Weißer See - Thomas Brandsdörfer - E-Book

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Thomas Brandsdörfer

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Beschreibung

Ein Architekt bekommt den Auftrag, die Ruine eines Herrenhauses wieder zum Leben zu erwecken – er muss sie restaurieren/rekonstruieren. Er taucht ein mit seinem Verstand und seinen Emotionen in jede Einzelheit, die er in der Ruine findet. Von den gefundenen Spuren rekonstruiert er, in seiner Vorstellung zuerst, das vergangene Leben und die Würde dieser Gebäude. Während dieser Arbeit entdeckt er auch Spuren eines menschlichen Schicksals: das der Leonora Hoffmann, erkrankt an Demenz Typ Alzheimer. Die anfängliche Neugierde, etwas über dieses Schicksal zu erfahren, wird schnell zur Leidenschaft des Architekten. Ja, die Re-konstruktion des tragischen Lebens von Leonora wird, neben der Restaurierung des Gebäudes, seine zweite, freiwillige, Aufgabe – eigentlich wird sie zu seiner Hauptaufgabe.

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Vorwort und Widmung

In einem in Rumänisch verfassten Essay mit dem Titel Zeit, Gewässer und Blicke (Anschauungen)1 habe ich einen Vergleich zwischen Gewässern und verschiedenen Altern des Menschen gewagt. Demzufolge:

➢ Dem

Bach

entspricht die erste

Kindheit

– beide sind

bukolisch

(dazu spielen sie sorglos und ohne Halt).

➢ Der

Fluss

ähnelt der

Jugend

– beide haben eine

romantischheroische

Note (sie kämpfen, setzen sich durch!).

➢ Der

Strom

kann die

Reife

symbolisieren – beide haben etwas

Mythologisches

(sie haben alles erreicht, was zu erreichen ist, sie kämpfen nicht mehr, sondern genießen den Sieg; Strom und reifer Mann bedeuten die Zeit des Gebens von Wissen und Leben; beide sind Väter

par excellence

).

➢ Das

Meer

kann die

fortgeschrittene Reife und das Alter

sein – beide sind

apollinisch

(sie genügen sich selbst, lassen sich kaum beeinflussen; der Mensch im Meerwasser-Alter ist oft ein Weiser, der wie ein Leuchtturm seinen Mitmenschen Orientierung gibt und Horizonte zeichnet).

➢ Der

See

hat Eigenschaften, die sehr ähnlich mit dem

fortgeschrittenen Alter

sind – beide haben einen

siderischen Zustand

(See und sehr alte Menschen entfernen sich von der Welt und blicken stets nach oben zu einem anderen Stern; Gaston Bachelard sagte: der See ist ein

riesiges und ruhiges Auge

; und Paul Claudel bemerkte: der See ist

der Apparat der Erde, um die Zeit zu betrachten

; besonders die Menschen im Seewasser-Alter, erschöpft, vergessen alles, was sie wissen und verstehen könnten und schweben schon in einer anderen Welt, einer guten und einfachen Welt, aber einer

eigenen

Welt!).

Gewöhnlich nennt man diesen Zustand „Krankheit“ – Demenz Typ Alzheimer. Ich nenne es Segen und Gnade.

Ich widme dieses Buch allen Menschen, die in diesem Alter sind oder demnächst sein werden. Das Seewasser-Alter…

1 Siehe das Buch Plimbări printre idei şi emoţii 2013-2014 erschienen in Rumänisch bei BoD, 2015 und signiert mit dem Pseudonym Vladimir Brânduş.

Inhaltverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

KAPITEL I

Als ich an einem sonnigen Morgen des Monats Juni mein Büro betrat, rief sofort die Vorstandssekretärin unserer Firma an. Sie sagte mir, ich müsse bei dem „großen“ Chef vorstellig werden. Der „große“ Chef bedeutete in unserer Architekturfirma Herr Vos Senior, im Gegensatz zu den anderen zwei Chefs, auch namens Vos, seinen Söhnen und zukünftigen Erben der Firma.

Zu Herrn Vos Senior gerufen zu werden war für jeden Firmenangestellten äußerst ungewöhnlich, denn so etwas passierte sehr selten, in der Regel nur bei der Unterschrift des Arbeitsvertrages oder bei der Kündigung. Herr Vos war eine Art Patriarch. Er beschäftigte sich nur mit den wichtigeren Problemen der Firma, das restliche alltägliche Geschehen überließ er seinen Söhnen: Herbert, Architekt, und Erwin, Betriebswirt. Für uns, die ca. zwanzig Angestellten, auch wenn wir studierte Architekten waren und mehr noch für die weniger qualifizierten, waren die Referenzpersonen, die wahren Chefs nur die Söhne von Herrn Vos – beide genug arrogant und streng. Wirklich, der „große“ Chef schwebte hoch im Himmel.

Sicher war ich aufgeregt, den ehrwürdigen Chef zu treffen. Eine Art Sorge, ja, sogar Bange erfasste mich. „Nicht dass ich etwa die Kündigung bekomme?“ Gar nicht unmöglich, denn ich fühlte schon lange Zeit, dass ich irgendwie „auf die tote Linie“ geschoben war. In den sechs Jahren, die ich in diesem Büro als Architekt arbeitete, hat man mir kein ganzen Projekt anvertraut. Diese ganze Zeit musste ich für andere Kollegen, Projektleiter, allerlei Nichtigkeiten konzipieren und zeichnen: Treppen, Türen, kleine Anbauten, Häuschen für Pförtner oder banale Garagen. Ja, wenn tatsächlich von der Kündigung die Rede ist, werde ich Herrn Vos Senior bitten, mir noch eine Chance zu geben und ein ganzes Projekt zu übertragen. Ich will endlich zeigen, was ich mit meinen achtunddreißig Jahren kann und wofür ich so lange Zeit Architektur studiert habe.

Als ich den eleganten Raum von Herrn Vos betrat, bemerkte ich gleich, der „große“ Chef ist gut gelaunt, sogar fröhlich und nett zu mir. Als er bei der Sekretärin zwei – zwei! – Kaffees bestellte, habe ich mich endgültig beruhigt. „Ich glaube kaum, dass über eine Kündigung die Rede ist“, habe ich mir Mut gemacht. Unklar blieb aber, zu welchem Zweck er mich bestellt hat. Die Antwort kam unverzüglich:

„Lieber Kollege, du bist bei uns seit… fünf Jahren und…“

„Es sind schon sechs, Herr Vos“

„So! Genau! Sechs Jahre“, hat Vos sich selbst berichtigt, als er durch meine Papiere blätterte. „Ich sehe, während deines Studiums hast du in dem Fach Kunstgeschichte sehr gute Noten gehabt. Allerdings erinnere ich mich an eine Diskussion über dieses Thema, das wir damals bei deiner Einstellung hatten. Sehr interessantes Gespräch! Erinnerst du dich?“

„Selbstverständlich. Wie könnte ich es vergessen.“

„Ja. Ich war beeindruckt von diesem Gespräch. Es gibt Architekturprojekte die, mehr als gewöhnlich, kunstgeschichtliche und stilistische Kenntnisse und auch erhöhte Sensibilität besonders für die Kunst verlangen. Du weißt es gut, nicht wahr?“

„Sicher.“

„Meiner Meinung nach“, setzte er fort, „sind solche Projekte die interessantesten in der Architektur“. Er schloss mein Dossier mit den Personalien und legte es beiseite, öffnete einen anderen Ordner. Diesen durchblätternd, sagte er: „Keine lange Rede. Deine Stunde ist gekommen! Hier ist ein neues Projekt, sehr wichtig für unsere Firma. Ein Projekt, das gerade viel künstlerische Sensibilität verlangt. Ich bin der Ansicht, du bist der richtige Mann, um dieses Projekt durchzuführen.“ Er gab mir den Ordner.

Meine Freude war grenzenlos.

„Herr Vos, Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass Sie mir so viel Vertrauen schenken! Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht enttäuschen. Ich werde arbeiten…“

„Lass das, Kollege! Ich weiß, du schaffst es. Ich weiß, du wirst eine sehr gute Sache machen. Bevor du den Ordner studierst, erlaube mir einiges über dieses Gebäude zu sagen: Das Haus, das du auf den Fotos in den ersten Seiten siehst, war der Landsitz einer Grafenfamilie. Es wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ungefähr 1860 oder 70 – siehe genau in den Akten – erbaut. Etwa 1938 verarmten die Grafen und, um Steuerschulden begleichen zu können, wurden sie gezwungen das Haus dem Staat zu übertragen. Während des Krieges war dort ein Militärhospital. Nach dem Krieg war das Haus bis 1955 unbewohnt, was seinen technischen Zustand sehr verschlechtert hat. Ab 1955 wurde das Haus an eine private Stiftung für soziale Pflege verpachtet. Diese hat da ein Altenheim eingerichtet. Wegen finanzieller Schwierigkeiten hat die Stiftung vor zwanzig Jahren das Altenheim geschlossen. Nach ein paar Jahren Unentschlossenheit, was mit dem Gebäude zu machen sei, hat die Stiftung endgültig aufgegeben. So ist der Landsitz wieder in die Obhut des Staates gekommen. Aber diese ‚Obhut‘ bedeutete eher eine unverzeihliche Nachlässigkeit seitens des Staates, was noch einmal den Zustand des Gebäudes verschlechterte. So wie du auf den Fotos sehen kannst, ist das Gebäude jetzt eher eine Ruine. Endlich hat sich ein reicher Investor gefunden, der die Ruine für einen lächerlichen Preis kaufte. Er ist aber willig, im großen Stil zu investieren, um ein Luxushotel zu errichten.“

„Interessante Geschichte.“

„Interessant, aber vor allem traurig für das Haus“, ergänzte Vos. „Ein Gebäude, das insgesamt mehr als dreißig Jahre leer, unbenutzt, unbeheizt und ungepflegt gestanden hat! Ich bitte dich, keine Sekunde die Tatsache zu vergessen, dass so hinfällig wie es ist, dieses Gebäude ein Kunstwerk in reinstem klassischem Stil darstellt. Noch mehr: Der Graf, der dieses Haus gebaut hat, war anscheinend ein Kenner und Liebhaber der Kunst, denn auf den Innenwänden sind noch Reste von Malereien von großer Qualität zu sehen. Eben diese Malereien, wie auch die Stuckreste und die Skulpturen, müssen restauriert und, bei Bedarf, sogar ergänzt und erweitert werden. Für dieses Projekt steht viel Geld zur Verfügung… sehr viel Geld! Hauptsache es gelingt, wie es gedacht ist. Das hängt nur von dir ab: Wie du arbeitest, was für Firmen, was für Künstler und Handwerker du anstellst. Ich bitte dich, auch auf die Statik gut aufzupassen! Es scheint, da sind große Probleme. Selbstverständlich sind die Wünsche des Investors in dem Ordner, den ich dir gegeben habe, detailliert aufgelistet. Es sind nicht wenige und nicht einfache: Er will einen Konferenzsaal, ein bedecktes Schwimmbad, eine Sauna, ein Restaurant mit großer Küche etc. etc. Möglicherweise sollst du auch einen Anbau planen. Aber sein größter und wichtigster Wunsch ist die Stilreinheit des ganzen Ensembles. Ab diesem Moment bist du von jeglicher anderer Arbeit entbunden und beschäftigst dich ausschließlich mit diesem Projekt. Schon morgen fährst du zum Rathaus des kleinen Städtchens Burg am See und nimmst mit einem gewissem Mayer Kontakt auf. Er wird dich zu dem Gebäude führen. Jeden Montagmorgen hast du mich – mich persönlich und niemanden anderen! – über den Lauf der Dinge zu informieren. Mich interessiert dieses Projekt besonders. Ist das klar? Ist alles klar?“

„Ja, Herr Vos. Alles ist klar.“

„Gut! Dann wünsche ich dir viel Glück!“

„Ich danke Ihnen.“

Als ich das Büro des „großen“ Chefs verließ, wäre ich fast mit seinem ältesten Sohn, dem Herrn Architekt Herbert Vos, der gerade reinkommen wollte, zusammengestoßen.

„Oh, entschuldigen Sie“, sagte ich.

„Guten Morgen! Welche Ehre, einen neuen Projektchef zu treffen“, sagte dieser mit deutlicher Ironie und betrat das Zimmer seines Vaters.

Wahrscheinlich wegen meiner Freude habe ich dem spöttischen und boshaften Ton des Juniorchefs kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe nicht verstanden, ich konnte damals nicht verstehen, dass dieser unfreundliche Ton eine Warnung bedeutete, und zwar, dass ich mich mit dem Projekt, das mir anvertraut wurde, auf einem verminten Terrain bewegte. Ein sehr gefährliches Terrain. Ganz einfach, ich war zu glücklich und ungeduldig, die Arbeit zu beginnen.

***

Ausgerüstet mit einem Fotoapparat, einem Heft für Skizzen und einem Entfernungsmesser mit Laser habe ich mich den Tag danach zu dem alten Landsitz auf den Weg gemacht. Nur ein paar Minuten nach der Autobahnausfahrt bin ich in dem malerischen Städtchen Burg am See angekommen. Im Rathaus fand ich den Herrn Mayer, einen sympathischen Mann um die sechzig Jahre alt. Dieser hat mir die Schlüssel des Tores der Anlage und noch zwei von der Haustür und dem Keller übergeben. Er sagte, mehr Schlüssel gäbe es nicht, denn fast alle Türen seien kaputt oder sogar aus den Rahmen entfernt worden, ganz einfach von der Zeit zerstört. Mayer fügte hinzu, er sei beauftragt, mich am ersten Tag zu begleiten, um mir den Weg dorthin und das alte Gebäude in allen Einzelheiten zu zeigen. Er stieg in meinen Wagen und wir fuhren los. Mein Begleiter war sehr gesprächig. Sofort hat er angefangen:

„Eh, mein Herr, ich weiß nicht, ob Sie diese Region kennen…“

„Nein. Nicht so gut. Ich glaube, ich war hier nur ein einziges Mal, aber viele Jahre ist das her.“

„Schauen Sie! Sehen Sie, wie schön es hier ist?“

Tatsächlich, die Landschaft war schön. Wir fuhren an einem See entlang, auf der linken Seite die Ufer mit grünen Wiesen und kleinen Buchten, auf der rechten, nicht sehr weit, erhoben sich ziemlich hohe, bewaldete Hügel.

„Eh, mein Herr“, fuhr Mayer fort, „ich bin in dieser Gegend geboren. Hier ist meine Heimat. Hier bin ich zuhause. Nicht 'mal tot würde ich diese Umgebung verlassen. Ich bin stolz und glücklich, dass ich das ganze Leben hier gewohnt habe. Als ich ein Knabe war, fuhr ich mit einer Clique Jungs in einem Boot draußen auf den See. Aber wir entfernten uns nie sehr weit vom Ufer – wir hatten sogar Angst, so etwas zu machen! Dieser See ist gefährlich! Hat Wasserwirbel und sehr oft Nebel. Nebel, dass man nichts mehr sieht. Deswegen wird er Weißer See genannt. Man erzählt, viele haben in den Tiefen des Weißen Sees ihr Ende gefunden. So ruhig, wie Sie ihn sehen… dieser See ist sehr trügerisch.“

„Und das Herrenhaus, wo wir hinfahren, ist am Ufer?“

„Sicher, mein Herr! Wieso denn nicht? Der alte Graf wusste wohl, wo er seine Residenz baute. Was für ein schönes Haus muss es gewesen sein! Damals… damals, mein Herr! Ich habe es nicht mehr in seiner vollen Schönheit erlebt. Ich bin zu spät geboren. Aber ich kenne das Haus! Ich kenne es sehr gut. Als ich jung war, am Anfang der 70-iger Jahre, habe ich in der Verwaltung des Altenheims gearbeitet. Nach zweieinhalb Jahren hat man mich im Rathaus eingestellt. Besser so.“

„Richtig“, sagte ich, „Sie haben jetzt einen sicheren Arbeitsplatz. Wenn Sie bei dem Altenheim geblieben wären, würden Sie arbeitslos geworden sein.“

„So ist es. Auf der einen Seite…ist es besser deswegen…“

„Und auf der anderen Seite? Warum ist es besser, nicht mehr im Heim gearbeitet zu haben?“

„Traurigkeit, große Tragödie im Altenheim.“

„Wie? In welchem Sinne?“

„‚In welchem Sinne… In welchem Sinne…‘ Herr, man sieht, Sie haben nie ein Altenheim gekannt.“

„Ich gebe zu: ich habe es nicht gekannt.“

„Bleiben Sie zwei Wochen in einem Altenheim, so werden Sie bis in die Tiefen Ihrer Seele spüren, dass eine solche Anstalt ein Vorzimmer des Todes ist. Traurig und gespenstisch zu sehen, wie diese Menschen, ehemals begehrt, geschätzt und nützlich – jeder Mensch hat eine Nützlichkeit, nützt jemandem –, im Heim sitzen ohne etwas zu tun, ohne etwas tun zu können, unerwünscht, oft auch ungeliebt… Unnütz, sitzen und warten… warten aufs Sterben. Ich habe mit eigenen Augen gesehen: In dem Heim, wo wir jetzt hinfahren, kamen die Patienten entweder mit einer Ambulanz, oder von einem Verwandten gebracht, je nachdem; aber alle gingen raus immer gleich: liegend, zwischen vier Brettern. Immer! Von dort geht man nie lebendig weg. Das hat mich in den Jahren, in welchen ich dort arbeitete, sehr deprimiert. Deswegen ist es besser, dass ich im Rathaus angestellt wurde. So sind wir in dieser Umgebung: Menschen mit gutem Herzen.“

Mayer sprach ununterbrochen weiter, erzählte über die Region, über seine Kindheit und Jugendzeit, über den Weißen See und über eine Legende, die besagte, der See wäre ein Drachen gewesen, der durch einen Fluch in Wasser verwandelt worden sei. Entsprechend derselben Legende nimmt dieser Drache von Zeit zu Zeit Rache, indem er unschuldige Menschen ertränkt. Mayer sagte auch, dass man in der Umgebung davon spricht, die Blinden, besonders die Blinden fühlten sich von dem mysteriösen See angezogen, und ohne jeglichen Widerstand tauchten sie in die Tiefe, ihr Leben verlierend. Ich hörte die Geschichten meines Begleiters, ohne ihnen zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie waren eigentlich unbedeutend, abergläubische Provinzfolklore! Meine Gedanken blieben bei den Eindrücken Mayers von dem Altenheim hängen. „Hm… Vorzimmer des Todes. Die Patienten gingen raus immer gleich: liegend, zwischen vier Brettern… Von da gehe man nie lebendig weg“, wiederholte ich in Gedanken. Sicher, ich kannte aus der Literatur und aus Erzählungen alle diese Ideen über Altenheime. Sie sind allgemein bekannt. Aber, ich weiß selbst nicht warum, dies Mal sind sie mir tief in die Seele gedrungen. Zum ersten Mal habe ich die Bedeutung von Phrasen wie: „Diese Menschen, ehemals begehrt, geschätzt und nützlich, sitzen im Heim, ohne etwas zu tun, ohne etwas tun zu können, unerwünscht, oft auch ungeliebt… Unnütz, sitzen und warten… warten zu sterben“ emotional aufgenommen. Ja, durch seine Erzählung hat Mayer, ohne zu wissen und ohne zu wollen, mich auf eine gewisse emotionale Richtung geschickt; und das, bevor ich den ersten Kontakt mit dem Gebäude, das ich renovieren sollte, nehmen konnte! Ich habe mich an den Ansporn eines alten Professors aus der Studienzeit erinnert. Dieser empfahl uns, wenn von der Restaurierung eines alten Gebäudes die Rede ist, uns mit einem gewissen Respekt, ja, sogar mit Pietät, solch einem Objekt zu nähern. Er sagte, so ein Gebäude ist der Gedanke und die Arbeit eines gewesenen Kollegen. Dank Mayer war ich jetzt auch von Emotionen und Pietät für mein Objekt erfasst. Aber eine Pietät, die sich nicht aufs Gebäude im architektonischen Sinne bezog, so wie der Professor verlangte, sondern auf seine damalige Funktionalität. Für mich bedeutete schon dieses Gebäude ein Wartesaal des Todes, ein Ort, wo der unerträgliche Begriff der Nutzlosigkeit des Menschen blanke Wahrheit wird.

„Nach zweihundert Metern geht ein Weg nach links. Wir müssen darauf fahren“, unterbrach mein Begleiter die Gedanken.

Vor einem großen Tor aus kunstgeschmiedetem Eisen hielten wir an. Obwohl teilweise durchrostet, konnte man auf den beiden Flügeln des Tores die Familienwappen des Grafen, der damals dort residierte, noch sehen. Ein beeindruckendes Portal aus Stein, links und rechts mit je einer Statue eines römischen Legionärs als Wachmann, mit Säbel, Schutzschild und selbstverständlich dem berühmten Helm, umrahmte die prächtige Kunstschmiedearbeit. Mayer bat mich um den großen Schlüssel, stieg aus und öffnete das Tor. Wir fuhren noch etwas mehr als hundert Meter auf einer Allee, eingesäumt von zwei Reihen großer Bäume, mit Sicherheit sehr alt. Auf dem Weg, zwischen den Pflastersteinen, waren schon hohes Unkraut und sogar einige kleine Bäume gewachsen.

Wir stiegen aus dem Auto. Ein starker Lindenduft erschlug mich plötzlich. Die Bäume auf der Allee waren alle Lindenbäume, jetzt im Juni in voller Blüte. Ich befand mich endlich vor dem Haupteingang des Hauses. Mehrere Minuten, vielleicht sogar eine Viertelstunde, blieb ich sprachlos, bewunderte den majestätischen Hauseingang und war von dem süßen Duft der Linden regelrecht betört. Ich wurde in die damalige Welt dieses Hauses zurückversetzt, in seine endgültig verlorenen Zeiten von Glanz und Gloria. Ich sah tatsächlich, wie elegante Fiaker eine schöne Kurve auf der gut erhaltenen Pflasterung zeichneten, um unter den bedachten Eingang, vor den Treppen, zu gelangen. Die gut polierte Lampe, die von der Decke des Eingangs hing, verbreitete über das Geschehen ein strahlendes Licht. Ich sah auch die Lakaien in ihren schicken Livreen und ihren weißen Handschuhen die Türen der Fiakers mit ausgesprochener Höflichkeit öffnen, zugleich die distinguierten Gäste willkommen heißen. Vor dem Eingang betrachtete ich auch die fünf ionischen Säulen, perfekt gemeißelt in Marmor. Im reinsten klassischen Stil trugen sie ein dezent verziertes Giebeldreieck, worauf der lateinische Satz Privata domus valet aurum zu lesen war. Eigenes Haus ist Goldes wert – ein einfacher Satz, aber wahr und voll von Bedeutungen. Eine schöne Idee hatte der alte Graf, auf sein Haus diese Wörter schreiben zu lassen!

Ich habe aber sofort begriffen, wenn dieser lateinische Spruch in den Zeiten, in denen das Haus im Besitz der Grafenfamilie war, sehr passend gewesen ist, so war er umso mehr in den Zeiten des Altenheims zynisch und mitleidlos. Was für einen brutalen Aufprall der Bedeutungen könnte dieser Spruch in den alten Menschen verursachen! Sie, die gerade von ihrem Zuhause, von ihrem gewöhnlichen Nest entfernt worden waren, alles, was private Sphäre ist, verloren hatten, um in einem gemeinsamen Haus deponiert – ja, ganz einfach deponiert zu werden. Auf den Tod wartend! Deponiert in einem Haus, das schon beim ersten Kontakt die Idee, den Ort, wo du lebst, zu besitzen, zynisch hoch lobt! Die Menschen, die ins Altenheim kamen, verloren endgültig gerade das, was privata domus bedeutet und wirklich Goldes wert ist. Sie verloren „das Gold“ des Lebens. Es ist so, als ob der vom Henker zur Guillotine Geführte auf dem grausamen Apparat eine Inschrift mit der Behauptung läse, das Leben sei schön. Ich habe mich für die damaligen Patienten des Heimes gefreut, die in Lateinisch nichts verstanden und auch für diejenigen die überhaupt nichts verstanden, in keiner Sprache. Ich habe mich für sie gefreut. Wie gut ist es, einige Sachen manchmal nicht zu verstehen!

Auch für den Enkel des alten Grafen ist der Spruch auf dem Giebeldreieck mit Sicherheit zynisch geworden. Ich habe mir vorgestellt, wie dieser, nachdem er das ganze Vermögen seiner Ahnen dem Staat übergeben musste, die Eingangstür des Hauses zum letzten Mal in seinem Leben schloss. Auf der Lindenallee blickte er noch einmal zurück zu dem Haus seiner Kindheit. Wahrscheinlich mit großem Schmerz in der Seele hat er noch einmal auf dem Giebel gelesen: Privata domus valet aurum.

Auch die von dem alten Grafen entlang der Allee gesetzten Linden haben mit der Zeit unterschiedliche Bedeutungen bekommen; so, wie dieser Baum überall mindestens zwei gegenteilige Bedeutungen hat. Sicher wusste der erste Hausbesitzer als sehr kultivierter Mensch, dass sowohl von den germanischen als auch von den slawischen Völkern die Linde als ein heiliger Baum betrachtet wurde. Ohne Zweifel wusste er auch, dass dieser Baum im 19. Jahrhundert, just als er seine Residenz baute, ein zentrales Wesen, ein sehr verbreitetes Symbol für die romantische Sensibilität geworden ist. Ebenso ist sicher, dass der alte Graf Wilhelm Müllers Gedicht Die Linde, das in seiner Epoche mit der Musik von Franz Schubert, ein beliebtes Volkslied war, wohl kannte. Überall in Zentraleuropa war die Linde als Baum der idyllischen Liebe, des Traumes und der seelischen Ruhe, als Markierung der Dorfmitte aber auch als Baum des Friedens, häufig nach verheerenden Epidemien oder Kriegen gesetzt, verstanden und wahrgenommen. Im Geiste dieser Symbolik sind die Linden am Rande der Allee zu der Grafen Residenz gepflanzt worden.

Aber, so wie sich der romantische Geist oft der Morbidität annähert, bekommen auch die heiteren, bukolisch-idyllischen Bedeutungen der Linde im Laufe der Jahre dunklere Nuancen. Schon in der Mitte des Jahrhunderts hält Heinrich Heine die Lindenblüten mit deren sich ergießenden süßen Duft für Mondscheintrunkene. Später, in seinem Zauberberg, sieht Thomas Mann in den Lindenblüten eine „Sympathie mit dem Tode“. Die wohltuende Ruhe und Erholung, die dieser Baum dem rastenden Wanderer in seinem Schatten versprach, bekommt jetzt die Nuancen der ewigen Ruhe am Ende der großen Wanderung. Das lyrische Ich verspürt die Magnetwirkung der Todessehnsucht. Der Lindenduft kann auch den geheimen Ruf zu der großen Ruhe, der Verführung zum Selbstmord als Ende des Lebensweges, bedeuten.

Es ist schwer zu sagen, ob der alte Graf diese fin de siècle anmutenden Bedeutungen kannte oder nicht. Mit Sicherheit hatten sie aber volle Wirkung auf diejenigen, die, für diese Welt unnütz geworden, sich zu dem prächtigen Landsitz-Wartesaal-des-Todes begaben, um den letzten Abschnitt des Lebens zu verbringen. Auch wenn sie, mit ihrem so ermüdeten Gehirn das Todessymbol des Lindenduftes nicht verstehen konnten, haben sie ihn gewiss genossen. In meiner Vorstellung konnte ich sie sehen: Durch den Villengarten spazierend, mit nur für einen Augenblick wieder erwecktem Gelüst und wieder strahlenden Augen, die schöne Droge-Lindenduft schnuppernd. Ich sah die alten Leute, die sich an gehörtes, gesprochenes und auch nur eingebildetes Liebesgeflüster im zarten Alter um die zwanzig, trunken vor Wonne erinnerten. Wie damals in den Jahren, die nie zurückkommen werden, durchquerte wieder ein leichtes Zittern deren ermüdeter, von der Zeit geschändeter Körper. Ähnlich dem Vollmond, der die ganze Nacht ruft, verwandelte sich der magische Lindenduft in den Seelen der Alten in eine wohltuende Narkose. Wie in einer Wiege trug die Duft-Narkose sanft die Alten zu den längst untergangenen Welten der Euphorie zurück. Ich habe mir gesagt, jedes Altenheim auf dieser Welt sollte in seinem Garten Linden haben. Viele Linden.

„Herr, gehen wir nicht weiter, um das ganze Gebäude zu sehen?“, unterbrach Mayer meine Träumerei.

Er hatte Recht. Ohne zu merken, hatte ich mich unerlaubt und wie in Trance weit von dem Zweck meines Besuches, das Gebäude als Architekturobjekt, entfernt. Ich hatte mich von meiner Kondition als Architekt entfernt, war zugleich in eine neue, die des Poeten, eingetaucht. Die Professionalität wurde von einem frommen Schauder fürs Menschliche beiseitegeschoben. „Nein, dies ist nicht der Weg zu meinem Objekt, zu der Aufgabe, die mir anvertraut wurde“, habe ich mir mit höchster Nüchternheit gesagt.

Ich hatte den Eingang mit seinem Giebeldach und die Säulen, die ihn stützten, fotografiert. Ich hatte mich ein wenig auf der Allee entfernt, um das ganze Gebäude mit seinen zwei Etagen mit dem Objektiv besser zu erfassen. Auffallend waren die symmetrisch geordneten Reihen von Fenstern, jedes diskret umrahmt von Stuck, der im oberen Teil einen ganz offenen Bogen zeichnete. Danach ging ich an den Anfang der Allee, wo ich das Eisentor mit dem Portal und seinen römischen Legionären und auch die ganze Allee, deren Perspektive den Blick genau auf den Eingang führte, fotografierte. Mit der visuellen Erfassung der ersten Eindrücke erklärte ich mich zufrieden. Ich beschloss, Messungen und Skizzen später zu machen, vielleicht morgen. Ich wollte noch nicht ins Haus gehen. Ich bevorzugte, dieses von allen möglichen Winkeln zuerst von draußen zu betrachten.

Ich ging um das Gebäude. An der hinteren Fassade, das Gegenstück zu der vorderen, wo sich der Haupteingang befand, hat sich mir ein zauberhafter Blick dargeboten. Das ganze Haus war gegen den See gerichtet, nur um die sechzig Meter vom Ufer entfernt. Drei große Türen, jetzt gebrochen und von den Rahmen entfernt, führten zu einer großzügigen Terrasse von mindestens zwanzig Metern Breite entlang des Gebäudes und zehn Meter Tiefe. Der Terrassenrand in Richtung Wiese war leicht abgerundet, genau wie alle Fenster des Gebäudes, und endete mit einigen Treppen, die ins Grüne führten. Das aus Stein gemeißelte Gelände der Terrasse war von Statuen und Amphoren, in denen damals mit Sicherheit üppige Blumen gepflanzt wurden, hier und da unterbrochen. Ein guter Teil dieser Terrasse war leider abgesackt – wahrscheinlich hat das Fundament nachgelassen. Auf der Wiese – die eigentlich ein Park war – konnte man noch ein ganzes Labyrinth von gepflasterten Wegen, die zum Ufer führten, durch das hochgewachsene Unkraut erkennen. Im Park und auch auf einer Promenade entlang des Ufers befanden sich mehrere Statuen in Marmor gemeißelt, im reinsten klassischen Stil. Sie stellten in Naturgröße Helden der antiken Mythologie dar. Die meisten waren aber nicht mehr ganz erhalten. Es fehlte ihnen mal ein Finger, mal eine Hand oder ein Teil des Gesichtes. Neben der zusammengestürzten Terrasse, der Generalinvasion von Unkraut und dem verfallenen Putz am ganzen Haus, ergänzten die geschändeten Statuen das jämmerliche Bild einer längst untergangenen Eleganz. Das einzige Element, das die Tristesse von allem, was zu sehen war, ein wenig milderte, war die außerordentliche Lage des Grundstückes: es lag auf einer Halbinsel des Weißen Sees, somit auf drei Seiten vom Wasser umgeben. Und es gab noch den betörenden Duft von Linden, der sich auch im Park mit gleicher Intensität wie auf der Allee fortsetzte…Der symbolische Baum wurde auch hier reichlich gepflanzt.

Unbemerkt tauchte ich wieder in die Welt der Träumerei ein. War der Lindenduft schuld? Wurde auch ich sein Opfer? Vielleicht. In meiner Vorstellung füllten sich auf einmal Terrasse und Park mit vielen Gästen der edlen Familie. Herren im Frack und Damen im Abendkleid mit tiefem Dekolletee und Handschuhen aus feinen Spitzen unterhielten sich, tanzten Walzer, grüßten sich mit eleganten Gesten und Haltung oder prosteten sich mit Champagner zu. Kellner kämpften sich mit Mühe durch die distinguierten Gäste und die hohen Leuchter, die die warme Sommernacht zauberhaft erhellten, um üppige Tabletts mit raffinierten Delikatessen zu servieren. Fasziniert betrachtete ich diese Pracht. Doch die Szene dauerte viel kürzer als ich es mir gewünscht hätte. Unmerklich verwandelten sich die Kellner in Ärzte und Krankenschwestern mit weißen Kitteln. Die Gäste ruhten jetzt auf Liegen. Die meisten hatten am Kopf Verbände, Hände im Gips oder andere weiße Zeugnisse, die von schweren Verletzungen sprachen. Einige stöhnten ununterbrochen, andere flehten mit leiser Stimme einen Arzt, die Mutter in der Ferne oder den lieben Gott um etwas Hilfe an. Es gab keine Leuchter, Champagner oder irgendwelche Leckerbissen mehr. Es war ein Sonnenuntergang, der den Himmel bedrohlich rötete. Das große Firmament da oben erzählte jetzt über ein gigantisches Feuer, auch Krieg genannt. Es schien mir, selbst der Lindenduft sei geflohen… Ich roch ihn nicht mehr. Die Traurigkeit erfasste mich. Ich wusste nicht, wie ich vor diesem Bild schneller fliehen konnte. Ich wollte auch fliehen…

Ich versuchte, mich meiner Vision zu entziehen, aufzuwachen. Aber gerade die Linde mit ihrem Duft wie eine Droge, hat mir die Nüchternheit verweigert. Der Duft ist noch stärker, noch zudringlicher zurückgekehrt. Den ganzen Willen und die ganze Kraft mir raubend, hat mich die magische Blüte in das dritte Alter des Hauses überführt. Die Terrasse und der Park waren jetzt voll mit denen, die noch nicht gestorben waren, doch die wie Tote sind, mit denen, die unnütz sind, mit den Alten, die nur das Ende zu erwarten haben. Über der ganzen Szenerie schwebte eine finstere Stille. Nicht Gespräche, nicht Worte, nicht mal ein Seufzer waren zu hören. An den Tischen auf der Terrasse bemühten sich die Patienten ihr Stück Kuchen mit zitternder Hand auf dem Teller zu schneiden. Unsicher hoben sie die Tasse Kaffee oder Tee zum Mund. Einige spazierten im Park hin und her mit kleinen wackeligen Schritten, ab und zu anhaltend, um den Atem zu beruhigen. Andere, vom Pfleger im Rollstuhl geschoben, zeigten keine Reaktion oder schliefen sogar, gut verpackt in ihren Decken. Nichts geschah. Ihre Zeit war eine andere als unsere: sie war zu lang, zu drückend und zu schwer, sie war endlos. Die wenigen Bewegungen, die ich bei diesen Leuten sah, verlangsamten sich allmählich. Die Kraft war ausgelaugt. Nach und nach war in diesem Bild der sterbenden Menschen keine Bewegung mehr zu sehen. Die Alten waren jetzt in Stein erstarrte Statuen, als ob sie vor dem zähen, sinnlosen Warten fliehen wollten, um endlich in das „Drüben“, in die Welt der Erinnerungen zu gelangen. Während ich den seltsamen Friedhof betrachtete, erfasste mich die Kälte. Nein, ich habe mich nicht getäuscht: Auf die Statuen der Gewesenen, auf die Tische, Teller und Tassen, auf die Rollstühle, auf alles, was ich gesehen hatte, fielen jetzt in Ruhe große Schneeflocken. Der Schneefall wurde heftiger und heftiger bis die unheimliche Szene unter dem schweren Weiß versteckt blieb. So wie Erinnerungen erlöschen, verschwanden irgendwann in dem unfassbaren Weiß des Vergessens auch meine Alten von damals: Sie sind abhanden gekommen. Die Terrasse und der Park waren jetzt wieder leer. Ich bin aus dem hässlichen Traum aufgewacht.

Ich spürte, mit meinem merkwürdigen Traum war ich zu weit gegangen und sollte zu meiner konkreten Aufgabe, das Haus kennenzulernen, sofort zurückkehren. Es ist mir aber die Idee geblieben, dass meine Vision drei Zeiten hatte und zwar genau wie die drei Alter, die drei so unterschiedlichen Nutzungen des Hauses, die ich zurück zum Leben führen musste. Um zu entspannen beschloss ich, einen kleinen Spaziergang durch den Park zu machen. Danach sollte ich die nötigen Fotos machen und mich endlich in das Innere des Gebäudes wagen.

Ich ging am Ufer der Halbinsel entlang, die das Grundstück formte. Ich war froh, die Möglichkeit zu bekommen, den Park und das Haus aus mehreren Winkeln zu betrachten. Ich begann spontan Fotos zu machen, die sich außerordentlich relevant zeigten. Die verschiedenen Lichteinfälle verliehen dem Haus, dem Park und besonders den Statuen eine ausdrucksvolle Körperlichkeit. An der linken Seite der Halbinsel parallel zu den linken Flügeln des Hauses angekommen, machte ich eine Entdeckung, die mich beim ersten Blick störte. Dicht am Ufer, zwischen zwei Linden, stand eine Statue, die eine alte Frau mit einem welken Blumenstrauß in den Händen darstellte. Neben ihr eine noch gut erhaltene Bank. Seltsamerweise hatte die Frau ihre Augen mit einem Tuch verbunden, wie Justitia. Nicht so sehr das sonderbare Thema dieses Werkes hat mich gestört, sondern vor allem sein Stil. Dieser war ohne Zweifel relativ modern, typisch für die Mitte des 20. Jahrhunderts, und hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem Stil des Hauses und dem der anderen Statuen im Park oder auf der Terrasse gemeinsam. Obwohl in ihrer Art gut gemacht, bedeutete diese Statue in dem ganzen Ensemble ein stilistisches Sakrileg. „Auf jeden Fall, sie muss entfernt werden“, sagte ich mir. Ich habe Mayer, der ständig in meiner Nähe war, und mich wie einen treuen Hund begleitete, gefragt:

„Es ist klar, diese Statue gehört nicht zu dem ganzen Ensemble. Was ist mit ihr?“

„Ich kann dazu nichts sagen. In meiner Zeit war sie nicht hier.“

„Wer ist diese Frau? Wer hat die Statue gemacht?“

„Ich weiß nicht, wer die Statue gemacht hat. Auf jedem Fall erzählt man, dass sie eine ehemalige Patientin des Heimes darstellt. Mehr weiß ich nicht.“

Ich war verdutzt und auch leicht empört. Von den vielen Hunderten Patienten, die in dem Heim in mehr als dreißig Jahren lebten, bekommt nur ein einziger ein Monument! Wer war diese Patientin und warum wurde gerade ihr eine Statue errichtet? Unverständlich! „Wahrscheinlich hat sie der Stiftung, die das Heim unterhielt, eine üppige Spende übertragen“, habe ich mir gesagt und legte den Fall dieser krassen stilistischen Ungeschicklichkeit ad acta.

Ich habe auf das Gebäude als solches meine Aufmerksamkeit konzentriert. Das Haus war perfekt symmetrisch gebaut. In dem Erdgeschoss, links und rechts von den drei Türen, die zur Terrasse führten, waren jeweils fünf große Fenster aufgereiht. Darüber, auf der ersten Etage, befand sich in der Mitte ein Balkon. Links und rechts von diesem waren wieder jeweils sechs etwas kleinere Fenster als die von unten aufgereiht. Auf der zweiten Etage waren, verteilt auf der ganzen Breite des Gebäudes, fünfzehn Fenster noch einmal kleiner als die auf der ersten. Auf dem obersten Niveau, wo sich der Dachboden befand, war das Haus ausgebaut, so dass durch das Dach zehn sehr kleine Fenster nach draußen guckten – in den Zeiten des Grafen mit Sicherheit Zimmer für das Personal. Auf der vorderen Fassade, wo sich der Haupteingang mit seinen ionischen Säulen befand, stellte ich genau dieselbe Verteilung der Fenster fest mit der einzigen Ausnahme der dort fehlenden Dachbodenfenster. Das Dach aus Schiefer formte für jede Seite des Hauses je ein Trapez, denn es hatte keine Spitze – es war oben wie abgeschnitten. Deswegen ähnelte das Dach einem Sargdeckel, was ich, besonders für die Zeiten des Altenheimes, sehr passend fand.

Durch die drei großen Türen, die zur Terrasse führten, bin ich endlich in das Gebäude eingetreten. Dessen Zustand war wirklich bedauernswert. Der Putz war zum größten Teil von den Wänden heruntergefallen, sogar einige Wände waren halb zusammengestürzt. Alles war von Staub, Schutt und Spinnen bedeckt. Auf dem Boden jede Menge gebrochener Platten und Unkraut, das durch verdächtig breite Risse wuchs. Nur sehr schwer konnte man durchschauen, dass dieses Haus einmal ein Ort der Eleganz und Erhabenheit gewesen war. Über die vergangene Prachtentfaltung sprach besonders die drei Meter breite, in weißem Marmor gebaute Innentreppe mit ihrem üppigen Geländer aus Kunstschmiedeeisen, jetzt leider völlig verrostet. Der zentrale Salon, wo auch die Treppe ihren Anfang hatte, verlängerte sich auf der linken Seite zu einem anderen Raum, etwas kleiner, in dem noch eine Menge alter Stühle, Sessel und Tische zu sehen waren. Offensichtlich eine Art Restaurant oder Speisezimmer in den Zeiten des Heimes. Ein schöner Kamin, auch in Marmor gemeißelt, erzeugte damals bestimmt eine gemütliche Atmosphäre. Links und rechts von dem Kamin befanden sich zwei Türen, die zu mehreren Räumen führten. In einem von diesen war mit Sicherheit die Küche. Die anderen Räume waren für die Speisekammern und vielleicht auch für die Verwaltung vorgesehen. Rechts von dem zentralen Salon mit den schönen Treppen waren drei Türen, die zu mehreren Zimmern führten, deren Verwendung ich nicht klar entziffern konnte. Auf jeden Fall waren mindestens zwei Zimmer als Krankenstation benutzt worden, die in Zeiten des Militärhospitals vielleicht sogar als Operationssaal dienten. Ein ziemlich großes Zimmer in demselben Gebäudeflügel, mit den Fenstern zum Park, auch dieses mit einem Kamin, schien das Büro des Grafen gewesen zu sein. Einige verfaulte und zusammengestürzte Bibliotheksregale waren noch zu sehen. Ich fragte mich schon, wo ich eine Sauna und vor allem das gewünschte Schwimmbad einrichten könnte. Vorerst schien mir das unmöglich.

Am stärksten aber hat mich die Fülle der Wandmalereien, fast überall an den Decken und an den Wänden, beeindruckt. Interessant war, dass, während die Malereien im Zentralsalon und Treppenhaus in dem lichtvollen und graziösen Stil von Boticelli gemalt waren, die, von dem kleineren Salon, den Kunstwerken von Velásquez sehr ähnelten, und die, von dem Büro des Grafen, mit deren starken Akzenten von Licht und Schatten, schienen von Georges de la Tour gemalt worden zu sein. Ich habe sofort gemerkt, die Malereien waren keine Kopien von den berühmten Künstlern, sondern nur stilistische Repliken auf ganz andere Themen als den in Museen befindlichen Bildern dieser Meister. Als ob der alte Graf eine permanente Ausstellung der Stile auf die Wände seines Hauses machen wollte.

Neugierig, wie die Malereivorstellung sich fortsetzt, stieg ich auf die erste Etage. Auf der Mittelachse des Gebäudes, da, wo der Balkon war, befand sich noch ein Salon, diesmal in dem Stil des Venezianer Canaletto bemalt. Links und rechts von diesem Salon waren jeweils