Weiter als das Herz - Kerstin Sonntag - E-Book

Weiter als das Herz E-Book

Kerstin Sonntag

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Beschreibung

Als Finn Gallagher erfährt, dass Penelope Parker mit ihrer Tochter ins beschauliche Städtchen Pinewood Falls zurückkehrt, ist er wild entschlossen, die sie auf Distanz zu halten. Schließlich brach ihm die Schwester seines besten Freundes einst das Herz. Dennoch lässt der Gedanke an Penelope seinen Puls in ungeahnte Höhen schnellen.

Doch Finn ahnt nicht, dass Penny ebenfalls triftige Gründe besitzt, ihm aus dem Weg zu gehen. Und obwohl sich beide dagegen wehren, fühlen sie sich magisch voneinander angezogen, und es fällt ihnen immer schwerer, dem verführerischen Knistern zu widerstehen.

Ihre aufflammende Leidenschaft zieht jedoch fatale Folgen nach sich und als sich die Lage dramatisch zuspitzt, gerät nicht nur Pennys Tochter in Lebensgefahr ...

Das Buch ist vormals unter dem Titel "Penelopes Geheimnis" von Kate Sunday erschienen. 

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Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Als Finn Gallagher erfährt, dass Penelope Parker mit ihrer Tochter ins beschauliche Städtchen Pinewood Falls zurückkehrt, ist er wild entschlossen, sie auf Distanz zu halten. Schließlich brach ihm die Schwester seines besten Freundes einst das Herz. Dennoch lässt der Gedanke an Penelope seinen Puls in ungeahnte Höhen schnellen.

Doch Finn ahnt nicht, dass Penny ebenfalls triftige Gründe besitzt, ihm aus dem Weg zu gehen. Und obwohl sich beide dagegen wehren, fühlen sie sich magisch voneinander angezogen, und es fällt ihnen immer schwerer, dem verführerischen Knistern zu widerstehen.

Ihre aufflammende Leidenschaft zieht jedoch fatale Folgen nach sich und als sich die Lage dramatisch zuspitzt, gerät nicht nur Pennys Tochter in Lebensgefahr …

Das Buch ist vormals unter dem Titel »Penelopes Geheimnis« von Kate Sunday erschienen.

Über Kerstin Sonntag

Kerstin Sonntags Herz gehörte schon immer dem Schreiben. Nach ihrem Studium der Germanistik und Anglistik probierte sie sich in verschiedenen Berufen aus. Doch die Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen hat sie nie losgelassen und so widmet sie sich seit 2012 ganz der Schriftstellerei. Bis sie sich irgendwann den Traum vom rosenumrankten Cottage am Meer erfüllt, lebt die Autorin mit ihrem Mann und zwei fast erwachsenen Kindern in einem kleinen Ort an der Bergstraße. Hier entstehen die Ideen für ihre gefühlvollen Geschichten, die vom Leben und der Liebe erzählen.

Mehr zur Autorin unter: https://kerstinsonntag.de/

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Weiter als das Herz

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Epilog

Impressum

1. Kapitel

Zur Hölle mit den Männern! Penny hoffte inständig, dass der Herr mit dem Dreispitz höchstpersönlich ein nettes Plätzchen dicht am Feuer für Jason Atkins reservierte. Unsanft zerrte sie am Reißverschluss ihrer prall gefüllten Reisetasche, sodass sie sich prompt den Zeigefinger klemmte. Sie beschloss, den Schmerz zu ignorieren und zog beharrlich weiter. »Verflixtes, widerspenstiges Ding, warum willst du nicht so wie ich?« Endlich gelang es ihr, die Tasche zu schließen. Sie richtete sich auf und strich sich eine lästige Haarsträhne aus der Stirn. Ihr Blick fiel auf ein silbergerahmtes Bild, auf dem Jason sein schönstes Zahnpastalächeln zeigte. Mit einer Handbewegung fegte sie das Foto von der Kommode. Das hässliche Klirren, das auf dem Fuße folgte, klang wie süße Genugtuung in ihren Ohren. »Glaubst wohl, du kannst mich für dumm verkaufen, was? Wie konnte ich nur jemals …?« Ihre Schimpftirade verstummte abrupt. »Oh, hallo Schatz.« Seit wann hatte Abigail dort gestanden?

»Mommy? Mit wem sprichst du?« Abbys blaue Kulleraugen scannten den Raum.

»Ach, mit niemandem. Mommy führt Selbstgespräche, Sweetheart.« Yep. Mommy dreht langsam, aber sicher durch. Sie stieß ein künstlich klingendes Lachen aus und bückte sich, um die Glasscherben vom Parkettboden aufzuklauben. Anschließend warf sie den kaputten Rahmen inklusive Jasons dümmlich grinsendem Gesicht in den Papierkorb. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Sie hatte einfach kein Glück mit den Männern. Nein. Sie war eine von jenen Frauen, die mit schlafwandlerischer Sicherheit stets nach den Falschen griffen. »Sag mal, hast du deinen Rucksack fertig gepackt? Wir sollten langsam los«, sagte sie zu Abby, bemüht, ihrer Stimme Fröhlichkeit zu verleihen. »Ich bin sicher, Nana wartet bereits.« Schließlich konnte Abby nichts dafür, dass sie auf einen Idioten hereingefallen war. Schon wieder.

»Und Tommy auch.« Abby vergrub ihre Nase in dem karamellfarbenen Fell ihres Teddybären, den sie an ihre schmale Brust presste.

»Und Tommy«, bestätigte Penny. Ihre Tochter fieberte nicht nur danach, die heiß geliebte Großmutter, sondern auch deren behäbigen Kater in die Arme schließen zu dürfen. Tiere übten auf Abby eine magische Anziehungskraft aus.

Wenige Minuten später hatte Penny ihre Tochter samt Gepäck und Teddy in ihrem mitternachtsblauen Ford verstaut. Sie manövrierte den SUV aus der Parklücke und reihte sich in den zäh dahinfließenden Morgenverkehr ein. Die Straßen von Downtown Asheville vibrierten bereits vor Geschäftigkeit. Natürlich hatte es seine Vorteile, in einem schicken Apartment mitten in der City zu wohnen. Der Lärm, das Gewimmel und der dichte Verkehr nervten sie jedoch heute mehr als sonst. Kein Wunder, denn sie war übermüdet, hatte kaum geschlafen. Ihre Gedanken waren ständig um Jason gekreist. Auch Stunden später saß die Enttäuschung wie ein tiefer Splitter in ihrem Fleisch. Ob die Sache mit ihm überhaupt noch Sinn machte? Zähneknirschend rief sie sich zur Ordnung, als sie neue Tränen aufsteigen spürte. Sie wollte sich vor Abby keine Blöße geben. Fehlte noch, dass sie zu weinen anfing und ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up ruinierte. Schließlich hatte es lang genug gedauert, bis sie alle Spuren der vergangenen Nacht beseitigt hatte. Nein, keine einzige Träne mehr würde sie wegen dieses Scheusals vergießen. Sie dachte nicht daran, sich das bevorstehende Wochenende durch trübe Gedanken verderben zu lassen. Sie würden zwei wunderbare Tage in Pinewood Falls verbringen, um mit ihrem Bruder Sam und seiner zweiten Frau Hannah Hochzeit zu feiern. Tja, von einem weißen Spitzenkleid und einem funkelnden Ring am Finger hatte sie auch geträumt. Dieser schöne Traum war nun verpufft. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Verdammt. Sie würde nicht weinen! Ihre Finger krampften um das Steuer ihres Wagens, bis die Knöchel weiß hervortraten.

»Mommy, was ist los?« Abby besaß feine Antennen. Penny spähte blinzelnd in den Rückspiegel. »Alles in

Ordnung«, versicherte sie rasch. Nichts war in Ordnung, rein gar nichts. Noch immer konnte sie es nicht fassen, dass Jason sie mit der rothaarigen Hexe aus dem zweiten Stock betrogen hatte. Ausgerechnet mit dieser Kuh, die ihre Kurven in billiges Elastan zwängte und sich mit Glitzerschmuck behängte wie ein bescheuerter Weihnachtsbaum. Was hatte die ihm außer einem zugegebenermaßen äußerst biegsamen Körper (was in der Natur der Sache lag, da sie als Aerobiclehrerin jobbte) zu bieten? Waren Männer so einfach gestrickt? Eigentlich müsstest du das nach all den Jahren endlich kapiert haben, Penelope. Sie versuchte, die Stimme in ihrem Kopf, die sie verblüffend an ihre Mutter erinnerte, zu ignorieren. Wenn sie ehrlich war, hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass Jason kein Kostverächter war. Sie hatte das leise Schrillen der Alarmglocken ignoriert. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Sein hemmungsloses Flirten mit der attraktiven Brünetten in Wendy’s Diner, das sie großzügig mit seinem übermäßigem Weinkonsum entschuldigt hatte. Seine interessierten Blicke, wenn eine knapp bekleidete Frau auf dem Gehweg vorbeistöckelte. Die kleinen, wie zufällig wirkenden Berührungen, das vertrauliche Augenzwinkern, wenn er auf ihre Freundin Jenna traf. Jason mochte Jenna eben gut leiden, hatte Penny versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen. Was war schon dabei? Welcher Mann sah nicht gern einer hübschen Frau hinterher? Gott, Penny, wie konntest du nur so blauäugig sein?

Sie schaltete in den nächsten Gang, während ihre Gedanken zum gestrigen Abend zurückwanderten. Sie hatte sich mit Jenna auf einen Drink in Delilah’s Cocktail Lounge verabredet und Jason gebeten, sich um Abby zu kümmern. Jason, der drei Blocks weiter ein todschickes Loft sein Eigen nannte und die meiste Zeit ohnehin bei Penny in der Hickory Road verbrachte, hatte großspurig versichert, das sei überhaupt kein Problem. Gekümmert hatte er sich allerdings weniger um Abby als um Candice. Penny hatte die beiden Turteltauben in ihrer Wohnung auf der Couch bei Kerzenlicht erwischt, wo Jasons Hände eifrig Candices nackten Körper erforschten.

Als Penny ins Zimmer trat, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. »Schon … so früh?«, keuchte er, sich offensichtlich mitten in einem Aufruhr der Hormone befindend. Candice warf den Kopf zurück, sodass sich ihr flammend rotes Haar wie feurige Lava über ihre Schultern ergoss. »Früh? Nein, mein Hase, ich bin noch lange nicht fertig mit dir.« Als er nicht reagierte, folgte sie seinem starren

Blick. Ihr Lachen erstarb.

»Tja«, sagte Penny mit einer Stimme, die einem arktischen Windhauch am Nordpol gleichkam, »ich schätze, die Party ist vorbei.« Sie knipste das Deckenlicht an.

Candice löste sich von Jason, sprang auf und klaubte hastig ihre Kleidung vom Boden auf. »Ich … äh geh dann mal«, meinte sie überflüssigerweise, bevor sie sich in den Flur verzog.

Mit einer Hand sein bestes Stück bedeckend, angelte Jason nach seinem Slip. »Ich hab dich noch nicht zurückerwartet, Honey.«

»Offensichtlich.« Vor Wut zitternd verfolgte Penny, wie er sich ankleidete. Sie wich zurück, als er sich ihr näherte.

»Honey. Reg dich mal nicht auf. Es war doch nur …«

»Spar dir die Mühe, Jason.« Sie spürte bittere Galle aufsteigen. Natürlich warf sie ihn hinaus. Stopfte seinen Pyjama, Unterwäsche, ein paar frische Hemden und seinen Waschbeutel – Dinge, die er im Lauf der Zeit in ihre Wohnung angeschleppt hatte – in eine Reisetasche und drückte ihm die Sachen in die Hand. Anschließend knallte sie ihm die Wohnungstür in sein verdutztes Gesicht. Was verdammt noch mal hatte er erwartet? Dass sie ihn lächelnd bitten würde, ihr bei einem gepflegten Glas Chardonnay Einzelheiten über sein Techtelmechtel zu berichten? Abby, die der nächtliche Tumult geweckt hatte, fing in ihrem Zimmer zu weinen an. Penny hatte ihre liebe Mühe, sie zu beruhigen. Sie kuschelte sich zu ihr in die Prinzessinnenbettwäsche und wartete, bis sie wieder eingeschlafen war. Dann erst ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie schluckte hart, als die Erinnerung ihre Gefühle hochkochte.

»Mommy, kommt Jason nicht mit uns nach Pinewood Falls?« Abby ließ auf dem Rücksitz einen Kaugummi knallen.

»Nein, Sweetheart.« Möglichst unauffällig wischte Penny mit dem Handrücken über die Wangen. Nur zur Sicherheit. »Wir fahren allein. Du und ich.«

»Aber wieso? Warum kann er nicht mitkommen?«

»Das habe ich dir doch erklärt. Jason hat andere Pläne.« O ja, die hatte er garantiert. Vermutlich vergnügte er sich in genau diesem Augenblick auf dem mit Satin bezogenen Bett dieses Luders und schlürfte Champagner aus ihrem gepiercten Bauchnabel. Penny schüttelte sich innerlich. Die Fantasie ging mit ihr durch. Sie verscheuchte die Hirngespinste. »In einer knappen Stunde sind wir in Pinewood Falls.«

Abby trommelte voller Begeisterung mit den Fersen ihrer weißen Lackballerinas gegen den Sitz. »Warum fahren wir eigentlich nicht öfter zu Nana nach Pinewood Falls, Mommy?« Abby betete ihre Nana förmlich an. Was nicht verwunderlich war, denn Nana verwöhnte sie nach Strich und Faden, wenn sie Abby in Asheville besuchte. Sie kochte mit Hingabe ihr Leibgericht: Spaghetti mit Köttbullar und Preiselbeerkompott. Spielte stundenlang Scrabble mit ihr oder las ihr Geschichten von Pippi Langstrumpf vor. Penny bemühte sich, die gegenseitige Zuneigung vorbehaltlos zu akzeptieren. Insgeheim jedoch fühlte sie jedes Mal einen leisen Stich. Warum betrachtete Emilia sie nicht mit derselben unverhohlenen Freude, wie sie es bei Abby tat?

»Das ist nicht so einfach«, beantwortete Penny nun Abbys Frage. Sie warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, bevor sie ausscherte, um einen altersschwachen Chevy zu überholen. An diesem Morgen schienen sich wieder einmal alle Sonntagsausflügler verabredet zu haben, Asheville und seinem Frühlingsblumenfestival einen Besuch abzustatten. Ein UPS-Van setzte sich so knapp vor ihren Wagen, dass sie hart auf die Bremse treten musste, um ihm nicht ins Heck zu rauschen. »Armleuchter! Alles okay, Liebes?«

Abby ignorierte ihre Frage. Sie beschäftigten offensichtlich andere Dinge. »Mommy, wenn wir Onkel Sam auf Green Acres besuchen, kann ich dann auf den Eseln reiten?«

»Bestimmt.« Über Pennys Miene huschte ein kleines Lächeln. »Hör zu, Mommy muss sich auf den Verkehr konzentrieren. Warum spielst du nicht ein bisschen mit deinen Barbies?«

»Okay.«

Während sich Abby in ihr Spiel vertiefte, folgte Penny der Patton Avenue stadtauswärts. Ihre Gedanken eilten voraus. Sie sah der Ankunft in Pinewood Falls mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freute sie sich, ihre Heimat wiederzusehen. Sie sehnte sich nach dem lieblichen Hügelland der Foothills mit seinen Weiden, Pferdekoppeln und ausgedehnten Wäldern. Andererseits fühlte sie leise Beklemmung aufsteigen. Schon lange war sie nicht mehr in die beschauliche Kleinstadt am gleichnamigen Flüsschen zurückgekehrt, die sich an die Ausläufer der Appalachen schmiegte. Weil sie nicht über die Gründe für ihr Fernbleiben nachdenken wollte, konzentrierte sie sich auf die Begegnung mit ihrem älteren Bruder. Sam, ein ehemaliger Cop, der vor einigen Jahren seinen Beruf an den Nagel gehängt hatte, lebte auf einer Farm etwas außerhalb der Stadt, wo er Esel züchtete. Zudem hatte er sich inzwischen einen Namen als Schriftsteller gemacht. Seine Krimi-Trilogie Stumme Schreie führte die Bestsellerlisten an, und Sam arbeitete bereits an einer neuen Serie. Diesen Kreativitätsschub verdankte er unter anderem Hannah, wie er Penny anvertraut hatte. Hannah, deren Liebe die Erinnerung an das schreckliche Verbrechen an seiner ersten Frau und dem ungeborenen Kind allmählich verblassen ließ. Bisher hatte Penny lediglich ein paar Mal mit Hannah telefoniert oder E-Mails ausgetauscht. Sie freute sich darauf, ihre neue Schwägerin kennenzulernen. Ebenso gespannt war sie auf deren Großmutter Eliza Mae, die aus Charlotte anreiste, sowie den drei Monate alten Matt, den Hannah mit in die Ehe brachte. Penny hatte bei Spielzeugbox in der Merrimon Avenue einen entzückenden grauen Plüschelefanten mit überdimensionalen rosa Füßen für den Jungen erstanden. Für Sam und Hannah hatte sie eine hübsche filigrane Porzellantassensammlung als Hochzeitsgeschenk im Gepäck.

Trotz der Umstände stellte sie fest, dass sie sich auf die Feier freute. Nicht nur darauf, Sam wiederzusehen, sondern auch auf die Gelegenheit, ein hübsches Kleid zu tragen. Sie machte sich gern zurecht. Genoss es, bewundernde Blicke auf sich zu ziehen. Für das Fest hatte sie sich deshalb etwas Neues gegönnt, ein royalblaues Cocktailkleid im Fünfzigerjahrestil, verziert mit feinstem Jacquardblumenmuster. Die rotgesichtige Verkäuferin bei Bellagio hatte ihr versichert, dass das tiefe Blau auf wunderbare Weise mit der Farbe ihrer Augen harmonierte. Unwillkürlich überprüfte Penny ihr Make-up im Rückspiegel und ertappte Abby, die dem armen Ken mithilfe der wasserstoffblonden Barbie einen kräftigen Hieb verpasste.

»Du Blöder«, schimpfte Barbie. »Du bist ein richtiger Doofmann!« Penny applaudierte ihrer Tochter im Stillen. Besser hätte sie es auch nicht formulieren können.

»Aber es war doch nicht so gemeint«, jammerte Ken. Typisch Mann.

»Weißt du, was du bist?«, blökte Barbie. »Du bist ein Aschloch, ja genau, das bist du!«

»Abigail Katrina Parker! Ich möchte nicht, dass du derartige Ausdrücke in den Mund nimmst!« Insgeheim musste Penny ihr allerdings recht geben. Es brodelte in ihr. Gewaltig. Jason hatte einen großen Fehler begangen. Einen Fehler, den sie ihm vermutlich nicht so schnell verzeihen würde.

»Aber Mommy, du sagst so was auch«, protestierte die Kleine. »Ich hab genau gehört, wie du gestern zu Jason gesagt hast …«

»Das ist etwas anderes.«

»Warum?«

O Herr, gib mir Geduld. Penny rollte mit den Augen. Sie war gern eine Mom. Manchmal jedoch – nur manchmal – wagte sie es, sich vorzustellen, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie sich nicht vor fast sieben Jahren in einer mondhellen Sommernacht von der sanften Berührung warmer weicher Lippen und ein paar Gläsern Champagner zu viel verführen lassen hätte. Innerlich leise aufseufzend reihte sie sich in den Verkehr auf der Interstate 240 in Richtung Westen ein. Noch neununddreißig Meilen bis Pinewood Falls.

2. Kapitel

Hi, alter Freund.« Finn schlängelte sich an seiem Kumpel Sam vorbei in den Flur. »Zeit für einen Jack Daniel’s?« Möglichst unauffällig ließ er seinen Blick ins offene Wohnzimmer hinübergleiten.

Sein Freund hob in einer hilflosen Geste beide Hände.

»Ich schätze, mir wird nichts anderes übrig bleiben, oder?« Er versetzte Finn einen spielerischen Stoß vor die Brust.

»Komm schon rein, genehmigen wir uns einen, auch wenn es gerade mal eben elf Uhr ist. In dem ganzen Trubel der Hochzeitsvorbereitungen kann ich einen Drink gut gebrauchen.«

Finn folgte ihm ins lichtdurchflutete Wohnzimmer, wo sich Sam sogleich an der Bar zu schaffen machte.

»Holst du uns Gläser und Eis?«

»Yep.« Gehorsam stapfte Finn in die Küche, als wäre er daheim. Gut, um ehrlich zu sein, betrachtete er Green Acres auch ein bisschen als sein zweites Zuhause. Er hatte Sam vor vielen Jahren an der Upstate University von South Carolina in Spartanburg kennengelernt, wo sie im Footballteam gespielt hatten. Sam hatte seiner Mannschaft nicht selten als Quarterback zum Sieg verholfen, und Finn hatte sich einen Namen als geschickter und wendiger Guard gemacht. Noch heute blickte er mit Stolz auf seine Leistung zurück, denn Football zählte nicht als Nationalsport seiner Heimat. Finn war ein Kind Irlands. Seine Eltern hatten die grüne Insel dreizehn Jahre nach seiner Geburt verlassen, um ihrem einzigen Sohn in den Vereinigten Staaten eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Seine Jugendzeit verbrachte er in Bridgeport, einem rauen Vorort von Chicago. Im Sommer fuhr er Skateboard auf den schmuddligen Gehwegen der Nachbarschaft oder spielte mit den Jungs Basketball auf dem harten Asphalt eines eingezäunten Hinterhofs. Das zweistöckige rostbraune Backsteinhaus hinter dem schmiedeeisernen Zaun in der zweiunddreißigsten Straße schien ihm mit den Jahren immer enger und bedrückender zu werden. Der Lärm der lebhaften Stadt immer unerträglicher. Oft blickte er sehnsüchtig aus dem Fenster auf die Blätter des ausladenden Bitternussbaums und träumte von den sanften grünen Hügeln seiner Heimat. Wo es nicht nach Abgasen stank, wenn man das Fenster öffnete. Wo die frisch gewaschene, fröhlich auf der Leine flatternde Wäsche draußen hängen bleiben konnte, wenn es zu regnen begann, weil der Regen rein und sauber wie Quellwasser war. Nach seinem Studium in Spartanburg hatte sich Finn entschlossen, nicht nach Chicago zurückzukehren. Er hatte sich in den Süden verliebt. Das liebliche Hügelland der Foothills von North Carolina, wo sich am Horizont die violetten Berge in den scheinbar unendlich weiten blauen Himmel erhoben, erinnerte ihn an sein Geburtsland. Ihm gefiel das gemächlich dahinplätschernde und entspannte Lebensgefühl. Kurzerhand ließ er sich in Pinewood Falls nieder, dem Heimatort seines Freundes Sam. Kaufte sich einen einfachen Bungalow in der Pine Ridge Alley, einer ruhigen, baumbestandenen Straße, in der hauptsächlich Familien oder ältere Herrschaften wohnten. Eine Zeit lang schlug er sich als Aushilfs- und Nachhilfelehrer in den umliegenden Orten durch, bis er an der Grundschule von Pinewood Falls eine feste Anstellung fand. Bei den Parkers in der Cotton Hill Lane war er ein gern gesehener Gast. Emilia und Hank hatten ihn gleich ins Herz geschlossen. Seine Freundschaft mit Sam, der bei der örtlichen Polizei eine Karriere als Cop startete, bestand weiterhin. Es war Sams Schwester Penny, die Finn von Beginn an die kalte Schulter zeigte. Vielleicht war dies einer der Gründe gewesen, weshalb er eine Schwäche für die dunkelhaarige Schönheit entwickelt hatte. Ihre spröde Kühle reizte ihn. Zu dumm, dass er bei ihr nie eine Chance gehabt hatte. So hielt er sich an Sam, der seine Gegenwart sichtlich genoss. Als sein Freund Maggie Cavendish heiratete und mit ihr nach Green Acres zog, wurde es Finn zur lieben Gewohnheit, nach Feierabend auf einen Drink vorbeizukommen. Hier brannte meist ein einladendes Feuer im Kamin, und Sam hielt immer eine Flasche seines Lieblingswhiskeys für ihn bereit. So wie auch heute.

Zufrieden grinsend hielt Finn die beiden Gläser, die er dem Regal neben dem Kühlschrank entnommen hatte, unter den Eiswürfelspender und kehrte anschließend ins Wohnzimmer zurück. »Schon jemand da?«, wollte er beiläufig wissen, als er sie Sam reichte.

Sein Kumpel streifte ihn mit einem flüchtigen Blick, bevor er großzügig einschenkte. »Hannah ist mit Matt zum Bahnhof gefahren, um Eliza Mae abzuholen.«

Finn hatte bereits das Vergnügen gehabt, Eliza Mae Mitchell, Hannahs Großmutter, die ihre Enkelin nach dem tragischen Unfalltod der Eltern zu sich nach Charlotte geholt hatte, kennenzulernen. Er schätzte die warmherzige Dame – eine Südstaatenlady, wie sie im Buche stand. Ihre zierliche, scheinbar zerbrechliche Statur hatte ihn nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sich hinter der reizendenden Liebenswürdigkeit eine energisch zupackende, resolute Frau verbarg. Sie erinnerte ihn ein wenig an Emilia, Sams Mom. »Und sonst?«

»Und sonst?« Sam hob die dunklen Brauen.

»Na ja, ich meine, sind sonst irgendwelche Gäste eingetroffen?« Finn verlagerte sein Gewicht und bemühte sich um einen möglichst unbefangenen Gesichtsausdruck.

»Falls du auf Penny und Abby anspielst, nein. Wir erwarten sie gegen Mittag.«

Sein alter Freund kannte ihn viel zu gut. Finn sah es an der Art, wie sich dessen rauchgraue Augen verengten. Er wich Sams forschendem Blick aus und machte es sich mit dem Whiskey auf dem Sofa bequem. An seinem Getränk nippend betrachtete er den hellen großzügigen Raum. Die schlichten Natursteinwände, die bis hinauf ins Spitzgiebeldach reichten, verliehen dem Erdgeschoss Gemütlichkeit, aber auch lichte Weite. Verblasste Orientteppiche ergänzten den edlen Parkettboden, dessen warmer, tiefer Glanz an die Farbe eines orangeroten Kürbisses erinnerte. Auf Sams Kirschholzsekretär stapelten sich neben dem Laptop jede Menge säuberlich geordnete Papiere. Offensichtlich das Manuskript zu seinem neuesten Kriminalroman. Daneben glitzerte die Schneekugel mit der kleinen Elfe. Eine Erinnerung an Maggie. Green Acres war ein heimeliger Ort, an dem man sich wohl und geborgen fühlte, stellte er nicht zum ersten Mal fest. Anders als sein Zuhause, das den Eindruck einer Junggesellenbude vermittelte. Einer sauberen allerdings, bitte schön. Mrs. Kramer machte einen guten Job. Mit Hingabe putzte und wienerte sie seine spartanisch eingerichteten Räume. Im Bungalow war alles auf Funktionalität ausgerichtet, weniger auf Gemütlichkeit. Womöglich war dies ein weiterer Grund, weshalb er nach getaner Arbeit gern auf einen Drink bei Sam und Hannah vorbeikam? Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Freund zu, der es sich in einem Ledersessel gemütlich gemacht hatte. »Nun sag, mein Lieber, bist du bereit, morgen erneut in den Hafen der Ehe einzuschippern?«

Um Sams Mundwinkel zuckte es. »Klingt seltsam. Aber ja, um es mit deinen Worten auszudrücken, ich bin bereit, um einzuschippern.«

Ebenfalls grinsend hob Finn sein Glas. »Cheers, Mann. Du Glückspilz.« Sam hatte einen guten Fang gemacht. Nicht nur, dass Hannah Mulligan äußerst nett anzusehen war, sie war auch ein warmherziges und kluges Exemplar der Gattung Frau. Sein Freund war durch die Hölle gegangen, als Maggie starb. Finn hatte befürchtet, dass er den gewaltsamen Tod seiner Frau und des Ungeborenen niemals überwinden würde. Dank Hannah fingen seine Wunden endlich zu heilen an. Sie war der Grund, weshalb Sam wieder lachen konnte. Schon dafür mochte Finn die zierliche Brünette.

»Wenn du möchtest, bleib zum Mittagessen«, schlug Sam vor. »Deanna hat vermutlich wieder einmal genügend Chili gekocht, um eine ganze Footballmannschaft zu versorgen.«

Deanna Wilbur, die Haushälterin auf Green Acres, galt als der gute Geist des Hauses. Emilia Parker hatte die blonde fröhliche Frau nach Maggies Tod engagiert, um sicherzustellen, dass ihr Sohn mit regelmäßigen Mahlzeiten versorgt wurde. Selbstverständlich hatte die Tatsache, dass sie mit Deannas Hilfe ein Auge auf Sam haben konnte, ebenfalls eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt.

Deanna war gekommen und geblieben. Inzwischen gehörte sie zu Green Acres wie die hohen alten Roteichen, die das Haus schützend umgaben. Wie die weiten grünen Koppeln und Jackson, der schwarze Vorarbeiter, der sich um die Esel kümmerte. An drei Vormittagen, wenn Hannah Doc Bailey im Familiengesundheitszentrum von Willow Creek assistierte, betreute Deanna den kleinen Matt. Sie besaß den Ruf, eine begnadete Köchin zu sein.

Doch auch wenn Finn jederzeit sein letztes Hemd für einen Teller ihres köstlichen Chilis gegeben hätte, musste er leider ablehnen. Bedauernd hob er die Schultern. »Danke, aber Shelley möchte mich zum Lunch treffen.«

Sams Augen funkelten interessiert auf. »Womöglich möchte sie dir etwas Wichtiges mitteilen? Von wegen, sie hört ihre biologische Uhr ticken und so? Hochzeiten sollen ja bekanntlich ansteckend sein, hab ich gehört.« Er feixte.

Unsanfter als beabsichtigt stellte Finn das Glas ab.

»Was?« Ihm wurde heiß. Dann kalt. Sie begaben sich auf unangenehmes Terrain. »Quatsch«, erwiderte er eine Spur zu schroff. »Das ist bei uns kein Thema.« Noch lange nicht. »Ist alles in Ordnung bei euch beiden?«

Er beugte sich vor, stützte seine Arme lässig auf den Oberschenkeln ab. »Klar, warum nicht?«

»Aber?«

»Kein Aber. Es ist alles bestens zwischen Shelley und mir.«

»Du weißt, ich finde Shelley reizend. Sie ist lieb und nett, aber ich hab eigentlich nie verstanden, warum du damals mit McKenna gebrochen hast. Sie ist eine klasse Frau. Und ihr habt einiges gemeinsam, wie die Liebe zur Literatur zum Beispiel.«

Finn dachte an die attraktive Blondine, der die örtliche Buchhandlung Bookends gehörte. Er und die Buchhändlerin pflegten ein freundliches, aber distanziertes Verhältnis. Vor ein paar Jahren hatten sie eine stürmische Affäre gehabt. In einem schummrigen Pub im Nachbarort Tryon hatten sie sich über ein paar Gläsern eiskaltem Bier unterhalten und auf Anhieb glänzend verstanden. Sie nahm ihn mit zu sich nach Hause, wo sie diese und folgende Nächte miteinander verbrachten. Eine wunderbare, intensive Zeit folgte.

Nach ein paar Monaten zog er die Reißleine. Er hatte kalte Füße bekommen. Panik geschoben. Viel zu nahe war McKenna ihm gekommen. Um ein Haar hätte sie die Mauer, die er so sorgsam um sein Herz errichtet hatte, zum Einsturz gebracht. Die Wahrheit war, dass er Angst hatte, sich ernsthaft zu binden. Was die Liebe anging, war er ein gebranntes Kind. Den Frauen, mit denen er sich verabredete, gab er nie eine wirkliche Chance. Keiner gelang es, zu ihm durchzudringen. Weil er in seinem Herzen immer nur die eine trug. Im Nachhinein hatte er bereut, McKenna von sich gestoßen zu haben. Es war albern und unreif gewesen, mit ihr aus Angst vor verletzten Gefühlen zu brechen. Mit ihr hätte es vielleicht klappen können.

Die Chance war jedoch längst verstrichen, denn seine Zurückweisung hatte die Buchhändlerin zutiefst verletzt. Zwei Jahre lang ging sie ihm konsequent aus dem Weg. Wenn er in Bookends nach einem Buch stöberte, ignorierte sie ihn, und er musste jedes Mal mit ihrer pummligen Assistentin Hazel, die ihn argwöhnisch durch ihre dicken Brillengläser musterte, vorliebnehmen. Wenn sie sich im Cottage Garden Café oder in Violet’s Krämerladen über den Weg liefen, verließ McKenna postwendend das Lokal oder den Laden. Auf der Mainstreet wechselte sie demonstrativ die Straßenseite, und auf Partys von gemeinsamen Freunden zeigte sie ihm die kalte Schulter. O ja, McKenna Anderson ließ ihn deutlich wissen, was sie von ihm hielt. Irgendwann fing sie wieder an, ihn anzusehen, wenn sie sich begegneten. Grüßte ihn mit einem knappen Hallo. Manchmal gab sie sich freundlich und beinahe unbefangen in seiner Gegenwart, ein anderes Mal behandelte sie ihn abweisend und kühl. Wenn er die vielsagenden Blicke ihrer dunklen Samtaugen richtig deutete, schien sie nicht abgeneigt, sich noch einmal mit ihm einzulassen. Aber Finn zögerte. Hieß es nicht immer, man solle Beziehungen nicht aufwärmen?

Dann lernte er Shelley kennen. Was ihm sofort an ihr gefiel, war ihre Bescheidenheit, ihre stille Freundlichkeit. Sie forderte nichts, schien zufrieden mit seiner bloßen Gegenwart. Mit ihr gab es kein verzehrendes Feuer, an dem er sich die Finger hätte verbrennen können. In der letzten Zeit allerdings hatte sich zwischen ihnen irgendetwas verändert. Er konnte es nicht genau festmachen. Es war vielmehr ein Empfinden, der Hauch einer Ahnung. Er glaubte, in Shelleys Augen ein erwartungsvolles Funkeln zu entdecken, wenn sie über die bevorstehende Hochzeit sprachen. Hoffentlich wartete sie nicht darauf, dass Finn den nächsten Schritt machte. Das hatte er gewiss nicht vor. Sie waren noch nicht so weit. Und er bezweifelte, dass er es jemals sein würde.

»Finn?«

»Hm?« Er fand Sams Blick abwartend auf sich gerichtet.

»McKenna.«

Finn lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »McKenna«, wiederholte er, um Zeit zu gewinnen. »Sie ist ohne Zweifel eine tolle Frau. Keine Ahnung, warum aus uns nichts geworden ist. Außerdem bin ich mit Shelley glücklich.«

»Aha.« Sams Augen verengten sich aufs Neue.

Einmal Cop, immer Cop. Sein Freund konnte das Schnüffeln nicht sein lassen. Er nahm es ihm jedoch nicht übel. Sam war eben Sam. »Nicht jeder hat das Glück, gleich zwei Mal im Leben auf die große Liebe zu treffen, Kumpel. Aber ja, Shelley und ich sind glücklich.« Es stimmte doch, oder?

Shelley, eigentlich Michelle Carnegie, und er hatten sich auf dem Pinewood Falls-Musikfestival kennengelernt. Sie war ihm aufgefallen, weil sie in der Tanzhalle einsam in einer Ecke gestanden und mit großen Augen das rege Treiben um sich herum beobachtet hatte. Wie ein scheues Reh in einer Lichtung, das vom grellen Sonnenlicht geblendet wurde. Sein Herz hatte sich gerührt, als er sie so verloren dastehen gesehen hatte, und er hatte sie zum Tanzen aufgefordert. Sie tanzten und plauderten den ganzen Abend. Später fuhr er sie nach Hause. Ein spontaner Kuss auf einer Party, die sein Freund Josh in seiner Berghütte am Cedar Cliff Mountain geschmissen hatte, besiegelte zwei Wochen später das Ende der platonischen Freundschaft. Sie vermieden es, von Liebe zu sprechen. Ihre Beziehung plätscherte gemächlich dahin wie der Pinewood Falls. Es gab keine unangenehmen Überraschungen, kein böses Wort. Mit Shelley zusammen zu sein, war wie das Ankern in einem geschützten Hafen. Manchmal, ja, nur manchmal, sehnte er sich nach dem kleinen Quäntchen mehr. Nach den unberechenbaren hohen Wellen des weiten Ozeans. Nach diesem besonderen aufregenden Prickeln, wie er es bisher nur einmal verspürt hatte. Er erinnerte sich flüchtig an die Worte, die seine Mom gern zitierte. Irgendetwas über ein Boot im Hafen, das dort zwar sicher ankerte, zu diesem Zweck aber nicht erbaut worden war. Ach, zum Teufel damit. Er brauchte keine Aufregung. Konnte gut und gern auf das ganze Drama, den Schmerz, auf Sehnsucht, die das Herz zerriss, Wut und Enttäuschung verzichten! Sein Leben lief in geordneten, ruhigen Bahnen. Und das war gut so. So sollte es bleiben. Und dennoch: Jetzt, wo er wusste, dass er Penny bald wieder gegenüberstehen würde, fing sein Herz verräterisch wild zu pochen an.

*

An ihrem Schminktisch sitzend öffnete Emilia das lederne Schmuckkästchen, das Hank ihr zum fünfzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Behutsam nahm sie die cremefarbenen Süßwasserperlenohrringe heraus, um sie zu betrachten. Sie hatte sie vor vielen Jahrzehnten zu ihrer Trauung getragen und plante, sie morgen auf der Hochzeit ihres Sohnes anzulegen. Sie freute sich auf diesen besonderen Tag. Natürlich hatte sie gehofft, dass Sam irgendwann wieder glücklich werden würde. Niemals hätte sie jedoch zu träumen gewagt, dass er sich je wieder binden, geschweige denn heiraten würde. Noch dazu so eine bezaubernde Frau wie Hannah Mulligan. Zugegeben – zunächst hatte Emilia starke Bedenken gegen diese Verbindung gehabt. Als sich Sam und Hannah kennenlernten, war Hannah verheiratet und erwartete obendrein ein Kind. Zwar hatte sie ihren Mann, der offenbar ein gewalttätiger Trinker war, verlassen, aber weil er nicht gewillt war, sie aufzugeben, hatte er sich an ihre Fersen geheftet und war ihr bis nach Pinewood Falls gefolgt. Kära hjärtandes, du liebe Güte, es war ein fürchterliches Durcheinander mit tragischem Ende gewesen!

Eines Tages hatte man seine Leiche auf Green Acres entdeckt. Vermutlich hatte er Hannah, die bei Sam Unterschlupf gefunden hatte, nachspioniert. Ein verhängnisvoller Mix aus Drogen und Tabletten hatte seinem Leben ein jähes Ende gesetzt. So entsetzlich die Umstände waren, Hannah war frei für Sam. Wie würde ihr Sohn auf die Schwangerschaft reagieren? Wäre er in der Lage, ein fremdes Kind anzunehmen, nachdem er sein eigenes durch die Hand eines Mörders verloren hatte?

Zu ihrer Überraschung akzeptierte er den kleinen Matthew wie sein eigen Fleisch und Blut. Der Junge, den Hannah nach ihrem verstorbenen Vater benannt hatte, war aber auch entzückend. Emilia selbst war ganz vernarrt in ihn. Wer hätte gedacht, dass sie so unverhofft Granny werden würde? Auch wenn sie nicht die leibliche Großmutter dieses Kindes war, verspürte sie dennoch eine zärtliche Liebe zu ihm, die in ihrer Intensität den Gefühlen, die sie für Abigail hegte, in nichts nachstand.

Leise lächelnd befestigte sie einen der Perlenohrringe am Ohrläppchen, um sich anschließend im Spiegel zu betrachten. Je älter sie wurde, desto mehr erkannte sie in den hohen Wangenknochen, dem energischen Kinn und den rauchgrauen Augen ihren Vater Sverre Fredriksson. Was für ein Glück, dass der alte Herr ein gut aussehender Zeitgenosse gewesen war, dachte sie schmunzelnd. Seinerzeit hatte er in seinem schwedischen Heimatdorf allen jungen Mädchen den Kopf verdreht. Sie nickte ihrem Spiegelbild zu, doch irgendetwas störte sie. Nicht, dass sie abergläubisch wäre, aber es fühlte sich seltsam an, diesen Schmuck zu tragen. Nein, lieber nicht. Sie nahm den Ohrring ab und griff stattdessen nach einem Paar winziger Diamantstecker. Sie funkelten im Tageslicht und ließen ihre Augen strahlen. Viel besser. Noch einen Hauch ihres Lieblingsduftes – Chanel No. 5 – hinter das Ohr und fertig.

Sie verschloss das Schmuckkästchen mit einem winzigen Schlüssel und verstaute es in der Kommode. Mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel strich sie eine silbern schimmernde Strähne ihres ehemals flachsblonden, zu einem eleganten Chignon frisierten Haares, sorgfältig zurück. Das leichte Schwindelgefühl, das sie beim Aufstehen überfiel, ignorierte sie. Emilia war nicht zimperlich. Wenn sie sich nicht wohlfühlte, trank sie ein Gläschen Likör – eine Angewohnheit, die sie von ihrem Vater übernommen hatte, und biss die Zähne zusammen. Sie hielt nichts davon, auf jedes Wehwehchen, auf jedes Zwicken und Zwacken, das die meisten im zunehmenden Alter plagte, zu achten. Sie war eine Frau, die funktionierte, nicht jammerte. Im Großen und Ganzen ging es ihr gut, und sie war dankbar, dass sie mit fast achtundsechzig noch ein aktives Leben führen konnte. Hoffentlich würde dies noch lange der Fall sein, schließlich freute sie sich darauf, zu sehen, wie der kleine Matt aufwuchs. Und wer weiß, vielleicht entschieden sich Sam und Hannah ja dafür, dem Jungen ein Geschwisterchen zu schenken? Hannah war mit Mitte dreißig jung genug, um weitere Kinder zu bekommen.

Wenn sich Penelope nur dazu entschließen würde, die Familie öfter in Pinewood Falls zu besuchen. Emilia seufzte tief. Von wem ihre Tochter nur den Sturkopf geerbt hatte? Sie trat an ihren Nachttisch, um eins der messinggerahmten Bilder zu betrachten: Ingrid und Sverre Fredriksson vor dem rot gestrichenen Elternhaus in Kandersö mit Emilias jüngerem Bruder Emil, der im zarten Alter von neun beim sorglosen Spielen an der Uferpromenade im Fluss ertrank. Sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern, stellte Emilia betroffen fest. Auch ihre Eltern waren lange schon verstorben, hatten den frühen Tod des Sohnes nie verkraftet. Nachdenklich nahm sie einen anderen Rahmen in die Hand. Das Foto zeigte ihre Tochter bei einem ihrer seltenen Besuche in der Cotton Hill Lane, kurz nach Abigails Geburt. Penelope hielt das in eine rosafarbene Baumwolldecke eingewickelte Bündel mit vor Stolz funkelnden Augen an ihre Brust. Sie wirkte glücklich und zufrieden, doch Emilia bemerkte das trotzig gen Himmel gereckte Kinn. Siehst du, Mutter, trotz deiner Unkenrufe habe ich es geschafft. Und das ganz allein. Leise aufseufzend stellte Emilia das Bild zurück. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Tochter wiederzusehen. Abigail in ihre Arme zu schließen. Wenn sie sich nicht ab und an nach Asheville begeben würde, würde sie ihre Enkelin vermutlich niemals zu Gesicht bekommen. Ihre Tochter mied Pinewood Falls wie der Teufel das Weihwasser. Der Himmel mochte wissen, warum. Penelope hatte diesbezügliche Fragen stets mit einem ärgerlichen Schulterzucken abgetan, und die schmale Linie ihrer Lippen hatte Emilia deutlich signalisiert, dass ihre Tochter nicht bereit war, ihr die Gründe für ihr Fernbleiben zu verraten. Penelope Ann war schon immer starrköpfig gewesen. Impulsiv und aufbrausend. Ganz im Gegensatz zu Emilia, die Vor- und Nachteile sorgfältig abwägte, alles gründlich durchdachte und ihr Leben effizient organisierte. So grundverschieden, wie Mutter und Tochter waren, war es kein Wunder, dass sie immer wieder aneinandergerieten.

Sie hörte das Knirschen von Autoreifen auf dem Kies in der Einfahrt und den durchdringenden Klang einer Hupe. Das mussten Penelope und Abigail sein. Emilia straffte ihren Rücken, strich glättend über den taubenblauen Kostümrock und verließ das Schlafzimmer. Die blank gebohnerten Dielen knarrten unter den Sohlen ihrer Pumps. Im Vorbeigehen zupfte sie schnell noch das weiße Häkelspitzendeckchen auf der Flurkommode zurecht. Kaum hatte sie die Haustür geöffnet, flog Abigail in ihre ausgebreiteten Arme.

»Nana! Nana!«

Emilia hielt den vor Aufregung vibrierenden kleinen Körper, vergrub ihre Nase in dem herrlich seidigen Haar, das so wunderbar nach Apfelshampoo duftete. »Hallo Cupcake. Da ist ja mein kleiner Liebling. Schön, dass ihr da seid.« Sie richtete ihren Blick auf Penelope. »Hallo, mein Kind.«

»Mom.« Penelope bedachte ihre Mutter mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie sich mit dem Gepäck an ihr vorbei in den Flur schob.

»Wie war die Fahrt? Seid ihr gut durchgekommen?« Emilia löste sich behutsam von Abigail.

»Klar. Wenn man sich erst einmal durch Asheville gekämpft hat, ist der Rest ein Kinderspiel.« Penelope ließ die Taschen auf die Holzdielen plumpsen.

Sie wirkte erschöpft, fand Emilia, ein wenig angegriffen. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, und um ihren hübsch geschwungenen Mund zeigten sich zwei feine Linien. »Penelope?«

»Hm?«

»Ist alles in Ordnung?«

»Aber natürlich. Warum denn nicht?«

»Nun, ich finde, du wirkst etwas abgespannt.«

»Ist das ein Wunder?« Penelope ging sogleich in die Defensive, wie sie das immer tat. »Kind, Job, Termine. Ist eben manchmal ein wenig stressig.«

Emilia verkniff sich eine Bemerkung. Immerhin war es die Entscheidung ihrer Tochter, ihr Leben gute fünfundvierzig Meilen von der Familie entfernt zu führen. Sie hätte nichts dagegen, Penny zu unterstützen und sich hin und wieder um Abigail zu kümmern. Im Gegenteil. Seitdem der kleine Matt die Familie bereicherte, sehnte sie sich noch mehr danach, auch ihre Enkelin in der Nähe zu haben. »Wie geht es Jason?«, lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. »Hast du ihn nicht überreden können, euch zu begleiten? Ich hätte mich gefreut, ihn wiederzusehen.« Nein, das war gelogen. Sie fragte aus reiner Höflichkeit. Emilia mochte Jason Atkins nicht. Sie hatte diesen selbstherrlichen, arroganten Menschen, der nie um eine passende Antwort verlegen schien, noch nie leiden können. Mochte der Himmel wissen, was ihre Tochter an ihm fand. Andererseits hatte sie Penelopes Männerwahl schon immer fragwürdig gefunden. Weshalb sie in der Vergangenheit mehr als einmal aneinandergeraten waren.

»Herrgott, Mom. Du weißt doch, wie beschäftigt Jason ist.« Über Penelopes Nasenwurzel bildete sich eine steile Falte. Sie bückte sich, um ein vermeintlich loses Schnürbändel an ihrem Sneaker zu befestigen. »Abby, geh ruhig Tommy suchen, du hast dich doch so auf ihn gefreut«, setzte sie nach und schloss damit die Tür zwischen ihnen.

»Wo ist deine Katze, Nana?« Abby bohrte vor lauter Aufregung in der Nase.

»Sieh doch mal in der Küche nach, Cupcake.« Emilia griff nach Abbys Hand. »Vermutlich schläft Muffin in seinem Körbchen. Er ist die halbe Nacht umhergestreunert und muss sich jetzt ausruhen.«

»Warum nennst du Tommy Muffin, Nana?«

Emilia lächelte. »Ich weiß es nicht, Liebes. Ich schätze, ich gebe allen, die ich besonders liebe, Spitznamen.«

»Und mich nennst du Cupcake.« Die Kleine strahlte.

»So ist es, mein Schatz. Und nun geh.« Emilia wuschelte ihr liebevoll durch den Pony. Früher, als Penelope ein Kind gewesen war, hatte sie ihre Tochter sötnos – Süßnäschen – gerufen. Das war lange her. »Abigail ist ein liebes Ding«, sagte sie, die Erinnerung, die seltsam schmerzte, verdrängend. »Ich wünschte, ich könnte sie öfter sehen.« Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein vorwurfsvoller Unterton in ihre Stimme schlich.

Penelope bedachte sie prompt mit einem vielsagenden Blick.

»Darf ich euch eine Erfrischung anbieten, bevor wir zum Lunch nach Green Acres aufbrechen?«, sprach Emilia weiter, bevor sich daraus eine neue Diskussion entfachen konnte. »Wir könnten es uns auf der Veranda gemütlich machen. Die Frühlingsblumen blühen so herrlich, und ich habe frische Zitronenlimonade da.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte Penelope das lange dunkle Haar nach hinten. »Nein, Mom, lass gut sein. Ich bringe rasch das Gepäck hinauf, und dann können wir gleich los nach Green Acres.«

»Gewiss.« Emilia spürte einen Stich der Enttäuschung.

Penelope war bereits auf halbem Weg nach oben, da drehte sie sich noch einmal um. »Mein altes Zimmer?«

Beim Anblick ihrer attraktiven, stets ein bisschen kühl erscheinenden Tochter, zog sich Emilias Herz zusammen. Pennys saphirblaue Augen erinnerten sie so verblüffend an Hank, dass sie ihre Tochter manchmal kaum ansehen konnte. Sie wünschte, sie könnte diese Barriere einreißen, die sie beide im Lauf der Jahre so sorgsam zwischen sich errichtet hatten. Sie wusste, sie trug nicht unerhebliche Schuld daran, dass sich ihre Beziehung in diese Richtung entwickelt hatte. Zwischen ihnen hatte sich nie, anders als es bei Sam der Fall war, ein enges Verhältnis entwickelt. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum Geschwister derart unterschiedlich sein konnten, obwohl sie demselben Hause entstammten. Vielleicht hatte es etwas mit dem Sternzeichen zu tun, unter dem Penelope geboren war? Das Kind war ein typischer Widder, wie er im Buche stand. Ihre ungestüme Art hatte Emilia dazu verleitet, sie besonders beschützen und leiten zu wollen. Natürlich hatte Penelope die Bemühungen der Mutter stets als Bevormundung interpretiert. »Ja, Liebes«, entgegnete Emilia mit leisem Bedauern, weil sie sich wünschte, die Dinge lägen anders. »Ich habe dein Mädchenzimmer für euch hergerichtet.« Sie wandte sich ab, um in der Küche nach Abigail und Tommy zu sehen.

3. Kapitel

Emilia stützte sich auf dem Holzgeländer des Bootsstegs ab und ließ den Blick schweifen. Sie liebte den Emerald Lake, der vom Flüsschen Willow Creek gespeist wurde. Besonders gefiel ihr die intensive smaragdgrüne Farbe, die das Wasser in den warmen Sommermonaten annahm. Hank und sie hatten in den frühen Jahren ihrer Ehe, als die Kinder klein waren, gern am Seeufer gepicknickt. Emilia hatte davon geträumt, einmal eins der im Schatten hoher alter Bäume versteckten Blockhäuser zu besitzen. Sie und Hank hätten es sich als Ferienhäuschen für die Wochenenden herrichten können, so wie es viele andere machten. Nun, dieser Traum war lange ausgeträumt. Wie so viele andere auch.

Mit einem wehmütigen Gefühl in der Brust wandte sich Emilia um und richtete den Blick auf das kleine Lokal, in dem ihr Sohn heute Hochzeit feierte: Annie’s Cottage. Dort, auf der festlich geschmückten Terrasse tanzte ihr Sohn mit der neuen Schwiegertochter zu Anne Murrays Could I have this dance. Sie konnte nicht anders, sie musste die Worte leise mitsummen. O ja, sie erinnerte sich daran, wie Hank und sie sich zu dieser Musik gedreht hatten. Erst auf ihrer eigenen Hochzeit, später auf den Musikfestivals, die sie in Pinewood Falls besucht hatten. Das war ihr Lied gewesen. Jetzt war es Sam, der mit Hannah zu dieser Melodie tanzte. Schon lange hatte sie ihn nicht mehr so glücklich und gelöst erlebt wie heute. Es schien, als hätte er endlich die Schatten der Vergangenheit abgestreift. Mit Stolz stellte sie nicht zum ersten Mal fest, dass ihr Sohn ein gut aussehender Mann war. Der schiefergraue Anzug mit der blutroten Rosenblüte am Revers stand ihm ausgesprochen gut. Mit leisem Lächeln registrierte sie, wie einige der ledigen Damen nicht umhin konnten, ihm bewundernde Blicke zuzuwerfen. Er jedoch hatte nur Augen für seine Braut. Als wir eng umschlungen zur Musik tanzten, hab ich mich in dich verliebt. Emilia fischte ein Spitzentaschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln. Hank schien ihr so präsent wie schon lange nicht mehr. Fast meinte sie, den Druck und die Wärme seiner kräftigen Finger durch den dünnen Stoff der Satinbluse auf ihrer Schulter zu spüren. Sie hob ihren Arm, um die Hand auf die brennende Stelle zu legen. Vom ersten Moment an, da sie ihm in die umwerfend blauen Augen geblickt hatte, hatte sie sich in Hank Parker verliebt. Als junge Frau war sie aus Schweden für ein Urlaubssemester an die Universität von Charlotte gekommen. Ein halbes Jahr hatte sie eingeplant, mehr nicht. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass daraus fast ein ganzes Leben werden würde. Auf dem Campus war sie ihm buchstäblich in die Arme gefallen. Sie war gestolpert, er hatte sie aufgefangen. Der Rest war, wie man so schön sagte, Geschichte. Sie hatten geheiratet, sich in Hanks Heimatstadt ein hübsches Haus mit Veranda und Gartenzaun in der Cotton Hill Lane gekauft, wo sie ihre beiden Kinder großzogen. Ein gemeinsames Geschäft bauten sie sich auf, einen zauberhaften Antiquitätenladen an der Main Street. Zu Emilias Bedauern gehörte er nun einem zwielichtigen Händler, der importierte Chinaware verkaufte. Sie hatten noch so viel vorgehabt. Die Kinder waren erwachsen, führten ihr eigenes Leben. Hank und Emilia hatten geplant, zu reisen. Nach Europa, in Emilias Heimat, nach Australien.

Dazu war es nie gekommen. Hanks Herz hatte von heute auf morgen aufgehört, zu schlagen. Einfach so. Die erste Zeit nach seinem Tod war schwer für sie gewesen. Es hatte Tage gegeben, an denen hatte sie morgens nicht aufstehen können. Hatte sich gewünscht, die Sonne möge niemals mehr den Horizont erklimmen. Ihre Kinder hatten ihr die Kraft gegeben, weiterzumachen, besonders Sam. Und nach all den Jahren hatte sie es irgendwie gelernt, ohne den geliebten Mann an ihrer Seite zurechtzukommen. Sie war zufrieden mit ihrem Leben. Sie besaß einen netten Bekanntenkreis, freundliche Nachbarn. Pinewood Falls, das idyllische, etwas verschlafene Städtchen, erinnerte sie mit seinen malerischen Straßen, den Backsteingebäuden, überdachten Veranden und farbigen Markisen ein wenig an Kandersö. Sie liebte es, die breiten Gehwege entlangzuschlendern, wo schmiedeeiserne Sitzbänke inmitten von liebevoll bepflanzten Blumenkübeln und immergrünen Bäumchen zum Verweilen einluden. Sie nannte es ihr Stückchen Heimat in der Fremde. Dennoch gab es Augenblicke, wie gerade jenen, inmitten all der fröhlichen Menschen unter dem samtblauen Himmel von North Carolina, in denen ihr Herz vor Sehnsucht nach Hank Parker zu zerspringen drohte. Sie vermisste seine blitzenden Augen, seinen Humor. Die Zärtlichkeit seiner schwieligen Hände, seine Lebendigkeit. Sie war immer die Rationale von ihnen gewesen, die Kontrollierte. Er der Spontane, Begeisterungsfähige. Sie hatten sich gut ergänzt, waren wie füreinander geschaffen. Seitdem Hank nicht mehr da war, kam es ihr vor, als fehlte ein essenzieller Teil von ihr. Sie bemühte sich nach Kräften, die starke gefasste Frau zu sein, für die jeder sie hielt. Manchmal schien es ihr allerdings schier unmöglich, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Mit Tränen in den Augen riss sie sich vom Anblick der verliebten Brautleute los. Sie konnte den zärtlichen Ausdruck in den Augen ihres Sohnes, mit dem er seine neue Frau bedachte, nicht länger ertragen. »Min älskling, min älskade man«, flüsterte sie, »varför har du lämnat mig ensam på jorden? Wie konntest du dich so einfach davonstehlen, mein Liebling?«

Während sie mit brennender Kehle über das Wasser starrte, wo sich bald das Licht der bunten Lampions spiegeln würde, reiste sie in Gedanken zurück in die Vergangenheit. Sie dachte an jene, die sie bereits verloren hatte: Hank. Emil und ihre Eltern Sverre und Ingrid. Auf einmal fand sie sich von einem heftigen Gefühl der Einsamkeit überwältigt.

*

Penny schnappte sich Abbys Hand. »Komm, Sweetheart, lass uns Tante Hannah begrüßen.«

Gehorsam stolperte die Kleine in den feinen Lackschuhen hinter ihr her.

Hannah, die an einem der runden Stehtische in ein Gespräch vertieft war, musste das eifrige Getrappel von Abbys Absätzen auf den Holzplanken des Decks gehört haben. Mit dem Champagnerglas in der Hand drehte sie sich nach ihnen um. »Hey, ihr beiden!« Sie entschuldigte sich bei ihren Freundinnen und kam freudestrahlend auf sie zu.

»Hi, Hannah.« Penny hauchte ihrer frischgebackenen Schwägerin einen Kuss auf die Wange, darauf bedacht, das dezente Make-up nicht zu ruinieren. »Du siehst wirklich sehr hübsch aus.«

Hannah hatte ihr ehemals kurz geschnittenes Haar zu einem schulterlangen Bob wachsen lassen. Heute Abend trug sie ihn als raffinierte Hochsteckfrisur, was die schön geschwungene Linie ihres Nackens zur Geltung brachte. Türkisfarbene Ohrhänger funkelten mit ihren grünen Augen um die Wette. Im Dekolleté ihres schlichten cremefarbenen langen Kleids trug sie ein Lederband mit einem Amulett in Form einer Bärentatze, die einen grünen Stein umschloss. Hannah sah zauberhaft aus. Sam war wirklich ein Glückspilz.

»Danke schön.« Ein wenig verlegen steckte Hannah eine widerspenstige dunkle Strähne hinter das Ohr. »Du siehst aber auch sehr hübsch aus, Penny. Die Bilder, die ich bisher von dir gesehen habe, werden dir nicht gerecht.« Bevor Penny auf das Kompliment reagieren konnte, drängte sich Abby dazwischen. »Tante Hannah? Kann ich morgen auf den Eseln reiten?«

Penny legte ihrer Kleinen die Hände auf die schmalen Schultern. »Abby, ich denke, Hannah hat morgen andere Dinge zu tun, als …«

»Nein, nein, ist schon gut.« Hannah neigte sich hinab, um Abby ins Gesicht sehen zu können. »Dein Onkel Sam und ich fliegen morgen in aller Frühe in die Flitterwochen nach Hilton Head Island, Süße. Wir werden also leider nicht da sein. Ich bin mir jedoch sicher, dass Jackson und Deanna nichts dagegen haben, wenn du auf Green Acres vorbeikommst. Bestimmt lässt Jackson dich auf Grumpy reiten.«

Penny fing Abbys flehentlichen Blick auf. »Mommy?« Eigentlich hatte sie vorgehabt, so rasch wie möglich zurück nach Asheville zu fahren. Schließlich hatte sie zu arbeiten, und außerdem lag ihr das bevorstehende Gespräch mit Jason schwer im Magen.

»Mommy, bitte.«

Wie könnte Penny diesem kleinen Affengesichtchen widerstehen? »Na gut«, lenkte sie ein. »Wir werden nach dem Frühstück einen Abstecher nach Green Acres machen. Aber nur für ein, zwei Stündchen, dann muss Mommy zurück nach Hause, in Ordnung?«

Die Kleine schlang ihre Ärmchen um Pennys Taille und presste die Nase fest in den blauen Stoff des Cocktailkleids. »Tante Hannah?«

»Hm?«

»Wo ist denn dein Sohn?«

»Matt ist zu Hause auf Green Acres«, erwiderte Hannah freundlich. »Deannas Tochter Missy passt auf ihn auf. Der Trubel auf der Party wäre zu viel für den Kleinen, weißt du? Außerdem schläft er jetzt bestimmt schon.«

»Ich kann auch mal auf Matt aufpassen, wenn du willst.« Penny und Hannah tauschten ein Lächeln. »Mein Bruder hat Glück, dich gefunden zu haben, Hannah«, meinte Penny unvermittelt, von einer jähen Welle der Zuneigung erfasst.

»Oh, ich denke, wir beide hatten Glück. Es war wohl so etwas wie eine göttliche Fügung.« Hannah schmunzelte. »Meine Güte, hör mich an, ich klinge fast schon wie Tayanita.«

»Soso. Das ist ja interessant.« Eine mollige Frau in einem bunt bedruckten Rock, der bis zu den in einfachen Ledersandalen steckenden Füßen reichte, trat zu ihnen. Tayanita, eine gute Freundin der Familie. Vor mehr als dreißig Jahren hatte die Cherokee ihr Dorf und ihre Leute oben in den Bergen verlassen, um sich in den Foothills ein neues Leben aufzubauen. Mit ihrer Freundin Sylvia Cooper hatte sie vor einigen Jahren in Pinewood Falls das Cottage Garden Café eröffnet, an das ein entzückender kleiner Souvenirladen anschloss. Penny wusste, dass ihr Bruder es sich zur lieben Gewohnheit gemacht hatte, in Tayanitas Café seinen täglichen Pott Kaffee zu genießen. Im Lauf der Zeit hatte sich zwischen ihm und Tayanita eine enge Freundschaft entwickelt.

»Du liebe Güte.« Hannah umarmte die Indianerin lachend. »Ich hab es nicht so gemeint. Du weißt, ich schätze dich sehr.«

Um Tayanitas Mundwinkel zuckte es. »Das beruht auf Gegenseitigkeit, meine Liebe.« Sie hielt die junge Frau auf Armeslänge von sich. »Ich glaube, ich habe dich noch nie zuvor so strahlend gesehen.«

Hannahs Wangen nahmen die Farbe von reifen Georgiapfirsichen an. »Ach bitte, du machst mich ganz verlegen. Schau doch, Sams Schwester und seine Nichte Abby sind hier.«

Über Tayanitas exotische Züge glitt ein Lächeln. »Wie schön, dich einmal wieder bei uns in Pinewood Falls zu haben, Penny. Wir bekommen dich viel zu selten zu Gesicht.«

Einen Moment lang schien es Penny, als würden die bernsteinfarbenen Augen der Indianerin bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Sam betonte immer wieder, dass die Cherokee über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügte. Sie kann Dinge sehen, die uns anderen verborgen bleiben, hatte er ihr anvertraut. Sie schien von Anfang an gewusst zu haben, dass Hannah und ich füreinander bestimmt waren.

Penny wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Sie glaubte nicht an Bestimmung und Schicksal, sondern daran, dass jeder Mensch für sein Glück verantwortlich war. Dennoch mochte sie Tayanita gut leiden. Die herzliche Frau mit der angenehm melodiösen Stimme besaß etwas Mütterliches, das einem Wärme und Geborgenheit vermittelte. »Du bist nicht die Erste, von der ich das höre«, entgegnete sie freundlich.

»Dann solltet ihr uns öfter mal besuchen.« Tayanita beugte sich zu Abby hinab. Sie strich sich die taillenlangen Haare, die ihr wie ein schwarzer Vorhang vors Gesicht fielen, zurück. »Und du bist also Abigail? Was für ein hübscher Name das ist. Ich habe übrigens gerade neue Traumfänger in den Shop bekommen. Traumfänger halten die bösen Träume fern und beschützen dich. Wenn du magst, kannst du dir einen für dein Zimmer aussuchen, meine Süße.«

Abby zupfte an Pennys Rockzipfel. »Darf ich, Mommy?«

»Wir schauen mal, Liebes. Wenn wir Zeit finden.«

»Lasst uns doch ein Gläschen mit McKenna, Deanna und Helen trinken.« Hannah deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. »Sie freuen sich bestimmt, euch zu sehen.«

»Gern.« Tayanita streckte einen Arm nach Abby aus.

»Kommst du mit, junge Dame?«

Die junge Dame nickte kichernd, während sie ihre Hand in Tayanitas schob. Offensichtlich fand sie Gefallen an der Cherokee. Wer würde dies nicht tun? Die offene Herzlichkeit der Indianerin war einfach ansteckend. Hannah stellte sie einander vor. »Penny, Tayanita, das ist Helen Carlyle, meine gute Freundin aus Ohio. Ihr Mann Mike war so nett, sich um die Kinder zu kümmern, damit Helen mit uns feiern kann.« Sie legte einen Arm um die dunkelblonde Frau mit dem fröhlichen Band Sommersprossen über der Nase und drückte sie an sich. »Dafür könnte ich deinen Mike glatt knutschen!«

Penny stimmte in das heitere Gelächter ein. Anschließend begrüßte sie Deanna Wilbur, die sie in eine spontane Umarmung zog. »Schön, dass ihr zur Feier geblieben seid. Ich hatte schon befürchtet, ihr würdet nach der Trauung direkt nach Hause fahren. Man bekommt euch ja sonst so gut wie nie zu Gesicht.«

»Meine Rede.« Tayanita zwinkerte Abby verschwörerisch zu. »McKenna, Penelope – ihr kennt euch?«

»Tun wir.« Die blonde McKenna Anderson lächelte säuerlich. Ihre Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten.

McKenna war in der Highschool eine Klasse unter Penny gewesen. Das letzte Mal, als sie sich auf der Hochzeit von Sam und Maggie begegnet waren, hatte ihr die Buchhändlerin äußerst feindselige Blicke zugeworfen. Penny hatte den Grund dafür nie erfahren, aber es hatte sie damals genauso wenig interessiert wie heute. Sie taxierte die andere Frau kühl, bis eine der weiß behandschuhten Kellnerinnen mit einem Silbertablett voller Champagnergläser auftauchte. Dankbar nahm sich Penny ein Glas vom Tablett. Manche Dinge waren mit Champagner einfach besser zu ertragen. Sie fühlte ein leicht hysterisches Kichern aufsteigen.

»Und du, Schätzchen?«, wandte sich die Kellnerin an Abby. »Vielleicht ein Schlückchen Orangensaft?« Als Abby schüchtern bejahte, signalisierte die Frau einer vorbeihuschenden Kollegin. »Heather, wärst du so nett, unserem kleinen Gast einen Fruchtsaft zu bringen?«

Heather war so nett. »Aber gern. Kommt sofort.«

»Wie ist es dir ergangen, Penny?«, wollte Deanna wissen, nachdem sie alle mit Getränken versorgt worden waren. »Wunschlos glücklich in Asheville, wie ich hörte?«

»Selbstverständlich.« Penny zwang sich zu einem, wie sie hoffte, überzeugendem Lächeln. »Sehr glücklich sogar.« Sie schämte sich, die nette Haushälterin ihres Bruders so schamlos zu belügen, aber sie würde gewiss nicht hier und jetzt unter McKennas argwöhnischem Blick ihre Seele offenbaren.