, dem der Entschluss zur Emigration unendlich schwer fiel.«[15] Für die Vertretung Tillichs(5) war schnell gesorgt. Der vom preußischen Kultusminister Bernhard Rust(1) in einem Erlass vom 6. Mai für das Sommersemester bestimmte Ersatzmann war ein stramm nationalistisch gesinnter junger Mann aus Leipzig – sein Name: Arnold Gehlen(15).[16] Der hochbegabte und überaus ehrgeizige Philosophiedozent war in Leipzig als Spross einer bürgerlichen Familie aufgewachsen, der eine ganze Reihe von Gelehrten und hohen Staatsbeamten angehört hatten. Sein früh verstorbener Vater, Dr. Max Gehlen(1), war ein renommierter Verlagsbuchhändler gewesen, der militärisches Schulungsmaterial und juristische Texte ebenso im Angebot hatte wie nationalistische Schriften.[17] Kurz vor der Reichstagswahl am 5. März 1933 hatte sich Gehlen politisch eindeutig und karriereförderlich positioniert. Er unterschrieb das »Bekenntnis der deutschen Geisteswelt zu Adolf Hitler(2)« und trat am 1. Mai – wie Martin Heidegger(1) und Carl Schmitt(1) – in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ein. Gehlen(16) bekam die Mitgliedsnummer 2432245 zugewiesen und bezahlte »einen monatlichen Mitgliedsbeitrag von 5 Reichsmark«.[18] Er wurde Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und der Reichserziehungsminister ernannte ihn für zwei Semester zum »Amtsleiter« des Nationalsozialistischen Dozentenbunds (NSDoB) in Leipzig. In dieser Funktion war er in der Universitätshierarchie »der zweite Mann nach dem Rektor (jetzt ›Führer‹)«[19] und hatte sich im Parteiauftrag um Berufungen und Ernennungen nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten zu kümmern.[20] Von 1933 bis 1935 war er »Zellenleiter« an der Parteibasis in der Leipziger Ortsgruppe Böhlitz-Ehrenberg. Nach nur kurzem Frankfurter Intermezzo kehrte er nach Leipzig zurück, wurde Assistent des Soziologen und Leiter des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte Hans Freyer(1) und rückte 1934 – zunächst vertretungsweise und dann als ordentlicher Professor – nach auf den Lehrstuhl seines Doktorvaters Hans Driesch(1), der die Universität aufgrund seiner pazifistischen Haltung und jüdischen Herkunft hatte verlassen müssen.[21] Im Jahr 1935 trat er in den Reichsluftschutzbund (RLB) und in die Nationalsozialistische Volksfürsorge (NSV) ein. 1936 unterrichtete Gehlen(17) an der Akademie des NS-Dozentenbundes, dem er einen monatlichen Mitgliedsbeitrag von 1,20 Reichsmark entrichtete.[22] Darüber hinaus betätigte er sich als »Lektor der Hauptschrifttumspflege beim Beauftragten des Führers für die geistige und weltanschauliche Erziehung«.[23] Das heißt: Er schrieb Rezensionen für das berüchtigte, für weltanschauliche Fragen zuständige »Amt Rosenberg«.[24] Ende 1938 ging er nach Königsberg, um dort den renommierten sogenannten »Kant-Lehrstuhl« einzunehmen. Im Januar 1940 wurde er an die von Gegnern der Nationalsozialisten »gesäuberte« Universität Wien berufen, wo er auch die Leitung des Psychologischen Instituts übernahm. Offenbar hatte ihn das Reichserziehungsministerium mit der Aufgabe betraut, gemeinsam mit seinem Leipziger Förderer Gunther Ipsen(1) die Philosophische Fakultät der Universität Wien neu zu organisieren, »vermutlich weil hier im interdisziplinären Einsatz der Geisteswissenschaften kultur-, wirtschafts- und bevölkerungspolitische Perspektiven für eine deutsche Expansion in Südosteuropa erarbeitet werden sollten.« Da Ipsen und Gehlen(18) aber als Heerespsychologen eingezogen wurden, kamen diese Pläne über ihre Anfänge nicht hinaus.[25] Von Oktober 1941 bis Mai 1942 schrieb Gehlen als Kriegsverwaltungsrat Gutachten für die Psychologische Prüfstelle des Heeres in Prag, einer Einrichtung, die mit den fortgeschrittensten wissenschaftlichen Methoden den Kriegswillen der Bevölkerung aufrechterhalten sollte.[26] Danach ließ er sich wieder nach Wien versetzen, wo ein Zentrum für Heerespsychologie entstand.[27]
Gehlen(19) wollte dem faschistischen Staat mit der Bereitstellung von Legitimationsformeln und Orientierungswissen zuarbeiten. Die erste Auflage seines 1940 erschienenen und später in modifizierten Fassungen mehrfach wieder aufgelegten anthropologischen Hauptwerks Der Mensch enthielt Passagen, in denen er der ideologischen Diktion Alfred Rosenbergs(1) (1893–1946) folgte. Er benutzte den Ausdruck »Zuchtbild« und von der »Durchsetzung germanischer Charakterwerte«[28] war ebenso die Rede wie von »obersten Führungssystemen«. Zwar blieb die 1935 von ihm angekündigte »Philosophie des Nationalsozialismus« ein unveröffentlichtes Fragment,[29] doch wo es sich anbot, signalisierte Gehlen weithin vernehmlich, dass er mit dem neuen politischen System einverstanden war. In seinen Texten, die vor Beginn des Zweiten Weltkriegs erschienen, griff er immer wieder auf die unter Parteigenossen damals gebräuchlichen Phrasen zurück. »Nur innerhalb der gleichen Rasse«, formulierte er 1934 in der Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie, »gibt es eine Gemeinsamkeit vitaler Wertungen, nur in demselben Volke eine solche von politischen und Charakterwerten«.[30] An Hegel(2) wiederum bemängelte er im Völkischen Beobachter, dieser habe die »ursprüngliche Wirklichkeit des Völkischen« nicht begriffen.[31] Auch eine ausdrückliche Verneigung vor dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler(4) ließ er damals nicht aus. In der Monatszeitschrift Völkische Kultur zitierte er aus Mein Kampf die Zeile: »Reinster Idealismus deckt sich unbewusst mit tiefster Erkenntnis.« Dieser Satz, so Gehlen, sei »von vollkommener Wahrheit.«[32] Anders als Hans Freyer(2) oder ihrer beider Schüler Helmut Schelsky(1) hatte Gehlen keinerlei Neigung zur Fahrten- und Lagerfeuerromantik der Jugendbewegung. Er war ein Individualist, losgelöst, isoliert und hochmütig, auch gegenüber den alten Professoren, denen er in Leipzig gegenübertrat. Zeitzeugen attestierten ihm für diese Zeit einen dandyhaften Zug,[33] der auch in dem damals unter den Studenten kursierenden Gerücht zum Ausdruck kam, Gehlen(20) trage nur seidene Unterwäsche, die er extra aus Paris habe kommen lassen.[34]
Bei seiner Berufung nach Leipzig war Gehlen(21) kein Wunschkandidat des Dresdner Kultusministeriums gewesen. Er erschien den NS-Politikern als zu bürgerlich. Parteiideologen wie der Pädagoge Ernst(2) Krieck(1) warfen ihm vor, seine Anthropologie nicht rassistisch zu begründen. Dem Philosophen Gerhard Lehmann(1) war seine Handlungstheorie zu wenig auf die Volksgemeinschaft ausgerichtet.[35] Berufen wurde er schließlich nur, weil die Philosophische Fakultät ihn unbedingt haben wollte.[36] Da ein Eklat ausblieb, konnte Gehlen seine Bilderbuchkarriere im Faschismus ohne Störungen fortsetzen. Bei aller Hochschätzung, die Gehlen(22) für die Tugend des fraglosen Gehorsams hegte: Soldat wurde er eher aus Pflichtgefühl denn aus Neigung. Als er sich zur Wehrmachtspsychologie versetzen ließ, verlangte er beständig nach Freistellung und Büchern, um seine akademische Arbeit fortsetzen zu können.[37] Das änderte sich anscheinend erst, als klar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Nun zeigte er sich nicht nur der äußeren Form nach politisch loyal und diensttreu, sondern war bereit, als Soldat mit dem »Dritten Reich« unterzugehen. Seine damalige Haltung kommt in zwei Anekdoten zum Ausdruck:
Die erste stammt von seinem späteren Kollegen, dem Soziologen Dieter Claessens(1). Nach einem Gastvortrag, den Gehlen(23) Anfang der 1960er Jahre an der Münsteraner Universität hielt, sei man noch gemeinsam in eine Kneipe gegangen. Dort erzählte Gehlen, wie er zusammen mit mehreren Kameraden nach einem russischen Angriff versprengt in einem Waldstück nahe der damaligen deutschen Grenze in Schlesien hatte ausharren müssen. Ein Feldwebel schlug vor, sich zu verdrücken, da der Krieg ohnehin aus sei. Gehlen zog daraufhin seine Pistole und drohte: »Wenn Sie den ersten Schritt tun, erschieße ich Sie!« Die Desertion fand nicht statt. Auf die Frage eines jungen Kollegen, ob er denn tatsächlich geschossen hätte, gab er zur Antwort: »Aber selbstverständlich!«[38] Der Mann war überrascht. Claessens(2), der im Krieg selbst ein junger Offizier gewesen war, hingegen nicht. Er und seinesgleichen hätten sich damals als Verkörperungen des deutschen Staates empfunden, als einsame Wölfe, die »eine lebende Mauer von formaler Loyalität«bildeten.[39]
Auch nach dem Krieg argumentierte Gehlen(24) für einen starken Staat, betonte die Notwendigkeit einer hierarchischen Gemeinschaft, war antiliberal und autoritär. Das war mit dem alten Regime ebenso kompatibel wie mit seinem neuen Betätigungsfeld an der von der französischen Militärregierung neu gegründeten und am Vorbild der Pariser École Nationale d’Administration orientierten Verwaltungshochschule in Speyer. Dort wurde der mit dem Kriegsende aus dem österreichischen Staatsdienst entlassene und von den Besatzungsbehörden als Mitläufer eingestufte reichsdeutsche Professor 1947 auf den ersten Lehrstuhl für Soziologie berufen, der auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen überhaupt eingerichtet wurde. Die Anfangszeit war mühsam. Briefe benötigten damals bis zu zehn Tage, um ihre Adressaten zu erreichen. Ein erster Besuch Gehlens(25) beim Präsidenten der Verwaltungshochschule war daran gescheitert, dass er keinen Passierschein zum Übergang von der amerikanischen in die französische Zone bekommen hatte. Zudem gestaltete sich die Wohnungssuche als äußerst mühsam.[40] Über sein Selbstverständnis als Hochschullehrer schrieb er im selben Jahr:
Ich würde beim Unterricht für Verwaltungsbeamte immer zwei wesentliche Wahrheiten betonen. Das tiefste allgemein menschliche Bedürfnis ist das nach Dauer und Sicherheit, das tragende Bedürfnis aller Ordnungen, der Kultur überhaupt, der Religion, in denen allen der Mensch über sich hinaus lebt. Aber im Menschen liegen auch die Gefährdungen dieser seiner eigenen Ordnungen: der triebhafte Hang zur Überspannung, Übersteigerung, zu rechthaberischer Vergewaltigung zukünftiger Entwicklungen und eine geradezu unwahrscheinliche Plastizität, Verführbarkeit und Korruptibilität.[41]
Mit Speyer war Gehlen(26) in der akademischen Provinz angekommen. Hier wurden keine Forscher ausgebildet, sondern künftige Staatsdiener. Das wiederum kam seinen auf den Erhalt und die Stärkung von Ordnungen gerichteten Neigungen im Grunde entgegen. Die Soziologie verstand er als eine der Wirklichkeit zugewandte »administrative Hilfswissenschaft«, die den Regierungs- und Parteistellen sowie den staatlichen Behörden und anderen Institutionen zu Diensten sein sollte.[42] Zunächst leitete er die philosophische Abteilung der Hochschule, dann kam er als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Soziologie und Psychologie. Von 1951 bis 1953 wirkte er als Rektor.[43]
Die zweite Geschichte, von der an dieser Stelle zu berichten ist, stammt von Gehlen(27) selbst. Als an der schlesischen Front schwer verwundeter Oberleutnant sei er in ein süddeutsches Lazarett verbracht und dort kurz nach Kriegsende von Offizieren der französischen Besatzungsmacht besucht worden. Die hätten ihm das Angebot gemacht, seine professorale Laufbahn nach einem Entnazifizierungsverfahren fortzusetzen. Verbrechen habe er ja nicht begangen. Gehlen lehnte ab. Mit dem Begriff der Entnazifizierung konnte er nichts anfangen. »Entweder war man ein Nazi, oder man war es nicht, und er sei es gewesen, und er stehe dazu. Ob er nun mal aufhört, einer zu sein, das werde sich zeigen, das werde die Entwicklung zeigen, auch die Entwicklung ihrer Politik, meine Herren!« Von dieser Begebenheit, berichtete Wolfgang Harich(9), habe ihm Gehlen(28) 1952 persönlich erzählt.[44]
Der mit allen Wassern der Dialektik und des Marxismus-Leninismus gewaschene Philosoph aus dem von der sowjetischen Militäradministration verwalteten Sektor Berlins hatte sich zu dieser Zeit längst zu einem glühenden Verehrer von Gehlens(29) Werk entwickelt und anlässlich einer Vortragsreise durch Westdeutschland einen Abstecher nach Speyer unternommen, um seine jetzt schon mehrere Jahre dauernde, intensive Brieffreundschaft mit dem ihm politisch doch so fern stehenden Gelehrten durch eine persönliche Begegnung zu vertiefen. Dabei war der junge Mann nicht nur ein von der Notwendigkeit des Klassenkampfs überzeugter Parteikommunist, sondern darüber hinaus ein glühender Antifaschist, der sich im Kriegseinsatz nicht hatte verheizen lassen wollen. 1942 war er zur Wehrmacht eingezogen worden, hatte sich dem Fronteinsatz aber mehrfach durch ein vorgetäuschtes Ischiasleiden entzogen und war im Jahr darauf wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe inhaftiert worden. 1944 desertierte er, versteckte sich in Berlin, nahm Kontakt mit dem Widerstandskreis »Onkel Emil« auf und schloss sich schließlich der von Alex Vogel(1) geleiteten kommunistischen Widerstandsgruppe »Ernst« an.[45] Später wurde Harich(10)KP- und schließlich SED-Mitglied. In der Nachkriegszeit verdiente er seinen Lebensunterhalt zunächst als Literatur- und Theaterkritiker. Er war im Kulturleben der anfangs noch nicht durch eine Mauer geteilten Stadt gut vernetzt, zählte den damals schon weithin bekannten Theaterkritiker Friedrich Luft(1) zu seinen Freunden und galt bald im Westen wie im Osten in Intellektuellen- und Journalistenkreisen als jemand, von dem man glaubte, in Zukunft noch einiges zu hören.[46] Woher rührte seine Begeisterung für Gehlen(30)? In erster Linie daher, dass dessen Aussagen über das Wesen des Menschen einerseits nicht auf metaphysischen Spekulationen beruhten, sondern an die damals fortgeschrittensten naturwissenschaftliche Erkenntnisse anknüpften, und andererseits eine Handlungstheorie enthielten, die dem von Marx(3) und Engels(2) entwickelten Gedanken von der fundamentalen Bedeutung der Arbeit für die Entwicklung der Gattung sehr nahe zu kommen schien. Gehlen war neben Max Scheler(1) und Helmuth Plessner(1) der bedeutendste Vertreter einer in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten Denkrichtung, deren wichtigste Ergebnisse er in seinem 1940 veröffentlichten Buch Der Mensch einem Höhepunkt zuführte: der Philosophischen Anthropologie. Eine ihrer Grundannahmen – dass die spezifische Weise des Menschen, mit den Herausforderungen seiner Umwelt umzugehen, auf die mangelnde Anpassung seiner Organe an diese zurückgeführt werden müsse – war schon 1922 von einem später von den Nazis zunächst in das KZ Oranienburg gesteckten und 1934 in die Emigration nach England gezwungenen jüdischen Mediziner namens Paul Alsberg in der Schrift Das Menschheitsrätsel formuliert worden. Sechs Jahre später zitierte Max Scheler eine aussagekräftige Passage aus Alsbergs Schrift in seinem wesentlich bekannteren Buch Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928). Gehlen(31) selbst, der Schelers(1) Buch gut kannte, nahm in seinem eigenen Hauptwerk zunächst keinen Bezug auf Alsberg. Das war kein Name, mit dessen Nennung man im akademischen Betrieb auch nur einen Blumentopf hätte gewinnen können. Ob er sich nicht näher mit dem aus Deutschland vetriebenen jüdischen Denker befasste und ihn daher bald wieder vergaß oder ob er angesichts der Zeitumstände meinte, ihn einfach straflos plagiieren zu können, ist bis heute nicht restlos geklärt. Was Harich, als er lange nach Gehlens Tod von dessen Schweigen über Alsberg erfuhr, nicht davon abhielt, sich in dieser Frage eindeutig zu positionieren. Aber dazu später mehr. An dieser Stelle ist erst einmal nur wichtig, dass er Gehlen darin folgte, den Menschen als ein Wesen zu betrachten, das zum einen von seinen biologischen Anlagen her dazu gezwungen ist, die Welt, die es umgibt, handelnd so zu verändern, dass es in ihr überleben kann. Und das zum anderen auch auf diese von ihm selbst geschaffene künstliche Umwelt reagieren muss und aus ihr neue Impulse zu seiner Weiterentwicklung schöpft. Gehlen, davon war er überzeugt, bewegte sich mit diesen Überlegungen ganz auf der Höhe der Zeit. 1949 erschien in einem der Kommunistischen Partei Österreichs nahestehenden Verlag eine Schrift des zu Weltruhm gelangten marxistischen Archäologen Vere Gordon Childe(1) mit dem Untertitel »Die Menschen machen ihre Geschichte selbst«.[47] In die darin enthaltene Grundidee vom Menschen als eines seine eigenen Lebensumstände selbsttätig schaffenden Wesens, so sah es Harich, fügten sich Gehlens(32) Gedanken nahtlos ein. Gehlen, so betonte Harich immer wieder,[48] sei vom falschen, von einem bürgerlichen Standpunkt aus entscheidende Schritte in die richtige Richtung gegangen und habe den Menschen dabei auf eine Weise beschrieben, von der auch Marxisten eine ganze Menge lernen könnten. Er war begeistert. Für eine marxistische Anthropologie, die noch nicht vorhanden war, aber die es nach seiner Ansicht unbedingt noch zu entwickeln galt, läge mit dem Werk Gehlens ein wichtiger Baustein vor. Bei seinen Genossen galt Harich in Sachen Philosophie als Überflieger – ein Junggenie, wie in den Reihen der überzeugten, begeisterungsfähigen, aber nicht immer in Theoriefragen bewanderten Kommunisten nicht allzu oft zu finden. Noch als Student war er 1948 damit beauftragt worden, an der Pädagogischen Fakultät der Universität Unter den Linden Vorlesungen zur Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus zu halten. Dabei war er kein Dogmatiker, der Parteibroschüren oder Lehrbuchwissen wiedergab, sondern ein eigenständiger Kopf, der den Marxismus nicht als Glaubenslehre, sondern als Denkwerkzeug verstand und sich schon früh an der Unverständigkeit von geistig weniger flexiblen Parteigenossen rieb. Als man den Lehrstoff seiner anfangs fakultativen Vorlesung zum verpflichtenden Prüfungsgegenstand erhob, war er ganz und gar nicht einverstanden. »Die knechtende Verschulung eines Wissens, das aus Überzeugung angenommen werden will«,[49] störte ihn so sehr, dass er seinen Lehrauftrag 1952 nicht mehr fortsetzte. Da stand er schon drei Jahre mit Gehlen in Kontakt. Seiner eigenen Erinnerung nach war es 1949 oder 1950, dass er mit einem Brief nach Speyer den Austausch mit dem 20 Jahre älteren Professor initiierte.[50] Das war der Startschuss für eine sich über mehrere Jahrzehnte erstreckende intellektuelle Fernbeziehung. Seine Bewunderung für Gehlen(33) ließ im Laufe der Jahre kaum nach. Die Marxisten, ließ er den mittlerweile emeritierten Ordinarius 1974 wissen, würden ihm »irgendwann einmal, im 21. Jahrhundert, ein Denkmal« errichten müssen.[51] Die mit den Namen »Adorno(16)« und »Horkheimer(1)« verbundene Kritische Theorie hat Harich(11) nach eigenem Bekunden hingegen »nie berührt, nie im Geringsten beeinflusst.«[52]
Als Max Horkheimer(2) im Mai 1949 zum ersten Mal nach seiner Vertreibung aus Deutschland für einige Wochen nach Frankfurt kam, traf er dort auf ein verheertes Stadtbild. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs waren weit sichtbarer als beispielsweise im rund 100 Kilometer entfernten, von den alliierten Bombardements weithin verschont gebliebenen Speyer. Die schöne Altstadt der Main-Metropole lag in Schutt und Asche. Bis auf eine waren alle Brücken über den Fluss noch während der letzten Kriegstage von deutschen Truppen gesprengt worden. Die Patrizierhäuser, in deren Umfeld Adorno(17) aufgewachsen war, bildeten den Teil einer Trümmerlandschaft. Auch die Oper, das Schauspielhaus, die Börse und die Gebäude der Johann Wolfgang Goethe-Universität waren nicht unversehrt geblieben. Die Zusammensetzung und die Einstellung des wissenschaftlichen Personals hatten sich hingegen kaum verändert. Das jedenfalls war der Eindruck, den Horkheimer(3) bei einer Sitzung der Philosophischen Fakultät gewann. Dort begegnete er vornehmlich Kollegen, die im Nationalsozialismus Karriere gemacht und den Weg in die Diktatur mehrheitlich entweder aktiv unterstützt oder zumindest widerstandslos hingenommen hatten. Hinterher schrieb er, es handele sich um eine »Gruppe von Leuten, welche frisch-fröhlich die Ära der Konzentrationslager und was danach kam, mitgemacht haben und in Wahrheit unsere Todfeinde sind.«[53] Für die ungeheuren Verbrechen, die nur wenige Jahre zuvor in deutschem Namen begangen worden waren, fühlten sich viele Angehörige des Bildungsbürgertums nicht im Geringsten verantwortlich. Am 6. April 1949 schrieb der Dichter Gottfried Benn(1) an seinen Verleger Max Niedermayer(1), der Nationalsozialismus sei »ein echter und tiefangelegter Versuch« gewesen, »das wankende Abendland zu retten. Dass dann ungeeignete und kriminelle Elemente das Übergewicht bekamen, ist nicht meine Schuld und war nicht ohne weiteres vorauszusehen«.[54] So wie er dachten viele Angehörige der gebildeten Schichten. In jungen Jahren hatten sie gehofft, die in blutigen Auseinandersetzungen zwischen rechts und links manifest gewordene Spaltung der Gesellschaft durch den Aufbau eines starken Staates neuen Typs überwinden und Deutschland nach den ausgesprochen harten und zudem als erniedrigend empfundenen Auflagen des Versailler Vertrags unter Anleitung eines volksverbundenen Führers als Nation endlich zu der ihm gebührenden Weltgeltung verhelfen zu können. Viele Akademiker wurden begeisterte Parteigänger des Regimes, machten Karriere an den Universitäten und in der Verwaltung.[55] Häufig nahmen sie Plätze ein, auf denen zuvor jüdische, linke, liberale Kollegen gesessen hatten, die von den Nationalsozialisten inhaftiert, ermordet oder ins Exil gezwungen worden waren – ein Schicksal, das allerdings einige konservative und rechte Gegner des Hitlerregimes mit ihnen teilten. Nach der totalen Niederlage und unter dem Eindruck der selbst für ehemals hartgesottene Nazis schockierenden Bilder aus den Vernichtungslagern veränderte sich bei vielen der Tonfall. Ehemals überzeugte Parteigenossen bekannten sich nun zu den neu entdeckten oder wiedergefundenen Werten des »christlichen Abendlands«, die im Faschismus in den Hintergrund getreten waren. Schlagworte wie »Geist«, »Seele« oder »Kultur«, die mit einer anderen semantischen Akzentuierung allerdings auch im Nationalsozialismus im Gebrauch gewesen waren, wurden hochgehalten, die moderne Massengesellschaft verworfen oder kritisch beäugt.[56] In bürgerlichen Kreisen gab man sich nun wieder »schöngeistig, feinsinnig und unermüdlich ins ernste Gespräch vertieft, als könne man bruchlos an die Umgangsformen anknüpfen, mit denen das zur guten alten Zeit verklärte 19. Jahrhundert geendet hatte.«[57] Das bald darauf in der Senckenberganlage 26 wiedereröffnete Institut für Sozialforschung war eine der ersten akademische Einrichtungen, an denen im Nachkriegsdeutschland ein Studium der Soziologie möglich war. Im internationalen Vergleich hinkte das Fach in Sachen Methodik und Theorie damals weit hinterher. »Eine moderne Soziologie«, schrieb Arnold Gehlen(34) am 7. Februar 1949, gebe es »in Deutschland nur als Postulat«.[58]
Gehlen(35) selbst bemühte sich nach Kräften, das zu ändern. Mit der Broschüre Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, seiner ersten größeren Nachkriegsschrift, betrat er noch im selben Jahr wieder die Bühne der akademischen Öffentlichkeit. Vorausgegangen war eine Phase der intellektuellen Neuorientierung. Mit dem Kriegsende hatte der Philosoph seine Stellung als »reichsdeutscher Professor« in Österreich verloren. Er kam zunächst im nahe Ulm gelegenen Illereichen unter und tauschte mit seinem von der Ostfront zurückgekehrten ehemaligen Schüler Helmut Schelsky(2) in den nächsten beiden Jahren emsig Exzerpte und Notizen aus, um sich – was die Sozialwissenschaften betraf – auf den internationalen Forschungsstand zu bringen. Sehr zupass kam den beiden der Umstand, dass Schelsky zu dieser Zeit in der kleinen Ortschaft Jöhlingen und damit ganz in der Nähe der ehemaligen badischen Residenzstadt Karlsruhe wohnte.[59] Denn dort hatte er Zugang zum Buchbestand der American Library der US-Kaserne und damit zu Schlüsselwerken der Kultur- und Sozialwissenschaften, der Psychologie und Sozialanthropologie.[60] Mittels Zeitschriften, dem Rundfunk und neu eingerichteten Bibliotheken beabsichtigten Kultur- und Bildungsoffiziere aus den USA, die Deutschen in ihrem Einflussbereich an den konsumorientierten Lifestyle einer marktliberalen, offenen Gesellschaft heranzuführen.[61] Dem neu gegründeten Fach Politische Wissenschaft sowie der Soziologie traute die Militärregierung zu, im Rahmen der von ihr verordneten demokratischen Re-Education zentrale Bildungsaufgaben zu übernehmen.[62] Ganz unbekannt waren Gehlen(36) moderne amerikanische Autoren nicht. Einige hatte er schon während seiner Leipziger Zeit in den 30er Jahren zu studieren begonnen. Der amerikanische Jurist Karl N. Llewellyn(1) von der Columbia University Law School nahm zwischen 1928 und 1933 mehrfach Leipziger Gastprofessuren wahr und entwickelte auch im Anschluss an Hans Freyer(3) eine soziologische Rechtstheorie, mit der er Einfluss auf die sozialen Reformbestrebungen des New Deal ausübte.[63] Zuvor hatte sich Eduard Baumgarten(1) während eines 1924 bis 1929 dauernden USA-Aufenthalts mit weiteren herausragenden Vertretern des Pragmatismus wie William James(1) und John Dewey(1) zu beschäftigen begonnen. Die Modernität dieser Autoren bestand darin, dass sie mit einer ungeheuren »Radikalität die Konsequenzen aus dem Ende metaphysischer Gewissheiten gezogen« hatten.[64] Baumgarten machte sich während des Nationalsozialismus für deren Theorien stark, obwohl es sich um ausgesprochen demokratisch gesinnte Autoren handelte, und er inspirierte damit die aktivistische Ideologie einer ganzen Gruppe von Autoren, die wie er selbst, das SS-Mitglied Hans Lipps, Gerhard Lehmann(2), Gehlen(37) und auch Schelsky(3) überzeugte Parteigänger des Nazi-Regimes waren.[65] Sie interpretierten die pragmatistische Handlungstheorie im Sinne der faschistischen Tat-, Entscheidungs- und Macht-Ideen und deuteten das amerikanische »Demokratie-Ideal« im Sinne der Volksgemeinschaftsideologie um.[66] Für Gehlen wurden zunächst vor allem John Deweys handlungstheoretische Einsichten interessant, die er bereits 1940 in der ersten Auflage seines Buchs Der Mensch aufgriff. Auch er wollte metaphysische Spekulationen hinter sich lassen und stattdessen eine »empirische Philosophie der menschlichen Handlungsfähigkeit« entwickeln.[67] Das war ein wichtiger Schritt auf einem Denkweg, an dessen Ende er sich selbst nicht mehr als einen spekulativen Ideen verpflichteten Philosophen verstand, sondern als einen der durch naturwissenschaftliche Methoden greifbaren Wirklichkeit zugewandten Soziologen. Statt über die argumentative Begründung, gar Letztbegründung von Normen nachzudenken, über die Beschaffenheit des Seins oder den Sinn und das Ziel der Geschichte zu spekulieren, wollte er Aussagen über soziale Prozesse und Sachverhalte nun auf methodisch kontrollierte Beobachtungen, auf empirisch erhobene Daten stützen. Ausgangspunkt sollte dabei der Rekurs auf den Menschen als ein handelndes Wesen sein. Ganz im Sinne von Max Weber(2)s präziser und in Fachkreisen überaus einflussreicher Definition aus dem Jahr 1920. Soziologie soll heißen:
eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.[68]
Auf den Pragmatismus kam Gehlen(38) noch einmal zurück, als er George Herbert Meads(1) Symboltheorie und dessen Konzept des generalisierten Anderen 1950 in die Neuauflage seines Buchs Der Mensch einfügte. In einer Hinsicht blieb er jedoch distanziert. Er schätze, schrieb er Schelsky(4) wenige Jahre nach Kriegsende, »das ganze Sozialbild [als] zu parlamentarisch« ein.[69] Mit der in der Karlsruher Bibliothek reichlich vorhandenen Literatur vertieften sich die beiden Freunde in die Schriften von Thorstein Veblen(1), Talcott Parsons(1), David Riesman(1), Claude Lévi-Strauss(1), Franz Boas(1), Georges Gurvitch(1) und Ruth Benedict(1).[70] Angesichts der staunenswerten Fortschritte in der internationalen Soziologie gehe es, so Gehlens damalige Einschätzung, zunächst darum, »den ausländischen Forschungsstand nachzuarbeiten, die Resultate, Theorien und Methoden sich anzueignen, sie zunächst einmal überhaupt nur zu wissen und zu kennen.«[71] Er nutzte die von der Besatzungsmacht bereitgestellten Ressourcen, um sich als Wissenschaftler im neuen System zurechtzufinden und schloss sich bald darauf mit ebenfalls politisch belasteten Kollegen zusammen, die auf die Entwicklung der Soziologie in Deutschland Einfluss zu nehmen versuchten.
Im Feuilleton überregionaler Tages- und Wochenzeitungen, in den Zeitschriften und im Output der wichtigen Verlage waren konservative Positionen unterschiedlicher Couleur in den ersten Nachkriegsjahren deutlich häufiger zu finden als liberale oder linke Stimmen.[72] Autoren, die bereits im »Dritten Reich« publiziert hatten, stellten mehr als vier Fünftel des Personals in den Medien, die sich mit Politik und Kulturfragen befassten.[73] Das hing auch damit zusammen, dass der progressive Teil der geistigen und medialen Elite nach 1933 ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte. Höchstens ein Drittel der nach 1933 ca. 3000 geflohenen Intellektuellen kam aus dem Exil zurück. Nur 180 von rund 2000 Journalisten fanden hiernach wieder einen Platz bei einer Zeitung oder Zeitschrift, während zwischen 60 und 70 in der Nachkriegszeit bei Radiosendern unterkamen. Nicht immer wurden sie mit offenen Armen empfangen. Weit verbreitet war ein Misstrauen gegen Remigranten, die man in Fortschreibung eines von den Nazis propagierten Feindbilds als »eine vorwiegend jüdische linksintellektuelle Gruppe« betrachtete.[74] Mehr als an die ermordeten Juden, Sinti und Roma sowie Kommunisten und weitere Opfergruppen dachte die Mehrheit der Bevölkerung an die Wehrmachtssoldaten, die sich noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befanden. Das Leid dieser Personen ging vielen Deutschen schon deshalb näher, weil die eigenen Ehemänner, Söhne, Kinder und Enkel darunter waren. Eine für zehn Pfennig erhältliche Briefmarke, die 1953 zum achten Jahrestag des Kriegsendes erschien, zeigte einen kahlgeschorenen, wie im Schmerz gereckten Kopf hinter Stacheldraht. Daneben stand: »Gedenket unserer Gefangenen«.[75] Das war die Stimmungslage, in der die hessische Landesregierung Max Horkheimer(4) am 13. Juli 1949 rückwirkend zum 1. Mai als ordentlichen Professor auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Frankfurter Universität berief. Er nahm dafür »das Wort vom ›Wiedergutmachungslehrstuhl‹ in den Mund.«[76] Von Seiten des Kultusministeriums, des Frankfurter Oberbürgermeisters und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät war man um die Rückkehr des von ihm und Adorno(18) geleiteten Instituts für Sozialforschung bemüht. Mit dem Neuaufbau ihrer 1923 gegründeten und aus privatem Stiftungsvermögen sowie eingeworbenen öffentlichen Geldern finanzierten Forschungseinrichtung wollten die beiden linken Intellektuellen ihren Teil dazu beitragen, auf deutschem Boden eine liberale Demokratie nach westlichem Vorbild aufzubauen, was den wissenschaftspolitischen Plänen der Besatzungsbehörden entgegenkam. Dabei bezogen sie recht frühzeitig und unmissverständlich Stellung in dem sich abzeichnenden Kalten Krieg. »Unsere Forschungen und Schriften«, erklärten sie 1950,
stehen im schärfsten Gegensatz zu der Politik und Doktrin, die von der Sowjetunion ausgehen. Das Potenzial einer besseren Gesellschaft wird eher dort bewahrt, wo die bestehende ohne Rücksicht analysiert werden darf, als dort, wo die Idee einer besseren Gesellschaft verfälscht wurde, um die schlechte bestehende zu verteidigen.[77]
Eindrücklich beschwor Horkheimer(5) die Gefahr, die ihnen von den in Europa einfallenden Russen drohe. Im Falle einer solchen Invasion von Stalins(2) Schergen, so glaubte er, könnten sie als Intellektuelle, die der Ermordung durch die Nazis entronnen waren, »nur hoffen, noch einmal vor den totalitären Henkern zu entkommen«.[78] Die Frontstellung gegen die Sowjetunion stellte damals so etwas wie einen Minimalkonsens zwischen westlichen Besatzern und heimgekehrten Exilanten auf der einen sowie Akteuren, Mitläufern und Profiteuren des Nazi-Regimes auf der anderen Seite dar.[79] Der antitotalitäre Konsens erlaubte es, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und zum Nutzen aller Beteiligten auf eine pragmatische Weise miteinander zu kooperieren. Als Horkheimer(6) 1951 zum Rektor der Frankfurter Universität gewählt wurde, pflegte er Kontakte zur politischen und kulturellen Elite. Er empfing Bundeskanzler Adenauer(1), den Schriftsteller Thomas Mann(1) und den Bundespräsidenten Theodor Heuss(1).[80] Um das IfS auf eine solide ökonomische Grundlage zu stellen, nahm er schon Anfang der 50er Jahre den Rat des Bankiers Hermann Josef Abs(1) in Anspruch, der sich als Vorstandsmitglied der Deutschen Bank im Nationalsozialismus mit der »Arisierung« von Kreditinstituten und Unternehmen befasst hatte.[81] Als Aufsichtsrat der I. G. Farben war er in die Geschäfte eines Konzerns involviert gewesen, der mit Auschwitz III Monowitz das erste mit privaten Geldern finanzierte Konzentrationslager betrieben hatte.[82]
Nach dem Krieg wurde Abs(2) zunächst für drei Monate inhaftiert, konnte die Vertreter der britischen und der amerikanischen Militärverwaltung aber bald davon überzeugen, dass er sich ihnen durch seine Finanzexpertise noch würde nützlich erweisen können. Er wurde Leiter der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die dafür Sorge trug, dass die Westdeutschen im Zuge des von der US-Regierung nach dem Hungerwinter 1946/47 forcierten und als »Marshall-Plan« bekannt gewordenen europäischen Aufbauprogramms Nahrungsmittel, Treibstoff und Medikamente aus den USA erwerben konnten. Das war eine Regelung zum beiderseitigen Vorteil. Zum einen wirkte die Aufbauhilfe in den USA als hoch willkommene Konjunkturspritze für die Industrie.[83] Zum anderen wurde Westdeutschland auf diese Weise enger an das von der Regierung in Washington angeführte liberalkapitalistische Lager gebunden, das sich in der geopolitischen und ideologischen Konstellation der ersten Nachkriegsjahre in Konfrontation mit der Sowjetunion herausbildete. Als sich im April 1949 die Außenminister der USA, Kanadas, Großbritanniens, Frankreichs und vieler weiterer westeuropäischer Staaten in Washington zum Nordatlantikpakt (NATO) zusammenschlossen, schienen die Westdeutschen vielen Politikern des Bündnisses geradezu als dazu prädestiniert, einen wichtigen militärischen Beitrag in dem befürchteten Krieg mit der Sowjetunion zu leisten.[84] Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wiederum verband mit der Westbindung die Hoffnung auf wirtschaftliche Prosperität und Schutz vor der »roten Gefahr« aus dem Osten.[85] An den heute so oft beschworenen liberalen Werten oder der Demokratie fand man damals in weiten Kreisen hingegen noch nicht allzu viel Gefallen. Als das von einer Gruppe von Sachverständigen auf dem Schloss Herrenchiemsee erarbeitete und vom Parlamentarischen Rat nach 265 langen Verhandlungstagen unter der Versammlungsleitung des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer(2) mehrheitlich beschlossene Grundgesetz am 23. August 1949 verkündet und in Kraft gesetzt wurde, zeigten sich einer Umfrage zufolge 21 Prozent der Bevölkerung sehr und 33 Prozent eher mäßig daran interessiert.[86] Weiteren 40 Prozent, also fast der Hälfte, war es schlicht und einfach völlig gleichgültig.[87] Konsum war angesagt, Politik eher weniger. Im Juni waren in den Läden zum ersten Mal nach zehn Jahren wieder Bananen zu kaufen gewesen und mit der Zeile »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt« aus dem von Rudi Schuricke(1) gesungenen Schlager Caprifischer fand die neu belebte Italiensehnsucht der Deutschen ihren musikalischen Ausdruck.[88] Für die Stimmung der Bevölkerung waren die von den Ministerpräsidenten der elf Länder in den Parlamentarischen Rat gesetzten 61 Männer und 4 Frauen schon deshalb nicht repräsentativ, weil es sich größtenteils um Personen handelte, die das Nazi-Regime abgelehnt und in vielen Fällen auch persönlich unter dessen Repressionen zu leiden gehabt hatten. Viele Deutsche erkannten sich eher wieder in der Figur des »Otto Normalverbraucher« aus dem Kinorenner des Jahres, der Berliner Ballade.[89] Das Deutschland, in das Adorno(19) nach einem kurzen Zwischenhalt in Paris im Wintersemester 1949/50 zurückkehrte, war das gleiche, in dem der von dem jungen und damals noch gertenschlanken Schauspieler Gert Fröbe(1) verkörperte Durchschnittsbürger sich mit Bürokratie, Lebensmittelmangel und Wohnungsnot auseinandersetzen musste. Adorno war gekommen, um den Lehrstuhl Horkheimers(7)