Mein Herz in Alaska - Kerstin Sonntag - E-Book
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Mein Herz in Alaska E-Book

Kerstin Sonntag

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Beschreibung

Ein unerwarteter Neuanfang, der alles verändert … 
Der gefühlvolle Liebesroman vor der wildromantischen Kulisse Alaskas

Nach einem Schicksalsschlag in den Flitterwochen zerbricht nicht nur Ivys Ehe, sondern auch ihr Glaube an die Liebe. Körperlich und seelisch gezeichnet, verliert sie sich in ihrer Arbeit und schottet ihr Herz ab. Erst als der Stress zu einem Zusammenbruch führt, nimmt sie sich die dringend nötige Auszeit und zieht in eine Kleinstadt im wunderschönen Südalaska. Zwischen der rauen Wildnis, den Bergen und Wäldern von Tikatna fühlt sich Ivy unerwartet wohl und beginnt zum ersten Mal seit Langem über eine glücklichere Zukunft nachzudenken. Während sie allmählich zu sich selbst findet, begegnet sie immer wieder dem wortkargen Piloten Jack, der ihr, trotz harter Schale, unter die Haut geht. Doch Ivy fühlt sich noch nicht bereit für eine neue Liebe und auch Jack versteckt sich hinter einer Mauer aus Schweigen und Geheimnissen. Können beide die Narben der Vergangenheit heilen und sich noch einmal der Liebe öffnen?

Erste Leser:innenstimmen
„Ein herzerwärmender Liebesroman zum Wegträumen, man hat die Landschaft von Alaska direkt vor Augen.“
„Diese großartige Geschichte bringt den Glauben an die Liebe zurück!“
„Ein aufregender Neuanfang in der malerischen Wildnis Nordamerikas“
„Dramatisch, bewegend und hoffnungsvoll“

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Seitenzahl: 395

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Über dieses E-Book

Nach einem Schicksalsschlag in den Flitterwochen zerbricht nicht nur Ivys Ehe, sondern auch ihr Glaube an die Liebe. Körperlich und seelisch gezeichnet, verliert sie sich in ihrer Arbeit und schottet ihr Herz ab. Erst als der Stress zu einem Zusammenbruch führt, nimmt sie sich die dringend nötige Auszeit und zieht in eine Kleinstadt im wunderschönen Südalaska. Zwischen der rauen Wildnis, den Bergen und Wäldern von Tikatna fühlt sich Ivy unerwartet wohl und beginnt zum ersten Mal seit Langem über eine glücklichere Zukunft nachzudenken. Während sie allmählich zu sich selbst findet, begegnet sie immer wieder dem wortkargen Piloten Jack, der ihr, trotz harter Schale, unter die Haut geht. Doch Ivy fühlt sich noch nicht bereit für eine neue Liebe und auch Jack versteckt sich hinter einer Mauer aus Schweigen und Geheimnissen. Können beide die Narben der Vergangenheit heilen und sich noch einmal der Liebe öffnen?

Impressum

Erstausgabe Juli 2022

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-125-8 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-483-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-795-3 E-Book-ISBN: 978-3-98637-363-4

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Dene' Miles, © Maksym shutterstock.com: © Doin, © George wei istockphoto.com: ©vorDa Lektorat: Daniela Pusch

E-Book-Version 12.07.2024, 16:38:01.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mein Herz in Alaska

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Mein Herz in Alaska
Kerstin Sonntag
ISBN: 978-3-98637-483-9

Ein unerwarteter Neuanfang, der alles verändert … Der gefühlvolle Liebesroman vor der wildromantischen Kulisse Alaskas

Das Hörbuch wird gesprochen von Anja Kalischke-Bäuerle.
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Prolog

Was ist Glück?

Glück ist eine glitzernde Seifenblase, die in der Wirklichkeit zerplatzt.

So oder ähnlich würde wohl Ivy Culvers Antwort auf diese Frage lauten. In Wahrheit dachte sie nicht oft darüber nach. Es tat einfach zu weh. Ihr war es wichtig, die Hände und den Geist zu beschäftigen, um die Gedanken im Zaum zu halten. Das Dunkle zurückzudrängen und nicht darüber nachzugrübeln, was sie vor sechs Jahren verloren hatte. In jener verhängnisvollen Nacht, die alles veränderte. Sie hatte überlebt. Hatte es irgendwie geschafft, die Teile wieder zusammenzusetzen. Sie hatte sich aufgerappelt. War ins kalte Wasser gesprungen und hatte Schritt für Schritt mit Fleiß und Durchhaltevermögen, ihre Geschäftsidee in ein blühendes, kleines Unternehmen verwandelt. Sie arbeitete als Expertin für Kostenkalkulationen. Sie war versiert im Verhandeln mit Banken, Käufern, Maklern und Baufirmen. Zumindest in dieser Hinsicht funktionierte sie. Wie eine gut geölte Maschine. Innerlich jedoch fühlte sie sich zerbrochen. In ihrem Inneren existierte wenig mehr als eine tiefe Leere. Mit ihrem alten Ich war auch die Hoffnung auf persönliches Glück gestorben. Seit dem Brand konzentrierte sie sich ganz auf ihre Arbeit. Alte oder verlassene Häuser mit Potenzial zum Umbau und anschließendem Weiterverkauf aufzustöbern, war zu ihrer Leidenschaft geworden – ihrer einzigen. Alles drehte sich um ihre Projekte, die sie mit Herzblut verfolgte. Wie auch an diesem geschäftigen Vormittag, an dem sie, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, den Einkaufswagen durch die Gänge des kleinen, familiengeführten Supermarkts in Brooklyn Heights manövrierte, um ein paar Kleinigkeiten für ein schnelles Frühstück zum Mitnehmen zu organisieren.

„Hör zu, Nate, ich bin in Kürze mit dem Einkauf fertig und fahre anschließend unverzüglich zur Baustelle“, beruhigte sie ihren Projektleiter. „Gib mir fünf Minuten, in Ordnung?“ Sie wechselte das Telefon zum anderen Ohr und ließ ihren Blick über das bescheidene Getränkesortiment wandern. Sie stand einmal wieder unter Zeitdruck. Wie immer gab es tausend Dinge gleichzeitig zu erledigen, und sie musste sich beeilen, um den anstehenden Termin mit dem Architekten einhalten zu können. Doch es war genau dieser Stress, den sie brauchte wie die sprichwörtliche Luft zum Atmen. Er hielt sie lebendig. Hielt sie davon ab, verrückt zu werden. „Ich habe nachgedacht, Nate“, fuhr sie fort, geistesabwesend nach einer Flasche Orangensaft greifend. „Es ist besser, wenn wir einen zweiten Architekten hinzuziehen, damit …“, sie verstummte, als ihr die Glasflasche aus der Hand rutschte und mit einem lauten Krachen auf den Steinfliesen zersplitterte. Scharf sog sie die Luft ein.

Ihr Herz stockte.

Bilder flammten vor ihrem geistigen Auge auf.

Heiß. Es war unglaublich heiß. Das war alles, an was sie denken konnte, als sie sich durch die schwelende Schwärze in der Bar tastete. Blauschwarzer Qualm drängte in ihren Rachen, während sie, hustend und keuchend, verzweifelt nach Will rief. Ihre Augen brannten, ihre Haut fühlte sich an, als würde sie in der Hitze des Feuers knistern. Atemnot überfiel sie und jähe Übelkeit. Auf dem Weg zum Ausgang rammte ihr jemand einen Ellenbogen in die Seite. Ein riesiger Kerl schob sie grob beiseite, sodass sie stolperte und gegen jemanden prallte. Menschen schrien um Hilfe. Glasflaschen explodierten. Gläser zerbarsten, Schaum und Flüssigkeiten spritzten umher, benetzten die Wände, den Tresen, den Boden. Hunderte von glitzernden Splittern flogen wie tödliche Geschosse durch die Bar. Ivy hob die Arme vors Gesicht, um sich vor den Scherben, die sich messerscharf wie Eisklingen in ihr Fleisch bohrten, zu schützen. Wo war Will?

Eine Welle der Panik zog ihr den Boden unter den Füßen weg, als die Erinnerung wie ein Tsunami über sie hinwegrollte. Das Handy entglitt ihr, fiel klappernd zu Boden. Plötzlich befand sie sich wieder in jener schicksalhaften Nacht, in der sie sich verzweifelt durch die Menschengemenge in der Bar des romantischen Bed & Breakfast Hotels kämpfen musste, das Will für ihre Flitterwochen ausgesucht hatte. Sie befand sich für einen Moment wieder inmitten eines Infernos. Ihr Puls raste. Kalter Schweiß prickelte auf ihrer Stirn. Vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte, und als sie taumelnd eine Hand ausstreckte, um sich am Einkaufswagen festzuhalten, griff sie ins Leere. Ich muss hier raus, dachte sie noch, ehe vollkommene Dunkelheit sie umfing.

Kapitel 1

Jack war gerade dabei, in seinem Schuppen die Kreissäge an einem Regalbrett für Chip Montgomerys neuen Kücheneinbauschrank anzusetzen, als sich das Handy in der Gesäßtasche seiner Arbeitshose mit einem Vibrieren bemerkbar machte. Einen Fluch durch die Zähne ausstoßend, stellte er die Maschine ab, zog die Staubmaske herunter und angelte nach dem Telefon. Er hatte Chip zugesagt, das Möbelstück morgen früh fertig zu haben, doch im Augenblick sah es ganz danach aus, als ob er den Liefertermin verschieben musste. Doch nicht nur deswegen ärgerte die Unterbrechung ihn. Er mochte es generell nicht, beim Arbeiten gestört zu werden. Maureen hatte dies stets respektiert. Sie hatte ihn in Ruhe gelassen, wenn er in seiner Freizeit mit einem kalten Bier im Schuppen verschwunden war oder über und über mit Sägespänen bedeckt Stunden später wiederauftauchte. Allerdings hatte sie es sich im Nachhinein doch nicht ganz verkneifen können, ihren Unmut durch das Heben einer Braue auszudrücken. Manchmal habe ich das Gefühl, du verbringst mehr Zeit mit deinem geliebten Holz als mit mir, hatte sie Jack in ihrem weichen texanischen Akzent, den er immer hinreißend gefunden hatte, vorgeworfen. Jack liebte es mit den eigenen Händen Dinge erschaffen zu können. Sein verstorbener Vater, Holzbauer und Hobbypilot, hatte ihm nicht nur das Fliegen, sondern auch die Schreinerei einst nähergebracht. Im Nachhinein war Jack seinem alten Herrn dankbar dafür. Die Fliegerei allein brachte nicht genügend ein, und jeder Auftrag für ein Möbelstück bedeutete eine Extrasumme in die Familienkasse. Abgesehen davon mochte er das Arbeiten in der Scheune. Dieser spezielle Geruch von frisch gesägtem Holz, das Gefühl, wenn er mit den Fingerkuppen über die geschnittene raue Oberfläche fuhr. Diese Beschäftigung hatte etwas Ursprüngliches, fast Meditatives an sich. Anders als beim Fliegen konnte man dabei wunderbar den Geist freimachen. Auf dem Pilotensitz musste er in jeder Sekunde zu hundert Prozent fokussiert bleiben.

Er presste das Telefon gegen das Ohr. „McGraw“, meldete er sich knapp.

„Jack, wie gut, dass ich dich erwische.“ Elin Hollister, die Inhaberin der Karibu Lodge, klang atemlos. Was Jack beunruhigte, denn gewöhnlich war Elin zupackend und stets ausgeglichen, die Ruhe selbst.

„Ist etwas mit Harper?“, entfuhr es ihm automatisch, wobei er sich über sein bartstoppeliges Kinn rieb. Er schwebte in ständiger Sorge um Harper. Seit der Wolfsbegegnung vor zwei Wochen, als seine Tochter die ihr mehrfach eingebläuten Regeln schlichtweg vergessen und sich einer Wolfsmutter gefährlich genähert hatte, war Jack etwas dünnhäutig. Nun ja, wenn man es genau nahm, begleitete ihn diese verdammte Dünnhäutigkeit seit der Sache mit Maureen wie ein permanenter Schatten.

„Nein, nein“, beruhigte Elin ihn rasch. „Harper geht es gut. Reese hat sie mit zu sich nach Hause genommen. Die beiden wollten zusammen mit Helen Plätzchen backen.“

Mit einem leisen Zischen stieß er Luft durch die Zähne aus und ließ die angespannten Schultern sinken. Was für ein Glück, dass Harper ab und an Beschäftigung bei Elin, Reese oder deren Mitbewohnerin fand, denn mit seiner lebhaften, wissbegierigen Tochter hatte er alle Hände voll zu tun. Seine eigenwillige Kleine streifte gern allein umher, obwohl er ihr bestimmt schon hunderte Male ins Gewissen geredet hatte. Schließlich wusste man in Alaska nie, wann man plötzlich einem Tier gegenüberstand, das sich angegriffen oder bedroht fühlte oder aber bereit war, sein Junges zu verteidigen. Jack erinnerte sich daran, dass vor etlichen Jahren, lange bevor er die Kenai-Halbinsel zu seiner Heimat gemacht hatte, eine Schreckensmeldung durch die Gazetten gegeistert war. Es hieß, eine junge Joggerin sei durch eine Wolfsattacke ums Leben gekommen. Laut der damaligen Polizeisprecherin sprächen Tatzen- und Blutspuren am Unglücksort mit großer Wahrscheinlichkeit dafür, dass wilde Tiere die Frau angegriffen hätten. Sollte dies tatsächlich der Fall gewesen sein, wäre dies die erste Wolfsattacke auf einen Menschen seit Beginn der Aufzeichnungen in Alaska gewesen. Jack war skeptisch, was diese Meldung anging, schließlich hatte er selbst noch keinen Zwischenfall mit einem wilden Tier erlebt, seitdem er hier wohnte. Dennoch hielt er es für angebracht, auf der Hut zu sein, und er wurde nicht müde, dies auch seiner Tochter einzubläuen. Andererseits, was sollte eine Siebenjährige den lieben langen Tag zu Hause tun? Er konnte es sich finanziell nicht leisten, jemanden einzustellen, der nach der Schule auf Harper aufpasste. Seine Mutter lebte in Anchorage, und er musste zusehen, dass er die anfallenden Rechnungen bezahlte und einen Schuldenberg abbaute. Auch wenn es ihm gegen den Strich ging, war er auf hilfsbereite Menschen wie Elin angewiesen, die ihm ab und zu unter die Arme griffen. „Um was geht es, Elin?“, hakte er nun eine Spur freundlicher nach.

„Folgendes, Jack.“ Im Hintergrund hantierte sie wohl geräuschvoll mit Geschirr. „Mein neuer Gast sitzt in Homer auf dem Flughafen fest, da der Pilot aufgrund eines familiären Notfalls nicht weiterfliegen kann. Ich wollte dich fragen, ob du einspringen könntest, um Ivy aus der Misere zu befreien. Außerdem rief Garrett mich gerade an. Er ist mit seiner Kanugruppe flussaufwärts gestrandet. Das bedeutet, dass er es vermutlich nicht schaffen wird, sie wie vorgesehen an der Flugbahn zu empfangen. Und ich bin hier heute leider unabkömmlich …“

„Und du bittest mich nun, deinen Gast nicht nur in Homer abzuholen, sondern anschließend auch zur Lodge zu bringen“, schlussfolgerte Jack geistesgegenwärtig.

„Das wäre wundervoll, Jack. Ivy ist eine liebe Freundin meines Bruders aus New York und …“

„Kein Problem, Elin“, kürzte er Elins Versuch, ihm ihre Bitte schmackhaft zu machen, etwas uncharmant ab. „Ich helfe gern, wenn ich kann.“ Elin Hollister war so ziemlich der einzige Mensch in Tikatna, dem Jack vertraute – bis zu einem gewissen Grad. In den letzten Jahren war er vorsichtig geworden. Um nicht zu sagen, misstrauisch. Eigenschaften, mit denen der Mann, der er einst gewesen war, nichts gemein hatte.

„Du bist ein Goldstück, weißt du das? Die Frau, die dich irgendwann …“

„Hör zu, ich muss hier abschließen“, unterbrach er sie erneut. Er konnte die Besitzerin der Karibu Lodge gut leiden, doch ihre gelegentlichen Versuche, ihn aus seiner, wie sie es nannte, Einsamkeit befreien zu wollen, nervten ihn. Sie meinte es sicher gut, doch er hatte ihr mehr als einmal deutlich gemacht, dass sich das Thema Partnerschaft für ihn erledigt hatte. Die Ehe hatte ihm nichts als Unglück gebracht. Die Sache war einfach die, dass er nicht für eine Beziehung gestrickt war. Manche Menschen sollten lieber allein bleiben. Er hatte das auf die harte Tour lernen müssen. „Sonst sitzt dein neuer Gast noch länger in Homer fest“, ergänzte er zu guter Letzt.

„Natürlich. Entschuldige Jack“, lenkte Elin ein, die wohl realisierte, dass sie sich einmal wieder zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. „Wir sehen uns dann später.“

Jack stopfte das Handy zurück in die Arbeitshose, schaltete die Kreissäge ganz aus und klopfte sich Staub und Sägespäne von Händen und Kleidung. Vielleicht könnte er nach seiner Rückkehr weiterarbeiten, sofern Harper noch mit Backen beschäftigt sein würde, und dann gelänge es ihm eventuell, Chip das Möbel wie versprochen zu liefern. Er hielt sich nun einmal gern an Vereinbarungen.

Er streifte sich seine Pilotenjacke über und stellte den Kragen auf. Der Wettermann bei KPEN, Jacks Lieblingsradiosender aus Soldotna, der den ganzen Tag lang solide, gute Countrymusik spielte, hatte von einer Schlechtwetterfront gesprochen. Tja, es sah ganz so aus, als behielte der Mann recht. Mit hochgezogenen Schultern und wenigen, energischen Schritten überbrückte Jack im Nieselregen die Distanz zwischen der Scheune und seinem Truck. Wie immer parkte er in der kiesbestreuten Einfahrt vor dem im landestypischen Rundbohlenstil erbauten Wohnhaus. Das Gebäude besaß ein ausladendes, tief nach unten gezogenes Dach und große, deckenhohe Fenster, die so viel Licht wie möglich ins Innere ließen, was in den langen, dunklen Wintermonaten von essenzieller Bedeutung war. Dann nämlich, wenn die Sonne lediglich für ein paar Stunden am Tag bis kurz über den Horizont kroch und die Landschaft in fahles Dämmerlicht tauchte. Es war das Haus, das Jack einst für Maureen und sich entworfen hatte. Das Heim, in dem sie zusammen mit ihren Kindern hatten leben wollen. Nur dass es dieses Leben, das er sich ausgemalt hatte, niemals gab und auch niemals geben würde. Er würde die Zeit zurückdrehen, würde gewisse Dinge ungeschehen machen, wenn dies möglich wäre. Doch es war nicht möglich, sich aus dieser tiefen, dunklen Hölle zu befreien, in der er lebte. Dieser Hölle, die er sich selbst geschaffen hatte.

Jacks Kiefermuskeln arbeiteten, als er sich hinter das Steuer seines Wagens schob und den Motor anstellte. Wenn er nicht aufpasste, drohte der Riss in seiner Brust jedes Mal aufs Neue aufzureißen, weil er an Maureen dachte. Genau aus diesem Grund verbannte er jeglichen Gedanken an die Vergangenheit aus seinem Bewusstsein. So gut es eben ging.

Unter den Reifen seines Wagens spritzten Kies und Schlamm auf, als er wendete und schwungvoll die Einfahrt verließ. Eigentlich hatte er sie schon längst pflastern wollen, doch irgendwie kam er nie dazu. Manchmal wünschte er, er hätte ein zweites Paar Hände, aber dieses Los teilte er vermutlich mit allen alleinerziehenden Eltern.

Für den Weg von seinem Haus, das etwas außerhalb von Tikatna auf einer bewaldeten Anhöhe lag, bis zum Flughafen, wo seine Maschine, ein viersitziges, einmotoriges Leichtflugzeug, aufgetankt und startklar auf ihn wartete, benötigte er nur rund zehn Minuten. Jack würde pünktlich in Homer eintreffen, sofern sich das Wetter nicht gravierend verschlechterte. Nachdem er das Haus des Hafenmeisters passiert hatte, erreichte er bald die überschaubare Ortsmitte. Schon immer ein Abenteurer im Herzen, hatte Jack einst das Großstadtleben gegen die Abgeschiedenheit und unberührte Wildnis von Alaska eingetauscht. Er hatte sich in die einsamen Weiten des rauen Landes verliebt, wo sich die Wolken eines endlosen Himmels in glasklaren, von tiefen, dunklen Wäldern gesäumten Seen spiegelten. Hier tickten die Uhren langsamer. Das Leben war einfacher und bescheidener, in gewisser Weise jedoch auch komplizierter, weil man sich selbst nicht aus dem Weg gehen konnte. Eine Sache, mit der nicht jeder Mensch klarkam.

Inzwischen hatte sich der feine Regen in einen ausgewachsenen Schauer verwandelt, und der Wind wurde stärker. Im Vorbeifahren peitschten Zweige eines Strauchs gegen das Seitenfenster, als Jack der zweispurigen Schotterstraße zum Flughafen folgte. Wenn er sich nicht gerade oben in der Luft befand, genoss Jack dieses Wetter. Wenn es stürmte, in Strömen goss oder eine dicke Schneedecke das weite Land in glitzerndem Eis gefangen hielt, fühlte er sich auf eigentümliche Weise getröstet. Er liebte es, den Launen der Natur ausgeliefert zu sein. Dann kam es ihm vor, als würde der tosende Wind seinen Schmerz wegfegen, und der Schnee all die schrecklichen Bilder begraben, die sich wie Säure in seine Seele gebrannt hatten. Bei schlechtem Wetter, wenn er draußen den Elementen der Natur ausgesetzt war, fiel es Jack leichter, nicht an das zu denken, was vor dreieinhalb Jahren geschehen war. Welche Schuld er auf sich geladen hatte. Mehr als einmal hatte er daran gedacht, alles hinter sich zu lassen und zurück nach Anchorage zu gehen, um sein Leben dort wieder aufzunehmen. Er war in der pulsierenden Stadt geboren und aufgewachsen, hatte dort zahlreiche Kontakte und Freundschaften gepflegt. Doch dieser Mann war er längst nicht mehr. Er hatte kein Interesse an gesellschaftlichen Verpflichtungen. Obwohl ihn die Schatten in Tikatna verfolgten, brachte er es nicht fertig, diesen Ort zu verlassen. Es war als hielte ihn etwas – oder jemand – hier fest. Maureens Geist? Ein kalter Hauch fuhr ihm über den Rücken.

Als er Earl Nelson vom Anglershop bemerkte, der mit seinem schweren Stiefeln und einem Sack über den Rücken über die Straße stapfte, drosselte er das Tempo. Earl und Jack begegneten sich mitunter beim Angeln am Creek. Sie kannten und respektierten einander, wechselten aber kaum mehr als ein paar Worte, und nur wenn nötig. Vermutlich galten sie beide als die merkwürdigsten Vögel des Orts, dachte Jack in einem Anflug von Sarkasmus. Während Earl sich gemächlichen Schrittes über die Straße bewegte, strich er nachdenklich über sein Markenzeichen, einen ungepflegt wirkenden, schlohweißen Vollbart. Wie üblich blickte er dabei weder nach links noch rechts. Earl besaß ein unerschütterliches Gottvertrauen. Er vertrat die Ansicht, dass der Herr ihn beschützte, komme, was da wolle, und er würde ihn heimholen, wann immer es ihm beliebte, unabhängig davon, was Earl davon halten mochte. Jack beneidete Earl ein wenig um seine Einstellung. Vermutlich gestaltete sich das Leben um Einiges einfacher, wenn man glaubte, dass es irgendwo im Universum jemanden gab, der eine schützende Hand über einen hielt. Jack wusste es besser.

Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad und wartete, bis der Alte sicheren Fußes die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatte. Jack kannte die Eigenheiten der Einwohner und deren zuweilen verschrobenes Verhalten recht gut. Er wusste, wie er wem zu begegnen hatte, mit wem er ein paar freundliche Worte wechseln konnte und wann er besser seinen Mund hielt. Schließlich setzte er seinen Weg fort, passierte die kleine, holzverkleidete russisch-orthodoxe Kirche und das Tanaina Café von Molly Simmons, in dem man eine anständige Mahlzeit zu essen bekam. Jacks Meinung nach servierte Molly den feinsten gegrillten Rotlachs weit und breit. Außerdem punktete das Restaurant ebenso mit seinem unerschöpflichen Vorrat an eiskaltem Moose Gallop Ale.

Rachel Matthews vom Krämerladen, der ebenfalls die Postfiliale beherbergte, winkte ihm im Vorbeifahren zu, bevor sie den Müll in einem abschließbaren, luftdichten Metallschrank verstaute. Was zwingend notwendig war, wollte man nicht hungrige Grizzlys mit dem Geruch der Abfälle anlocken. Jack erwiderte Rachels Gruß mit einem unverbindlichen Handzeichen und gab sich Mühe, das Gefühl des Unbehagens abzuschütteln, das ihn, wie so oft, bei ihrem Anblick überkam. Sie beide besaßen eine gemeinsame Geschichte. Eine, die abrupt und eher unschön geendet hatte, woran Jack nicht unmaßgeblich beteiligt gewesen war. Ihm war klar, dass er Rachel mit seinem Handeln verletzt hatte, doch man konnte sich nicht aussuchen, wen man liebte. Die Liebe ging ihren ganz eigenen Weg. Rachel hatte ihm offenbar jedoch vergeben, denn seit geraumer Zeit suchte sie seine Nähe. Die Art und Weise, wie sie ihn anblickte, wie sich ihre Wangen färbten, wenn sie mit ihm sprach. Alles das verriet ihm, dass Rachel sich weitaus mehr von ihm erhoffte als gelegentliche Begegnungen im Laden oder auf der Straße. Für Jack hingegen war klar, dass es keine Wiederholung geben würde. Er hatte die Sache mit Rachel Matthews vor langer Zeit zu den Akten gelegt. Auch stand ihm nicht der Sinn nach Beziehungen oder deren Wiederbelebung. Die letzten Jahre hatten ihm einiges abverlangt. Hatten ihn abstumpfen, ja in gewisser Weise gleichgültig werden lassen. Er hatte gelernt, mit den Geistern der Vergangenheit zu leben. Daran gewöhnen würde er sich nie. Doch er hatte keine andere Wahl, als weiterzumachen. Und das tat er allein wegen Harper. Seiner Tochter zuliebe stand er jeden Morgen auf, sie war auch sein letzter Gedanke, bevor er einschlief. Manchmal, wenn er nachts wach lag und grübelte, hörte er sie im Schlaf weinen. Niemals weinte sie in seiner Anwesenheit – sie war ein tapferes Mädchen. Eine Kämpferin, die gegen ihre eigenen Dämonen antrat. Nein, seine Prioritäten lagen nicht darin, sein praktisch nicht existentes Sozialleben zu pflegen. Womöglich versuchte er, sich selbst auf diese Weise zu bestrafen, für das, was geschehen war. Seine Kiefermuskeln spannten sich und er schloss seine Finger fester um das Lenkrad, als sein Blick die dunkle Holzfassade des Pioneer Cave, Tikatnas einzigen Pub, streifte. Selbst wenn es ihm je gelänge, sein Gewissen zu erleichtern, gab es Dinge, die man weder vergeben noch vergessen konnte.

***

Rachel wischte die Handflächen an ihrer Jeans ab und zog die dicke Strickjacke enger um ihren Oberkörper, ehe sie zurück in den Laden ging. Obwohl sie Jack nun bereits etliche Jahre kannte, bekam sie noch immer Herzklopfen, wenn sie sich über den Weg liefen. Frustriert von der Tatsache, dass sie auf sein Erscheinen zudem wie ein Teenager mit glühenden Wangen reagierte, hoffte sie, dass Pippa ihr die Aufgewühltheit nicht vom Gesicht ablesen würde. Leider war ihre Mutter mit der Wachsamkeit eines Luchses gesegnet.

In ihrem Rücken klappte die Tür mit einem Quietschen zu. Sie müsste dringend mal wieder geölt werden. Doch seitdem Tony Matthews nicht mehr unter den Lebenden weilte, lag so Einiges im Argen, und nicht nur, was das Geschäft betraf.

Ihre Mutter Pippa kniff hinter der Theke die Augen zusammen, während sie Rachel durch den Zigarettenrauch musterte. „Unfassbar, dass dieser Mann noch immer frei herumläuft, wenn man bedenkt …“ Pippa verstummte vielsagend. Kopfschüttelnd nahm sie einen tiefen Zug und tippte die Zigarette in den Aschenbecher.

„Wenn man was bedenkt?“, hakte Rachel mit ungewohnter Schärfe in der Stimme nach. Natürlich wusste sie, auf was, oder besser, auf wen Pippa anspielte. Ihre Mutter hatte beobachtet, wie Rachel draußen den Müll entsorgte. Und natürlich war ihr ebenfalls nicht entgangen, wie sie Jack zugewunken hatte, der in seinem Pick-up vorbeigefahren war.

„Ach nichts.“ Pippa schürzte die schmalen, mit einem kräftigen Ziegelrot betonten Lippen. Sie sprach es nicht aus, aber es war ein offenes Geheimnis, dass sie nichts von Jack McGraw hielt. Wegen dieser Sache, die vor dreieinhalb Jahren passiert war, über die man im Ort noch immer hinter vorgehaltener Hand tuschelte. Genau genommen sprach es niemand offen aus, doch jeder hatte eine Meinung zu diesem Vorfall. Und zumindest jeder, der seinen Verstand gebrauchte, wusste, dass etwas an der ganzen Sache faul war, wurde Pippa niemals müde zu betonen. Mit einem erneuten bedeutungsvollen Seitenblick in Richtung ihrer Tochter seufzte sie tief.

Mit brennenden Wangen nahm sich Rachel, die sich der kritischen Musterung ihrer Mutter bewusst war, der neuen Waren an, die gestern mit dem Boot geliefert worden waren und darauf warteten, ausgepackt und in die Regale einsortiert zu werden. Sie hatte es satt, mit Pippa über Jack zu diskutieren. Wenn sich Pippa etwas in den Kopf gesetzt hatte, hielt sie dies für die unverrückbare, einzige Wahrheit. Rachel hatte inzwischen begriffen, dass es für ihr Seelenheil besser war, den Mund zu halten – zumindest, was gewisse Themen betraf. Ihre Mutter wurde von der Angst getrieben, ihre Tochter könnte als alte Jungfer enden. Die Tatsache, dass Rachel mit einunddreißig noch Single war, bereitete ihr Kopfzerbrechen, zumal Pippa selbst mit achtzehn ihre große Liebe, Tony, gefunden hatte. Zu ihrem Unmut hielt ihre Tochter an der aberwitzigen Idee fest, dass aus ihr und dem undurchsichtigen Piloten, wie Pippa ihn bezeichnete, irgendwann ein Paar werden könnte. Noch einmal stieß Pippa einen resignierten Laut aus. Als Rachel nicht darauf reagierte, warf sie das Päckchen, das Molly Simmons ihr vor wenigen Minuten mit der Bitte, es wie ein rohes Ei zu behandeln, anvertraut hatte, achtlos in die Transportbox mit der ausgehenden Post. Rachel verkniff sich einen entsprechenden Kommentar und steckte sich, ihren Frust unterdrückend, das rotblonde, feine Haar, ein Erbe ihres Vaters genau wie die bernsteinfarbenen Augen, hinter die Ohren. Während sie sich der Waren annahm, fragte sie sich, wann ihre Mutter das Thema endlich ruhen lassen und akzeptieren würde, dass Rachel ihre eigenen Entscheidungen traf. Und dass es Pippa, verflixt nochmal, nichts anging, wen ihre Tochter liebte. Nach dem Tod von Rachels drei Jahre älteren Bruder Ruben vor achtzehn Monaten war Rachel ihr als einziges Kind geblieben und seitdem konzentrierte Pippa sich ganz auf ihr vermeintliches Glück. Sie würde erst die Hände in den Schoß legen, wenn Rachel versorgt und unter der Haube war, verkündete sie bei jeder Gelegenheit mit erhobenem Zeigefinger. In dieser Hinsicht sei sie altmodisch, und das sei auch gut so. Pippa entstammte einer erzkatholischen Familie, deren konservative Weltanschauung sie tief geprägt hatte. Tony hatte sich stets über Pippas strenge Einstellung amüsiert, doch er hatte Pippa von Herzen geliebt und deshalb über so manches hinweggesehen, das bei Rachel sauer aufstieß. Gedankenversunken stapelte sie die Konservendosen mit den Erbsen ins Regal. Seit anderthalb Jahren war ihr Leben auf den Kopf gestellt. Sie vermisste Ruben, der, anders als Rachel, das Leben mit jeder Faser seines Seins genossen hatte. Er war bei einem Schneemobilunfall verunglückt. Mit Freunden hatte er seinen Geburtstag ausgelassen gefeiert, ein paar Bier und ein paar Schnäpse zu viel gehabt. Er hatte die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Der Rettungshubschrauber aus Homer hatte wegen des schlechten Wetters nicht starten können, und Ruben war noch am Unfallort verstorben. Wie passend, dass er beim Feiern aus dem Leben geschieden war. Er, der das Leben wie eine große Party gefeiert hatte. Noch mehr fehlte Rachel allerdings ihr Vater, der bereits vier Jahre zuvor gegangen war. Sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Zu ihm hatte sie eine besonders innige Beziehung gehabt. Tony hätte die Wogen zwischen den beiden Frauen geglättet, so wie er es immer getan hatte, als er noch lebte. Tony Matthews war der Puffer in dieser komplizierten Mutter-Tochter-Beziehung gewesen. Im Grunde hätte Rachel Tikatna längst verlassen. Doch sie wurde von einem Gefühl der Verpflichtung erdrückt und glaubte, ihre Mutter unterstützen zu müssen. Immerhin hatte Pippa nicht nur ihren Mann, sondern auch den Sohn verloren. Der Krämerladen war Familientradition. Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Dmitri Sergejewitsch Matwejew, der einst mit russischen Pelzhändlern nach Tikatna gekommen war, gegründet, wurde er von Generation zu Generation weitergegeben. Im Lauf der Zeit wandelte sich der Familienname zu Matthews, doch der Stolz, den ersten und einzigen Kaufmannsladen im Umkreis von zwanzig Meilen zu besitzen, blieb ungebrochen. Zumindest was Pippa betraf. Und nun da Rachels Bruder das Erbe nicht antreten konnte, blieb nur noch sie übrig. Dies, und die Tatsache, dass sie sich der Hoffnung hingab, dass Jack sie eines Tages aus diesem Dilemma befreien würde, waren die Gründe, weshalb sie ausharrte. Es hatte ihr nichts ausgemacht, im Geschäft mitzuarbeiten, als Tony und Ruben noch gelebt hatten. Doch die Zusammenarbeit mit ihrer dominanten Mutter gestaltete sich zunehmend schwieriger. Es war nervenaufreibend, und Rachel zählte täglich die Minuten, bis sie den Laden endlich abends pünktlich um achtzehn Uhr schlossen und sie in die Abgeschiedenheit ihres kleinen Hauses am Ende der Hauptstraße flüchten konnte. Nun, da es nur noch Pippa und Rachel gab, wäre die Wohnung über dem Laden für beide groß genug. Vier Zimmer, zwei Bäder und eine große Wohnküche boten ausreichend Platz. Rachel brauchte jedoch den räumlichen Abstand. Müsste sie auch noch ihre Feierabende mit Pippa verbringen, würde sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verrückt werden. Sie lebte für die Augenblicke, da sich die Tür öffnete und Jack das Geschäft betrat. Die flüchtigen Momente, in denen sie einander begegneten und sie in seinen Zügen nach Anzeichen von wiederkehrender Zuneigung suchte, hütete sie wie einen kostbaren Schatz. Jack hatte schon einmal eine Schwäche für sie besessen. Warum sollte es nicht wieder passieren? Im Grunde genommen war die Sache ganz einfach. Das Schicksal hatte sie füreinander bestimmt. Und egal wie lange es dauern würde, bis Jack dies erkannte oder wie vehement sich ihre Mutter dagegen sträubte, Rachel würde auf Jack warten.

„Rachel?“ Pippas Stimme durchdrang ihre Tagträumerei und sie fuhr unwillkürlich zusammen. „Ich gehe kurz hoch in die Wohnung, um nach der Waschmaschine zu sehen. Falls Wyatt von der Post eintrifft, vergiss nicht, ihm zu sagen, dass wir diese Aufkleber wieder brauchen, du weißt schon …“

„Ich vergesse es nicht. Ich kümmere mich drum, Mama“, unterbrach sie Pippa mit einem Hauch an Gereiztheit in ihrer Stimme. Augenrollend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Glaub mir, ich habe alles im Griff.“ Und nicht nur, was das Geschäft angeht, ergänzte sie stumm.

Kapitel 2

Die Fäuste in den Seitentaschen seiner Pilotenjacke vergraben und die Schultern gegen den eisigen Wind hochgezogen, marschierte Jack auf die junge Frau zu, die neben ihrem Gepäck Schutz unter dem Wellblechdach des Hangars suchte. Bedingt durch die schlechten Wetterverhältnisse, hatte sich seine Ankunft in Homer nun doch verspätet. Während er sich ihr näherte, unterzog er die Fremde einer raschen Musterung. Er schätzte sie auf Anfang Dreißig. Dunkle, eng geschnittene Jeans, warme Stiefel sowie eine taillierte Steppjacke. Alles an ihr, das gepflegte Äußere und die Klamotten, verrieten ihm die Großstadtpflanze. Vermutlich gehörte sie zu der Sorte Touristinnen, die sich darüber beschwerten, dass ihre teuren Schuhe bei einer Wanderung ruiniert wurden oder ihnen bei einer wilden Kanufahrt ein künstlicher Fingernagel abbrach.

Sie hatte ihn bemerkt und machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu.

„Nach Tikatna?“, wollte er ohne Umschweife wissen. Er war noch nie ein Mann der großen Worte gewesen, doch seit dem Vorfall schien sein Wortschatz um ein Beträchtliches geschrumpft. Zudem konnte er sich nicht daran erinnern, dass Elin ihm einen Namen genannt hätte. Was nicht bedeutete, dass sie es nicht getan hatte. Sein Hirn machte dies hin und wieder: Unwichtiges ausblenden. Jack besaß keine Geduld für Nebensächlichkeiten. Schon lange nicht mehr.

Die Fremde strich sich das dunkle, rot schimmernde Haar aus der Stirn, dabei registrierte er beiläufig ihre fein gezupften Brauen, die gepflegten Fingernägel und die gezackte, rot flammende Narbe, die sich über ihre rechte Gesichtshälfte zog und im Schal über ihrem Jackenkragen verschwand.

„Und Sie sind …?“

Er wandte sich kurz um, als suchte er jemanden. „Der Mann, der sie an ihr gewünschtes Ziel bringt?“

Falls sie sich über ihn ärgerte, ließ sie es sich nicht anmerken. „Dort, wo ich herkomme, stellt man sich einander vor“, entgegnete sie höflich, jedoch ohne den Hauch eines Lächelns in ihren fein geschnittenen Zügen. „Ivy Culver.“

Touché. Sie ließ sich nicht einschüchtern. Das imponierte ihm – Großstadtpflanze hin oder her. „Kommen Sie“, forderte er sie mit einer Kopfbewegung auf. „Das Wetter wird nicht besser, je länger wir hier herumstehen.“ Angesichts ihrer bläulichen Lippen musste sie frieren. Kurzerhand bückte er sich nach ihrem Gepäck. „Sie wollen sich sicher nicht gleich eine dicke Erkältung holen.“

Sie machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

Verflucht, sie war hartnäckig. „Jack McGraw“, informierte er sie, dem subtilen Hinweis folgend, sich ihr vorzustellen. „Ein Freund von Elin, Ihrer Gastgeberin“, ergänzte er eine Spur versöhnlicher. Ihre Zurückhaltung war verständlich, immerhin war er für sie ein Fremder. Er sollte sich besser zusammenreißen, Elin würde ihm gehörig den Kopf waschen, wenn er ihre Gäste vergraulte.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass es derart kalt sein würde, immerhin haben wir bereits Juli“, gestand sie, während sie ihm aus dem Hangar zum Flugzeug folgte. Offenbar hatte sie seine letzten Worte als Aufforderung zum Plaudern aufgefasst. „Aber ich habe gehört, dass die Sommer in Alaska ganz schön durchwachsen sein können“, plapperte sie weiter.

Jack verabscheute jede Form von Smalltalk. Er hielt dergleichen für reine Zeitverschwendung und plante gewiss nicht, eine Konversation zu beginnen. Sein Job war es, Elins Gast sicher ans Ziel zu bringen. Ohne auf Ivys Äußerung einzugehen, öffnete er die Tür der Cessna, damit sie einsteigen konnte.

„Vorsichtig bitte!“, ermahnte sie ihn, als er ihre Reisetasche schwungvoll nach hinten verfrachtete. „Da sind ein paar empfindliche Dinge drin.“

Er hob eine Braue. Ihre Bitte untermauerte den ersten Eindruck, den er von ihr gewonnen hatte, und ihn beschlich die vage Ahnung, dass es ihr in Tikatna nicht gefallen würde. Das raue Klima und die wilde Natur, die Einsamkeit, all das war nichts für neurotische Großstädter. Ihm war die hartnäckige Vorstellung der Touristen, hier in unberührter Natur romantische Abenteuer erleben zu können, wohl bekannt. Den Duft der unbegrenzten Freiheit wollten sie schnuppern. Seine Lippen wandelten sich zu einem schmalen Strich. Diese Menschen wussten es nicht besser. Sie ahnten nicht, dass das Leben in Alaska einen an seine Grenzen bringen und Seelen zu zerstören vermochte.

Sein Fluggast schlüpfte an ihm vorbei, wobei er einen Hauch eines dezenten Parfums erhaschte. Obwohl sie nicht übermäßig schlank war, wirkte sie dennoch auf seltsame Weise zerbrechlich. Ihre Finger berührten sich flüchtig, als er ihr half, sich festzuschnallen. Er reichte ihr das Headset von der Wand über ihrem Kopf und deutete ihr an, es sich aufzusetzen, da sie ihn fragend anblickte. Unbehagen beschlich ihn, als der Blick ihrer grünen Augen ihn traf. Entschlossen schob er das irritierende Gefühl von sich.

Er räusperte sich. „Es wird ziemlich laut werden. Deshalb müssen wir die Kopfhörer aufsetzen, falls wir uns unterhalten wollen. Klar?“

Sie nickte.

„Und ziehen Sie das Mikrofon vor ihren Mund, damit ich Sie hören kann.“

„Ich hoffe, wir stürzen nicht ab.“ Ein nervöses Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel, sobald er sich auf dem Pilotensitz eingerichtet hatte. „Ich muss gestehen, dass ich etwas aufgeregt bin.“

„Entspannen Sie sich.“ Jack presste seine Kieferknochen aufeinander.

„Okay.“ Sie atmete tief ein. „Ich bin bereit.“

Die Art, wie sie ihre Finger im Schoß verkrampfte, ihre ganze Körpersprache verriet ihm, dass sie alles anderes als bereit war. Dennoch ignorierte er ihren flehenden Blick, mit dem sie ihn stumm um ein paar beruhigende Worte bat. Stattdessen drückte er den Hauptschalter, streifte sich das Headset über und überkreuzte im Geist zwei Finger. Hoffentlich würde es mit seinem Fluggast unterwegs keine Schwierigkeiten geben. Im Lauf der Jahre hatte er so seine Erfahrungen mit panischen Passagieren gemacht. Einmal hatte er sogar notlanden müssen, da bei einem hysterischen Fluggast der Verdacht auf einen Herzinfarkt bestanden hatte.

Nachdem er die Starterlaubnis bekommen hatte, ließ er das Flugzeug in Abflugposition rollen. Er drehte die Motoren hoch, wendete, und dann rumpelte die Maschine, immer schneller werdend, auf der unbefestigten Startbahn dahin.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sich sein Passagier hilfesuchend am Haltegriff über dem Kopf festklammerte, bis das Gerumpel abrupt stoppte.

Sie waren in der Luft und Jack in seinem Element.

Das Fliegen war seine wahre Passion. Er brauchte es wie die sprichwörtliche Luft zum Atmen. Jack konnte im Leben auf Vieles verzichten, auf zwei Dinge jedoch nicht. Das waren die Fliegerei sowie seine Liebe zu Harper.

„Wissen Sie, ich bin wirklich froh, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.“ Ivys Stimme knisterte durch das Headset. „Es war eine ziemlich lange Reise.“

Das hörte er öfter. Nun, es hatte sie vermutlich niemand gezwungen, den Weg auf sich zu nehmen, oder? „Wir werden kaum länger als zwanzig Minuten fliegen“, erwiderte er knapp, in der Hoffnung, das Gespräch hiermit zu beenden.

Als das Flugzeug die angestrebte Höhe erreicht hatte, nahm Jack die Klappen raus und reduzierte die Geschwindigkeit, sodass die Maschine in die Waagrechte kam. Nun schien auch Ivys Anspannung nachzulassen. Zumindest bis die kleine Cessna zu ruckeln und zu schaukeln begann.

Der panische Blick, den Ivy ihm zuwarf, entging Jack nicht. Obwohl es ihm auf der Zunge lag, verkniff er sich eine spöttische Bemerkung. „In dieser Höhe kommt es manchmal zu kleinen harmlosen Turbulenzen“, spulte er sein Repertoire an Erklärungen automatisch ab. „Das legt sich, sobald wir auf fünfzehntausend Fuß gestiegen sind.“ Diese Touristen aus der Großstadt waren alle gleich. Bekamen beim geringsten Wackeln schon weiche Knie.

Während des Flugs schlug das Wetter überraschend um. Erste Sonnenstrahlen schoben sich durch die Wolken und gaben nun den Blick auf die bergige Kenai-Halbinsel mit ihren schneebedeckten Gipfeln und Gletschern frei. Die Cessna glitt über klare, türkisblau schimmernde Seen und dunkle Wälder hinweg, und schon bald machte Jack Ivy beim Landeanflug auf die reizvoll von Wasserarmen und Waldflächen umgebene, winzige Gemeinde Tikatna aufmerksam. „Wir werden in Kürze landen“, informierte er sie. „Und Sie haben den Flug überlebt“, konnte er sich angesichts ihres Seufzers der Erleichterung mit einem Quäntchen leisem Spott in der Stimme nicht verkneifen.

Kapitel 3

Vertrau mir. Es wird dir in Alaska gefallen.

Ivy erinnerte sich noch bestens an Daniel Hollisters zuversichtlich klingende Worte, als sie mit wackligen Knien dem Kleinflugzeug entstieg und die Absätze ihrer Stiefel zentimetertief in Schlamm versanken. Nach ihrem Zusammenbruch im Supermarkt hatte Daniel, Ivys Hausarzt und guter Freund, sie gedrängt, sich eine Auszeit zu nehmen. Zur Erholung hatte er ihr einen Aufenthalt in der Lodge seiner Schwester Elin in einem kleinen Ort auf der Halbinsel südlich von Anchorage ans Herz gelegt. Ivy hatte seine Besorgnis mit einem Lächeln und einem Achselzucken abgetan, schließlich hatte sie bereits weitaus Schlimmeres durchgestanden als diesen kleinen Zusammenbruch. Sie hatte ihm versichert, dass es ihr gut ging. Das ist ausgemachter Bullshit, erklärte er resolut. Nur Daniel Hollister konnte es sich erlauben, diesen Ton bei ihr anzuschlagen. Wenn es darauf ankam, ließ er gern den großen Bruder raushängen, den sie niemals gehabt, sich aber immer gewünscht hatte. Ihre Freundschaft war gefestigt genug, um einander die ungeschminkte Wahrheit sagen zu können. Offenbar brauchtest du diesen Weckruf, fuhr er mit ernster Miene fort. Es ist höchste Zeit, dein Leben zu ändern. Ich mache mir Sorgen um dich.

Ivy hatte sich zunächst gesträubt. Schließlich konnte sie nicht einfach alles stehen- und liegenlassen und ihre Kunden verärgern, indem sie Aufträge nicht erfüllte. Abgesehen davon wurde sie in vier Tagen zur Bauabnahme eines fertig renovierten Hauses in New Haven erwartet, und sie musste Handwerker für den Innenausbau eines neuen Projekts in White Plains organisieren. Ein winziger Teil in ihr befürchtete zudem, dass sie dort, im fernen Alaska, Zeit zum Nachdenken finden würde. Sie brauchte Beschäftigung, um ihren Geist aktiv zu halten. Was in aller Welt sollte sie den lieben langen Tag in der Pampa nur tun? Schließlich hatte sie sich schweren Herzens doch noch entschieden zu reisen. Es hatte sie viel Anstrengung und Nerven gekostet, alles so zu organisieren, dass die Arbeiten an bereits begonnenen Projekten reibungslos weiterliefen, damit sie diese Auszeit überhaupt hatte nehmen können.

Und nun stand sie hier, betrachtete die Pfützen der Schotterpiste, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte, und fragte sich, ob sie wirklich das Richtige getan hatte.

Der eisige Wind durchdrang den dicken Stoff ihrer Steppjacke, die sie im guten Glauben mitgenommen hatte, für Alaska gerüstet zu sein. Offensichtlich hatte sie die Temperaturen unterschätzt. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und unterdrückte den Impuls, Jack zu bitten, sie nach Anchorage zurückzufliegen. Zurück in die Zivilisation. So umwerfend der Blick aus der Cessna auf die Halbinsel auch gewesen sein mochte, vom Boden aus betrachtet wirkte die Umgebung alles andere als einladend. Ivy konnte nicht viel mehr ausmachen als eine unbefestigte Piste, die vermutlich als Start- und Landebahn zugleich diente, einen kleinen Hangar sowie hohe, schlanke Nadelbäume auf mit Wildblumen gesprenkelten Grasflächen. Dennoch war sie erst einmal erleichtert, der Enge der kleinen Maschine entkommen zu sein. Die Atmosphäre während des Flugs war angespannt gewesen und die spröde Art des düster dreinschauenden Piloten hatte ihr Beklemmung bereitet.

Sie strich sich das mahagonifarbene, ehemals aschbraune Haar, das ihr Schlüsselbein umspielte, aus dem Gesicht. Nach dem Unfall und der darauffolgenden Scheidung vor sechs Jahren hatte sie zwar ihren angenommenen Nachnamen behalten, ihr Äußeres jedoch komplett verändert. Die smarte Geschäftsfrau von heute hatte nichts mehr mit der jungen, hoffnungsvollen Ivy von damals gemein.

In der Erwartung, dass Jack ihr das Gepäck aushändigte, schenkte sie ihm ein höfliches Lächeln zum Abschied. Auch wenn der Mann kein Benehmen besaß, würde sie ihre gute Kinderstube nicht vergessen. „Danke fürs Herfliegen, Mr. McGraw“, sagte sie mit so viel Freundlichkeit, wie sie im Moment aufbringen konnte. Ihr Blick irrte über das Gelände. Soweit sie wusste, sollte sie von Daniels Schwester Elin an der Landebahn abgeholt werden. Abgesehen von einem verlassenen schwarzen Truck entdeckte sie jedoch weit und breit keine Menschenseele.

„Kommen Sie?“

Überrascht wandte sie sich erneut Jack zu, der das Gepäck geschultert hatte, und sie abwartend ansah. „Wohin?“

„Ich schlage vor, wir begeben uns zu meinem Wagen“, er machte eine Kinnbewegung hin zu dem Truck, „damit ich Sie zur Karibu Lodge bringen kann.“

„Sie fahren mich?“ Verwirrt zog sie die Brauen zusammen.

„Es sei denn, Sie ziehen es vor zu laufen. Ganz wie Sie wollen.“ Er rieb sich über das bartstoppelige Gesicht, als ob eine große Müdigkeit an ihm zehrte.

Es musste wohl an dem rauen Klima und den langen dunklen Wintern liegen, dass die Menschen in dieser gottverlassenen Gegend derart bärbeißig waren. „Man hat mir versprochen, dass ich abgeholt werden würde“, erwiderte sie ruhig. „Danke, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht.“ Genau genommen würde sie erleichtert sein, wenn dieser Mann sich endlich verabschiedete.

Jack zuckte mit den Schultern. „Der Flughafen liegt rund siebenhundert Meter Fußweg vom Ort und etwa neunhundert von der Lodge entfernt. An Ihrer Stelle würde ich nicht herumdiskutieren, sondern das Angebot annehmen. Elin bat mich, Sie zu fahren, da sie aufgehalten wurde.“

Hätte er ihr diesen entscheidenden Hinweis nicht gleich geben können? Sie ballte ihre Rechte zur Faust und atmete tief durch. Im Lauf der letzten Jahre hatte sie es perfektioniert, ihre Gefühle zu verbergen und ihre verletzliche Seite hinter einer taffen Fassade zu verstecken. Da sie jedoch ein im Grunde leidenschaftlicher Mensch war, fiel es ihr nicht immer leicht, innerlich ruhig zu bleiben. „Das wusste ich nicht“, entgegnete sie, mit Mühe Gelassenheit vortäuschend. „Unter diesen Umständen fahre ich natürlich gern mit Ihnen.“ Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie war auf diesen seltsamen, wortkargen Mann angewiesen.

„Kommen Sie“, forderte er sie erneut auf.

Die Lippen zusammengepresst folgte sie ihm zu seinem Wagen, wobei sie beiläufig seine Rückansicht studierte. Jack McGraw schien jemand zu sein, der weder Wert auf gute Umgangsformen noch auf sein Äußeres legte. Die Pilotenjacke, wie auch seine Jeans, hatten definitiv bessere Tage gesehen und seine schwarzbraunen Haare, die sich im Nacken leicht lockten, konnten definitiv einen Schnitt vertragen. Einer Bürste waren sie vermutlich auch schon länger nicht mehr begegnet, schloss sie, innerlich aufseufzend.

Auf den Blättern von Büschen und Sträuchern glitzerten Regentropfen, Fetzen blauen Himmels blitzten zwischen den Ästen der Bäume hervor, während Jack mit einer Hand am Steuer den Wagen lässig über eine schmale, unebene Straße manövrierte.

Hatte Ivy schon in der Flugzeugkabine das Gefühl gehabt, ihm viel zu nah zu sein, so verstärkte sich dieser Eindruck nun um ein Vielfaches. Durch das Innere des Wagens schwebte ein Hauch seines herben Aftershaves, vermengt mit dem eindringlichen Ledergeruch seiner Jacke. Bald schon gelang es ihr jedoch, Jacks Gegenwart auszublenden, da die fremde Umgebung sie viel mehr fesselte.

„Hier auf der Halbinsel sind Zusammenstöße mit Elchen keine Seltenheit“, brachte sich Jack in Erinnerung, als sie ein gelbes Warnschild passierten, das einen Elch mit einem kollidierten Wagen zeigte. „Man nennt sie MVC-Unfälle, Moose-Vehicle-Collisions.“

„Wie traurig.“ Ivy runzelte die Stirn.

„So ist das Leben hier nun mal.“

Ivy streifte Jack mit einem Seitenblick, wobei sie seine angespannten Züge registrierte, die langen, kräftigen Finger auf dem Lenkrad. Kurz blitzte ein goldenes Band an seinem Ringfinger im Sonnenlicht auf. Ivy wandte sich ab. Jacks Ehefrau verdiente ihr Mitgefühl. Es war vermutlich nicht einfach, mit einem Menschen zusammenzuleben, der so wenig Empathie besaß. Vermutlich tat er den Tod eines Tieres einfach mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab. Mit jeder Minute, die verstrich, fühlte sie sich in seiner Gegenwart unwohler. Unbehaglich verlagerte sie ihr Gewicht und zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie dachte an Dodie, die sie unbedingt anrufen sollte. Ihre Großmutter im fernen Deutschland würde sich Sorgen machen, wenn sie nichts von ihr hörte. Sie und Dodie telefonierten alle zwei Tage über Skype. Dörthe Burmester, wie Dodie mit vollem Namen hieß, war ihre engste Vertraute. Ivy hielt sie stets über ihre Projekte informiert. Nicht selten schmiedeten die beiden Frauen Pläne, was Umbauten oder Einrichtungen betraf, und schon so manches Mal hatte Ivy einen von Dodies Vorschlägen aufgegriffen. Dodie war es auch gewesen, die Ivy in einem langen Telefonat letztendlich davon überzeugt hatte, ihrer Gesundheit zuliebe Daniels Rat anzunehmen und nach Alaska zu fliegen. Leider sahen sie sich aufgrund der Entfernung nur ein- oder zwei Mal im Jahr, denn Dodie, mit einem großen Herzen wie einer ebenso großen Portion Starrsinn gesegnet, weigerte sich strikt, in ein Flugzeug zu steigen. Diesen durch den Himmel jagenden Blechkisten vertraue ich nicht, verdeutlichte sie ihren Standpunkt immer wieder aufs Neue, sobald Ivy sie darauf ansprach. Unvermittelt wurde Ivy von jäher Sehnsucht gepackt. Niemand verstand sie so gut wie ihre Großmutter, und niemand durchschaute sie so rasch. Bis heute bedauerte sie es, dass sie Dodie damals im Alten Land bei Hamburg hatte zurücklassen müssen. Auch Dodie hatte Ivys Mutter Karla, die der Liebe wegen nach New York auswanderte, diesen Schritt nie verziehen. Genau wie Ivy hatte sie unter dem Abschied gelitten und vermisste ihre Enkelin noch heute schmerzlich.

Das dunkle Timbre von Jacks Stimme drang in ihre Gedanken. „Wir sind gleich da“, wiederholte er, als sie ihn fragend anblickte.

Erleichterung erfasste sie. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad und danach, die Füße hochzulegen. Ganz zu schweigen von einem bequemen, warmen weichen Bett, in dem sie sich ausstrecken konnte. Der Gedanke, gleich an ihrem Ziel zu sein, stimmte sie versöhnlicher. Als sie eine Holzbrücke, die sich über einen in wilden Wirbeln dahintreibenden Fluss spannte, überquerten, bewunderte Ivy das türkisfarbene Wasser. „Angeln Sie?“, wollte sie von Jack wissen, ehe sie sich daran erinnerte, dass er kein Freund der gepflegten Konversation war.

„Jeder, der auf dieser Halbinsel lebt, tut das.“

Natürlich, das hätte sie sich denken können. In Alaska jagte man vermutlich alles, was sich nicht bei zwei in Sicherheit gebracht hatte. Angesichts Jacks Wortkargheit machte sie eine mentale Notiz, für den Rest der Fahrt zu schweigen, doch als ihr Blick auf hohe, von Nebelschwaden umtanzte, schneebedeckte Gipfel fiel, entfuhr ihr ein unfreiwilliger Laut der Begeisterung. „Was für ein Anblick!“

„Das ist die Bergkette der Kachemak Bay“, gab Jack brummend Auskunft.

Ivy betrachtete die spektakuläre Aussicht, bis sie zu ihrem Bedauern hinter einem dichten Mischwald aus Espen, Birken und dünnen Tannen verschwand.

Nun verließ Jack die Straße, um in einen holprigen Waldweg einzubiegen. Nach etwa einem Kilometer öffnete er sich zu einer breiten Lichtung, in deren Mitte ein großzügiges Rundstamm-Blockhaus thronte. Um das Haus herum verteilten sich, von Bäumen beschattet, eine Handvoll kleiner, reizender Chalets. Ein kunstvoll geschnitztes Holzschild vor dem Haupthaus verkündete den Namen des Anwesens: Karibu Lodge. Mit ausladendem Spitzgiebel-Walmdach, einem steinernen Fundament und einer breiten, umlaufenden Veranda auf Holzpfählen vermittelte das Gebäude urige Alaska-Atmosphäre. Unter dem Schutz der Veranda entdeckte Ivy einen Fahrradunterstand sowie einen Picknicktisch und eine Tischtennisplatte. In wenigen Metern Entfernung vom Haus gab es noch eine doppeltürige Garage mit einer Rampe, vielleicht für ein Schneemobil oder ein Boot. Entgegen Ivys Erwartung machte ihr neues Zuhause auf Zeit einen freundlichen Eindruck.

Kaum hatte sie den Wagen verlassen, öffnete sich die Haustür und ein dunkelgoldener Schatten mit hängender Zunge stürmte die Stufen hinab und auf Ivy zu.