Eine Wendung - Thomas Brandsdörfer - E-Book

Eine Wendung E-Book

Thomas Brandsdörfer

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Beschreibung

Vernunft oder Emotion? Das heißt: Logos oder Mythos? Müssen oder wollen? Wirklichkeit oder Traum? Selbst die Fragestellung ist falsch! Die Wahrheit ist: Vernunft und Emotion! Logos und Mythos! Müssen und wollen! Wirklichkeit und Traum! Denn diese beide Prinzipien/Sphären bestimmen alle unsere Gedanken, Taten und Meinungen. Diese Sphären sind nur eins: der Mensch! Wenn aber die Sphäre der Vernunft, bzw. des Logos, des Müssens und der Wirklichkeit Oberhand gewinnt, wird der Entfaltungsraum der Emotion, des Mythos, des Wollens und des Traums verengt. Das menschliche Ich wird in seinem Drang zur Freiheit und Individualität gehindert und frustriert. Die Wiederherstellung des Gleichgewichts dieser Sphären – jetzt nötiger denn je – ist das unterschwellige und zugleich wichtigste Thema dieses Buches.

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Dieses Buch ist eine – leider post mortem –

Hommage an meine Mutter

…denn sie hat diese Wendung schon lange vollzogen

bevor ich so etwas überhaupt verstehen

und schätzen konnte.

Diese Wendung war der ganze Inhalt ihres Lebens,

ihrer Kunst und ihrer Persönlichkeit.

Ich widme dieses Buch auch meiner just in diesen Tagen

geborene Enkelin

Nives Vera Elisabeth

…vielleicht wird sie auch, wie ihre Ur-Großmutter,

irgendwann so eine Wendung vollziehen…

Meine Mutter, die Künstlerin Tatiana Brandsdörfer (Malerin), ist sehr weit von dem Ort, in dem ich wohnte, am 02. Juli 1991 gestorben. Sie hat veranlasst, dass ich erst nach ihrer Beerdigung von ihrem Tod benachrichtigt werden sollte. Ich habe erst am Abend des besagten Tages von ihrem Tod erfahren… Erstaunlich: Diese Nachricht/Erfahrung verursachte mir keine Tränen, keine Traurigkeit, umso weniger eine vorübergehende Depression. Wahr ist es auch, dass in der Zeit, die folgte, ich mit ihr oft versuchte „zu sprechen“ – ich versuchte, sie zu suchen… und nicht selten zündete ich eine Kerze an, um voller Pietät einige Minuten intensiv an sie zu denken.

Das ist viel und schön… und zugleich viel zu wenig – ich hatte doch meine Mutter verloren!

Fast fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Tod – im Dezember 2015, gerade als ich an der Übersetzung dieses Buches arbeitete – habe ich durch Zufall in einer vergessenen Schublade einige von meiner Mutter gemalte Bilder gefunden. Auch wenn diese Bilder, künstlerisch gesehen, nicht die besten von ihr waren, hatten sie eine unbeschreibliche Impaktkraft auf meine Seele ausgeübt. Plötzlich war ich direkt mit ihrer Seele konfrontiert! Ich brach zum ersten Mal in Tränen aus – so, wie jeder Mensch bei der Erfahrung des Verlustes seiner Mutter! Ich bewunderte und vermisste ihre exemplarische, tief christlisch geprägte Moral. Erst in diesem Moment schätzte ich ihre unbegrenzte Liebe für Menschen, Tiere und auch für die Farben und die Musik richtig ein. Nach so langer Zeit, habe ich durch diese Bilder viel, sehr viel verstanden…

Die vergessenen Bilder haben mir meine Mutter nicht zurückgebracht… Nein! Sie haben aber die Empfindung ihres Todes in mir ermöglicht! Die Kunst – ihre Kunst! – hat nach fast fünfundzwanzig Jahren das quasi Unmögliche geschafft: Die Erfahrung mit der Empfindung doch zu paaren, so wie es sich gehört! Ich hätte nie ahnen können, dass zwischen der Erfahrung und der Empfindung dieser, eine so lange Zeitspanne vergehen kann! Anscheinend gelten in der Welt der Seele und der Emotionen keine von vernunftgeprägten Regeln, denn dort auch das Unmögliche immer möglich ist.

INHALT

VORWORT

Das Schweigen, die Ziffer Null und die Ruhe

I - DAS SCHWEIGEN

II - DIE ZIFFER NULL

II-A DIE

„MATHEMATISCHE“

NULL

II-B DIE

„PHILOSOPHISCHE“

NULL

II-C DIE

„ABSOLUTE“

NULL

III - DIE RUHE

Farbe und Sein

I - EINLEITUNG

II - DOKUMENTARISCHER TEIL

WAS SAGT DIE

PHILOSOPHIE

ÜBER DIE FARBEN?

WAS SAGT DIE

PHYSIK

ÜBER DIE FARBEN?

WAS SAGT DIE

NEUROPHYSIOLOGIE

ÜBER DIE FARBEN?

KONKLUSIONEN

ZUM DOKUMENTARISCHEN TEIL

III - ESSAYISTISCHER TEIL

DAS MENSCHLICHE SEIN UND DAS EMPFANGENE GESCHENK

FARBE IM ALLTAG

FARBE ALS INFORMATION

SYMBOLIK DER FARBE

AKTIVE BEZIEHUNG MENSCH-FARBE

FARBE IN DER NATUR

FARBE UND KUNST

FARBABSTINENZ IN DER KUNST

DREI FUNKTIONEN DER FARBE IN DER KUNST

FARBE IN MALEREI

FARBE IN FILM

DER ANTAGONISMUS LOGOS-MYTHOS UND DIE CHANCE MENSCHLICHEN SEINS IN FARBE UND MUSIK

LOGOS UND MYTHOS SPHÄREN - INHALTE

SPANNUNG ZWISCHEN LOGOS UND MYTHOS

AUSGLEICH DURCH MUSIK

AUSGLEICH DURCH FARBE

AUSGLEICH DURCH LIEBE

ZUHÖREN UND BETRACHTEN

MUSIK UND FARBE - OFFENE WERKE

MUSIK, FARBE UND ESSENZEN

„AMOR MUSICAE“

UND

„AMOR CHROMATIS“

SCHLUSSREDE

Krällchen

Ein Text aus dem Reich der Emotionen

KRÄLLCHEN

***

Vita des Autors

Vorwort

Für die Leser, die schon einige Schriften von mir kennen, sollte es eine Evidenz sein: Ich habe immer versucht, die Idee mit der Emotion zusammen zu koppeln, d. h. die emotionelle Aura der Ideen als auch den Ideenkern der Emotionen zum Ausdruck zu bringen.

Ich halte es für ein starres Vorurteil zu behaupten, die Welt von Ideen – philosophischen Ideen! – hätte mit der Welt der Emotionen nichts Gemeinsames, und umso mehr zu glauben, dass diese beiden Welten sich gegenseitig ausschließen1. Vielmehr ergänzen sich die Sphären der Ideen/Vernunft und die der Emotionen, ja, wiederspiegeln sich, suchen und unterstützen sich sogar gegenseitig, auch wenn dies nicht immer augenscheinlich ist. Denn was das Menschliche ausmacht – der Geist und die Seele – sind nicht zwei unabhängige Monaden, sondern eine komplexe, sehr komplexe Dyade!2

Nicht weniger wahr ist, dass innerhalb dieser Dyade auch Spannungen entstehen, die nicht selten unversöhnlich sind: der in der Philosophie wohl bekannte und unlösbare Streit zwischen Logos und Mythos. Wobei der Logos auf die Idee und Vernunft gründet, während der Mythos eher auf die Emotionalität des Glaubens abzielt. Die Tatsache, dass dieser Antagonismus fast allgegenwärtig ist und immer innerhalb einer menschlichen Persönlichkeit stattfindet, kann kein Indiz für eine Koexistenz von zwei Monaden (etwa Geist und Seele, oder Vernunft und Emotionen) im menschlichen Komplex sein, sondern ist ein überzeugender Beweis für die Existenz einer Dyade, innerhalb welcher sehr dynamische, manchmal dramatische Prozesse passieren. Weder Geist noch Seele, weder Idee/Vernunft noch Emotion können in einer Synthese je voneinander getrennt werden! Sie sind eins: der Mensch!

In diesem Sinne habe ich in meinen Essays inmitten der analytischen Abhandlung – per se auf Vernunft gegründet (siehe emotionslos!) – Metapher, poetische Vergleiche und Formulierungen, die Emotionen hervorrufen, unerwartet und unkonventionell eingeführt. Mag sein, dass so eine „unorthodoxe“ stilistische Abweichung einigen Leser gewöhnungsbedürftig oder sogar skurril erscheint – andere Leser akzeptieren und schätzen diese sogar. Aber der Hauptgrund worauf ich in meinen theoretischen Texten von den poetischen Einführungen nicht Abstand nehmen werde, sind meine oben skizzierten philosophischen Überzeugungen.

Jedoch mit dieser „stilistischen Marke“ in meinen theoretischen Texten ist für mich das Thema der Dyade Idee-Emotionen bei weitem nicht ausgeschöpft. In meinem im Jahre 2005 geschriebenen Roman Die schöne Insel führe ich zwei achtbare Figuren ein: der gelehrte Horatio und sein Gegenpart Felix. Horatio ist ein Mensch der Vernunft, der sich fast jegliche Emotion verbietet, während Felix – mindestens ebenso hochgebildet, wie der erste! – eindeutig ein Mensch der Gefühle ist. Auch wenn die Beiden heftige Auseinandersetzungen haben, ist es immer Felix der, der gewinnt! Besonders vor dem Tod! Es ist hier fast überflüssig zu betonen, dass Horatio und Felix ein und dieselbe Person sind, dass die Beiden eine Dyade und nicht zwei Monaden(!) sind (auch wenn ich sie im Roman aus dramaturgischen Gründen künstlich getrennt habe).

Weitere fast zehn Jahre hat mich dieses Thema, mehr oder weniger unterschwellig, verfolgt.

Nach einem Herzversagen – lebensbedrohlich, aber mit Erfolg von den Ärzten behandelt – konnte ich länger als ein Jahr weder schreiben noch lesen; ich kann mir selbst diesen „Stopp“ in meiner geistigen Aktivität nicht erklären! Als dieser zu Ende war, schrieb ich am Anfang sehr vorsichtig, stellenweise sogar unsicher (ich wollte mir beweisen, dass ich wieder schreiben konnte!). Zum Glück wurden die Texte immer tiefgreifender und, meines Erachtens nach, immer besser. Es war aber unverkennbar, dass viele Abschnitte und sogar einige Titel im Ganzen stark emotionell geprägt waren. Siehe: ich war wieder in den Fängen meines alten Themas – die Dyade Idee-Emotionen! Ich beschloss, die Essaysammlung Wanderungen zwischen Ideen und Emotionen zu nennen (das in Rumänisch geschriebene Buch erschien 2015 bei BoD unter dem Titel Plimbări printre idei si emoţii 2013–2014 und ist signiert mit Vladimir Brândus, meinem Pseudonym für Schriften in Rumänisch). Jedoch wünschte ich das Gleichgewicht Vernunft-Emotionen wieder herzustellen – diesmal zu Gunsten der Vernunft. Ich schrieb zwei Essays, die vielleicht meine besten sind: Das Schweigen, die Ziffer Null und die Ruhe und Farbe und Sein. Im Rahmen dieser beiden Schriften geschah eine von mir absolut instinktive, vom Unterbewusst verursachte Wendung: Das Thema Dyade Idee-Emotion kam wieder ans Licht und zwar in einem neuen Form und viel deutlicher als gewohnt.

In dem ersten Essay (Das Schweigen, die Ziffer Null…) interpretiere ich die Ruhe als ein „Null-absolut“, wohin man von dem „Lärm der Welt“ flüchtet, um an die Essenzen gelangen zu können und sich an der Göttlichkeit zu nähern (Tranquillitas animi oder Ataraxie im Sinne Epikur). Es liegt in diesem Abschnitt ein versteckter Ansporn zur Entfernung von Phänomen und seiner Erkenntnis durch Vernunft(!) zu Gunsten einer Annäherung an die Sinnlichkeit, die einzige, die uns den Ur-Klang der Welt und der Phänomene zu hören ermöglicht.

In dem zweitem Essay (Farbe und Sein) nimmt die erwähnte Wendung eine noch deutlichere, sogar radikalere Form. Nach etlichen Seiten von rigorosen philosophischen, physikalischen und physiologisch/anatomischen Analysen von dem „Phänomen Farbe“ (alle „trocken“ genug!) folgt ein tiefgründiger essayistischer Teil. Gegen Ende dieses Teils unterbreche ich abrupt den Diskurs mit dem Satz: Ich weiss nicht mehr, ich kann und vielleicht auch will ich nicht mehr, etwas zusätzlich über Farbe und Sein zu sagen. Höchstens könnte ich mich jetzt an einem Freund, einem guten, nahstehenden Freund im Geiste und Seele zuwenden:… Und am Ende der voll Zärtlichkeit und gefühlsbetonten „Rede“ an diesen „Freund“ sage ich ihm: Vielleicht… vielleicht wäre es besser gewesen, dich über dem Kopf zu streicheln… anstatt dieses Essay geschrieben zu haben…

Einige meiner Leser zeigten sich enttäuscht. Noch radikalere, noch deutlichere Absage an die Theorie zu Gunsten der Emotion hätte nicht sein können! Der Versuch, ein Gleichgewicht zwischen Vernunft und Emotion herzustellen, ist fehlgeschlagen! Felix von der Schönen Insel hat wieder gewonnen! Ob ich dabei etwas verloren oder gewonnen habe, wird nur die Zukunft zeigen. Vorerst gefiel mir diese Wendung sehr… aber, wie man weiß, nichts ist für die Ewigkeit…

Um diese für mich extrem wichtige Wendung nochmals zu betonen und zu vervollständigen, habe ich mir bewusst ein stilistisches Sakrileg erlaubt: Ich schloss das Essaybuch mit einer „Aussprache“ zu einem kleinen, schutzlosen Lebewesen ab. Ich wählte ein Haustier d. h. einen kleinen Kater, obwohl es irgendein anderes Wesen hätte sein können. Den imaginären Kater (leider habe ich kein Haustier) habe ich Krällchen genannt.

In diesem letzten Text des Buches, betitelt Krällchen – ein Text der nicht mehr als Essay eingestuft werden kann – versuche ich in deutlich „poetischem Schlüssel“ alle Emotionen, seelischen Zustände und Gedanken, die ein Mensch in inniger Verbindung mit einem geliebten Tier erleben kann, darzustellen. Deswegen habe ich dieser Schrift den Untertitel Ein Text aus dem Reich der Emotionen gegeben. Es sind die Freude und Heiterkeit, die das Tier dem Menschen schenkt, aber auch die Sorgen und Ängste um das Wohl des schutzlosen Wesens. Es sind auch Spiele-Träume, die der Mensch, in der Beziehung mit dem Tier oft wieder kindisch geworden(!), anstiftet; es sind aber auch Gewissensbisse, die einen Menschen plagen, etwas nicht artgerecht seinem „Freund“ angetan zu haben.

Ferner wird Krällchen beauftragt, allen Tieren, klein und groß, kundzutun, in ihren Beziehungen zu den Menschen sehr vorsichtig zu sein, denn nicht alle antworten mit Liebe, wenn ihnen Liebe und Anhänglichkeit gutgläubig gezeigt wird, wie es die Tiere machen. Es wird Krällchen beigebracht, dass Menschen hysterisiert werden können, wie einst ein kluger Mann (Helmut Schmidt!) sagte. Wenn das Thema dieser Hysterie die Gier ist – wie es so oft der Fall ist! – und diese einen saftigen Gewinn in Opferung der Tiere wittert, dann soll Krällchen alle warnen: Tiere haben keine Chance mehr!

Doch es gibt auch einen Trost: Ich versprach Krällchen, dass, wenn ich dorthin gehen werde, woher niemand zurückkommt, werde ich mit dem lieben Gott vereinbaren, einen Stern, einen einzigen von den Milliarden, die das magische Firmament erleuchten, allen Tieren, klein und groß, zu schenken. Dort, auf dem Wunderstern, werden sie nur nach ihren Gesetzen, nach ihren Kräften, Willen und Sitten leben – Hauptsache ohne Menschen! Das wird ihnen helfen! Besonders in schweren, qualvollen Stunden der Angst vor den Menschen und der Panik vor dem Tod in den apokalyptischen Schlachthöfen, wird ein Blick zu dem strahlenden Stern bestimmt eine Hilfe sein.

„…Hauptsache ohne Menschen…“ steht oben. Das ist ein schwerwiegender Satz! Der Leser wird gebeten, diese Aussage nur in dem Kontext in welcher sie gefallen ist, zu interpretieren und nicht etwa, dass die Wendung, die ich oben erklärt habe, eine Abwendung auch von den Menschen sei. Die Wendung, die das Thema dieses Vorworts ist, bedeutet nur eine von der Idee/Vernunft zu den Emotionen – das und nichts mehr! Es darf doch klar sein, dass die Wendung, so verstanden, immer innerhalb der menschlichen Persönlichkeit passiert. Folglich jeder Kommentar, Vertiefung und Analyse dieses Phänomens wird nur für und nicht gegen den Mensch unternommen.

In einer Welt, wie in unserer modernen, sehr modernen Welt, in der der Begriff Kraft immer seltener mit Kraft der Ideen, der Emotionen oder des Glaubens assoziiert wird und immer öfter als Schlagkraft, Durchsetzungskraft, oft mit physischen Mittel (Fäuste, Stöcke, Fußtritte bis zur Verstümmelung des Opfers), aber auch akustischen Mitteln (sehr laute Stimme, Motoren und auch Musik) gedeutet wird, in so einer Welt, in der die Emotionen durch Adrenalin Kicks, und der Glaube durch zwielichtigen Chaträume oder Fanatismus jeder Couleur ersetzt werden, ist dem Denker das Schweigen verboten. Seine Stimme wird zur Pflicht!

Nicht nur die Denker, sondern auch jeder, der ein Freund des Fortschritts der Gesellschaft und ihrer positiven Entwicklung ist, sollte gegen jeglichen korrosiven Agent, der den zivilisatorischen Prozess bedroht, in Stellung gehen. Diese „Baustelle“ – ich nenne sie gern „Baustelle der Zivilisation“ – ist leider sehr groß, viel größer als uns lieb ist. Eine der vielen nötigen Vorhaben dieser Baustelle, ist die Beleidigung und Erniedrigung durch Respekt zu ersetzen, der Arroganz die kluge Bescheidenheit entgegen zu setzen, von der Boshaftigkeit zur Liebe zu wechseln, die egoistische Gleichgültigkeit in Verständnis und Einfühlungsvermögen zu verwandeln, anstatt Ruppigkeit, Zärtlichkeit und Eleganz zu zeigen, kurzum: Die Schläge jeder Art in Hilfe umzuwandeln! Sonst wird von der ehrenwerten Idee der Zivilisation nur eine „Hightech Barbarei“ übrig bleiben. Denn die Zivilisation lässt sich nicht mittels Anzahl der Computer oder des Niveaus der Digitalisierung und Automatisierung der Gesellschaft feststellen, umso weniger messen.

Um gerade die oben erwähnten Desiderate erfüllen zu können, ist eine Aufwertung der so oft verdrängten Emotionalität und Sensibilität der menschlichen Seele notwendig. Denn solche Eigenschaften können leider nur selten bloß durch Vernunft, wie es Immanuel Kant empfahl, angeeignet werden. Die Neubewertung der Emotionalität und der Sensibilität, d. h. deren Anregung, ist eigentlich mein Dauerthema der Herstellung bzw. Wiederherstellung des Gleichgewichts innerhalb der Dyade Idee/Vernunft und Emotionen.

Dieses Gleichgewicht zu suchen, scheint mir ein Imperativ zu sein, denn dies ist nötiger denn je und auch sehr willkommen. Das Gleichgewicht zu finden aber, ist ein sehr delikates und schwieriges Unternehmen – wer könnte präzise sagen, wo der magische Idealpunkt ist? Trotzdem muss versucht werden, das Gleichgewicht zwischen Idee und Emotion zu finden, auch wenn dem einen oder anderen, bei der Verteilung der Akzenten „die Hand rutscht“ und eines der beiden Extreme favorisiert – so wie es mir in den hier besprochenen Texten möglicherweise passierte.

Die Sache von dieser Perspektive betrachtet, ist die Wendung, die ich erwähnt habe, nicht nur für mich sehr wichtig, sondern könnte auch auf der großen „Baustelle der Zivilisation“ einen bescheidenen Ziegelstein bedeuten.

Darum habe ich beschlossen, die letzten drei Schriften des ursprünglichen Buches aus dem Rumänischen zu übersetzen und den deutschsprachigen Leser unter dem Titel Eine Wendung - von der Vernunft zu Emotionen anzubieten.

Th. Brandsdörfer

1 Methodologisch begründete vorübergehende Trennungen der beiden Sphären werden oft vorgenommen und sind sogar willkommen. Gewöhnlich, ein Analytiker soll sich nur von der Vernunft leiten lassen und, auf anderer Seite, ein Künstler ist gut beraten sich von der Welt seiner Emotionen zu „ernähren“ und inspirieren. Aber beim Versuch, eine Synthese zu artikulieren, halte ich die Trennung für einen Fehler!

Das Schweigen, die Ziffer Null und die Ruhe

I - DAS SCHWEIGEN

Das Schweigen ist der Punkt Null der Kommunikation zwischen Menschen. Es verbietet dem Wort, von dem Geist des einen an den des anderen anzuklopfen und dorthin zu durchdringen. Das Schweigen entsteht unter drei möglichen Umständen: Es kann die Ablehnung von vornherein jeglicher Kommunikation sein, die plötzliche Unterbrechung dieser oder das Ende der Kommunikation. „Das Schweigen schmeckt nach Tod“ sage ich am Ende des Kapitels II in meinem Roman Die schöne Insel. Für wen schmeckt das Schweigen nach Tod? Für den, der die Kommunikation ablehnt oder plötzlich schweigt, oder für den, dem das Schweigen „serviert“ wird, als dieser noch etwas hören wollte? Zweifelsohne ist die Antwort: für beide. Der, der die Kommunikation ablehnt oder unerwartet schweigt, indem er diese unterbricht, verabreicht eine kleine Dosis Tod dem, der von ihm gerne etwas hören oder weiter noch hören möchte. So ist der letztere genötigt den Gifttropf des Schweigens zu schlucken und er bleibt einsam mit dem Gesagten oder mit dem noch nicht Gesagten. Das menschliche Wesen, genetisch verurteilt ein soziales zu sein, ist per Definition auch ein kommunikatives Wesen. Der Mensch benötigt Kommunikation, er ist sogar abhängig von dieser. Es ist normal dass, als die Kommunikation unterbrochen, und umso mehr abgelehnt wird, sowohl in der Seele desjenigen, der kommuniziert hat oder hätte kommunizieren wollen, als auch in der Seele desjenigen, der die Kommunikation schon empfangen oder nur gewünscht hat, aber sie wurde ihm abgelehnt – in beider Seelen also – ein Gefühl von Leere und Einsamkeit entsteht, das „nach Tod schmeckt“. Denn der Punkt Null der Kommunikation zwischen Menschen kann existentiellen Schwindel verursachen – er ist immer mit der Unsicherheit gepaart! Die Kommunikation stirbt in und durch das Schweigen.

Die Ablehnung und auch die abrupte Unterbrechung der Kommunikation sind für den „anderen“ eine Erniedrigung, während ihr „normales“ Ende nur ein „kleiner Abschied“ oder „kleines Adieu“ bedeutet. Wahrscheinlich ist gerade deswegen in der menschlichen Sensibilität tief eingeprägt, dass, wenn ein Kommunikationsakt beendet ist – sei es ein Brief, eine Rede, ein telefonisches oder „live“ Gespräch – einige angenehme, freundliche Worte hinzugefügt werden. Die Ausdrücke „auf Wiederhören“ oder „auf Wiedersehen“ erfüllen auch diese Funktion. Es ist einfach human und zivilisiert das Schweigen nicht abrupt und unpersönlich einzufügen – denn Schweigen ist kalt… sehr kalt…

Aber diese paar Gedanken über das Schweigen haben nur eine eingeschränkte Gültigkeit und zwar nur im Rahmen der Kommunikation zwischen Menschen in dem traditionellen Sinn, also durch die Sprache. In Wirklichkeit ist die Welt des Schweigens viel reicher an Bedeutungen und Möglichkeiten als zuvor zu lesen war.

Das Schweigen spricht! Auch wenn diese Idee merkwürdig scheinen mag, wahr ist, dass das Schweigen viel mehr ausdrücken kann, als manchmal die Wörter es können. Dazu kann das Schweigen eine andere „Sprache“ ermöglichen und sogar potenzieren, die oft viel effizienter und erweiterter ist als die, die mit Worten operiert. In den folgenden Seiten werden wir versuchen zu zeigen, wie und warum der Werterapport zwischen Sprechen und Schweigen, im Vergleich mit der Skizze zuvor, sich ändert und sogar umkehrt. Mittels eines kleinen Abstechers im Bereich der Geschichte der Mathematik werden wir dann diese These begründen und zugleich zeigen, dass der sogenannte Punkt Null der Kommunikation ganz andere Bedeutungen hat.

Zuerst muss erwähnt werden, dass die Ablehnung oder die plötzliche Unterbrechung einer Kommunikation schon eine Signifikanz hat; was noch nicht einen gewissen Wert des Schweigens bedeutet, sondern, ganz einfach, eine Intention des Sprechers ist. Danach muss auch unterstrichen werden, dass in einer kommunikationellen Sequenz mit gesprochenen Worten, die Einführung einer kurzen Pause oft auch die Funktion den emotionellen und auch den semantischen Wert der Wörter zu potenzieren/betonen hat. Aber auch hier kann noch nicht die Rede von einem Wert des Schweigens sein. Vielmehr ist es nur ein Effekt von diesem, den die begabten Redner und Schauspieler mit viel Effizienz anwenden. In solchen Fällen übt das Schweigen schon eine operative Funktion auf die Wörter aus.

Die wahren Potenzialwerte des Schweigens bekommen die Chance zu agieren nur wenn das Wort seine Limits erreicht.

Es ist nicht zu bestreiten, dass das Wort, dieses Grundelement der traditionellen menschlichen Kommunikation, eine Konvention3 ist. Als Konvention hat das Wort implizit etwas Künstliches in seinem Wesen. An sich und für sich genommen (einzeln und isoliert), ist das Wort immer denotativ, es bezieht sich univok, einstimmig auf das, was es bezeichnet, aber ohne jegliche Nuancen oder Details. Ein Wort alleine sagt nicht allzu viel. Alles funktioniert sehr gut, aber nur im Rahmen eines einfachen Telegrammtextes. Sobald kompliziertere seelische Zustände, Nuancen oder unterschwellige Bedeutungen durch Wörter vermittelt werden müssen, ist es absolut nötig, dass diese Wörter durch Konnotationen bereichert werden. Ein Wort kann diese assoziativen Bedeutungen (Konnotationen) unter zwei Umständen generieren: Entweder mit anderen Wörtern gepaart (in einem Text sagte ich „Die Wörter verlangen Wörter“), oder von einem guten Schauspieler mit der entsprechenden Stimmung und Intention gesprochen; sonst bleibt das Wort eine mehr oder weniger tote, vom wahren Leben entleerte Konvention. Es ist wahr, dass auch im Alltag diejenigen, die sich durch Wörter ausdrücken, besonders wenn sie seelische Zustände oder komplexere Erlebnisse zum Ausdruck bringen wollen, liegen den Wörtern (Hilfs-)Wörter bei, oder anders gesagt: paaren Wörter – wie die begabten Schriftsteller das machen; dazu betonen sie die Wörter mit Gestik, passenden Tönen und auch Blicken – wie die talentierten Schauspieler das machen. In dieser Weise geht instinktiv jeder Mensch mit mehr oder weniger Effizienz vor, gerade um den Wörtern zu helfen, sich durch weitere und tiefere Konnotationen, Nuancen und Bedeutungen zu bereichern.

Was die Emotionalität betrifft, ist das menschliche Leben extrem kompliziert und nuanciert. Wenn davon die Rede ist, tiefe und sehr intensive seelische Zustände auszudrücken oder zu beschreiben, zeigen die Wörter, die man verwenden würde, unabwendbar ihre Limits. Ihr potenzielles „Reservoir“ von Konnotationen erschöpft sich, die Sprache fällt in Ohnmacht. Es waren sehr wenige Schriftsteller, die so gut die Wörter anzupassen wussten, dass diese einen effizienten Ausdruck der großen emotionellen Erlebnisse bilden konnten. Aber auch diejenigen Schriftsteller, denen ein solcher Meisterakt gelungen ist, wie zum Beispiel Fjodor Dostojewskij, sollen sich nur mit der Suggestion der großen und komplexen Erlebnisse in ihren Werken zufrieden geben, und nicht an eine hundertprozentige Übertragung dieser glauben. Dieser Umstand ist von der Tatsache verursacht, dass die Rezeption eines Kunstwerkes immer ein subjektiver Akt ist, und noch dazu, dass das Wort nur ein semantischer Keim ist. Das Wort ist ein mehr oder weniger toter, ein mehr oder weniger trockener Samen. Das Wort ist ein Samen, der vorher im Geiste des Schriftstellers eine lebendige Blume war, die im Geiste des Lesers ähnlich, aber ein wenig anders(!), wieder aufblühen wird. Die (geschriebenen)Wörter sind der Winter der Emotionen, deren Winterschlaf, während das Lesen und Verstehen deren Frühling ist. Der Schriftsteller schließt seine Emotionen im Wörter-Winter ein. Dort warten die Emotionen geduldig auf ihr Wiedererwachen in dem Lektüre-Frühling. Das Schreiben konserviert, das Lesen gebärt! Das Wort verurteilt zur Untreue… es ist wahr: eine kreative Untreue4. Im Sinne dieser Ideen können wir wohl sagen, dass das Leben als solches weniger Sprache als Erleben ist – es kann in viel kleinerem Ausmaß besprochen, als erlebt werden. Die Worte können einen Lebensmoment bezeichnen, aber nicht entfalten.

Der Fall der Sprache in Ohnmächtigkeit ermöglicht die Entstehung der großen Rolle und der wichtigsten Bedeutungen des Schweigens. Wenn die Worte verstummen, wird das Schweigen zum Entfaltungsraum, zum Nährboden einer anderen, konventionslosen Sprache, die ein „Wörterthesaurus“ hat, der zur Unendlichkeit tendiert. Diese Sprache ist die, der richtig lebendigen und wahren Blicke, Gesten, körperlichen Haltungen und konkreten Taten. Das Schweigen, ehemaliger Punkt Null der Kommunikation oder Helfer des verbalen Ausdrucks, wird so zum obersten Meister der Sprache des Lebens. Das einzige Medium dieser Sprache, und auch ihr Erzeuger, ist das Schweigen, die Abwesenheit der Wörter. Als Ausdrucksform kennt diese Sprache keine ethno-geographischen Grenzen und kann nie etwas Gemeinsames mit dem, was man Übersetzen nennt, haben. Sie ist unübersetzbar, denn sie eine universal-humane Sprache ist, die sehr der Musik ähnelt und gar nicht dem Wort. Aber diese umfassende Sprache der Blicke, der Gesten, Körperhaltungen und konkreten Taten ist sogar noch freier als die Musik: Sie hört von keinen mathematischen Gesetzen der Tonalitat und auch nicht von denen der Harmonie, wie es der Fall bei der Musik ist. Ihr einziges Gesetz ist das Leben selbst, dessen Zeichnung nur diese Sprache vollkommen zeichnen kann und zwar besser als jeder Meister, der auf dieser Welt geboren wurde und jemals geboren wird.

Namhafte Theater- oder Filmschöpfer, Regisseure und vor allem Schauspieler, haben wohl die Wichtigkeit und die verblüffend weite Ausdrucksmöglichkeit der Sprache von dem Reich des Schweigens verstanden und angewendet. So sind in dieser Technik wahre künstlerische Monumente entstanden. Von den vielen, die nennenswert sind, erinnern wir zum Beispiel an die Figur der Witwe in dem Film Alexis Sorbas. Die hochbegabte Schauspielerin Irene Papas kreiert eindrucksvoll diese Figur ohne ein einziges Wort zu sagen, nur schweigend. In dem unvergesslichen Film Das Lied der Straße (La strada) hat Frederico Fellini die Wichtigkeit des in und durch das Schweigen entstandenen Ausdruck, jenseits der Wörter, perfekt verstanden und geschätzt – wenn er das nicht verstanden hätte, dann wer? – und schuf mit der nicht minder begabten Schauspielerin Giulietta Masina die Figur von Gelsomina. Der Regisseur zeigte auffallend oft wie diese Figur ohne Worte dem folgt, was ihr Partner, Anthony Quinn, sagt. Tausend Stimmungen der feinsten Nuancierung sind dort zu sehen! Unbedingt erwähnenswert ist auch das Ende dieses Films, als Fellini Quinn die höchste Aufgabe gibt, ohne ein einziges gesprochenes Wort ein überwältigendes Drama zu übermitteln, das keinen Zuschauer kalt lassen kann. Ich glaube nicht, dass es Wörter gibt, auch genial zusammen angepasste(!), um das ganze Universum solcher Momente übertragen/übersetzen zu können!

Auch Menschen die im Alltag sehr starke Emotionen erleben, verzichten oft auf Worte und bevorzugen das Schweigen, in dessen Reich wahre Welten von Gesten, Blicken und sogar Taten von wichtiger Bedeutung sich entfalten. Es ist bekannt, die Verliebten schweigen oft sehr lange und dabei flechten sie nur durch Blicke, sich zulächelnd, kleinen Gesten und Zeichen einen ganzen „Dialog“ zusammen, den niemand von draußen je verstehen würde – ein ganzer Roman gegenseitiger Faszination! Man könnte sagen: „Die haben keine Worte mehr!“, ihre Liebe passt nicht mehr in Worte. Um bei den Verliebten noch ein wenig zu bleiben, ist daran zu erinnern, dass der Liebesbeweis immer durch Taten ausgedrückt, wichtiger und überzeugender ist, als die sympathische Liebeserklärung, die nur durch Worte zum Ausdruck kommt. Die Flucht von der Sprachkommunikation in das Schweigen, die, die Sprache der Blicke, Gesten und Taten ermöglicht und ernährt, ist nicht nur für die Verliebten spezifisch, wie oben gezeigt, sondern für alle Situationen, in denen die Emotion, das Erlebnis, extrem stark sind; wohl gemerkt: unabhängig von dem Ursprung oder der moralischen Qualität, die diese Emotion hat. (Zum Beispiel: die wahre Missachtung, Abneigung oder der wahre Hass für jemanden, werden weniger gesprochen, sondern vielmehr durch Gesten und Blicke gezeigt, und auch die Morde spricht man nicht, sondern, leider, man tut sie!).

Konklusionen:

1. Als Ablehnung oder abrupte Unterbrechung der verbalen Kommunikation verstanden, hat das Schweigen nur gewisse psychologische Bedeutungen. Folglich hat das Schweigen aus dieser Perspektive gesehen, keinen Inhalt und keinen intrinsischen, von innen kommenden Wert.

2. In der kommunikationellen Kette als Pause eingeführt, potenziert das Schweigen die Wörter und so bekommt es auch eine operative Funktion. Dabei bleibt jedoch das Schweigen ohne jeglichen Inhalt oder intrinsischen Wert.

3. Wenn die verbale Kommunikation nicht mehr ihre Aufgabe erledigen kann, wird das Schweigen zur unabdingbaren Bedingung für die Entstehung und Entfaltung anderer Sprachen/Kommunikationsmittel. In diesem Fall könnte schon von einem gewissen potentiell-generativen Wert des Schweigens die Rede sein, aber immer noch nicht von der Existenz eines Inhalts und eines intrinsischen Werts.

Ohne einen immanenten Inhalt und ohne einen intrinsischen Wert, kann das Schweigen nur ein Punkt Null sein. Aber diese Behauptung hilft nicht zur Aufhellung unseres Themas! Die Gedanken würden in Unsinn festfahren, wenn wir uns jetzt nicht auf das Wesen des Begriffes „Null“ konzentrieren. Es ist also der Moment gekommen, unsere schon angekündigten kleinen Abstecher im Bereich der Geschichte der Mathematik vorzunehmen5. Wir sagen schon im Voraus, dass die Entwicklung des Verstehens der Ziffer Null sehr ähnlich mit der Semantik des Schweigens ist.

***

II - DIE ZIFFER NULL

II-A DIE „MATHEMATISCHE“ NULL

Das menschliche Wesen in einem materiellen, konkreten, also auch messbarem Medium lebend, hat schon in Urzeiten das Bedürfnis auch die Nichtexistenz, die Abwesenheit einer Quantität zu beschreiben. Mit anderen Worten ausgedrückt: die Leere, das Nichts zu nennen und zu signalisieren. Es scheint, dass dieser Begriff zuerst in astronomischen Berechnungen nötig wurde. So begann ein faszinierendes und sehr lang andauerndes erkenntnistheoretisches Abenteuer des von uns heute „Null“ oder „Zero“ genannten Begriffs und seinem mathematischen Zeichen „0“. Wie lange diese „Epopöe“ des Kennens und Verstehens dauerte, ist schwer zu sagen, denn die Meinungen der Mathematikhistoriker gehen ziemlich auseinander. Allerdings kann von einer Dauer zwischen 4500 vor Christus bis zu dem Jahr 1202 nach Christus die Rede sein – ungefähr 5500 Jahre! Ein erstaunliches Zeitsegment!

Die Mehrheit der Historiker ist der Meinung, dass ein Begriff für Leere und Nichts in der precolumbianischen Zivilisation Maya zum ersten Mal erfunden (oder intuiert!) wurde. Dort haben sich die Gelehrten eine Art primitive Null vorgestellt und als Ausgangpunkt für die bessere Darstellung des damals gültigen numerischen Systems auf Basis von 20 angewendet. Was wir heute durch „Null“ verstehen, wurde in Mayas Wissenschaft ähnlich einer Schnecke (siehe eine sich nach oben entwickelnde Spirale) dargestellt. Dieser folgten die Ziffern von 1 bis 4 als Punkte markiert. Die Ziffer 5 wurde durch eine kurze Linie repräsentiert und für die Nummer 6 wurde über die Linie (fünf) wieder ein Punkt gesetzt usw. Die Mitte der Schnecke (Ausganspunkt) bedeutete Nichts, Leere und hatte keinen Wert.

Aber der wichtigste Qualitätssprung in der Fortentwicklung des Verstehens des von uns heute bekannten Begriffs „Null“, wurde von den indischen Mathematikern, Astronomen und Philosophen gemacht. Den philosophischen Teil lassen wir vorübergehend bei Seite, denn er hat eine absolut spezielle Bedeutung, die uns später beschäftigen wird. Mathematisch ist von großer Wichtigkeit die Tatsache, dass die Inder (vielleicht von dem babylonischen sexagesimalen System beeinflusst, wie einige Wissenschaftler behaupten!) zwischen den Jahren 300 vor Christus und dem 7. Jahrhundert nach Christus das Dezimalsystem