Weinberggravitationen - Gerhard Steinlechner - E-Book

Weinberggravitationen E-Book

Gerhard Steinlechner

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Beschreibung

Beate, Studentin der Orientalistik und der Politikwissenschaft wird aus der Bahn geworfen, als ihr Freund bei einer Demonstration gegen den dritten Irakkrieg ums Leben kommt. Auf ihrer Fluchtinsel Ios begegnet sie den Skippern Paul und Gert, einem Paar, das sie dazu einlädt, sie auf ihrer Reise mit ihrem Boot zu begleiten. In einer kleinen Stadt im Languedoc begegnen sie Markus, der sie alle zu einem Besuch in den Weinberg einlädt, in dem er ein Sabbatjahr verbringt. Es beginnt eine Reise durch persönliche und historische Dramen und Tragödien.

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layer by layer she peels the onion she ist and laughs with her tears

ruth weiss

Zieht nicht alle Materie, schmerzend, alle Materie an?

Walt Whitman

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

1

"Hier, sieh dir das an!"

Frau Jensen hielt ihrer Tochter Beate zum wiederholten Mal das Schriftstück der Hamburger Polizei in ihr Gesichtsfeld.

"Für Beate Jensen, geboren am 12. Oktober 1980, liegen keine Eintragungen vor.

Ermittlungsaufträge wurden nicht erteilt."

Beate sah auf die Worte des amtlichen Schriftstückes, das ihre Mutter in Händen hielt. Sie blickte in das erwartungsvolle Gesicht, das ihr auffordernd zunickte, dann wieder zurück auf das Papier, schließlich wieder zur Wand.

"Weißt du nicht, was das bedeutet? Du wirst nicht gesucht. Du kannst ungefährdet mit mir nach Hause kommen", sagte die Mutter.

Ihre Stimme klang voll der Hoffnung, mit der sie hierhergekommen war. In Hamburg hatte sie lange Zeit kein Lebenszeichen von Beate gehört, ehe sie sich auf die Suche nach ihr machte. Sehr lose Kontaktfrequenz war mit ihrer Tochter seit der späten Schulzeit nicht ungewöhnlich gewesen. Sie hatten weder im gesellschaftlichen Lebensstil noch in den politischen Ansichten Gemeinsamkeiten. Bisher war Beate immer erreichbar gewesen, wenn sie anrief, um den Kontakt nicht ganz zu verlieren. Diesmal hatte die Tochter auf die Bitte um Rückruf, die sie auf den Anrufbeantwortergesprochen hatte, nicht reagiert. Die Mutter kannte Beates beste Freundin Ingrid aus der Zeit, als die Mädchen die Schule besuchten und fand in einem alten Verzeichnis ihre Telefonnummer. Von Beates aktionistischen Aktivitäten hatte sie mehr geahnt als gewusst. Sie hielt das für eine Alterserscheinung.

Ingrid war mit ihren Informationen über Beate zurückhaltend. Das, was Frau Dr. Jensen dennoch von ihrer Tochter Problemen mit der Polizei und dem Aufenthaltsort auf dieser Hippieinsel in Griechenland erfuhr, alarmierten allerdings ihre Muttergefühle. Mit ihrer Position bei Gericht war es ihr möglich, die Frage der polizeilichen Ermittlung gegen die Tochter schnell zu klären, obwohl das für private Zwecke verboten war. Sie verschob die Termine der nächsten beiden Tage und buchte einen Flug auf eine Nachbarinsel, Ios hatte nicht einmal einen Flughafen, und zwei Rückflüge für den Abend des folgenden Tages.

Die zwei Frauen, die sie gestern bei Beate antraf und die sich offensichtlich um sie kümmerten, waren sehr lieb, doch war hier alles ärmlich und nicht der Aufenthaltsort, den sie für ihre, erkennbar gesundheitlich angeschlagene Tochter zur Genesung für angemessen und zielführend hielt. Ein Bett, ein Kasten, ein Tisch und zwei Sesseln waren die Einrichtung. An der Wand hing seltsamerweise eine Fotografie verschneiter Berggipfel.

Beate saß nur da, sagte bereits den zweiten Tag kein Wort und schüttelte höchstens manches Mal verneinend ihren Kopf.

"Du kannst doch nicht in diesem Loch bleiben. Zu Hause werde ich dir dein ehemaliges Apartment in unserem Haus in der Elbchaussee richten. Dort ist es viel freundlicher als hier. Du bist völlig unabhängig und hast jede Freiheit. Sobald du etwas benötigst, sorge ich dafür, dass du es erhältst. Außerdem ist deine Freundin Ingrid in der Nähe."

Beate Jensen saß wortlos auf ihrem Sessel und schüttelte den Kopf.

"Ich hatte vergessen, wie stur du bist. Das hat sich offensichtlich mit den Jahren nicht gebessert. Du kannst doch nicht auf Dauer in dieser Verwahrlosung leben", sagte ihre Mutter böse.

Eine lange Weile saßen sich die zwei Frauen wortlos gegenüber. Die Tochter starrte regungslos an die Wand und die Mutter blaffte, in einer Mischung aus hilflosem Zorn und tiefem Mitleid, ihre Tochter an.

Seit ihrer Ankunft war keine Bewegung in das Gespräch gekommen. Was hieß hier Gespräch? Die Dickköpfigkeit ihrer Tochter brachte sie an die Grenzen ihrer Geduld. Es war alles geklärt, der Rückflug für heute Abend organisiert, die Wohnung im elterlichen Haus war verfügbar, doch ihre Tochter verhielt sich störrisch wie ein Esel und wollte sich nicht bewegen. Mit keinem Wort begründete sie ihr irrationales Verhalten.

Frau Dr. Jensen musste wieder zur Arbeit. Morgen standen wichtige Verhandlungen am Plan.

"Das ist nicht zu ertragen. Ich muss hier raus und gehe jetzt spazieren. Später komme ich wieder. Das hier ist geklärt! Dann packen wir deine Sachen und fahren nach Hause", pfauchte sie.

Die Situation wurde geklärt. Die Tochter blieb auf Ios und die Mutter flog nach Hamburg zurück.

2

Die morgendlichen Arbeiten im Garten waren beendet und doch hielt sich Markus Bamer nur kurz im Schatten der Terrasse auf. Immer wieder erhob er sich und erledigte Tätigkeiten, die er an anderen Tagen für unnötig gehalten hätte. Die Kerzenstummel vom Vorabend zu entfernen, war eine Verrichtung der Art. Die abgefallenen, trockenen Blätter der nahen Weinstöcke von den Fließen der Veranda wegzukehren ebenso, zumal sie umgehend von den nächsten ersetzt wurden. Lange Zeit war es ihm nicht aufgefallen: er war aufgeregt. Eine derartige Unruhe hatte er seit Wochen nicht mehr gefühlt und er mahnte sich zur Geduld.

Besucher waren angekündigt, deren Pünktlichkeit er nicht einschätzen konnte. An gewöhnlichen Tagen senkte sich nach der morgendlichen Arbeit im Gemüsegarten oder im Weinberg die Hitze des Vormittages auf das Land und mit ihr der geruhsame Teil seines Lebens. Heute war es anders.

Seine zweifelnde Unrast war unberechtigt. Zur verabredeten Zeit hörte er die Räder eines Autos auf dem Schotter der Auffahrt zu Frolis Wohnhaus knirschen. Seine Gäste waren pünktlich gekommen. Stimmen näherten sich auf dem schmalen Weg zum kleinen Häuschen herab, das er seit mehreren Wochen bewohnte. Ein altes Haus, in dem früher ein Weinbauer mit seiner Familie gelebt hatte. Vor mehreren Jahren hatte Madame Froli das Grundstück gekauft und sich für ihren Ruhestand ein neues, größeres Haus, ein Stück oberhalb des alten, bauen lassen. Für die Rodung eines Teiles ihres Weingartens, die dafür nötig geworden war, hatte sie Geld aus Brüssel bekommen. In der Europäischen Union war man der Meinung, dass in Frankreich zu viel Wein gekeltert wurde und belohnte die Verringerung der Anbauflächen. Das ergab einen großzügigen Zuschuss zu den Baukosten.

Beate Jensen, Paul Ahrens und Gert Jansen hätten gestern Nachmittag kein Problem gehabt, den Weg nach Sète zu finden, berichteten sie. Heute sei jedoch einmal das Navigationsgerät zu bemühen gewesen, als Paul bei einem der vielen Kreisverkehre auf der Anfahrt, die falsche Ausfahrt gewählt habe. Markus lud seine Besucher ein, Platz zu nehmen. Gert und Paul wollten sich jedoch sogleich auf den Weg machen, um durch die Weinberge zu streifen, zu fotografieren und später unter einem knorrigen Olivenbaum Siesta zu halten. So jedenfalls war ihre romantische Vorstellung vom Ablauf der folgenden Stunden. Noch war das Wetter weniger schwül, als es für Mittag zu erwarten war. Das Licht schien für Fotografien noch gut geeignet, weshalb sie in Eile waren. Im dunstigen Mittagslicht würden die Konturen nicht mehr so klar erkennbar sein. Markus bot ihnen Wasser und Proviant an, als sie ihre Pläne mitteilten. Dankend lehnten sie ab, als Gert auf seinen Rucksack deutete, der Wasser, Obst und Sandwiches enthielt. Beate blieb hier. Sie hatte ein Buch mitgebracht, wollte später beim Kochen helfen und die Küchengeheimnisse ausspionieren, wie sie schmunzelnd anmerkte.

So verteilte sich die kleine Gesellschaft nach ihrem Eintreffen sogleich wieder. Die beiden Männer verloren sich in den Hügeln, während sich Beate mit ihrem Buch in der Hängematte gemütlich niederließ. Die war zwischen zwei Bäumen befestigt, die einer Zisterne am Rand einer Reihe von Weinstöcken Schatten gaben. Markus wollte, da es noch nicht zu heiß dafür war, noch eine Weile im Weinberg arbeiten.

Nach einer Stunde wurde ihm die Arbeit in der Hitze dann doch zu anstrengend. Er ging ins Haus und setzte in der Küche den Geschirrspüler in Gang, das zu tun, er während der Wartezeit vergessen hatte. Anschließend holte er mehrere Flaschen Rotwein aus dem Keller. Ihr Inhalt sollte Zeit haben, sich der Temperatur der Umgebung anzupassen. Seiner Meinung nach eignete sich zum Gulasch als Getränk nur Bier, aber ihm waren die Trinkgewohnheiten seiner Gäste nicht bekannt. Das Bier blieb inzwischen im Keller kühl genug und für den Fall, dass es nötig sei, gab es im Kühlschrank auch Weißwein. Nun hatte er ein wenig Zeit, ehe er mit dem Kochen beginnen musste. Er nahm eine Zeitschrift zur Hand und legte er sich hinter dem Haus in einen Liegestuhl.

Gestern war Markus bereits früh am Morgen in die nahe gelegene Stadt Pézenas gefahren. Seit Tagen hatte er eine unerwünschte Besucherin, der er zu entkommen suchte. Frau Froli hatte ihn vor ihrer Abreise davor gewarnt, dass er die regelmäßigen Besuche ihrer verrückten Nachbarin zu erwarten habe, falls es ihr gelang, der Aufsicht ihrer Familie zu entkommen. Froli war wegen der Geburt des zweiten Kindes ihrer Tochter weggefahren. Zuvor hatte sie ihm erzählt, dass eine Frau, die in einem der benachbarten Häuser wohnte, Frolis Abwesenheit dazu benützen könnte, ihre Besuche wieder aufzunehmen. Sie selbst musste einen erheblichen Aufwand an Unfreundlichkeiten betreiben, um die Visiten abzustellen, als diese Frau mit den Jahren zunehmend in einen geistigen Ausnahmezustand geraten war. Andere Maßnahmen hatten zu keinem Erfolg geführt und der Alltag war von den Belästigungen stark beeinträchtigt gewesen, weshalb sie ihr mehrmals mit dem Besenstiel gedroht hatte. Ihre Besuche blieben dann aus und aus dem Tratsch beim Bäcker konnte sie erfahren, dass die Frau andere Ziele für ihre Wanderungen gefunden hatte.

Wie auch immer sie von der Abwesenheit der Grundbesitzerin erfahren hatte, nach wenigen Tagen kam sie regelmäßig vorbei. In ihrem halbnackten Zustand war sie nicht nur nicht schön anzuschauen, Markus befürchtete auch den Ärger, der einen sprachunkundigen Ausländer im Kontakt mit einer hilflosen, unvollkommen bekleideten Einheimischen ereilen konnte. Zusätzlich hatte die Frau bei jedem ihrer Besuche, zumindest eine Aufgabe an ihn zu erteilen. Einmal wollte sie ein Glas Wasser, war dann jedoch mit dem Inhalt unzufrieden. Ein anderes Mal pflückte sie ein paar noch unreife Trauben, kostete davon, schüttelte sich und nötigte ihn unverständlich plappernd, ebensolches zu tun. Der Vortrag, oder auch die Kritik, die sie daraufhin anstimmte, war für ihn nicht verständlich, aber zeitraubend. Einmal wollte sie etwas Zucker borgen, dann wieder war sie mit seiner Art der Bewässerung des Gartens nicht einverstanden. Das alles war unangenehm und lästig.

Vor kurzem hatte Madame Froli angerufen und mitgeteilt, dass sich die Geburt ihrer Enkelin um einige Tage verzögere und sie länger in Lodève hilfreich sein wolle. Für die Arbeit am Grundstück könne sie anderweitig Hilfe organisieren, damit Markus nicht die ganze Arbeit aufgehalst bekäme. Er hielt das nicht für notwendig. Inzwischen habe er ausreichend Routine entwickelt, die notwendigen Aufgaben in überschaubarer Zeit durchführen zu können. Er genieße den Umstand, dass er, im Gegensatz zu seinem Beruf, hier den Erfolg seines Tuns unmittelbar erkennen könne. Im Telefonhörer ertönte Lachen und Froli erzählte, dass eben der Umstand einer der Gründe dafür war, nach ihrer pädagogischen Tätigkeit in der Schule, den Weinberg zu erwerben.

Erst nach dem Ende des Gesprächs fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, um Rat zu fragen, wie er die Situation mit der unangenehmen Nachbarin beenden könne. Markus wusste weder in welchem der Nachbarhäuser die bedauernswerte Person wohnte, noch war er sich sicher, mit den Angehörigen kommunizieren zu können. Deshalb nochmals in Lodève anzurufen, schien ihm übertrieben, doch klebte er eine Erinnerung ans Telefon, um Froli beim nächsten Anruf diesbezüglich zu befragen.

Am vergangenen Tag hatte er bereits beim Aufwachen an seine seltsame Besucherin gedacht und wähnte in diesem Umstand eine Vorwarnung für ihr nächstes unerwünschtes Auftauchen. Zumindest an dem Tag konnte er die Begegnung vermeiden, wenn er rechtzeitig die Flucht ergriff. Als Markus nach eiliger Erledigung seiner Morgenroutine im Auto saß und den Weinberg in Richtung Lézignan la Cèbe hinabfuhr, wusste er, dass er sich für diesen Tag das Zusammentreffen mit dem elenden Geschöpf erspart hatte.

Die fünf Kilometer nach Pézenas, einer nahe gelegene Kleinstadt, waren zügig zurückgelegt und er fand vor der Werkstätte seines Freundes Raimond einen freien Parkplatz. Raimond, ein Tischler, der in der Stadt seine Werkstatt hatte, jedoch mit seiner Familie in Lézignan wohnte, fertigte kunstvolle Türen für Hauseingänge aus Vollholz an. Die Schreiner der Region waren seit Jahrhunderten für die Qualität ihrer Arbeiten bekannt und aufgrund ihres handwerklichen Geschicks bis in den Süden Kataloniens nachgefragt. In den vergangenen Jahren waren sie weniger geworden, da die Aufträge stark zurückgegangen waren. Auch in diesem Handwerk hatte der Druck auf die Preise, den die industrielle Fertigung von standardisierten Haustüren ausübte, zu vielen verlorenen Arbeitsplätzen und so mancher Betriebsschließung geführt. Raimond war es gelungen, seinen Betrieb mit zwei Helfern in den schwarzen Zahlen und, als beinahe Letzter seines Könnens, das Gewerbe am Leben zu halten.

Markus hatte Raimond kennengelernt, als er am neuen Haus von Madame Froli arbeitete. Das Interesse an seinen Holzarbeiten hatte in so mancher mit Rotwein durchzechten Nacht und etlichen verbal-revolutionären Umstürzen der Gesellschaft geendet. Es war eine Freundschaft gewachsen, in die auch die Angehörigen miteinbezogen wurden, als Raimond mit seiner Familie eine Reise nach Österreich unternommen und zwei Wochen bei Familie Bamer gewohnt hatte.

Als Markus an dem Vormittag in der Werkstatt auftauchte und ihn fragte, ob er Lust auf einen Kaffee oder gar ein Pression habe, ließ Raimond bereitwillig das Werkzeug liegen.

"Oui", war seine Antwort. "Koffein habe ich heute bereits genug in mir, doch ist die Holzarbeit eine staubige Beschäftigung und macht durstig."

Nach einem Blick auf die Uhr.

"Ein oder zwei Pression sind möglich."

Er wusch sich die Hände und zog seine Jacke an.

"Du bist heute früh dran, mon ami."

"Ich weiß, aber ich wollte meinem Gespenst entkommen", antwortete Markus lächelnd.

"Kommt dich die verrückte Frau immer noch besuchen? Du musst sie mit dem Besen verjagen. Das hat bei Madame Froli sehr gut funktioniert."

"Du weißt, welchen Beruf ich habe? Mit dem Stock auf arme Menschen losgehen, gehört nicht zu meinem Verhaltensrepertoire."

"Mon Dieu, du esprit simple! Lieber lässt du dich von ihr terrorisieren. Da kommen wohl zwei Verrückte zusammen."

Raimond hackte sich lachend im Arm seines Freundes ein, schloss die Werkstatttüre, sperrte jedoch nicht ab. Das tat er nur, wenn er abends seine Arbeit beendete. Für Kunden, die während des Tages in seiner Abwesenheit ankamen, bedeutete dies, dass er noch heute zurückkommen werde. Durch schmale Gassen schlendernd, erreichten sie einen weitläufigen Platz und wandten sich dem Café Molière zu, auf dessen Terrasse bei ihrer Ankunft ein Tisch frei geworden war.

"Wann kommst Du wieder einmal zu uns zum Essen?" fragte Raimond. "Meine Frau fragte bereits nach dir. Außerdem musst Du dringend ein Portrait unserer Tochter zeichnen. Seit sie dasjenige gesehen hat, welches du von ihrem Bruder gemacht hast, klingen mir die Ohren von ihren Fragen. Sie will auch so ein schönes Bild von sich haben."

"Zum Essen komme ich an einem der nächsten Wochenenden. Da will ich jedoch nicht zeichnen. Das Portrait mache ich ein anderes Mal. An welchem Nachmittag hat Eugenie schulfrei, ist das immer noch am Mittwoch?"

"Ja, am Mittwoch."

"Ich werde sie bei meinem Besuch fragen, wann es ihr passt."

Als seine eigene Tochter älter und die persönliche Freizeit mehr geworden war, hatte Markus Malkurse besucht. Nach mehreren anderweitigen Versuchen, ein geeignetes Hobby für sich zu finden, war er beim Malen hängen geblieben, das er als willkommenen Ausgleich für seinen Beruf empfand. Das Portrait von Raimonds Sohn hatte er, während eines seiner Besuche in Begleitung der Kinder, aus einer Laune heraus angefertigt.

Wiederholt blieben Passanten stehen, um mit Raimond ein paar Worte zu wechseln, nach unerledigten Aufträgen zu fragen oder um sich nach dem Wohlergehen der Familie zu erkundigen.

Pézenas, ein sonst verschlafenes Städtchen mit rund neuntausend Einwohnern, war am Markttag ein wuseliger Ort. Alle Einwohner der Stadt und viele der Bewohner der umliegenden Ortschaften, schienen auf den Beinen zu sein. Über den Austausch weniger Sätze kamen die zwei Freunde nicht hinaus. Andauernd mussten Passanten begrüßt werden. Raimond hatte sein Bier ausgetrunken und musste wieder zur Arbeit. Er vergewisserte sich der Zusage eines Anrufes von Markus bei seiner Frau, um seinen Besuch mit ihr abzusprechen. Dann verschwand er wieder zwischen den Häusern.

Markus blieb sitzen, bestellte eine zweite Tasse Kaffee und die Tageszeitung. Seine Französischkenntnisse reichten dafür aus, manche der Schlagzeilen zu verstehen. So erhielt er einen Überblick über die Weltlage. Das alte Häuschen im Weinberg verfügte über kein Fernsehgerät, worüber er froh war. Völlig von den Ereignissen abgeschnitten, wollte er jedoch nicht sein. Besonders wichtig war ihm der Blick auf die Wetterprognose, der eine Vorausschau auf den Arbeitsaufwand ermöglichte, den er in den kommenden Tagen aufzuwenden hatte. Das schöne und trockene Wetter würde anhalten, wobei die abendliche Gewitterneigung allmählich anstiege. Für ihn hieß es weiterhin ausreichend bewässern, am Morgen, wenn in der Nacht kein Regen fiel, die Weinstöcke und am Abend den Gemüsegarten, es sei denn die Wolken verhießen für die Nacht Wasser vom Himmel. Ein Blick über den Rand der Zeitung hinaus zeigte ihm, dass alle Tische des Café mit mehreren Personen besetzt waren.

Im singenden Französisch, wie es die in höheren Schulen ausgebildeten Bewohner der französischen Hauptstadt sprachen, wurde Markus von einem Mann angesprochen. Er fragte, ob am Tisch für zusätzliche drei Personen Platz sei. Im Wissen um seine holprige Aussprache dieser Sprache antwortete Markus in Englisch und lud sie dazu ein, Platz zu nehmen. Markus konzentrierte sich wieder auf seine Zeitungslektüre und achtete nicht weiter auf die hinzugekommenen Tischgenossen.

Nachdem er das Blatt durchgesehen hatte, brachte er die Zeitung zurück zur Ablage und hatte sich soeben gesetzt, als ihn der kleinere der beiden Männer ansprach. Er fragte, ob Markus hier ortskundig sei.

"Nein, ich komme aus Österreich und bin hier in einem nahe gelegenen Dorf zu Gast."

Sie stellten sich als Durchreisende aus Deutschland vor und sie setzten ihr Gespräch in deutscher Sprache fort.

"Wissen sie, warum hier alles nach Molière benannt wurde, die Bäckerei, der Platz da vorne, die Hauptstraße und sogar das Café hier?"

"Madame Flori, meine Gastgeberin, erzählte mir, dass Molière mit seiner fahrenden Theatertruppe, Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, hier Station gemacht hatte."

"Alles nur Werbung, um die Geschäfte zu fördern", bemerkte die Frau, die wohl dreißig oder vierzig Jahre jünger war als ihre Reisepartner.

"Der Besuch Molières ist nachgewiesen. Mit der einzigen anderen historisch verbürgten Besonderheit hier, den eineinhalb Millionen Jahre alten Steinwerkzeugen, die man gefunden hat, lässt sich nicht so gut werben. In meiner Heimatstadt wird ein Konfekt, von verschiedenen Firmen nach unterschiedlichen Rezepturen zubereitet und trotzdem jeweils als Original-Mozartkugel verkauft, obwohl sie weder Mozart kannte noch eine derartige Vielfalt an Originalität Tatsache sein kann."

Paul Ahrens, der größere der Männer, fragte: "Sie kommen aus Salzburg? Die Stadt haben wir einmal besucht."

"Das war schrecklich. Sie spielten einen elendslangen Wagner mit dem Herrn Karajan", erinnerte sich Gert Jansen.

"Der Wagner ging noch, aber die Brandenburgischen Konzerte von Bach am folgenden Tag, die verursachten auch mir Schmerzen", ergänzte Paul Ahrens.

"Diese Kombination von Aufführungen gab es vor vielen Jahren bei den Osterfestspielen", erinnerte Markus.

"Es schneite wild", setzte Paul Ahrens fort, "obwohl wir bereits mitten im April waren."

"Bei uns können die Winter lange dauern. Wir leiden beinahe jährlich darunter. Wo sind sie zu Hause?"

"Wir sind alle aus Hamburg, haben uns jedoch erst auf der griechischen Insel Ios kennengelernt. Seither reisen wir auf unserem Segelboot durchs Mittelmeer."

"Gert, du stapelst sehr tief", warf Beate Jensen lachend dazwischen. "Dieses Segelboot ist eine große Motorjacht, mit der man auch segeln kann. Wir liegen in Sète und die zwei hatten in Montpellier zu tun. Auf der Rückreise machen wir hier Pause, um Kaffee zu trinken."

Markus begann zu rätseln, wer von den beiden der Geliebte der jüngeren Frau war, ehe Paul Ahrens mit einer Frage seine Gedanken unterbrach.

"Was machen sie hier im Südosten Frankreichs, wenn ich fragen darf?"

"Ich verbringe hier einen Teil meines Sabbatjahres. Derzeit kümmere ich mich um Weinberg und Gemüsegarten einer Bekannten. Sie besucht ihre Tochter in Lodève."

Seine Tischgenossen begannen sich zu besprechen, ob sie hier im Lokal noch etwas bestellen, oder zum Boot zurückkehren sollten. Markus fragte sie, ob sie Lust hätten, bei ihm im Weinberg noch ein Glas Wein zu trinken. Für sie sei das kein Umweg, da die Nationalstraße nach Sète ohnehin in unmittelbarer Nähe vorbeiführe. Sie nahmen die Einladung an.

Nach ihrer Ankunft schlenderten die beiden Männer durch die Reihen der Weinstöcke, die vor dem Haus wuchsen, während die junge Frau Markus dabei half, aus dem Haus Stühle zu holen, auf die Terrasse zu stellen und den Tisch in den Schatten zu rücken. Schnell waren auch Gläser, eine Karaffe mit Wasser und eine Flasche Wein aus der Küche geholt.

"Sie wohnen hier allein?" fragte Beate Jensen, als sie sich gesetzt hatten.

"Hier in diesem Haus schon. Frau Froli wohnt im neuen Haus, wenige Schritte weiter oben, dort wo wir die Autos abstellten. Meine Frau wollte nachkommen, doch ihre Mutter ist schwer erkrankt und sie kümmert sich um sie."

"Ist es hier nicht sehr einsam?"

"Selten. Hier habe ich Ruhe, um nachzudenken und jetzt, wo Frau Flori in Lodève ist, habe ich ohnehin mit den Gärten viel zu tun. "

"Da kommen ja meine beiden Männer", murmelte Beate Jensen, als sich ihre Begleiter zu ihnen setzten.

Markus schenkte den Wein ein, während Beate die Wassergläser füllte.

"Ich habe Beates Worte gehört", sagte Gert Jansen. "Wir wollen unseren Gastgeber nicht in die Irre führen!"

An Markus gewandt sagte er: "Wir sind nicht ihre Männer im Sinne einer mènage á droite oder einer polyamoren Beziehung, wie das heute wohl heißt. Paul und ich sind seit dreißig Jahren zusammen. Inzwischen sind wir ein altes Ehepaar mit aller rechtlichen Ordnung. Beate ist unsere hoch geschätzte, liebenswerte, manchmal etwas vorlaute Begleiterin."

"Eure Sklavin ist wohl die zutreffende Bezeichnung", bemerkte Beate Jensen lachend.

"Nein, Herr Bamer, sie müssen wissen, dass Beate den Modus Klassenkampf liebt. Wenn wir schon von unserem formalen Verhältnis reden müssen, dann ist Beate seit der Abreise aus Ios unsere Hausangestellte, besser gesagt Bootsangestellte. Wir haben uns auf der griechischen Insel kennengelernt, als sie uns, anlässlich unseres Aufenthaltes dort, angeboten hatte, unsere Kleidung zu waschen und zu bügeln. Mit ihren Diensten waren wir höchst zufrieden und sie war uns als Person sympathisch, weshalb wir sie auch um eine Grundreinigung des Bootes baten. Die ist manches Mal nötig, wir zwei sind jedoch nicht ausreichend dazu in der Lage."

"Männerwirtschaft eben."

Gert Jansen ließ sich nicht unterbrechen.

"Wir lernten uns dabei näher kennen und mögen uns. Als wir auch noch ihre Kochkünste entdeckten, lag es für uns nahe, sie zu bitten, uns auf unserer Mittelmeerreise zu begleiten. Da wir Wert auf geordnete Verhältnisse legen, haben wir Beate nach allen rechtlichen Vorschriften angestellt. Dass sie das als Sklaverei betrachtet ist uns neu und wohl nicht ernst zu nehmen."

"Ich wollte doch nur Spaß machen", verteidigt sich Beate Jensen und setzt an Markus gewandt fort. "Die Beiden sind sehr lieb und fair zu mir, und ich bin gerne mit ihnen unterwegs."

Regelmäßig wurde neben Wasser auch Wein getrunken und der Inhalt der Flasche war geleert, als die Entscheidung anstand, wer das Auto lenken sollte, wenn sie die Einladung annahmen, noch eine weitere Flasche zu öffnen.

"Heute fahre ich", erklärt sich Beate Jensen bereit, die Aufgabe zu übernehmen. "Ich bin wieder einmal an der Reihe, mich zurückzuhalten."

Markus Bamer holte die neue Flasche aus dem Keller und füllte auch das Wasser nach. Als die Flasche geöffnet und die Gläser nachgefüllt waren, hob Paul Ahrens das Glas, bedankte sich beim Gastgeber für die Einladung und schlug vor, dass sich alle mit Vornamen anreden sollten.

Mit der Wirkung des Alkohols wurden die Männer gesprächiger, während sich Beate sowohl beim Wein als auch bei ihren Beiträgen am Gespräch zurückzuhalten begann.

Die Drei hatten geplant, das Boot die eine oder andere Woche in Sète liegen zu lassen, mit ihrem Leihauto zu den Burgruinen der Katharer zu fahren und dabei auch die Ausläufer der Pyrenäen zu erkunden. Aktuell waren Gert und Paul damit beschäftigt, für ein deutsches Wochenmagazin einen Fotoessay über die Katharer zu erarbeiten. Wenn sie damit fertig waren, wollten sie noch Landschaftsaufnahmen für eine künstlerische Ausstellung machen, die für das kommende Frühjahr geplant war. Ein nächstes Buch war im Gespräch, wofür sie schon Aufnahmen zu sammeln begannen. Sie hatten viel zu tun.

Beate hörte den Ausführungen der Männer aufmerksam zu, was Markus die Gelegenheit bot, sie unbemerkt in Augenschein zu nehmen. Ihre Haut war, wie die der ganzen Gruppe, dunkelbraun. Die Intensität der Farbe war wohl dem Zusammenwirken von Sonne und dem beständigen Wind auf dem Meer zu verdanken. Ihr Haar trug Beate halblang und hatte es nach hinten gebunden. Trotz der starken Sonnenbestrahlung und dem häufigen Kontakt mit dem salzigen Meereswasser konnte er keine Anzeichen einer Aufhellung erkennen. Bei jeder Bewegung des Kopfes quoll ein Strang ihres widerspenstigen Haares aus der Begrenzung des Bandes, sodass sie es wiederholt in seine Fassung zurückdrängen musste. Im Wind der See, gestärkt durch den Salzgehalt der Luft, dürfte das Gewächs schwer zu bändigen sein. Die Augenbrauen waren akkurat gepflegt, ebenso tiefschwarz und dicht gewachsen, wie ihr Haupthaar. Die Augenfarbe war dunkel, ebenso die Haut der Augenlider.

Der Ausdruck ihrer Augen war, hier zögerte Markus bei der Suche nach einem geeigneten Wort, melancholisch traf den Ausdruck der Augen nur annähernd. Der Begriff passte dann besser, als er den Mund betrachtete. Sobald ihre Mimik das Lächeln, mit dem sie einen Satz ihrer Begleiter bedacht hatte, wieder seine gewohnte Stellung einnahm. Die Mundwinkel senkten sich und riefen auf diese Weise einen traurigen Ausdruck des Gesichtes hervor. Die nächste Beobachtung ließ ihn lächeln. Der Schatten, der sich an ihrer Oberlippe zeigte, war nach einer leichten Drehung des Kopfes, als ein Bogen feiner dunkler Härchen zu erkennen, die dem schwermütigen Gesicht ein weiters Geheimnis gaben.

Alles Übrige war schwierig einzuschätzen. Sie war wahrscheinlich schlank gewachsen, was aufgrund ihrer Kleidung, die zwei Nummern zu groß schien, nicht klar erkennbar war. Ihre dunkelblaue Fleecejacke war inzwischen, im aufkommenden Wind des späten Nachmittags, bis zum Kinn geschlossen und die Ärmel reichten bis zu den Fingerknöcheln. Dazu trug sie eine weite schwarze Hose und schwarze Turnschuhe.

Nun war auch die zweite Flasche geleert und Paul stand erkennbar unter dem Einfluss des Alkohols. Er schimpfte auf den französischen Katholizismus und seine Untaten, während Markus allmählich unter Zeitdruck geriet. Er musste an die Arbeit denken, die er heute noch vor Einbruch der Dunkelheit verrichten musste.

"Bitte entschuldigt meine Unhöflichkeit, unterbrach er den Monolog, aber ich muss euch jetzt rauswerfen. Ich habe heute noch viel Arbeit vor mir, die ich, erledigen muss, solange es hell genug dafür ist."

"Wir müssen ohnehin rechtzeitig am Hafen sein. Es müssen noch Verhandlungen geführt werden, um für unser Boot in der nächsten Zeit einen sicheren und kostengünstigen Stellplatz zu organisieren", sagte Gert, nachdem er, nach einem Blick auf seine Uhr, überrascht zusammengezuckt war.

Markus hatte der Kontakt mit den Besuchern genossen, die seine Sprache teilten. Er hatte eine Idee.

"Als Wiedergutmachung für meine Unhöflichkeit lade ich euch morgen am späteren Nachmittag zum Essen ein. Ich biete eine Spezialität meiner Küche, Gulasch mit Knödel und einem frisch gepflückten Salat aus Madame Frolis Gemüsegarten."

Die Drei verständigten sich mittels Blickkontakt, der offenbar eingespieltes Ritual ihrer Entscheidungsfindung war, und nickten anschließend zustimmend. Paul fragte noch, ob sie bereits am Vormittag kommen könnten. Sie würden nicht weiter stören, sondern durch die Weinberge streifen, um Fotos zu machen. Das war kein Problem.

3

Am nächsten Tag waren Beates Gefährten plaudernd zwischen den Weinstöcken verschwunden, während sie sich auf den Weg zur Hängematte machte. Auf dem Pfad zur Zisterne, wo sie hing, hatte sie nasse Erde betreten. Markus hatte hier am Morgen gegossen und sie befürchtete bereits, dass sie ihre Utensilien mit in die Hängematte nehmen musste, um sie vor Feuchtigkeit und anhaftender Erde zu schützen. Das hätte ihr den Aufenthaltsort unbequem gemacht. Die Sorge war unbegründet. Der Platz an der Zisterne war mit Steinplatten ausgelegt und sie konnte sowohl ihr Wasserglas als auch die zwei mitgebrachten Bücher auf trockenen Untergrund legen.

Sie schaukelte entspannt in der Hängematte und beobachtete ihren Gastgeber bei seiner Arbeit. Markus war damit beschäftigt, die unerwünschten Pflanzen zwischen den Weinstöcken zu entfernen. Sie machten den reifenden Trauben die Nährstoffe streitig. Erst harkte er, dann bückte er sich, hob die entwurzelten Pflanzen auf und warf sie in einen Stoffbehälter, den er hinter sich her zog. Wiederholt lüftete er seinen Strohhut und zog ein Tuch aus seiner Hosentasche, mit dem er den Schweiß von der Stirn wischte. Schließlich leerte er den Beutel mit dem Unkraut auf einen nahe gelegenen Komposthaufen und lehnte sein Werkzeug an die Hauswand. Kurz hielt er inne, stützte seine Hände in die Hüften und betrachtete die geleistete Arbeit.

Markus war älter als sie, jedoch nicht so alt wie ihre Begleiter. Wie er da so stand, gehörte er hierher. In seiner knapp über den Knien abgeschnittenen, hellbraunen Hose, dem übergroßen, außerhalb hängenden Hemd, dessen lange Ärmel bis zu den Ellenbogen raufgeschlagen waren, wirkte er unter seinem großen Strohhut, wie ein Bauer in seinem Weinberg. Das Bäuchlein, das sich zu bilden begonnen hatte, trat hervor und passte gut zum Bild, wenn er sich zufrieden mit sich und seiner Arbeit durchstreckte. Dann verschwand er im Haus.

Die Begegnung gestern im Café und die daran anschließende Einladung hierher waren ein glücklicher Zufall. Dieser Österreicher schien ein umgänglicher Kerl zu sein, obwohl sein Einsiedlerdasein hier im Weinberg auch etwas seltsam anmutete. Beate genoss den Abstand zu ihren Begleitern. Sie liebte ihren freundlichen und aufmerksamen Umgang. Gestern, in ihrer alkoholbeflügelten, übertriebenen Stimmung, waren sie ihr jedoch das erste Mal, seit sie mit ihnen bekannt war, auf die Nerven gegangen. Am Boot war es erst ruhig geworden, als sie weggingen, um den neuen Liegeplatz zu organisieren. Ihre Rückkehr hörte sie beizeiten und zog sich in ihre Kajüte zurück. Am frühen Morgen überstellten sie das Boot an den neuen Liegeplatz, am Ende des Kais eines umzäunten und bewachten Betriebsgeländes, den ihre Begleiter gestern noch ausgehandelt hatten.

Sie öffnete das Buch, "Am Strand" von Cesare Pavese. Es blieben ihr noch wenige Seiten zu lesen. Tage zuvor hatte sie in der Bibliothek ihrer Reisegefährten nach Lesestoff gesucht und Paul, der hinzugekommen war, hatte ihr den schmalen Band empfohlen. Der kleine Roman war ihr ans Herz gewachsen. Anfangs hatte sich die Handlung für ihren Geschmack noch zu langsam entwickelt, doch zogen sie dann die Melancholie, die der Geschichte innewohnte, und die Pastelltöne der Beschreibungen magisch an. Sie kannte die schwerelose Melancholie, die auch sie früher, in ihren guten Tagen, manchmal erfasst hatte. In dieser Stimmung fühlte sie sich einsam und doch, war das Gefühl von einer seltsamen Leichtigkeit durchdrungen. Eine "schwermütige Heiterkeit", wie sie hier genannt wurde, konnte sie jedoch nicht nachfühlen.

Über der Feriengesellschaft junger Erwachsener, die sich in dem Roman zusammenfindet, schwebt trotz der sommerlichen Leichtigkeit durchgängig ein Schleier von Schwermut. Beate kannte sie nur zu gut. Sie hatte in einem früheren Leben viel Freude an solchen Freundestreffen am See, im Sommer auch am Meer und an der Elbe, draußen in Richtung Altes Land. Inzwischen mied sie Gruppen, besonders wenn es sich um Freizeitunterhaltung handelte. Schnell hatte sie das Gefühl Außenseiterin zu sein, während sich die anderen Teilnehmer derartiger Zusammenkünfte im warmen Gruppengefühl aalten.

Bei Pavese endet der Sommer für den Erzähler, sobald die von allen Männern umschwärmte Frau des Freundes mitgeteilt bekommt, dass sie schwanger ist. "Ich war glücklich, ihren letzten Mädchensommer mit ihr verbracht zu haben", las Beate gegen Schluss des Romans und dachte daran, dass sie selbst wohl niemals ihren eigenen Mädchensommer hinter sich lassen würde. Es gab niemanden mehr, mit dem sie ein Kind zeugen würde. Über diesem Gedanken und dem Satz: "Ich begann zu verstehen, dass kein Ort unwohnlicher ist als der, an dem man einst glücklich gewesen ist", war sie eingenickt. Es war, als wäre sie geflüchtet.

Aus ihrer Versenkung tauchte sie wieder auf, als Markus mit einem Krug Wasser in der Hand fragte, ob er ihr leeres Glas nachfüllen dürfe.

"Danke gerne, aber ich hätte mir das Wasser auch hier aus dem Hahn holen können."

"Das sollst du nicht tun. Das Wasser direkt aus der Zisterne kann verunreinigt sein. Zwischen hier und den Häusern wurden Filter eingebaut, die mögliche Keime fernhalten. Du musst den Weg zum Haus gehen, falls du Durst bekommst und mein Service nicht möglich ist."

Sie richtete sich auf und das Buch fiel auf den Boden. Markus hob es auf, ehe sich Beate danach bücken konnte und blickte auf den Einband.

"Den traurigen Roman habe ich vor langer Zeit gelesen."

"Traurig würde ich ihn nicht nennen. Schwermütig trifft die Stimmung meiner Meinung nach besser."

"Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich in der Autobiographie von Natalia Ginzburg gelesen, dass Cesare Pavese bei den sommerlichen Aufenthalten der Familie Ginzburg an den ligurischen Stränden teilnahm, ehe Leone, ihr Mann, von Faschisten in die Abruzzen verbannt wurde. Eine romantische Erklärung für den schwermütigen Ton des Romans, wie du ihn nennst, wäre, dass sich Pavese selbst in Natalia Ginzburg verliebt hatte, die für ihn jedoch unerreichbar war."

"Weshalb weißt du so viel über diese Menschen?"

"In meinem jugendlichen Leben gab es eine Zeit, da war ich oft in Italien und hatte Kontakt sowohl mit aktiven als auch aus der Partei ausgeschlossenen italienischen Kommunisten. Wir mitteleuropäischen Studenten blickten damals voller Hoffnung auf die politischen Entwicklungen in Italien. Aktuell kann man sich das gar nicht mehr vorstellen."

"Das klingt tatsächlich nach einer anderen Zeit. Danke für das Wasser."

"Gerne. Ich stelle den Krug hier hin. Stolpere nicht drüber. Jetzt lasse ich dich wieder in Ruhe weiterlesen."

Markus wandte sich zum Gehen.

"Wann beginnst du zu kochen?"

"In etwa einer Stunde. Jetzt hole ich nur die Zwiebeln aus dem Keller."

"Dann lese ich noch und komme dann, um zu helfen."

"Das musst du nicht tun, doch schicke ich dich nicht weg, wenn du kommst."

Beate blickte Markus nach, bis er im Hauseingang verschwand.

Paveses Roman war schnell beendet. Nun nahm sie das zweite Buch zur Hand, das sie mitgebracht hatte. Damals, auf Ios, saß sie täglich, nach der Mittagsruhe, mit Eleni, der Vermieterin, und Rachel, einer Engländerin, zusammen. Sie hatten Kaffee getrunken und getratscht. Eines Nachmittags hatte Rachel ein Buch beendet und Beate fragte sie, ob sie es sich leihen dürfe. Es handelte sich um Erzählungen von John Cheever. Sie war im Lesen des amerikanischen Englisch geübt, doch kam sie damals mit den Erzählungen nicht zurecht. Sie war noch nicht in der Lage, sich mit dem Leben anderer Menschen zu beschäftigen. Die Sätze am Beginn einzelner Erzählungen hatten ihre Neugierde geweckt, aber sie war bei keiner über den Beginn hinausgekommen.

Später, während eines Aufenthalts in Italien, fand sie in einer Buchhandlung, die auch deutschsprachige Bücher führte, eine Sammlung mit Erzählungen des Autors, die den Titel "Der Schwimmer" trug. Dieses Buch war das zweite, das sie in den Weinberg mitgenommen hatte, nachdem sie sah, dass in Paveses Roman nur noch wenige Seiten zu lesen waren. Sich an ihren früheren Eindruck erinnernd, schlug sie den Beginn der zweiten Geschichte auf, die dem Buch den Titel gab, "Der Schwimmer": "Es war einer jener Sonntage im Hochsommer, an denen alle Leute herumsitzen und sagen: Ich hab gestern abend zuviel getrunken".

Sie blätterte weiter und fand eine Geschichte, die mit folgendem Satz begann: "Weihnachten ist ein trauriges Fest". Auch dieser Satz machte sie auf das Folgende neugierig.

Auf die Weise trödelte sie sich durch die Anfangssätze der in dem Buch gesammelten Erzählungen. Als sie mit dem Lesen der ersten Geschichte beginnen wollte, bemerkte sie Bewegung auf der Terrasse. Markus begann mit den Vorbereitungen fürs Kochen. Sie schloss das Buch und gesellte sich zu ihm.

Sie waren bereits eine Weile am Arbeiten, da sah Beate über den Tisch und rief lachend: "Sieh dein Gesicht an."

Jetzt hob auch Markus seinen Blick: "Du ebenfalls deines. So traurige Themen haben wir gar nicht besprochen, dass du so verheult dreinschauen musst."

"Zwiebelschneiden ist nun einmal eine tränenreiche Angelegenheit", war Beates Kommentar.

"In einer Wohngemeinschaft, in der ich als Student wohnte, hatten wir eine Mitbewohnerin, die beim Zwiebelschneiden eine Taucherbrille aufsetzte, um ein aufgequollenes Gesicht zu verhindern. Dabei verwende ich extra einheimische Zwiebeln, von denen ich mir mehr Gastfreundschaft erwartet hätte", scherzte Markus.

Beate sah ihn fragend an.

"Du weißt es nicht?"

Beate hob ihre Schultern und schüttelte den Kopf.

"Das Dorf, in dem wir uns aufhalten heißt mit vollem Namen Lézignan-la-Cèbe. Cèbe heißt Zwiebel und die Gegend hier ist für die Qualität dieser Gewächse berühmt. Leider sondern diese ebenso viel tränentreibendes Oxid ab, wie andere."

"Nicht nur Italienreisender, sondern auch noch Zwiebelforscher, da bin ich in eine interessante Gesellschaft geraten", bemerkte Beate lachend.

Markus begutachtete die Menge an Zwiebelwürfeln, die inzwischen eine große Schüssel füllten.

"Jetzt ist genug geschnitten. Zerkleinern wir noch die bereits geschälten und dann ist Schluss."

Sie trugen die Zwiebeln, die sie auf der Terrasse geschnitten hatten, in die Küche, reinigten Hände und Augen im Badezimmer und setzten sich für die weiteren Arbeiten in die Küche. Markus nahm ein großes Stück Rindfleisch aus dem Kühlschrank, löste es vom einhüllenden Papier und bereitete ein scharfes Messer mit glatter Klinge vor, das für das Schneiden in mundgerechte Fleischwürfel benötigt wurde.

Anschließend goss Markus, von Beate aufmerksam beobachtet, eine mäßige Portion Olivenöl in einen großen Kochtopf und stellte den Temperaturregler auf eine mittlere Hitze. Nach einer Weile fügte er portionsweise die Zwiebeln hinzu und begleitete den langsamen Röstvorgang mit regelmäßigem Rühren des hölzernen Kochlöffels. Die Zwiebelwürfel durften nicht anbrennen, um keine Bitterstoffe freizusetzen. Sie begannen damit, das Fleisch zu schneiden. Während die Zwiebeln allmählich Farbe annahmen, wurden schrittweise die geschnittenen Fleischwürfel hinzugefügt. Anschließend wurden sie mit etwas Salz, viel Rosenpaprika, scharfem rotem Paprika und Chilipulver gewürzt. Aus dem Topf stieg ein charakteristischer Duft, der Markus zum Erzählen brachte.

"Mein Gedächtnis wird oft von Gerüchen angeregt und setzt Erinnerungen frei, manchmal auch Emotionen. Es gibt einen Geruch, der mir sofort heftiges Unbehagen auslöst, obwohl er heute nur noch selten wahrzunehmen ist. Es handelt sich um einen Haarfestiger, damals Taft genannt, der in meiner Kindheit zur Stabilisierung der weiblichen Haarpracht angewandt wurde. Ich hasste den Duft, der seine Spur durch die elterliche Wohnung nahm, nachdem er mit Hilfe eines Treibgases aus einer länglichen Dose auf das Haar meiner Mutter aufgetragen worden war. Der Geruch bedeutete, dass sich die Mutter zum Ausgehen vorbereitete. Wenn die Wohnung derartig roch, durfte ich sie nicht begleiten, weil sie abends mit Vater eine Veranstaltung, oder Freunde besuchte. Ich musste ohne sie zu Hause bleiben. Parfüm bedeutete Abschied von der Mutter und machte mich traurig."

Markus hielt inne.

"Davon wollte ich jetzt aber nicht erzählen. In meinen Erinnerungen bin ich falsch abgebogen. Der Spur der Zwiebel wollte ich folgen, nicht dem ungeliebten Duft meiner Kindheit."

Beate lachte: "Mach dir keinen Kopf. Ich höre dir gerne zu. Du sagtest vorhin, dass die Zubereitung eines Gulasch ohne Schnellkochtopf mehrere Stunden dauert. Wir haben genügend Zeit. Los, erzähle weiter."

Inzwischen waren alle Fleischstücke im Topf gelandet. Markus öffnete zwei Dosen mit gewürfelten Tomaten und Beate schnitt die frischen Tomaten und grünen Paprika aus Frolis Garten in kleine Stücke, die ebenso in kleinen Portionen hinzugefügt wurden, um die Kochtemperatur beizubehalten.

"Der Geruch erinnert mich an meine Studienzeit, während der ich immer wieder um die Zubereitung dieses Gerichts gebeten wurde. In der Mitte der Siebziger-Jahre wohnte ich in einer Wohngemeinschaft im zweiten Stockwerk eines kleinen Hauses, das nach den vielen Jahren, die seither vergangen sind, immer noch so aussieht, wie damals. Keine der farblosen Fensterrahmen wurde inzwischen gestrichen, auch an die damals schon bröckelnde Hausfassade wurde keine Hand gelegt. Der Garten wird heute nicht sorgfältiger gepflegt, als wir das damals taten.

Wir Bewohner des obersten Stockwerkes waren zwei junge Frauen und zwei ebensolche Männer. Eine Hälfte der Bewohner bildete ein Paar. Im Stockwerk unterhalb befand sich das Büro eines Steuerberaters. Hier wurde gearbeitet, während wir schliefen und sobald bei uns das soziale Leben begann, war das Büro leer. Im Parterre lebte ein junges Paar, das gerne mit uns feierte. Der Mann war in der Werbung tätig, während seine Partnerin aus den USA stammte und in deren Generalkonsulat arbeitete. Wir führten schon im Alltag einen lebendigen Haushalt mit vielen Gästen, doch im Falle, dass eines unserer, in der kleinen Stadt allmählich zur Legende werdenden Feste stattfand, hätten wir uns in einem anderen Haus wohl umgehend die Kündigung eingehandelt.