Weiter als der Himmel - Kerstin Sonntag - E-Book

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Kerstin Sonntag

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Beschreibung

Nach einem fatalen Streit bricht Hannah Mulligan aus ihrer toxischen Ehe aus. Auf der Flucht nach Fairview, dem Ort ihrer Kindheit, strandet sie in Pinewood Falls, einer idyllischen Kleinstadt in North Carolina. Die geheimnisvolle Cherokee-Indianerin Tayanita gewährt ihr in der Not warmherzig Unterschlupf.

Doch Sam Parker, ein ehemaliger Cop, steht Hannah von Anfang an ablehnend gegenüber. Sein feindseliges Verhalten irritiert sie, bis sie herausfindet, dass er genau wie sie, ein Geheimnis hütet. In einer misslichen Lage muss sie ausgerechnet ihn um Hilfe bitten und plötzlich sind sie sich näher, als ihnen lieb ist.

Während Hannah versucht, ihre Gefühle zu sortieren, spitzt sich die Situation weiter zu, denn ihr eifersüchtiger Ehemann Shane taucht auf, um sie zurückzuholen …

Das Buch ist vormals unter dem Titel "Hannahs Entscheidung" von Kate Sunday erschienen. 

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Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Nach einem fatalen Streit bricht Hannah Mulligan aus ihrer toxischen Ehe aus. Auf der Flucht nach Fairview, dem Ort ihrer Kindheit, strandet sie in Pinewood Falls, einer idyllischen Kleinstadt in North Carolina. Die geheimnisvolle Cherokee-Indianerin Tayanita gewährt ihr in der Not warmherzig Unterschlupf.

Doch Sam Parker, ein ehemaliger Cop, steht Hannah von Anfang an ablehnend gegenüber. Sein feindseliges Verhalten irritiert sie, bis sie herausfindet, dass er genau wie sie, ein Geheimnis hütet. In einer misslichen Lage muss sie ausgerechnet ihn um Hilfe bitten und plötzlich sind sie sich näher, als ihnen lieb ist.

Während Hannah versucht, ihre Gefühle zu sortieren, spitzt sich die Situation weiter zu, denn ihr eifersüchtiger Ehemann Shane taucht auf, um sie zurückzuholen …

Das Buch ist vormals unter dem Titel »Hannahs Entscheidung« von Kate Sunday erschienen.

Über Kerstin Sonntag

Kerstin Sonntags Herz gehörte schon immer dem Schreiben. Nach ihrem Studium der Germanistik und Anglistik probierte sie sich in verschiedenen Berufen aus. Doch die Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen hat sie nie losgelassen und so widmet sie sich seit 2012 ganz der Schriftstellerei. Bis sie sich irgendwann den Traum vom rosenumrankten Cottage am Meer erfüllt, lebt die Autorin mit ihrem Mann und zwei fast erwachsenen Kindern in einem kleinen Ort an der Bergstraße. Hier entstehen die Ideen für ihre gefühlvollen Geschichten, die vom Leben und der Liebe erzählen.

Mehr zur Autorin unter: https://kerstinsonntag.de/

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Weiter als der Himmel

Inhaltsübersicht

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

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18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Impressum

1. Kapitel

Was zum Teufel hast du getan?«

»Rühr mich nie wieder an!« Hannah bebte vor Zorn und Furcht zugleich.

Ungläubig starrte Shane auf den Daumen seiner rechten Hand. Hellrotes Blut schoss aus der frischen, klaffenden Wunde.

»Verdammt …«, stieß er hinter zusammengepressten Zähnen hervor. Er warf ihr einen Blick zu, der zwischen Wut und Verachtung schwankte.

»Ich habe mich nur verteidigt.« Hannah atmete heftig, während sich ihre Finger fester um das Tranchiermesser schlossen. Sie wich zurück. »Du tust mir nie wieder weh!« Sein Schlag hatte sie mit voller Wucht getroffen und zur Seite taumeln lassen. Der Griff zum Messer war ein reiner Reflex gewesen.

»Das wirst du bereuen.« Shane spuckte aus. »Sieh dir die Sauerei an. Ich blute wie ein Schwein!«

»Es ist nur eine harmlose Fleischwunde.« Die ehemalige Krankenschwester in ihr hoffte, dass die Diagnose stimmte. »Ich wollte dich nicht verletzen.« Ihr Magen hob sich. Sie schluckte. »Du machst mir schreckliche Angst.«

»Angst?« Shane lachte verächtlich auf. »Du wirst noch erfahren, was Angst wirklich ist.« Drohend fixierte er sie, schnappte sich die Whiskeyflasche von der Anrichte und verließ schwankend die Küche.

Hannahs Herz hämmerte ungestüm. Shanes Worte klangen wie ein Echo nach. Wie ein grausames Versprechen. Sie starrte ihm hinterher, und ein eisiger Schauder kroch ihre Wirbelsäule hoch. Sie ließ das Messer fallen. Mit einem durchdringenden Klirren schlug es auf den Steinfliesen auf. Das glänzende Metall der beschmutzten Klinge blitzte im Schein der Küchenlampe, Blutspritzer benetzten den Boden und Hannahs Pyjamahosen.

Während Shane unter lautem Fluchen seine Wunde im Bad versorgte, zog sich Hannah in Windeseile im Schlafzimmer um. Sie zerrte die Reisetasche unter dem französischen Bett hervor, riss wahllos Kleidung aus ihrem Schrank und stopfte sie hinein.

Alle paar Sekunden verharrte sie, um nach verdächtigen Geräuschen zu lauschen, wobei ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Knarrten die Dielen im Flur? Näherten sich Shanes Schritte? Einmal glaubte sie, seinen Atem in ihrem Nacken zu spüren und fuhr in Panik herum. Sie stieß sich die Schulter an einem Regal. Dann hörte sie ihn lautstark in der Küche rumoren. Gläser klirrten, zerschellten am Boden. Und dazwischen immer wieder seine wüsten Beschimpfungen. In ihrer Hast klemmte sie sich den Zeigefinger in der Nachttischschublade, doch sie verzichtete darauf, ihn zu kühlen, und beschloss, das wütende Pochen zu ignorieren.

Keine Sekunde länger als nötig wollte sie in diesem Haus bleiben! Mit dem Gepäck unter dem Arm eilte sie in den Korridor. Sie schnappte sich ihre Handtasche, eine Jacke vom Haken und die Autoschlüssel. Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel ins Zündschloss des silberfarbenen Toyotas steckte. Immer wieder warf sie bange Blicke zur Eingangstür. Hoffentlich kam Shane nicht in letzter Minute herausgestürmt, um sie aufzuhalten. Sie sah ihn im Geiste vor sich stehen, eine blutbeschmierte Axt in der Hand schwingend, einen dämonischen Ausdruck auf seinem Gesicht. Sie war kurz vorm Durchdrehen. Fast hätte sie hysterisch aufgelacht. Sie legte den Rückwärtsgang ein und manövrierte den Wagen aus der Einfahrt. Mit quietschenden Reifen schoss der Camry davon.

In regelmäßigen Abständen blickte sie in den Rückspiegel, ständig in Angst, Shanes dunklen Pick-up hinter sich zu entdecken. Sie meinte, seinen nach Whiskey stinkenden Atem zu riechen. Eine Hand gegen ihren Brustkorb pressend, zwang sie sich, tief durchzuatmen.

Sie war in Sicherheit. Oder nicht? Ob er ihr folgte? Erst, als sie die Brücke erreichte, die sie über den Ohio

River brachte, und Marietta hinter sich ließ, begann sie, sich ein wenig zu entspannen. Warum hatte sie so lange an dieser Ehe festgehalten? Warum war sie nicht schon eher gegangen? Vielleicht wäre es dann nicht zum Äußersten gekommen. Hannah hatte sich nicht eingestehen wollen, dass sie gescheitert waren. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Ellie ihren Irrtum zu beweisen. Aber ihre Großmutter sollte recht behalten, das war Hannah inzwischen schmerzlich klar. Fairview House, das wunderbare, efeubewachsene alte Haus in der Dilworth Road in Charlotte kam ihr in den Sinn, und eine jähe, tiefe Sehnsucht überfiel sie.

Schrilles Hupen brachte sie zurück in die Gegenwart. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, als sie erschrocken das Lenkrad herumriss, um einem aufgebrachten Truckfahrer auszuweichen. Eine Welle der Übelkeit überrollte sie. Nicht jetzt, bitte. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. An der nächsten Kreuzung bog sie ab, um sich auf der Interstate Richtung Süden einzufädeln. Sie schaltete in den nächsten Gang, drückte das Gaspedal durch und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Hoffentlich lauerte an diesem Morgen kein arbeitseifriger Cop am Straßenrand! Die furchtbaren Bilder der letzten Stunde schossen ihr durch den Kopf. Bilder, von denen sie ahnte, dass sie sie für den Rest ihres Lebens verfolgen würden. Sie zwang sich, ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Es war Zeit, all dies hinter sich zu lassen. Am liebsten würde sie die vergangenen Jahre aus ihrem Leben löschen wie Kreide mit einem Schwamm von der Tafel. Als hätten sie niemals existiert. Doch wie war das möglich, wenn es etwas gab, das sie für immer mit Shane verbinden würde? Ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen, zog sie ihre Handtasche vom Beifahrersitz. Sie fischte das Handy heraus und wählte die vertraute Nummer, die sie nie vergessen hatte.

* * *

Tayanita Taylor saß im Schneidersitz auf einer Decke im taubenetzten Gras. Die Sonne war gerade im Begriff, sich hinter den von blauem Dunst verhüllten Bergen emporzuschieben. Tayanita atmete tief ein, genoss das Prickeln auf ihrer Haut, als der Morgenwind darüberstrich. Schon bald würde die frische Luft, wie so oft im Sommer, einer drückenden Schwüle weichen, die manchen Fremden überrascht nach Luft schnappen ließ. Seit sie vor dreißig Jahren als junges Mädchen ihr Dorf und die Gemeinschaft in den Bergen verlassen hatte, waren ihr das Klima, die Natur, die Menschen und Tiere der Foothills so vertraut geworden wie die eigene Stimme. Sie liebte die sanfte Hügellandschaft, die wilden, sich windenden Flüsse und den Blick auf die Mischwälder der Appalachen, die im Herbst in leuchtenden Farben glühten. Tayanita schloss die Lider, um sich dem Zauber des Augenblicks hinzugeben. Ein forderndes Bellen erklang, und eine feuchte, warme Schnauze stupste gegen ihre Hand.

»Tsali, komm her.« Tayanita griff nach dem mit bunten Perlen besetzten Hundehalsband und zog das Tier zu sich heran. »Schon zurück von deinem Spaziergang?«

Die Hündin gab einen zufriedenen Laut von sich, bevor sie sich an ihrer Seite niederließ.

Gelassenheit und die Gewissheit, dass stets alles so geschah, wie es vorherbestimmt war, lagen in Tayanitas Blick, als sie die ferne Hügelkette betrachtete. Sie war es gewohnt, Dinge zu sehen, die anderen Menschen verborgen blieben. Eine Melodie geisterte durch ihren Kopf, eine Melodie, so alt wie die Legenden ihrer Vorväter. »Ich habe das Gefühl«, sagte sie zu Tsali, »dass heute noch etwas geschehen wird.«

Aufmerksam blickte die Hündin ihre Herrin an. Sie öffnete das Maul und es schien, als ob sie lächelte.

Liebevoll kraulte Tayanita Tsalis Flanke. »Du wirst schon sehen. Und nun komm.« Sie erhob sich, strich glättend über ihren bunt bedruckten Baumwollrock. Bei der Bewegung klirrten die unzähligen silbernen Armreife, die ihre Handgelenke schmückten. Leises Donnergrollen ließ Tsali die Ohren spitzen. Ein Windstoß verfing sich in Tayanitas taillenlangem Haar. Sie hob den Kopf, um den Himmel zu studieren. Von Westen näherte sich eine bedrohliche Wand bleigrauer Wolken. »Das Wetter ändert sich«, murmelte sie, mehr zu sich selbst. »Ich denke, da braut sich ein Sturm zusammen. Sicher wird es bald zu regnen beginnen.« Sie tätschelte Tsali, die sich an ihre Beine schmiegte. »Lass uns nach Hause gehen.« Mit der dunklen Hündin an ihrer Seite überquerte sie die Wiese, auf der die Gallowayrinder von Harvey Brickman grasten, und strebte dem nahen Hügel zu. Dort, versteckt inmitten einer Gruppe von mächtigen Eichen, stand ihr Wohnwagen. Im nahen Laubwald schrie ein Käuzchen, um den neuen Morgen zu begrüßen.

* * *

Sam Parker trommelte mit ungeduldigen Fingern auf der blank polierten Oberfläche seines Kirschholzsekretärs. Eine gefühlte Ewigkeit schon starrte er auf den Bildschirm seines Laptops. Es schien keine Worte zu geben, mit denen er die leere Seite füllen konnte, keine Idee, die ihn zu einer Geschichte inspirierte. Er seufzte tief, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Mit einem letzten frustrierten Blick auf den Schirm verließ er das lichtdurchflutete Wohnzimmer. Er durchquerte den Flur, um hinüber in die behagliche Wohnküche zu gelangen, wo Deanna Wilbur mit dem Rücken zu ihm an der Spüle stand. Eine heitere Melodie summend, wusch sie leuchtend rote Tomaten unter fließendem Wasser. Sie musste seine Schritte gehört haben, denn sie drehte den Wasserhahn ab und wandte sich um. »Sam.« Ihre kornblumenblauen Augen blitzten auf. »Wie läuft es?« Sie bemerkte den grimmigen Ausdruck in seinem Gesicht. Ihr Lächeln erstarb. »Ach Sam. Es tut mir leid. Aber geben Sie nicht auf. Sie wissen doch, es geht vorüber.«

Sam versuchte ein Lächeln, fuhr sich über das bartschattige Kinn. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich zu rasieren.

»Wahrscheinlich werden Sie schon morgen nicht mehr ansprechbar sein, und ich muss auf Zehenspitzen um Sie herumtapsen, damit Sie nicht gestört werden«, fuhr Deanna augenzwinkernd fort. Sie schnappte sich Messer und Holzbrett, die neben der Spüle warteten, und schnitt mit geübter Hand eine Tomate nach der anderen in säuberliche Viertel.

»Bin ich so schlimm?« Er trat neben sie und blickte durch das Fenster auf die ungemähte Wiese und den lichten Kiefernwald dahinter.

Deanna legte das Messer beiseite. Sie schmunzelte, als sie das Gemüse in einen gusseisernen Topf schüttete, in dem bereits Bohnen und fein geschnittene Paprika- und Zwiebelstückchen im Fett dünsteten. »Ich weiß, dass dieser Tag schwer für Sie ist. Bald sieht die Welt schon wieder anders aus. Sie werden sehen, dann klappt es auch mit dem Schreiben.«

Deanna war eine warmherzige, sensible Person. Sie ahnte jedoch nicht im Geringsten, wie düster es gerade jetzt in seinem Inneren aussah, schätzte Sam. Auf den Tag genau vor vier Jahren hatte er Maggie verloren.

Im Moment hatte er das Gefühl, er würde nie wieder ein vernünftiges Wort zu Papier bringen. Sicher, die Phase machte er jedes Jahr um diese Zeit durch. Diesmal aber schien sie besonders schlimm. Vielleicht, weil ihn seit Kurzem wieder diese schrecklichen Träume quälten …

Achselzuckend schob er die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans. »Was soll’s. Dann schreibe ich eben nicht. Es gibt genügend andere Arbeit, die auf mich wartet.«

Deanna berührte ihn flüchtig am Arm. »Sam. Nicht aufgeben.«

Er rang sich ein Lächeln ab und straffte seine Schultern.

»Ich sehe mal nach Jackson. Er müsste die Box für den Neuen bereits fertig gemacht haben.«

»Ist es so weit?«

»Ich habe später einen Termin bei Dan Buchanan in Spartanburg. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle und wir uns einig werden, gehört der Hengst noch heute uns, Deanna.«

»Wie schön. Das sind wunderbare Nachrichten.« Um Deannas helle Augen bildeten sich winzige Lachfältchen.

Sam hatte sich schon lange um einen besonderen Zuchthengst bemüht, ein schwarzes Tier namens Red Lightning mit edlem Stammbaum. Heute würde sich endlich entscheiden, ob der Hengst künftig die Herde auf Green Acres vergrößern würde. Sam hoffte es. Die Arbeit auf seiner Farm gab ihm Kraft, den nächsten Tag zu überstehen und lenkte ihn ebenso ab wie das Schreiben. Nur, dass Letzteres zurzeit nicht funktionieren wollte.

»Das Chili ist gegen Mittag fertig. Ich halte es Ihnen im Crockpot heiß. Warm schmeckt es am besten.« Deanna griff nach einem Holzlöffel, um das brutzelnde Gemüse im Topf zu wenden.

»Sie sind ein Schatz, Deanna. Ich freue mich darauf. Es riecht jetzt schon köstlich.« Er neigte sich zu der zierlichen Frau hinunter und hauchte ihr einen raschen Kuss auf die Wange. Was für ein Glück, dass es Deanna in seinem lausigen Leben gab. Sam war sich sicher, dass er ohne sie verloren wäre. Im Flur schlüpfte er in seine abgetragenen Arbeitsstiefel und griff nach seinem Stetson, um draußen bei den Stallungen nach dem Rechten zu sehen.

* * *

Langsam tauchte Shane aus der Dunkelheit auf. Motorengeräusche und Kinderlachen drangen durch den zarten Schleier seines Dämmerschlafs. Er gähnte und öffnete blinzelnd die Lider. Grelles Tageslicht, das durch einen Spalt in der Jalousie drang, blendete seine Augen. Shane wandte den Kopf ab. Schwerer Fehler. Fuck. Ein Güterzug mit mehreren Hundert schwer beladenen Anhängern donnerte durch seinen Schädel. Er schluckte, befeuchtete mit der Zunge die spröden Lippen. O Mann, er brauchte dringend einen Schluck. Nur einen. Oder zwei. Dann würde er sich besser fühlen. Ein tiefes, erwartungsvolles Grunzen entstieg seiner ausgedörrten Kehle. Mit der Rechten rieb er sich über das Gesicht, um den letzten Rest von Müdigkeit zu vertreiben. Verdammt! Wie ein glühender Blitz fuhr ein stechender Schmerz durch seinen Daumen. Ein wildes Pochen setzte ein. Was zum Henker war das? Irgendetwas stimmte mit seiner Hand nicht. Shane hob den Arm und versuchte, zu fokussieren. Der Güterzug beschleunigte seine Fahrt. Besser nicht bewegen. Mit einem leisen Aufstöhnen sank er zurück in die weichen Polster.

»Hannah?« Er verlagerte sein Gewicht und schob die unverletzte Hand in die linke Vordertasche seiner ausgebeulten Sweathose. In dem Plastiktütchen, das er herauszerrte, befanden sich noch ungefähr zehn von den kleinen grünen Pillen. Er musste unbedingt Bob anrufen und um Nachschub bitten. Einen Moment lang hielt er die Tüte abwägend in der Hand, dann stopfte er sie mit leisem Bedauern zurück in die Hose. Besser, wenn Hannah das Zeug nicht sah. Es würde nur wieder unnötige Diskussionen geben.

»Hannah, bring mir etwas Anständiges zu trinken!« Sein Ruf verhallte in der Stille des Raums. »Hannah!« Wo zum Teufel steckte das Weib? Shane presste eine Faust gegen seine Schläfe, um den Zug zu stoppen. Hatte Hannah einen Termin? Wollte sie einkaufen gehen? Durch den zähen Nebel seines Bewusstseins drang schemenhaft die Erkenntnis, dass irgendetwas Fatales geschehen war. Etwas Schreckliches, das spürte er. Sein Magen krampfte. Während er regungslos im Halbdunkel lag, kroch die Erinnerung zurück wie eine heimtückische Schlange. Hannah antwortete nicht, weil sie nicht im Haus war. Sie hatte ihn verlassen. Nachdem sie ihn mit einem Messer attackiert hatte. Ruckartig schnellte er hoch.

2. Kapitel

Wie ein geheimnisvoller Spiegel schimmerte das dunkle Wasser des New River zwischen den dicht bewaldeten Ufern in der fahlen Morgensonne Virginias. Hannah hatte für diese stille Schönheit keinen Blick, als sie die Brücke in der Höhe von Austinville überquerte. Dort, wo Shane sie getroffen hatte, brannte ihre rechte Wange noch immer wie Feuer. Sie nahm eine Hand vom Steuer und berührte sanft die Stelle. Ihr Telefon klingelte. Ohne nachzudenken, nahm sie das Handy vom Beifahrersitz und klemmte es zwischen Schulter und linkes Ohr.

»Hallo?«

»Wo zur Hölle steckst du?«

Shane. Sofort überfiel sie das schlechte Gewissen. »Bist du in Ordnung? Ich meine, hast du die Blutung stillen können?«

»Tu doch nicht so, als ob es dich interessiert, wie es mir geht«, fauchte er. »Du bist mit dem Messer auf mich losgegangen, Sweetheart. Glaub nicht, dass du mir so einfach davonkommst!«

»Du hast mich geschlagen, Shane.«

»Warum hast du auch wieder mit diesem Scheiß angefangen? Von wegen du erträgst es nicht mehr, wie es zwischen uns läuft, du bist am Ende – bla, bla, bla. Du hast mich provoziert. Ich hab einfach rotgesehen.«

»Du warst betrunken«, unterbrach sie ihn kalt. »Schon wieder.« Nein, er hatte ihr Mitleid nicht verdient.

»Fang nicht mit der alten Leier an, bloß weil ich ab und zu einen guten Schluck zu schätzen weiß«, schnaubte er. »Ich kann den Mist nicht mehr hören. Dauernd faselst du davon, dass du mich verlassen und unsere Ehe aufgeben willst!«

»Ich lasse mich von dir nicht misshandeln. Egal, was ich zu dir gesagt habe, du hast nicht das Recht, mich zu schlagen.«

Einen Augenblick blieb es still am anderen Ende der Leitung. »Okay«, lenkte Shane schließlich ein. »Vielleicht hab ich einen Fehler gemacht. Aber deswegen gleich alles hinzuschmeißen – findest du das nicht übertrieben?« Plötzlich schnurrte er wie ein Kätzchen, das um ein Schälchen Milch bettelte. »Komm heim, Baby. Lass uns den Quatsch vergessen.«

»Ich verlasse dich, Shane.«

»Hast du nicht verstanden? Ich sagte, dass es mir leidtut.« Lautstark zog er seine Nase hoch.

»Das ändert nichts an meinem Entschluss.« Hannah warf einen raschen Blick in den Rückspiegel. Der Himmel im Westen verdüsterte sich.

»Fängst du schon wieder damit an? Verdammt noch mal!« Ein glucksendes Geräusch war zu hören. Vermutlich trank er wieder. »Was ist mit unseren Plänen?« Jetzt änderte er seine Taktik.

»Unsere Pläne? Du hattest niemals irgendwelche.«

»Wir können jetzt darüber sprechen.«

»Dafür ist es zu spät.« Wie hatte sie sich danach gesehnt, diese Worte von ihm zu hören. Monat für Monat. Jahr für Jahr. »Zu spät«, wiederholte sie. Entschieden klappte sie das Telefon zusammen und legte es auf den Beifahrersitz zurück. Sie konnte es nicht fassen. Jetzt, wo sie sich entschieden hatte, alles aufzugeben, wollte Shane plötzlich reden. Jetzt, wo alles verloren war, wollte er sie anhören? Es interessierte sie nicht mehr. Was er zu sagen hatte, war ihr egal. Es war vorbei. Lange hatte sie gewartet, gebangt, gehofft. Darauf, dass er sich änderte, darauf, dass er endlich wieder zu dem Mann werden würde, in den sie sich vor neun Jahren verliebt hatte. Seine Worte ließen sie kalt. Sie berührten sie nicht. Genauso gut hätte sie mit einem Fremden telefonieren können. Empfand sie noch irgendetwas für Shane? Sie fühlte sich wie betäubt. Da war keine Wut, kein Ärger, kein Frust mehr. Schmerz. Ja, Schmerz darüber, dass sie ihn verloren hatte. Dass sie einander verloren hatten. Endgültig und unwiderruflich.

Trauer lauerte im Hintergrund. Leise Trauer um das Paar, das sie einmal gewesen waren. Wie sehr hatte sie diesen wilden, charmanten, gut aussehenden Kerl einmal bewundert.

Wie leidenschaftlich hatten sie sich geliebt!

Mit seinem Verhalten hatte er in den letzten anderthalb Jahren alles zerstört, was gut zwischen ihnen gewesen war. Es hatte die helle Flamme, die zwischen ihnen gebrannt hatte, zum Erlöschen gebracht. Nie zuvor war ihr dies so bewusst geworden wie in diesem Augenblick. Sie holte tief Luft, versuchte, die bedrückenden Gedanken an ihre gescheiterte Ehe abzuschütteln und sich stattdessen auf den Highway zu konzentrieren. Schließlich lag noch ein gutes Stück vor ihr, bis sie am Ziel ihrer Reise angekommen sein würde. Noch hatte sie ihre Großmutter nicht erreicht, aber sie hoffte von Herzen, dass die alte Dame sie auf Fairview willkommen heißen würde.

Hannah sehnte sich danach, an den Ort zurückzukehren, der so viele Jahre lang ihr Zuhause gewesen war.

* * *

Zwischen seinen Fingern verglühte eine brennende Zigarette. Das Glas einer fast leeren Flasche Jim Beam, mit deren Hilfe Shane versucht hatte, das elende Klopfen in seinem Daumen zu betäuben, funkelte neben dem Aschenbecher im hereinfallenden Sonnenlicht. Während er mit verschwommenem Blick an die holzvertäfelte Decke starrte, führte er die Kippe an den Mund. Zu spät. Zu spät. Die Erinnerung an Hannahs unbarmherzige Worte schnürte ihm den Atem ab. Er fühlte eine seltsame Beklemmung in der Brust. Hannah hatte einfach aufgelegt. So mir nichts, dir nichts hatte sie die Leitung zwischen ihnen gekappt. Als wäre er ihr völlig egal. Als wäre er ein Fremder! Wie konnte sie so hart und unnachgiebig sein?

In einem entfernten Winkel seines Bewusstseins schlummerte die Ahnung, einen verhängnisvollen Fehler begangen zu haben. Doch hatte Hannah ihn nicht provoziert? Als sie sagte, sie würde ihn verlassen, waren seine Sicherungen durchgebrannt. Auf einmal hatte er sich wieder in den ängstlichen Jungen verwandelt, dessen Mutter ihn mit ihrer Drohung, ihre Siebensachen zu packen und zu verschwinden, in helle Panik versetzt hatte. Bernice Mulligan hatte an einem regnerischen Herbstmorgen ihre Drohung wahr gemacht. Es spielte keine Rolle für den zehnjährigen Shane, dass die Wutausbrüche seines Vaters der eigentliche Grund waren, weshalb die Mutter der Familie den Rücken kehrte. Ebenso wenig, wie es eine Rolle gespielt hatte, dass Bernice nach viereinhalb Jahren reumütig zurückgekehrt war. Hannahs Ankündigung hatte die alte Angst wieder aufflammen lassen. Diese uralte Angst, verlassen zu werden. Von der Frau, die er liebte. Es durfte nicht wieder geschehen. Niemals wieder! Kein Wunder, dass er ausgerastet war. Mag sein, dass er etwas überreagiert hatte, aber das würde er wieder geradebiegen, denn … Ein aufloderndes Feuer in seiner Mitte riss ihn aus seinen Überlegungen.

Holy Shit! Was zum Teufel war das? Laut aufstöhnend krümmte er sich. Sein Magen machte schon längere Zeit Probleme. So schlimm war es allerdings noch nie gewesen. Hannah hatte ihn immer gewarnt, dass der Alkohol ihn krank machen würde. Aber sie hatte ja keine Ahnung, wie der Whiskey ihn innerlich erwärmte und tröstete, wie er ihm half, all die Enttäuschungen zu vergessen. Die Unsicherheit, die Unzufriedenheit, das Gefühl der Unzulänglichkeit, all das verschwand im Nebel des Rauschs. Er brauchte das.

Ein paar euphorische Monate lang hatte es so ausgesehen, als ob sich sein Lebenstraum, ein erfolgreicher Rockstar zu werden, erfüllen würde. Seine ehemalige Band, die Twisted Souls, hatte in vollen Hallen vor begeistertem Publikum gespielt und Shane von einem stattlichen Anwesen irgendwo an der Küste unter der Sonne South Carolinas träumen lassen. Von einer schicken weißen Motorjacht und nie enden wollenden Partys in tropischen Sommernächten. Natürlich war ihm bewusst, dass Hannah sich etwas anderes erhoffte, doch er rechnete fest damit, dass sie früher oder später zur Vernunft kam. Bisher war er immer clever ausgewichen oder hatte sie vertröstet, wenn das Gespräch auf Kinder kam. Aber mal ehrlich: Was war so toll daran, brüllenden Zwergen den Rotz von der Nase zu wischen und ihre stinkenden Windeln zu wechseln? Nein, er träumte von der ganz großen Karriere im Musikbusiness. Mit allem, was zum Leben eines Superstars dazugehörte. Geld, Ruhm und Glitter. War doch nicht seine Schuld, dass es zurzeit nicht besonders lief, oder? Wer hatte schon ahnen können, dass seine Bandkollegen nicht damit klarkamen, wenn er hin und wieder ein paar Tabletten einwarf?

Erneut stieß er einen Schmerzenslaut aus und wand sich, als eine glühende Kugel mit Feuerschweif, so fühlte es sich zumindest an, durch seine Eingeweide rollte. Seine Hand, die den Zigarettenstummel hielt, zitterte heftig. Ruhig atmen, Shane. Ein und aus, ein und aus. Endlich verebbte der Schmerz, zog sich zurück wie eine Brandungswelle vom Strand. Einen Moment verharrte Shane regungslos, während kalte Schweißperlen von seiner Stirn rannen. Er wünschte, Hannah wäre da. Er musste sie überreden, zurückzukommen.

Vielleicht war sie bei ihrer Freundin, dieser dauerlächelnden Helen untergetaucht, die ihm so mächtig auf den Sack ging? Die fromme Helene hatte er sie insgeheim getauft. Er würde sie später anrufen und ihr auf den Zahn fühlen. Nachdem er eine von seinen Glückspillen eingeworfen hatte. Ächzend richtete er sich halb auf, legte den qualmenden Stummel im Aschenbecher ab und kramte das Tütchen aus seiner Hosentasche. Mit dem letzten Schluck Jim Beam spülte er die Tablette hinunter. Bald würde er sich fantastisch fühlen und dann konnten sie ihn alle mal kreuzweise. Er würde Hannah nicht aufgeben. Niemals. Während seine Kippe im Aschenbecher erlosch, schloss Shane die Lider und wartete darauf, dass ihn der ersehnte Rausch erfasste, der ihn bis zum Ende der Welt und darüber hinaus katapultieren würde.

* * *

Hannah ignorierte das aufdringliche Klingeln. Sicher war es wieder Shane. Nein, sie würde sich nicht erneut auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Es war alles gesagt. Sie fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. Es wurde zunehmend stickiger und feuchter. Zu dumm, dass die Klimaanlage streikte. Sie würde sie reparieren lassen, sobald sie in Charlotte eintraf. Da das penetrante Klingeln nicht nachließ, griff sie schließlich genervt nach ihrem Telefon, um einen raschen Blick aufs Display zu werfen. Als sie sah, wer der Anrufer war, nahm sie das Gespräch mit einem Lächeln entgegen. »Helen!«

»Hannah, Gott sei Dank! Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht.« Die sonst so gefasste Helen Carlyle klang alarmiert. Bevor Hannah etwas entgegnen konnte, plapperte sie aufgeregt weiter. »Shane hat vorhin bei uns angerufen, wollte wissen, ob du bei uns untergekrochen bist – so drückte er sich aus. Er klang seltsam, irgendwie, als sei er nicht ganz beieinander. Sag, was ist los bei euch? Ist etwas passiert?«

Hannah hatte Helen vor sechs Jahren bei Walgreens kennengelernt, wo sie als Assistentin in der Apotheke beschäftigt gewesen war. Helen war dort mit undefinierbaren Bauchkrämpfen zusammengebrochen, die sich im Nachhinein als Zwillingsschwangerschaft entpuppt hatten. Hannah hatte die verängstigte junge Frau damals ins Krankenhaus begleitet, und aus dieser Begegnung war im Lauf der Jahre eine gute Freundschaft entstanden.

Hannah zögerte, Helen von dem Streit zu erzählen, denn die Freundin hatte eigentlich genug um die Ohren. Ihr Alltag war geprägt durch das Managen einer fünfköpfigen Familie mit drei äußerst lebhaften kleinen Kindern. Dazu kam noch die Sorge um ihren Ehemann Mike, der vor anderthalb Jahren die niederschmetternde Diagnose Leukämie erhalten hatte. Mike hatte bereits zwei Runden Chemo hinter sich und gab sich zuversichtlich, doch bisher war die verzweifelte Suche nach einem geeigneten Knochenmarkspender vergeblich gewesen. Hannah hatte die sonst so starke Helen das eine oder andere Mal um Fassung ringen sehen. Zuflucht bei der Freundin und ihrer Familie zu suchen, war Hannah nur flüchtig in den Sinn gekommen, doch den Gedanken hatte sie schnell verworfen. Helen hatte gegen ihre eigenen Dämonen zu kämpfen.

»Ich bin auf dem Weg nach Charlotte«, erklärte Hannah, bemüht, ihrer Stimme einen festen Ton zu verleihen. Und dann konnte sie doch nicht anders. »Shane und ich haben uns getrennt«, gestand sie leise.

Helen zog scharf die Luft ein. Sie war, genau wie Ellie, streng religiös und vertrat den Standpunkt, dass Ehepaare nach dem Motto Bis dass der Tod euch scheidet zusammenhalten sollten, komme, was da wolle.

»Ist das dein Ernst, Hannah? Ich meine, gerade jetzt, wo du …« Konsterniert brach Helen ab.

»Ja. Es muss sein.«

»Oh. Das tut mir leid. Und du bist dir sicher?« Helen schien es noch immer nicht glauben zu können.

So sicher wie noch nie zuvor in meinem Leben. »Es gibt kein Zurück mehr, Helen. Es sind einfach zu viele schlimme Dinge in unserer Beziehung geschehen.« Hannah musste unvermittelt bremsen und schaltete einen Gang herunter, als sich ein kobaltblauer SUV dreist vor ihren Wagen setzte. »Dämlicher Idiot.«

»Shane?«

»Nein – ja, der auch. Hör zu, Helen, ich melde mich, sobald ich in Charlotte angekommen bin. Es tut mir leid, dass ich so einfach verschwinde, aber ich konnte nicht länger bleiben. Wir sprechen später in Ruhe miteinander, ja?« »O Hannah. Wie schrecklich. Gibt es denn nichts, was ich tun kann? Soll ich mit Shane reden?«

Ein dicker Kloß formte sich in Hannahs Hals. So war Helen. Mitfühlend und hilfsbereit, obwohl sie selbst am Rand des Abgrunds stand. Am liebsten hätte sie die Freundin jetzt in den Arm genommen und fest gedrückt. »Ich danke dir, Helen. Für deine Freundschaft. Für alles. Aber zwischen Shane und mir ist es aus. Aus und vorbei.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, die mehr für Helen als für Shane bestimmt war. »Wir bleiben in Verbindung, ich verspreche es.«

»Okay. Pass auf dich auf.«

»Wir werden uns wiedersehen«, versicherte Hannah.

»Dass ich Ohio verlasse, bedeutet nicht, dass ich aus deinem Leben verschwinde.«

»Klar.« Es klang wenig überzeugt. »Bis dann, Hannah.«

»Warte! Wie – wie geht es Mike?« O Gott, wie konnte sie derart egoistisch sein? Was waren ihre Probleme schon im Vergleich zu der Tragödie, die Helen zu bewältigen hatte?

»Brauchst du mich? Helen, kann ich dir irgendwie helfen?« In diesem Augenblick wünschte sie, sie hätte der Freundin nichts von ihrer Trennung erzählt. Hätte sie doch nur ihren Mund gehalten! Das, was Helen jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte, war die zusätzliche Sorge um ihre Freundin. »Wenn du möchtest, komme ich vorbei und …«

»Nein. Mach dir keine Gedanken. Unser Schicksal liegt in Gottes Hand. Ich akzeptiere, wenn er Mike zu sich holen sollte. Aber momentan ist er stabil. Wir werden es schon schaffen. Und nun gute Fahrt. Ich freu mich, wenn du dich aus Charlotte meldest.«

Es klickte leise. Sie hatte aufgelegt. Hannah wünschte, sie besäße das gleiche Urvertrauen wie ihre Freundin und die sichere Gewissheit, dass dort oben jemand mit gütiger Hand waltete. Jemand, der wusste, was das Beste für sie alle war. Seufzend legte sie das Telefon beiseite.

Zwischen Elkin und Statesville überkam sie schreckliche Müdigkeit. Wenn sie die Absicht hatte, jemals heil in Charlotte anzukommen, sollte sie lieber eine Pause einlegen. Kurz entschlossen hängte sie sich an einen schokoladenbraunen UPS Truck. In seinem Windschatten folgte sie ihm ein paar Meilen bis zur nächsten Ausfahrt, wo sie die Interstate 77 verließ. Der Toyota besaß kein Navi. Shane hatte sie immer belächelt, weil sie sich strikt geweigert hatte, ein Navigationsgerät zu benutzen.

»Brauch ich nicht«, hatte sie zu ihm gesagt. »Marietta kenne ich mit geschlossenen Augen.« Sie war mit dem altersschwachen Wagen sowieso nie weiter als bis über die Brücke nach Williamstown gekommen. Für die wenigen Reisen, die Shane mit ihr unternommen hatte, benutzten sie den Pick-up. Ihr wurde bitter bewusst, dass sie in den vergangenen Jahren nicht wirklich viel Zeit miteinander verbracht hatten. Shane war viel zu beschäftigt damit gewesen, mit den Twisted Souls im Tourbus quer durchs Land zu fahren, um bei irgendeinem Gig aufzutreten. Diesmal schaffen wir’s, hörte sie ihn sagen. Glaub mir, Sweetheart, jetzt kommen wir groß raus. Und dann bekommst du deine Villa mit Pool. Eine Villa mit Pool war nicht das, was sie sich gewünscht hatte, aber Shane hatte das nie kapiert.

Einen resignierten Seufzer ausstoßend, drehte sie das Radio an und suchte nach einem Sender, der Bluegrass spielte. Sie musste wach bleiben, bewegte ihre Schultern, wackelte mit den Zehen in ihren Sneakern. Sie war es nicht gewohnt, so lange hinter dem Steuer zu sitzen. Erleichtert atmete sie auf, als das Reklameschild einer Tankstelle auftauchte. Hier würde sie bestimmt erfahren, wo sie etwas Anständiges zu essen bekäme. Eine heiße Suppe vielleicht und ein Sandwich, dazu ein herrlich schwarzer Kaffee würden ihre Lebensgeister wecken. Sie parkte den Toyota neben einem rostigen Ungeheuer von Lieferwagen, der wirkte, als würde er die nächste Kurve nicht überstehen. Kaum hatte Hannah die Fahrertür geöffnet, schlug ihr heißschwüle Luft entgegen. Wie wundervoll! Fast hätte sie vergessen, wie es sich anfühlte. Am Horizont konnte sie die ferne Hügelkette der Appalachen ausmachen. Die Blue Ridge Mountains. Ihre Kehle schnürte sich enger. Heimat. Unbeschwerte, sonnendurchflutete, glückliche Tage hatte sie dort oben in den Bergen in Ellies Sommerhaus in der Nähe von Blowing Rock verbracht. Ein Ort des Friedens, der dich deine Sorgen für eine Weile vergessen lässt, hatte ihre Großmutter über dieses Fleckchen Erde gesagt. Einen Wimpernschlag lang meinte Hannah fast, die vertrauten Geräusche zu hören: das Flüstern und Raunen des Windes in den hohen Baumwipfeln, das unbekümmert dahinplätschernde Gurgeln des Waldbachs und das lebhafte Rufen der Kinder, die sich zum Forellenfischen am Teich verabredet hatten …

Sie füllte den Tank auf, befreite die Windschutzscheibe von den vielen Fliegen, die während der Fahrt ihren Tod gefunden hatten, und ging auf das Gebäude zu. Über der Eingangstür quietschte ein verrostetes Metallschild mit der Aufschrift Willkommen in den Foothills in seinen Angeln. Unter dem hektischen Gebimmel einer Türglocke trat Hannah in einen klimatisierten Raum. Als der Kerl hinter der Theke sie erspähte, fuhr er sich rasch mit allen zehn Fingern durch seine pomadige Frisur.

»Tag, Ma’am.« Sein breiter Mund verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen, das ein paar gelbliche Stummel freilegte.

Sie streckte ihm ihre Kreditkarte entgegen und nickte dabei knapp. »Würden Sie mir sagen, wo ich hier in der Gegend eine Kleinigkeit zu essen bekommen könnte?«

»Zapfsäule drei, ja?« Der Mann zog die Karte durch das Lesegerät, wobei er Hannah mit wachsamen Fuchsaugen eingehend musterte. »Sie sind nicht von hier, Ma’am?« Sein Blick intensivierte sich, blieb an ihrer verletzten Wange hängen.

Instinktiv legte sie die Hand darauf. »Nein.«

»Nun ja.« Nachdenklich rieb er sich über das unrasierte Kinn. Hannah fielen die feinen goldblonden Härchen an seinen feisten Fingern auf. »Wenn Sie an der Kreuzung nach links fahren und der Straße ein paar Meilen folgen, kommen Sie an eine Abzweigung, genauer gesagt, einen Kreisel. Nehmen Sie die dritte Ausfahrt. Die schmale Straße führt Sie direkt zu einem schnuckeligen kleinen Landcafé.« Er hielt einen Moment inne, während er ihr Gesicht studierte. »Dürfte ganz nach Ihrem Geschmack sein, Ma’am.« Ihr die Karte reichend, bedachte er Hannah erneut mit einem schlüpfrigen Grinsen.

Sie murmelte ein hastiges Dankeschön. Nichts wie weg. Dieser Mensch zog sie mit seinen durchdringenden Blicken förmlich aus.

»Stets zu Ihren Diensten, Lady«, nuschelte er zweideutig. Eigentlich hatte sie sich mit Wasser und einem Müsliriegel versorgen wollen – für alle Fälle – doch jetzt wollte sie nur noch raus hier. So rasch wie möglich fort von diesem schmierigen Typen. Wieder draußen spürte sie gleich, dass der Wind aufgefrischt hatte. Das Schild über der Tür schwankte nun lebhaft und äußerst geräuschvoll. Hannah reckte schnuppernd das Kinn. Es roch nach Regen. Nach frisch umgegrabener Erde, würzigem Gras und dem süßen Duft von Wildblumen. Grillen zirpten am Feldrand, wo goldene Ähren im schwindenden Sonnenlicht tanzten. Von den fernen Bergen zogen Gewitterwolken heran. Für einen winzigen Moment schloss Hannah die Augen, um das Bild in sich aufzunehmen. Oh, sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

3. Kapitel

Verdammte, unglückselige Sauer…« Sam verstummte abrupt, als er Jacksons Hutkrempe um die Ecke blitzen sah. Sein Vorarbeiter mochte es nicht, wenn in seiner Anwesenheit geflucht wurde. Da war er sehr eigen. Wie in vielen anderen Dingen auch. Aber Jackson war ein Goldstück. Unbezahlbar.

Flink bückte sich Sam nach einem Strohbüschel und rieb damit über seine mit frischem Mist beschmutzte Stiefelspitze, um sie zu säubern, während seine Gedanken weiterhin um Jackson kreisten. Ohne den treuen Schwarzen würde auf Green Acres nichts laufen. Er galt als fleißig, verschwiegen und war die Zuverlässigkeit in Person. Gehörte hierher wie die weiten grünen Koppeln und die sanft gewellten Hügel. Er hatte schon für die Flannigans gearbeitet, die Vorbesitzer der Farm. Sie hatten Sam und Maggie damals gebeten, Jackson zu übernehmen, und Sam hatte es noch keinen Tag bereut, ihrer Bitte entsprochen zu haben. Der Schwarze gab nicht viel von sich preis, dementsprechend wenig wusste Sam über ihn. Jackson lebte allein und zurückgezogen irgendwo zwischen Pinewood Falls und Landrum in einem Trailer. Die meiste Zeit jedoch verbrachte er auf Green Acres. »Ich mache mich jetzt auf zu meinem Termin«, rief Sam ihm zu.

Jackson lüpfte seinen Hut vom dichten Kraushaar, um Sam zu signalisieren, dass er ihn gehört hatte. »Viel Glück, Mr. Parker!«

Bis heute weigerte Jackson sich standhaft, das ihm von seinem Arbeitgeber angebotene Du mitsamt Vornamen zu gebrauchen. Wieder so eine Sache, bei der sich Jacksons Dickköpfigkeit zeigte, dachte Sam mit einem leichten Schmunzeln und einem freundlichen Nicken. Er schätzte Jacksons stille, bedächtige Art und seine bedingungslose Loyalität. Deanna und Jackson waren die Stützen in seinem verkorksten Leben. Oh, Emilia natürlich auch. Seine Mutter. Sie waren die Felsen in seiner Brandung. Wenn es diese Menschen nicht gäbe, hätte er Green Acres wahrscheinlich schon längst aufgegeben.

Über den von Hartriegelsträuchern gesäumten Weg, wo sich ein paar vorwitzige Gräser und kleine, zarte Blümchen zwischen den Kieselsteinchen emporkämpften, lief er zum Haupthaus zurück. Im Gästebad wusch er sich Hände und Gesicht und strich ordnend durch sein dunkles volles Haar, das er von seinem Vater geerbt hatte. Emilia behauptete stets, dass dies das einzige äußerliche Merkmal sei, das ihn mit seinem Vater verband.

Mit den hohen Wangenknochen, dem kantigen Kinn und den rauchgrauen Augen sei er in Wahrheit viel mehr ein Fredriksson als ein Parker. Sam betrachtete sich kritisch im Spiegel, bevor er jeglichen Gedanken an sein Aussehen beiseiteschob. Wichtig war, dass er nicht zu spät zu seinem Termin kam. Er legte einen Hauch Aftershave auf. Irish Spice, Maggies Lieblingsduft. Wann immer er seine Haut damit benetzte, überkam ihn schmerzliche Sehnsucht. Er erinnerte sich daran, wie sie ihre Wange an seinen Rücken geschmiegt und ihre Arme um seine Taille geschlungen hatte, während sie ihm sagte, wie sehr sie diesen Geruch an ihm liebte. Einen Herzschlag lang meinte er, ihr helles Lachen zu hören. Sam schloss die Lider, zählte die Sekunden, bis der dumpfe Schmerz, der ihm zuweilen noch immer den Atem raubte, verebbte. Er straffte seinen Rücken, nickte seinem Spiegelbild aufmunternd zu und knipste das Licht aus.

Auf seinem Sekretär im Wohnzimmer lag der Kaufvertragsentwurf für Red Lightning bereit. Hoffentlich würde Dan Buchanan sich im Zuge der Verhandlung bereit erklären, noch ein wenig mit dem Preis herunterzugehen. Auch wenn das Tier diese Summe sicherlich wert war, würde es Sam dennoch schmerzen, derart viel Geld investieren zu müssen. Die Farm brachte gerade so viel ein, dass er davon leben konnte. Maggie und er hatten sich damals in das weitläufige Anwesen und die Tiere verliebt und davon geträumt, hier eine Familie zu gründen. Als Cop hatte er nicht schlecht verdient. Trotzdem bereute er nicht, seine Arbeit aufgegeben zu haben. Er hatte nicht weitermachen können. Nicht nach dem, was geschehen war. Seither schrieb er Bücher, doch reich wurde er dadurch nicht. Das Schreiben war Therapie, ein nettes Zubrot, nicht mehr. Er lockerte seinen Hemdkragen, der ihm auf einmal schrecklich eng am Hals zu sitzen schien. Seit Wochen drängte sein Agent auf neue Entwürfe. Sam hatte das dumpfe Gefühl, Gary Henderson würde sich nicht viel länger vertrösten lassen. Es war höchste Zeit, dass er ihn mit einem überzeugenden Exposé überraschte.

Stirnrunzelnd verstaute er seine Unterlagen in der Aktentasche aus cognacfarbenem Rindsleder. Die Tasche wirkte etwas mitgenommen, aber um nichts in der Welt hätte er sie durch eine neue ersetzt, solange sie noch ihren Zweck erfüllte. Maggie hatte sie ihm zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Mit der flachen Hand fuhr er über das zerknitterte Leder. Maggie … Maggie. Sie war allgegenwärtig in diesem rustikalen lichtdurchfluteten Haus. Vielleicht sollte er doch darüber nachdenken, Green Acres zu verkaufen. Würde es ihm je gelingen, hier wieder glücklich zu werden? Alles auf der Farm erinnerte ihn an Maggies fröhliches Gesicht mit dem Konfettiband an Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Der Schmerz und die Sehnsucht kamen in Wellen. Manchmal, wenn er dachte, er hätte das Schlimmste überwunden, rollte erneut eine Woge heran und drohte, ihn zu verschlingen. Es würde niemals enden, oder? Er hob den Kopf und lauschte.

Auch, wenn das tröstliche Summen von Deanna und das eifrige Klappern von Töpfen und Pfannen aus der Küche zu ihm drangen, hatte sich dieses einst so warme Haus zu einem seelenlosen, leeren Ort gewandelt. Schon lange nannte er Green Acres nicht mehr sein Heim. Es war lediglich der Platz, an dem er wohnte. Sam bezweifelte, dass sich dies jemals wieder ändern würde. Er konnte sich keine andere Frau an seiner Seite vorstellen als Maggie Cavendish.

Sie war die Erste und Einzige gewesen, die er je ernsthaft gewollt hatte. In Tayanitas Café, dem Cottage Garden, hatte sie den Inhalt ihres Kaffeebechers über seine Jeans geschüttet. Eine blonde junge Frau aus South Carolina, die ihn mit ihrer lebhaften, quirligen Art sofort in seinen Bann gezogen hatte. Ein Blick in ihre Augen von der Farbe eines kalten Gebirgsbachs hatte gereicht und Sam Parker war verloren. Als sie sich mit hochrotem Kopf bei ihm für das Malheur entschuldigte, fuhr die Erkenntnis wie ein Blitz durch seinen Körper: Sie musste die Seine werden. Er hatte diese Entscheidung in den wenigen Jahren seiner Ehe niemals bereut. Doch Maggie hatte ihn verlassen – für immer. Sein Herz hatte sie mitgenommen. Nur noch eine hohle Stelle existierte in seiner Brust, wo es einst für sie geschlagen hatte. Sam bemühte sich, seine Gedanken in eine andere Richtung zu steuern. Jetzt galt es, sich auf die anstehende Verhandlung zu konzentrieren. In dem Moment, als er sich die Aktentasche unter den Arm klemmen wollte, klingelte das Telefon. Es war Dan Buchanan, der ihn an den Termin erinnern wollte.

»Ich mache mich gerade auf den Weg«, versicherte Sam. »Ich müsste in weniger als einer halben Stunde bei Ihnen sein.« Rasch warf er einen prüfenden Blick auf das Ziffernblatt seiner silberfarbenen Rolex. »Yep. Alles klar. Ich werde pünktlich sein. Bis dann, Dan.«

Er legte den Hörer auf die Gabel des altmodischen Telefons zurück und war gerade dabei, nach seiner Tasche zu greifen, als es erneut klingelte. Verdammt und zugenäht. Wer wollte nun schon wieder etwas? Leicht genervt hob er ab. »Sam Parker.«

»Wow, Brüderchen. Du klangst auch schon mal entspannter.«

Wider Willen musste er schmunzeln. Dieses freche Mundwerk konnte nur einer gehören. Seiner Schwester Penelope Ann. Abgesehen von seiner Mutter Emilia sowie einer verknöcherten alten Tante oben in New Hampshire, einer Cousine seines Vaters, die jedes Jahr zur Weihnachtszeit eine hübsche Karte von Sam erhielt, war Penny, wie sie es vorzog, genannt zu werden, die einzige nahe Verwandte, zu der er mehr oder weniger regelmäßigen Kontakt pflegte. Sams Vater Hank lebte nicht mehr. Sein Herz hatte vor sechs Jahren einfach aufgehört zu schlagen, und Emilia war fast daran zerbrochen. Ohne den geliebten Mann an ihrer Seite, der sie über vierzig Jahre auf Händen getragen hatte, schien sie jeglichen Lebensmut verloren zu haben. Als Maggie in Sams Leben trat, schöpfte sie wieder Hoffnung. Die Aussicht, bald ein Enkelkind in den Armen halten zu dürfen, gab ihr das wunderschöne Lächeln zurück.

Nach Maggies gewaltsamem Tod war überraschenderweise sie es gewesen, die ihrem Sohn in seiner dunkelsten Stunde Halt und Kraft gegeben hatte. Vielleicht, weil sie den furchtbaren Albtraum, den Sam nun durchstehen musste, bereits hatte erleben müssen. Sam wusste nicht, woher seine Mutter die Stärke genommen hatte, ihn aufzufangen, aber es war ihr gelungen. Kurzerhand engagierte sie Deanna Wilbur, damit ihr Sohn nicht vor die Hunde ging. Deanna versorgte ihn mit regelmäßigen Mahlzeiten und bekam den Auftrag, Emilia täglich Bericht über Sams Befinden zu erstatten. Sam hatte seiner Mutter schon immer nahegestanden, näher als es Penny je getan hatte, die der Liebling ihres Vaters gewesen war. Seitdem Emilia Sam in der schwärzesten Zeit seines Lebens unermüdlich unterstützt hatte, waren Mutter und Sohn jedoch zu einer untrennbaren Einheit gewachsen. Penny neckte ihren Bruder zuweilen wegen dieses, wie sie es scherzhaft nannte, elitären Kreises. Sam aber vermutete, dass sie sich insgeheim ausgeschlossen fühlte. Kam sie deshalb so selten nach Pinewood Falls? Manchmal hatte er das Gefühl, sie beneidete ihn um seine enge Beziehung zu Emilia. Er wünschte, seine Mutter würde ihrer impulsiven und willensstarken Tochter weniger kritisch gegenüberstehen. Er wusste, dass Emilia Penny von Herzen liebte, aber ebenso wusste er, wie schwer es ihr fiel, diese Liebe offen zu zeigen. Wenn nur Hank noch leben würde … Er fegte die düsteren Überlegungen beiseite.

»Schwesterherz. Was verschafft mir die Ehre?« Penny und er hielten lockeren Kontakt, telefonierten alle paar Wochen miteinander. Gesehen hatten sie sich seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr. Seine Schwester hatte Pinewood Falls nach seiner Hochzeit endgültig den Rücken gekehrt, um sich in Asheville ein neues Leben aufzubauen. Sam hatte stets vermutet, dass ihr Weggang etwas mit seinem Freund Finn zu tun haben könnte. Finn, der Sams Meinung nach schon immer ein Faible für Penny gehabt hatte, auch wenn er es vehement abstritt. Da weder Finn noch Penny gewillt schienen, Sam in dieser Angelegenheit aufzuklären, hatte er die Sache auf sich beruhen lassen. Schließlich ging es ihn nichts an, er führte sein eigenes Leben. Zu Maggies Beerdigung war Penny nach Pinewood Falls zurückgekommen, auf ihrer Hüfte ein bezauberndes kleines Mädchen, das dieselben tiefblauen Augen wie ihre Mutter besaß. Sam hatte nichts von der Existenz seiner Nichte geahnt. Er war jedoch viel zu betäubt in seinem Schmerz, um nachzubohren, warum seine Schwester ihm verheimlicht hatte, dass sie Mutter geworden war.

»Ich wollte nur mal hören, wie es meinem attraktiven Bruder so geht«, neckte Penny ihn jetzt. Sam konnte förmlich das freche Grinsen in ihrer Stimme wahrnehmen.

Erneut warf er einen hastigen Blick auf seine Uhr. »Alles bestens. Wie immer. Hör zu, ich …«

»Spielst du noch immer den Einsiedler, mein Lieber? Oder gibt es inzwischen etwas, von dem ich wissen sollte?« Er wusste, worauf sie anspielte. Sie hoffte schon lang, dass ihm jemand – genauer gesagt, eine Frau – über den Weg lief, mit dem er wieder glücklich sein konnte. Er fand es rührend, wie sie sich um ihn sorgte, auch wenn er ihr immer wieder zu verstehen gab, dass eine ernsthafte Beziehung für ihn niemals wieder infrage kam.

»Wäre es nicht an der Zeit, die alten Gefilde aufzusuchen, Schwesterherz?«, konterte er, wohl wissend, dass sie Pinewood Falls aus ihm unerklärlichen Gründen mied. »Ich habe Abby schon ewig nicht mehr gesehen. Wie alt ist sie jetzt … fünf, sechs Jahre?«

»Sam Emil Parker, du könntest deinen Hintern durchaus auch mal zu uns nach Asheville schwingen.«

Oh, er hasste diesen von seiner schwedischen Mutter ausgewählten Zweitnamen, den sie ihm in Gedenken an seinen viel zu früh verstorbenen europäischen Onkel verpasst hatte. Das wusste dieses Biest von Schwester ganz genau.

»Du weißt, du bist jederzeit willkommen, mein Lieber. Und nein«, erstickte sie seinen Protest im Keim, »erzähl mir nicht wieder, du seist auf Green Acres unabkömmlich. Ich bin sicher, der gute alte Jackson hat nach wie vor alles hervorragend im Griff.«

Er gab sich geschlagen. »Ich denk drüber nach. Versprochen.« Vielleicht tat es ihm sogar gut, einmal rauszukommen und die Lichter der Großstadt zu sehen. »Ich muss los, ein wichtiger Termin, tut mir leid. Telefonieren wir Ende der Woche noch einmal?«

»Warum nicht.« Penny seufzte resigniert. »Melde dich, wenn du Zeit zum Plaudern hast.«

»Ach, und Penny – ruf doch Mom an. Ich weiß, dass sie sich freuen würde, von dir zu hören.«

»Mal sehen.« Es knackte in der Leitung.

Mit einem komischen Gefühl im Bauch schnappte Sam seine Sachen und eilte über den Flur. Er spürte, dass Penny gern länger mit ihm gesprochen hätte, und fragte sich, ob sie wohl etwas auf dem Herzen hatte. Sollte es mit ihrem neuen Lover Dylan zu tun haben, diesem Finanzhai, den sie sich geangelt hatte? Ihren Erzählungen nach war ihm der Kerl von Anfang an unsympathisch gewesen, aber sie musste mit ihm leben. Sie und Abby. Es machte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Penny war erwachsen. Sie war schon immer ihren eigenen Weg gegangen, hatte sich nichts vorschreiben lassen. Was einer der Gründe war, weshalb sie und ihre Mutter immer wieder aneinandergerieten.

Aus der Küche wehte ihm ein verführerischer Duft nach frischen Blaubeermuffins entgegen. »Wir sehen uns morgen, Dee«, rief Sam, während er die schwere Eichenholztür aufzog. Mit einem leisen Klicken fiel sie hinter ihm ins Schloss. Die Gipfel der Blue Ridge Mountains hüllten sich in dunkle Wolkengebilde, Donnergrollen rollte in der Ferne. Sam hoffte, dass das Wetter halten würde. Er verspürte wenig Lust, in ein Gewitter zu geraten. Nicht selten brachten sie in den Sommern North Carolinas Überschwemmungen, orkanartige Sturmböen und schweren Hagel mit sich. Sam kletterte hinter das Steuer seines moosgrünen Land Rovers, warf die Aktentasche auf den Beifahrersitz und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Gleichzeitig mit dem Motor sprang die Klimaanlage an. Innerhalb kürzester Zeit würde die stickige Luft im Innenraum des Wagens auf angenehme achtzehn Grad herunterkühlen.

* * *

Hannah setzte den Blinker und fuhr an den Straßenrand, wo sich das Gras an den Asphalt schmiegte. Nicht dass es in dieser gottverlassenen Gegend erforderlich gewesen wäre, einen Blinker zu setzen. Frustriert stellte sie den Motor ab. Seit über einer halben Stunde folgte sie der einsamen Landstraße, die sich von knorrigen Hickorybäumen gesäumt, durch sanft gewellte Felder zog. Hatte sie den Tankstellenbesitzer falsch verstanden oder die verkehrte Ausfahrt im Kreisel erwischt?

Sie krampfte ihre Finger ums Lenkrad und ließ erschöpft den Kopf darauf sinken. Dank der defekten Klimaanlage klebte ihr das T-Shirt inzwischen unangenehm am Rücken. Hannah entfuhr ein tiefer Seufzer. Es half alles nichts. Sie musste weiter, wenn sie nicht in dieser Einöde bis in alle Ewigkeit versauern wollte. Sie blies eine Haarsträhne von der erhitzten Stirn und straffte ihren Rücken. Wie hatte ihre Großmutter immer so schön gesagt? Nur Mut, Liebes. Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter. Hannah drehte den Zündschlüssel und atmete auf, als der Toyota mit einem verlässlichen Tuckern seinen Motor anwarf. »Na also«, murmelte sie. »Wir lassen uns nicht unterkriegen.«

Eingebettet in liebliches Hügelland, umgeben von Weiden, Pferdekoppeln und Wäldern, schmiegte sich das idyllisch am Ufer eines kleinen Flusses gelegene Städtchen an die Ausläufer der Appalachen. Pinewood Falls verkündeten verschnörkelte weiße Letter auf dem grünen Ortsschild, das Hannah soeben passierte. Die Irrfahrt hatte ein Ende. Hannah bog in die Main Street ein und hatte sofort das Gefühl, in ein vergangenes Jahrhundert einzutauchen. Mit ihren historisch aussehenden Backsteingebäuden, den überdachten Veranden und farbigen Markisen, zahlreichen kleinen Läden, Boutiquen und Souvenirgeschäften wirkte die Straße, als wäre sie einem Bilderbuch entsprungen. Breite Gehwege, geschmückt mit schmiedeeisernen Sitzbänken, liebevoll bepflanzten Blumenkübeln und immergrünen Bäumchen, luden zum Bummeln ein. Vor nahezu jedem Haus flatterte das Sternenbanner. Zweifellos ein hübscher Ort. Hannah wischte sich mit dem Handrücken ein hinabrollendes Schweißtröpfchen von der Stirn. Während sie die Umgebung nach dem ersehnten Café absuchte, tastete sie nach der Box mit den Kleenextüchern auf dem Beifahrersitz. Weil ihre Finger mehrfach ins Leere griffen, warf Hannah einen Blick hinüber. Sie stellte fest, dass die Schachtel in den Fußraum gerutscht war, und bückte sich, um sie hochzuholen. Das Ganze konnte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, doch als sie erneut auf die Straße sah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Sie nahm den Fuß vom Gas, trat auf die Bremse und riss mit aller Kraft das Steuer herum. Mit kreischenden Reifen schlitterte der Wagen über den Asphalt, bevor es hässlich krachte.

4. Kapitel

Schwungvoll öffnete Sylvia Cooper die Eingangstür vom Cottage Garden. Sie stellte den voll bepackten Weidenkorb auf den Boden, schüttelte den blonden Pagenkopf zurecht und nahm ihre Einkäufe mit der anderen Hand wieder auf.

Die drückende Schwüle draußen war heute wieder einmal unerträglich, fand sie. Die dunklen Wolken über den Bergen sowie fernes Donnern ließen allerdings vermuten, dass die erhoffte Abkühlung bald in Gestalt eines Gewitters daherkommen würde. Vorsichtshalber hatte sie von zu Hause ihren Schirm mitgeschleppt, den sie jetzt an einen Haken an der Wandgarderobe hängte. Durch einen großzügigen Rundbogen trat sie ins Café. Sonnenlicht fiel durch die großen geteilten Fensterscheiben des quadratischen Raums, wo es sich auf dem beigefarbenen Linoleumboden widerspiegelte. An der Decke drehte sich träge ein Ventilator.

Ein einsamer Gast in kariertem Holzfällerhemd und dunkelgrüner Arbeitslatzhose, der an einem der runden Kiefernholztische vor einer Karaffe Eistee saß, fächerte sich mit der Speisekarte Luft zu. Vor der Küche, die sich wie in einem Westernsaloon hinter einer halben Schwingtür verbarg, erstreckte sich eine lange Theke. Sie beherbergte neben der Registrierkasse den brandneuen und manchmal noch undurchschaubaren Kaffeeautomaten, mit dem Sylvia zuweilen auf Kriegsfuß stand. Dahinter stapelten sich in einem Wandregal Gläser, Tassen und Becher in allen erdenklichen Formen und Farben. Sylvia war seit der Eröffnung des Cottage Garden vor sechs Jahren ein fester Bestandteil des Cafés. Inzwischen konnte sie sich ihr Leben ohne die Arbeit hier nicht mehr vorstellen. Wenn sie zu ihrer Schicht antrat, passte ihre Nachbarin Mabel, eine wohlhabende, etwas schrullige, aber gutmütige Witwe, die ansonsten nichts anderes zu tun hatte, als die Tageszeitung nach dem neuesten Klatsch zu durchforsten und hübsche Stickereien anzufertigen, auf Sylvias drei Kinder auf.

Das Geld, das Sylvia im Café verdiente, reichte gerade so, um über die Runden zu kommen. Als alleinstehende Mutter konnte sie jeden Cent gebrauchen. Um nichts in der Welt würde sie sich jedoch einen anderen, möglicherweise besser bezahlten Job suchen. Tayanita zahlte ihr das, was sie konnte, und Sylvia würde niemals eine fairere und bessere Chefin und Freundin finden. Sie betrachtete das Café als eine Art Zufluchtsort, als ihr zweites Zuhause. Hier konnte sie abschalten und einmal etwas anderes tun, als Windeln zu wickeln, Milchfläschchen aufzuwärmen oder brüllende Kinder zu besänftigen. Sie liebte den täglichen Plausch mit den Gästen, den Austausch von Klatsch und Tratsch. Viele der Cafébesucher waren Einheimische aus Pinewood Falls, die Sylvia seit ihrer Jugend kannte. Hin und wieder verirrten sich auch Touristen auf der Suche nach einer guten, einfachen Mahlzeit und einer Tasse starken Kaffee in das Städtchen, das sich mit dem hochtrabenden Beinamen Tor zu den Blue Ridge Mountains schmückte. Sylvia empfand eine tiefe Verbundenheit zu diesem Ort und seinen Bewohnern. Mit einem leisen Ächzen hievte sie den schweren Korb auf die Theke.

»Tayanita?«

»Komme!« Eine rundliche Frau Mitte vierzig spähte aus der Küche. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Sylvia. Da bist du ja.« Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten warm. Sie trocknete ihre Hände an der bunt bedruckten Baumwollschürze, die sie um ihre Taille gebunden trug.

»Schon zurück? Das ging schnell.«

»Es war nicht viel los bei Violet’s. Stell dir vor, sie gab sich sogar ausgesprochen wortkarg. Hat mich tatsächlich mit ihrem Geplapper verschont«, entgegnete Sylvia, biss sich jedoch sogleich auf die Unterlippe, denn eigentlich mochte sie Violet Hunter. Die Inhaberin des Krämerladens galt als Institution, sie kannte jeden in der kleinen Stadt und wusste stets mit den interessantesten Neuigkeiten aufzuwarten.

Tayanita warf Sylvia einen Blick zu, der Belustigung und Tadel gleichermaßen ausdrückte, und begann im Einkaufskorb zu stöbern. Sie zog zwei in Papier eingeschlagene Baguettes heraus und legte sie auf die Theke. »Hast du alles bekommen?«

»Alles«, bestätigte Sylvia. »Baguette, wie du siehst, grüne Tomaten, Wassermelonen, Süßkartoffeln, Äpfel und Pekannüsse.«

Erneut forschte Tayanita im Korb, öffnete eine braune Papiertüte und nahm einen der rotbackigen Äpfel heraus. Sie schnupperte daran, polierte ihn an ihrer Schürze blank und biss hinein. »Hm … köstlich.« Sie schloss die Augen, während sie genüsslich kaute.

»Tayanita, ich bitte dich!«

»Was denn?« Tayanita zwinkerte ihrer Freundin zu.

»Ab und an muss ich prüfen, ob die Qualität der Ware stimmt, die wir unseren Kunden anbieten.«

»Ich brauche alle Äpfel. Und zwar ganz«, schalt Sylvia mit gespielter Strenge, obwohl sie gestehen musste, dass der frische süße Apfelduft auch sie lockte. »Ich habe vor, nachher Apfelmuffins zu backen.« »Die sind aber wirklich gut«, nuschelte Tayanita und hielt Sylvia das gute Stück entgegen. »Möchtest du kosten?«

»Violet hat sie von Mack’s Farm bekommen.« Sylvia ignorierte das Angebot. »Die sind immer gut. Echte sonnenverwöhnte Carolina Äpfel.«

»Wunderbar. Vielleicht sollten wir davon eine ganze Kiste bestellen.« Tayanita strich sich eine lange Strähne ihres nachtschwarzen Haares hinter das Ohr. »Dann wird es eben in den nächsten Tagen Apple Pie und Apfelcider geben.« Gut gelaunt ließ sie den Rest des angebissenen Apfels in ihre Schürzentasche wandern. »Für später«, erklärte sie. »Ich will noch schnell die Scones in den Ofen schieben und das Gemüse im Crockpot aufstellen. Bist du so lieb und hast ein Auge auf unseren Gast, bis ich hier fertig bin?«

»Klar.« Sylvia blickte kurz zum Holzfällerhemdträger.

»Sag mal«, wandte sie sich erneut an ihre Freundin, »wo hältst du Tsali, dieses schreckliche Ungetüm, versteckt? Normalerweise begrüßt mich ihre feuchte Schnauze in dem Moment, da ich zur Tür hereinschneie.«

Tayanita lachte. »Schlief sie nicht in ihrem Körbchen im Flur? Vermutlich hat sie sich schmollend in den Laden hinter den Vorhang verzogen. Ich musste vorhin mit ihr schimpfen, weil sie mir den Schinken vom Tresen gemopst hatte. Ich sehe gleich mal nach ihr.«

Sylvia schüttelte amüsiert den Kopf. Tsali brachte mit ihrem ungestümen Wesen immer wieder den Betrieb durcheinander. Trotzdem wollten die beiden Frauen die dunkle Hündin nicht mehr missen. Sylvia ging um die Theke herum und holte sich eine saubere Schürze aus einer Schublade. Sie hielt inne, zögerte kurz. »Übrigens – auf der Main Street hat’s vorhin gekracht.« Tayanita drehte sich noch einmal um. »Ach ja? Ich habe mich schon über das Hupkonzert gewundert. Was ist passiert?«

»Es gab einen Auffahrunfall. Aber es geht ihm gut.« Tayanitas Miene erstarrte. »Von wem sprichst du?

Wem geht es gut?«

»Sam. Beruhige dich«, fügte Sylvia schnell hinzu, als sie einen Anflug von Panik in Tayanitas Augen aufflackern sah. »Er ist okay. Beide sind wohl unverletzt.«

Tayanita erblasste sichtlich.

»Ihm ist nichts geschehen«, versicherte Sylvia aufs Neue. »Ich habe ihn bei seinem Wagen stehen sehen. Er hat mir zugewunken und signalisiert, dass alles in Ordnung sei. Eine Frau ist bei ihm, so eine Schmale mit kurzem dunklem Haar. Hab ich noch nie hier gesehen. Wahrscheinlich warten sie gemeinsam auf die Polizei oder den Abschleppdienst.«

»Ich sollte vielleicht rasch mal nachsehen …« Tayanita runzelte die Stirn.

»Lass es sein. Es geht ihm wirklich gut, glaub mir.«

»Ich werde heute Abend auf Green Acres vorbeischauen«, entschied Tayanita kurzerhand. »Nur um sicherzugehen.« Sie verstummte. Tayanita spielte damit nicht auf Sams körperlichen Zustand an, soviel war Sylvia klar. Die Frauen tauschten einen langen Blick.

»Entschuldigung, Ma’am?« Der Mann mit dem Eistee hielt die leere Karaffe hoch und Sylvia deutete ihm an, dass sie gleich bei ihm sein würde.

»Ich wünschte auch, Sam würde endlich einmal zur Ruhe kommen. Er hätte ein wenig Glück verdient, nicht wahr?«

Tayanita legte eine Hand auf Sylvias Schulter. »Sam hat viel verloren. Aber wenn er endlich diese Mauer, die er um sich errichtet hat, einreißen würde, könnte er vielleicht wieder glücklich sein.«

Sylvia nickte, während sie das Gesicht ihrer Freundin studierte. »Weißt du, was mich wundert?«

»Hm?«

»Dass Gloria nicht am Unfallort aufgetaucht ist. Normalerweise besitzt sie einen siebten Sinn dafür, wenn es darum geht, dem guten Sam beizustehen.« Sie kicherte leise. »Es hätte mich nicht erstaunt, unsere sexy Maklerin in Schwesterntracht und mit Erste-Hilfe-Köfferchen hinzueilen zu sehen.«

Tayanita hob eine dunkle Augenbraue. »Du bist böse, Sylvia Cooper.« In ihren Augen funkelte die winzige Andeutung eines Lächelns. »Du solltest dich schämen.«

»Später.« Sylvia zwinkerte ihr zu. »Jetzt werde ich mich erst einmal um den jungen Mann dort hinten kümmern.«

* * *