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Cathy hat sich so auf die Zeit an der australischen Goldküste gefreut, auf die Ausflüge mit der weißen Yacht, die Fahrten zu den einsamen Inseln. Die Woche in Queensland soll ganz ihrer Liebe zu Tom gehören, doch dann geschieht etwas, das sie an ihrem großen Glück zweifeln lässt...
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Seitenzahl: 196
IMPRESSUM
TITEL erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 1991 by Lindsay Armstrong Originaltitel: „The Director’s Wife“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANABand 882 - 1992 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Dr. Barbara Slawig
Umschlagsmotive: UberImages / GettyImages, vicuschka
Veröffentlicht im ePub Format in 07/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733778712
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Catherine West unterbrach ihre Vorbereitungen für das Mittagessen und sah aus dem Küchenfenster. Hinter dem Garten und den Pferdekoppeln, deren Gras die australische Sommerhitze gelblich verfärbt hatte, erhob sich Mount Macedon. Cathys Blick wurde sehnsüchtig. Der strahlend blaue Himmel über Südaustralien, die Hitze, der würzige Duft von Weideland und Holzfeuer ließen sie vergessen, dass sie zwei Gäste zum Mittagessen erwarteten. Am liebsten hätte sie Toms Arbeitszimmer betreten – was gegen alle Regeln verstoßen hätte – und ihn gebeten, das Essen abzusagen und mit ihr am Hanging Rock zu picknicken.
Sie schloss die tiefblauen Augen und dachte an den Tag, als sie zum ersten Mal mit ihm dort gewesen war, kurz nach ihrer Hochzeit. Cathy konnte es noch nicht recht glauben, dass Tom West, der berühmte Drehbuchautor und Regisseur, der wegen seiner Arroganz, Reizbarkeit, Kälte und seiner Frauengeschichten berüchtigt war, sie wirklich geheiratet hatte. Selbst heute verblüffte es sie manchmal noch. Tom hatte sie in dieses schöne alte Steinhaus mit dem steilen Dach und den hohen Schornsteinen gebracht. Es lag inmitten eines riesigen Gartens, und von den Fenstern aus sah man Mount Macedon, den Hanging Rock, um den sich so viele Legenden rankten.
Cathy hatte erwartet, dass den Berg eine finstere, bedrohliche Atmosphäre umgeben würde. Stattdessen war es dort sehr friedlich. Die Sonne schien, und die Luft war erfüllt vom Summen der Insekten und dem Zwitschern der Vögel. In einer versteckten kleinen Talmulde hatte Tom sie geliebt. Der Fels schien nichts dagegen gehabt zu haben.
Sie öffnete die Augen und kehrte dem Fenster den Rücken zu. Was für ein verrückter Einfall! Was kümmerte es Mount Macedon, wer sich an seinem Fuß liebte! Hatte sie wirklich einen Moment gedacht, der Berg hätte missbilligt, was sie getan hatten, und aus Rache einen Fluch auf ihre Ehe mit Tom gelegt?
Es war ein wundervolles Erlebnis gewesen. Als Tom es mit funkelnden Augen vorgeschlagen hatte, war Cathy vor Schreck rot geworden. Daraufhin hatte er leise gelacht, und um ihm zu beweisen, dass sie gar nicht so scheu und gehemmt war, wie er glaubte, hatte sie sich die Bluse aufzuknöpfen begonnen. Sogleich war Toms Lachen verstummt. Er hatte Cathy in die Arme genommen und sie lange und leidenschaftlich geküsst: auf die Lippen, den Hals, bis sie vor Verlangen so benommen gewesen war, dass sie ihre Umgebung vergessen hatte …
„Cathy?“
Die Stimme ihres Mannes ließ sie in die Gegenwart zurückkehren. Er stand an der Küchentür und betrachtete Cathy, die Stirn leicht gerunzelt.
Langsam kam er auf sie zu. „Du hast richtig entrückt ausgesehen. Erzählst du mir, wovon du geträumt hast?“
Sie wurde rot und wandte sich hastig wieder ihrem Salat zu. „Von gar nichts. Ich … ich habe nur nachgedacht.“
Jetzt lehnte sich Tom mit der Schulter gegen die Wand neben dem Tisch und sah zu, wie Cathy Öl, Essig und eine Messerspitze Senf in eine Kristallflasche füllte, die Flasche verkorkte und schüttelte, um die Zutaten zu mischen. „Und woran hast du gedacht? Es muss dich traurig gemacht haben.“
„Ach nein.“ Sie versuchte, unbeschwert zu lächeln.
„Komm, Cathy“, befahl er leise und streckte die Arme aus.
„Bitte, Tom … Ich muss mich beeilen. Unsere Gäste werden gleich hier sein, ich bin noch nicht umgezogen, und …“
„Hast du über dem Träumen die Zeit vergessen?“, fragte er neckend.
„Ich habe nur zu spät angefangen.“
Tom richtete sich auf und zog sie an sich, bevor sie ihm ausweichen konnte.
„Bitte, Tom …“
„Ich habe gar nicht vor, dich zu verführen“, behauptete er leicht belustigt und sah sie aus hellbraunen Augen forschend an, als könnte er ihre geheimsten Gedanken lesen. „Ich möchte dich nur umarmen. Du hast ausgesehen, als könntest du Trost brauchen.“
Cathy zuckte zusammen.
Sofort wurde sein Blick noch durchdringender. „Sag mir, was nicht in Ordnung ist, Cathy“, verlangte er.
„Es ist nichts. Gar nichts.“ Trotzig presste sie die Lippen zusammen.
„Sei nicht kindisch, Cathy.“ Er zog sie ungeduldig noch dichter an sich.
Sie musste an eine Bemerkung denken, die sie einmal über ihren Mann gehört hatte: „Er setzt seinen Willen immer durch, mit Sanftmut oder mit Gewalt.“ Das sagten die Leute über Tom West, den achtunddreißigjährigen Regisseur mit dem stets zerzausten dunkelblonden Haar und dem draufgängerischen Wesen, das nicht nur die einundzwanzigjährige Cathy, sondern Dutzende anderer Frauen unwiderstehlich fanden.
Das Essen war ruhig und zufrieden stellend verlaufen. Schließlich räumte Cathy das Geschirr zusammen und stellte die Kaffeetassen aus hauchdünnem Wedgwood-Porzellan auf den Tisch. Tom schenkte den beiden Besuchern Portwein ein. Erst jetzt wandte man sich den Fragen zu, die bei diesem Essen geklärt werden sollten.
Es ging um den nächsten Film, bei dem Tom Regie führen wollte. Duncan Haines war der Leiter der Filmgesellschaft, die das Projekt finanzierte. Er war ein großer, sanfter, meist schläfrig dreinblickender Mann Mitte vierzig, der viel Erfahrung, Geschäftssinn und künstlerischen Sachverstand hatte. Tom hatte großes Vertrauen zu seinem Urteil. Die beiden waren seit vielen Jahren befreundet und hatten schon oft zusammengearbeitet.
Der zweite Gast war das genaue Gegenteil von Duncan. Peter Partridge war jung, schlank, dunkelhaarig und leidenschaftlich. Er war der Autor des Bestsellers, den Tom verfilmen wollte, und arbeitete mit ihm zusammen am Drehbuch. Cathy konnte sich gut vorstellen, dass die beiden es manchmal schwer miteinander hatten.
Während sie im Zimmer aufräumte, hörte sie der Unterhaltung zu.
„Uns fehlt immer noch eine Chloe“, sagte Peter gerade. „Die anderen Rollen sind gut besetzt. Es ist großartig, dass Brenda Bishop die weibliche Hauptrolle übernehmen wird. Sie hat dafür die richtige Ausstrahlung, außerdem ist sie eine erfahrene Schauspielerin.“
„Sie kann auch ziemlich schwierig sein“, erwiderte Duncan.
„Lass dich von ihren großen dunklen Augen und der zierlichen Figur nicht täuschen.“
Peter dachte eine Weile nach. Dann zuckte er die Schultern, als würde er das unwichtig finden. „Mit Chloe ist es viel schwieriger. Keine einzige Schauspielerin scheint die richtige Mischung aus … aus Schönheit, Rätselhaftigkeit und Verwundbarkeit zu besitzen. Es muss eine Frau sein, die man nie mehr vergisst, wenn man sie einmal gesehen hat.“
Tom und Duncan blickten sich an, während Peter Zucker in seinen Kaffee tat und heftig umrührte.
„Wir werden schon eine Chloe für dich finden, Peter“, meinte Duncan beruhigend. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, wie man mit leicht erregbaren Autoren umging.
„Aber sie ist wirklich wichtig für die Geschichte, Duncan, auch wenn man es nicht sofort merkt.“ Peter gestikulierte lebhaft. „Chloe mag keine große Rolle haben, aber sie verkörpert den Geist des Buchs. Sie taucht immer wieder unvermutet in Roberts Leben auf, ohne dass er sie jemals fassen kann. Und sie ist jedes Mal anders: fröhlich, verletzlich, sinnlich, traurig … Ihr Einfluss auf Robert ist ein Angelpunkt der Geschichte.“
„Das wissen wir doch, Peter“, erwiderte Tom ruhig. Sein Blick fiel auf das Fenster. „Cathy, dein bester Freund möchte dich besuchen.“
Cathy, die vor der Anrichte stand und Silber einräumte, sah über die Schulter. „Der beste vielleicht nicht“, widersprach sie belustigt, „aber bestimmt der hartnäckigste.“
„Lass ihn herein und füttere ihn.“
„Das klingt, als sei er ein Hund!“, entgegnete sie empört und ging zum Fenster.
„Manchmal benimmt er sich auch so. Hallo, William.“ Cathy hatte dem kleinen Jungen geholfen, über das Fensterbrett hereinzuklettern. „Komm her, damit ich dich vorstellen kann. Das, meine Herren, ist William Casey. Er wohnt im Nachbarhaus bei seinen Großeltern und verbringt seine Tage damit, ihnen aus dem Weg zu gehen. Setz dich doch, William. Wir haben bestimmt noch etwas zu essen für dich. Ich weiß gar nicht, warum wir dich nicht auch eingeladen haben.“
„Danke, Mr. West.“ William, ein siebenjähriger, schmächtiger Junge, setzte sich unbefangen zu ihnen. „Ich habe schon gegessen. Und mir die Hände gewaschen. Sehen Sie?“ Er streckte beide Hände aus.
„Wunderbar. Du machst Fortschritte. Aber wenn du schon gegessen hast …“
„Kein Nachtisch“, erklärte William kurz angebunden. „Oma hält nichts davon. Sie gibt mir höchstens mal einen Apfel. Und Cathy macht spitzenmäßigen Nachtisch.“
„Das stimmt“, bestätigte Duncan ernsthaft. „Cathy kocht überhaupt fantastisch.“ Als sie eine Schüssel Eis mit Früchten vor William auf den Tisch stellte, legte Duncan Cathy eine Hand auf den Arm. „Danke für das wunderbare Essen, meine Liebe. Wollen Sie sich jetzt nicht zu uns setzen und sich ein wenig mit uns unterhalten? Nach all der Arbeit haben Sie eine Pause verdient. Lassen Sie doch Tom abwaschen!“, fügte er boshaft hinzu.
„Ich …“
„Setz dich sofort hin, Cathy“, befahl Tom spöttisch. „Sonst heißt es gleich, dass ich meine Frau schamlos ausnutze. Möchtest du auch ein Glas Portwein? Ich habe vergessen, dir eines anzubieten.“
„Nein, danke.“
Cathy zog sich einen Stuhl heran, setzte sich neben William und erklärte ernst: „Diesmal machen wir eine Ausnahme, William. Deine Oma hat nämlich Recht: Zu viel Nachtisch schadet dir nur.“
„Mit anderen Worten: Wir wollen dich nicht verderben, sondern nur … verwöhnen“, mischte Tom sich ein.
Duncan und Peter grinsten.
Cathy dagegen sah ihren Mann vorwurfsvoll an. „Ich glaube, er versteht dich oft gar nicht, Tom. Zum Glück.“
„Glaubst du?“ Tom betrachtete sie eine Weile schweigend: das lange blonde, lockige Haar, die etwas dunkleren Augenbrauen, die leuchtenden dunkelblauen Augen, den weichen Mund, das leichte, ärmellose Kleid mit Gürtel, das sie in letzter Sekunde noch angezogen hatte, und die glatte, leicht gebräunte Haut ihrer Arme. „Wollen wir wetten? – William, ich schlage vor, dass wir uns heute Nachmittag um vier Uhr im Interesse der Körpertüchtigkeit gemeinsam diesem alten barbarischen Ritual unterziehen, das an einer ebenso barbarischen Schule erfunden worden ist. Was hältst du davon?“
„Mann, Klasse! Ich wollte auch schon fragen, ob wir heute Rugby spielen können.“
Die anderen lachten. Tom warf Cathy einen Blick zu, als wollte er sagen: „Siehst du wohl?“
„Das war einfach“, behauptete sie. „Du spielst fast jeden Tag Rugby mit ihm.“
„Ich glaube, ihr zwei braucht endlich eigene Kinder.“ Duncan lächelte sie an. „Worauf wartet ihr noch?“
Über Cathys Gesicht huschte ein Schatten. Sie sah ihrem Mann in die Augen und gleich wieder fort.
Nach kurzem, ungemütlichem Schweigen antwortete Tom: „Dafür haben wir immer noch Zeit, Duncan.“
In diesem Moment fuhr Peter Partridge, der Cathy seit einigen Minuten wie gebannt angeschaut hatte, so heftig zusammen, dass er seine Kaffeetasse umstieß. Ohne darauf zu achten, sprang er mit offenem Mund auf und stieß hervor: „Das ist sie! Wie konnte ich nur so blind sein? Chloe!“
Cathy kam gar nicht auf den Gedanken, dass er sie meinen könnte. Hastig stand sie auf und holte eine Serviette, um den verschütteten Kaffee aufzuwischen.
„Nein.“ Toms Stimme klang hart und entschieden.
„Aber … aber …“ Vor Aufregung fing Peter an zu stottern. „Sie ist vollkommen! Genauso, wie ich euch Chloe beschrieben habe! Schaut sie euch doch mal richtig an. Wie verletzlich, geheimnisvoll …“
„Peter“, unterbrach Duncan ihn warnend.
Cathy vergaß den verschütteten Kaffee, richtete sich auf und sah erst ihre beiden Gäste und danach Tom an. „Was … meint er etwa mich?“
„Wen sonst?“, antwortete Tom kurz.
„Aber …“
„Haben Sie nicht sogar Bühnenerfahrung, Cathy?“ Peter war nicht zu bremsen. Seine dunklen Augen leuchteten. „Habt ihr beide euch nicht bei einer Probe kennen gelernt? Tom!“ Er sah seinen Gastgeber eindringlich an.
„Setz dich, Peter“, Tom wirkte wieder völlig gelassen. „Ja, das stimmt. Es war eine geradezu klassische Begegnung zwischen Regisseur und Schauspielerin.“ Fast unhörbar setzte er hinzu: „Was ich mir bis heute nicht verzeihen kann.“ Cathy wurde rot. „Aber das war bei einer Theaterprobe. Cathy hat noch nie gefilmt …“
„Doch.“ Alle, selbst William, sahen sie an.
„Schön. Du hast einen Werbespot fürs Fernsehen gedreht.“
„Das ist auch Filmarbeit.“
„Nur weil du einmal für Shampoo geworben hast, heißt das noch lange nicht, dass du Peters geheimnisvolle Fremde spielen könntest.“ Toms Blick wurde drohend. „Und bevor wir weiter darüber sprechen: Es bringt fast immer Ärger, wenn Mann und Frau einen Film zusammen drehen.“
„Damit käme ich schon zurecht“, behauptete sie ruhig. „Ich könnte eine neue Aufgabe gebrauchen. Aber ihr redet besser ohne mich weiter. Komm, William. Du kannst mir beim Abwaschen helfen. Als Gegenleistung für den Nachtisch.“
Zwei Stunden später beobachtete Cathy vom Schlafzimmerfenster aus, wie Duncan und Peter abfuhren, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Sie war nach dem Abwaschen mit William spazieren gegangen, und vielleicht hatten ihre Gäste gedacht, sie sei noch nicht wieder zurück. Oder war es ihnen aus irgendeinem Grund peinlich, ihr zu begegnen?
Cathy seufzte und spielte geistesabwesend mit dem langen blauen Samtvorhang. Das Schlafzimmer war ganz im altenglischen Stil eingerichtet: mit schweren Vorhängen, geschmackvollen Möbeln aus Mahagoni, blau-weiß gemusterter Tapete, samtbezogenen Mahagonistühlen vor dem Kamin und einem breiten Himmelbett. In der ersten Nacht, die sie hier verbracht hatten, hatte Tom gesagt: „Man könnte glauben, dass der Raum extra für dich eingerichtet worden ist. Er hat die Farben deiner Augen …“
Sie dachte an den Tag zurück, an dem Tom sie das erste Mal wirklich bemerkt hatte. An diesem Auftritt, den er sich bis heute nicht vergeben hatte. Warum? Weil er sie damit in Verlegenheit gebracht hatte? Oder tat es ihm Leid, dass es überhaupt geschehen war?
Mit neunzehn hatte Cathy Kerris sich um einen Platz in der Schauspielschule einer berühmten Kunstakademie beworben und ihn zu ihrer Überraschung auch erhalten, weil sie angeblich für komische Rollen begabt war. An dieser Schule hielt Tom West, der bekannte Regisseur, ein Seminar, in dem er die Studenten unter seiner Leitung ein Stück einstudieren ließ. Seine Schüler waren ausnahmslos begeistert. Insgeheim hoffte wohl jeder, von dem berühmten Mann „entdeckt“ zu werden.
Cathy musste eine Liebesszene spielen, in der sie und der Hauptdarsteller sich leidenschaftlich küssten. Doch sie war der Aufgabe trotz gutem Aussehen und Begabung nicht gewachsen.
„Halt!“ Tom West kam quer über die Bühne auf sie zu. „Sind Sie denn noch nie geküsst worden?“ Er betrachtete zuerst ihr Gesicht, dann ihre Figur.
„Nicht … richtig“, brachte sie verlegen hervor. Die anderen lachten.
„Kaum zu glauben. Allein diese Augen … Wo haben Sie sich die ganzen Jahre versteckt?“
Sie gab keine Antwort, sondern blickte ihn nur wie gebannt an.
Schließlich zuckte er ungeduldig die Schultern und bemerkte trocken: „Nun, im Interesse Ihrer Karriere sollten Sie sich beeilen, etwas Erfahrung zu sammeln.“ Er lächelte spöttisch. „So wird’s gemacht.“
Es war ein Kuss, von dem an der Akademie noch lange gesprochen wurde. Alle Studenten auf der Bühne und im Zuschauerraum sahen atemlos zu, während Tom Cathy in die Arme zog, sie an sich presste und küsste, bis sie willig die Lippen unter seinem Mund öffnete. Mit einer Hand strich er ihr den Nacken hinauf und zerwühlte ihr das Haar.
Später fragte sich Cathy oft, wie dieser Kuss sie trotz ihrer Verlegenheit und Verwirrung so erregen konnte. Sie hatte sich gleich zu Beginn des Seminars zu diesem hoch gewachsenen, weltgewandten Mann hingezogen gefühlt. Doch weil Welten sie trennten, hatte sie das nicht einmal sich selbst eingestanden. Als er sich auf der Bühne löste und sie auf Armeslänge von sich schob, blickte sie betäubt, erstaunt und überwältigt zu ihm auf.
Und alle merkten es. Tom runzelte leicht die Stirn, während die Studenten verlegen zur Seite blickten und von einem Fuß auf den anderen traten. Im nächsten Moment ließ Tom sie los und beendete schlagartig die Probe. Cathy, die nur langsam wieder zu sich kam, verließ stolpernd die Bühne. Sie fragte sich, wie sie jemals den Mut aufbringen sollte, ihm und den anderen Studenten noch einmal gegenüberzutreten.
Zum Glück ließen die anderen sie allein. Sie packte ihre Sachen zusammen und verließ das Gebäude. Es war ein dunkler, regnerischer Winternachmittag.
Als sie den Bürgersteig entlangeilte, hielt ein eleganter grüner Wagen neben ihr. Der Fahrer lehnte sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf. Es war Tom West.
„Cathy? Steigen Sie ein.“
Sie bückte sich, um sein Gesicht zu erkennen, und suchte vergeblich nach einer passenden Antwort.
„Ich möchte Sie zu einem Kaffee oder etwas anderem einladen und mich bei Ihnen entschuldigen.“
Tom führte Cathy in eine warme, dämmrige Bar. Cathy legte ihren Mantel und den langen Schal ab, ließ sich zu einem Brandy mit Soda überreden und betrachtete Tom mit klopfendem Herzen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Toms Haar war feucht und zerzaust, und auf seinem Tweedjackett lagen noch einzelne Regentropfen. Er hatte die langen Beine neben dem Tischchen ausgestreckt, den Blick gesenkt und spielte gedankenverloren mit seinem Glas.
Es hat alles keinen Sinn, dachte sie niedergeschlagen. Schließlich lagen Welten zwischen ihnen. Er hatte sie aus reiner Freundlichkeit eingeladen, nicht weil er sich für sie interessierte.
Tom hob den Kopf und bemerkte, dass sie ihn beobachtete. „Ich wüsste zu gern, was in Ihrem hübschen Köpfchen gerade vorgeht, kleine Cathy. Es tut mir Leid, dass ich Sie vorhin so überrumpelt habe. Hoffentlich finden Sie es nicht zu peinlich, weiterhin am Seminar teilzunehmen. Bei der nächsten Probe wird niemand mehr daran denken.“
Einen Moment sah er sie prüfend an. „Möglich. Jedenfalls noch nicht. Wie kommt es …“ Sein Blick wurde noch durchdringender. „Sie sind anders als die meisten Schauspielschülerinnen.“
„In komischen Szenen bin ich besser. Ich wollte versuchen, meine Fähigkeiten zu erweitern. Vielleicht war das falsch. Ich finde es schwierig …“ Verlegen verstummte sie.
„Es fällt Ihnen schwer, einen Fremden auf Befehl leidenschaftlich zu küssen?“ Es klang belustigt. „Das könnte an Ihrer Erziehung liegen. Wie sind Sie aufgewachsen?“
Eine halbe Stunde später hatte Cathy ihm ihre ganze Lebensgeschichte erzählt: vom Tod ihrer Eltern, als sie gerade vier Jahre alt war, von der Großmutter, einer befehlsgewohnten Dame Mitte sechzig, die sie bei sich aufgenommen hatte und die inzwischen auch gestorben war, und von dem teuren Internat.
„Mich wundert, dass Sie es überhaupt bis zur Schauspielschule geschafft haben“, bemerkte Tom West dazu.
„Mein Vater soll ein sehr hartnäckiger Mann gewesen sein. Vielleicht gerate ich ihm nach.“
„Aber warum haben Sie sich fürs Theater entschieden? Wollten Sie endlich den beengenden Verhältnissen entkommen?“
„Dann glauben Sie also nicht, dass ich begabt bin?“
„Das wollte ich damit nicht sagen. Schließlich haben Sie eben erst angefangen. Und wenn Sie gar kein Talent hätten, wären Sie niemals auf der Akademie angenommen worden.“ Er lehnte sich zurück, neigte den Kopf zur Seite und musterte sie neugierig. „Was machen Sie noch, außer zur Schauspielschule zu gehen?“
„Ach, alles Mögliche“, erwiderte Cathy unbestimmt.
„Leben Sie allein?“
„Ja. Ich habe etwas Geld geerbt, so dass ich mir eine eigene Wohnung leisten kann.“
„Fühlen Sie sich nie einsam?“
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. „Manchmal. Aber daran gewöhnt man sich. Und ich unternehme wirklich viel. Ich mache bei einem Kochkurs mit, arbeite für die Kirchengemeinde oder treffe mich mit Freundinnen. Sie brauchen kein Mitleid mit mir zu haben“, erklärte sie würdevoll.
„Ich verstehe.“ Doch es klang nachdenklich. Kurz danach fuhr er sie nach Hause. Unterwegs sagte er: „Hoffentlich haben Sie mir vergeben. Sie sollten die Rolle mit jemand tauschen.“
Sie versteifte sich.
„Bitte, Cathy“, fuhr er ruhig fort. „Ich werde es so einrichten, dass es für Sie nicht peinlich ist. Nicht noch peinlicher“, fügte er seltsam grimmig hinzu. „Es ist wirklich besser so. Besonders für Sie.“
„Also gut.“
Tom hielt Wort. Die Umbesetzung klappte reibungslos. Cathy musste jetzt eine alte Frau spielen, was ihr viel besser lag. Tom West behandelte sie bei den Proben genau wie zuvor, als hätte es jenen Kuss nie gegeben. Keiner der anderen Studenten sprach sie jemals darauf an.
Etwa zwei Wochen später begegneten sie sich zufällig in einer belebten Einkaufsstraße. Es war nach Feierabend, und auf dem Bürgersteig drängten sich Menschen, die es eilig hatten. Tom West stieß so heftig mit Cathy zusammen, dass sie fast hinfiel und einen Moment keine Luft mehr bekam. Der Inhalt ihrer Handtasche wurde über den ganzen Bürgersteig verstreut. Tom bestand darauf, Cathy dafür zu entschädigen. Er ging mit ihr in dieselbe Bar wie beim ersten Mal. Cathy entdeckte, dass sie auch diesmal ganz freimütig mit Tom reden konnte. Er erzählte ihr, dass der Film seine eigentliche Leidenschaft sei und er nur gelegentlich am Theater arbeitete, um nicht aus der Übung zu kommen. Kurz darauf bekam Cathy eine Erkältung, so dass sie eine Probe verpasste. Bei der nächsten sah sie noch immer recht blass und mitgenommen aus. Als sie hinterher das Gebäude verließ, wartete Tom in seinem Wagen auf sie. Er behauptete, sie schaue aus, als könne sie eine gute Mahlzeit vertragen, und schlug ihr vor, essen zu gehen.
Er führte sie in ein elegantes Restaurant mit ausgezeichneter Küche und einer ruhigen Atmosphäre. Nach dem Essen betrachtete er ihr Gesicht, das jetzt tatsächlich etwas mehr Farbe bekommen hatte. „Ich hatte Recht. Haben Sie denn niemand, der sich um Sie kümmert?“
„Nicht einmal eine böse Stiefmutter wie Aschenputtel“, erwiderte sie lächelnd. „Aber Sie brauchen sich um mich keine Sorgen zu machen.“
„Aus irgendeinem Grund tue ich es trotzdem.“ Unvermittelt wechselte er das Thema und fuhr sie bald darauf zu ihrer Wohnung.
Diesmal nahm Cathy all ihren Mut zusammen und lud ihn ein, noch eine Tasse Kaffee bei ihr zu trinken. Zu ihrer Überraschung nahm er an. Ihre Wohnung, die sie mit den gut erhaltenen Möbeln, Bildern und Teppichen ihrer Großmutter eingerichtet hatte, schien ihn zu beeindrucken. Später fragte Cathy sich manchmal, ob er sie wegen dieser Wohnung für reifer gehalten hatte, als sie war.
Jedenfalls sahen sie sich nach diesem Abend öfter. Von Zeit zu Zeit rief Tom bei ihr an und lud sie zum Essen, ins Kino oder zu einem Konzert ein. Er hörte damit auch nicht auf, nachdem die Studenten das Stück aufgeführt hatten und sein Seminar an der Schauspielschule beendet war. Doch es dauerte vier Monate, bis er Cathy zum zweiten Mal küsste.
Cathy hatte ihn zum Abendessen eingeladen. Sie wusste inzwischen, dass sie ihn liebte, wollte es ihm jedoch nicht zeigen, weil sie sicher war, dass er dann ihre Beziehung umgehend beenden würde. Als sie nach der Mahlzeit aufstand, um den Kaffee aus der Küche zu holen, stolperte sie und wäre fast gestürzt. Tom sprang auf und fing sie auf.
Einen Augenblick lang schien die Welt stillzustehen, während Cathy schnell atmend und mit leicht geöffnetem Mund zu ihm aufsah. Ihr Entschluss, ihm ihre Gefühle nicht zu zeigen, war vergessen.
Tom erwiderte ihren leidenschaftlichen Blick. Dann schloss er kurz die Augen, sagte leise: „Oh verdammt!“, zog sie eng an sich und küsste sie.
Anschließend schob er sie energisch von sich. „Das dürfen wir nicht noch einmal tun, Cathy.“
„Nein“, flüsterte sie. „Ich weiß.“
„Was weißt du?“
„Dass … Es bedeutet dir nicht das Gleiche wie mir.“
Er hob die Augenbrauen. „Ich finde es sehr angenehm, dich zu küssen.“
„Nur, weil … es macht dir einfach Spaß, mir etwas beizubringen. Es geht dir dabei nicht wirklich um mich. Verstehst du, was ich meine?“