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Die historische Auswanderer-Saga an der Wolga neigt sich dem Ende zu mit dem finalen Band "Weiter Himmel, wilder Fluss" der SPIEGEL-Bestsellerautorin Martina Sahler! Russland Anfang des 19. Jahrhunderts: Die vor zwei Generationen von den Weber-Schwestern gegründete Siedlung hat sich verändert. Einst aufgebaut und erblüht durch die Hoffnung, Liebe und Glück zu finden, müssen sich die Bewohner nun der nächsten Bedrohung stellen, die die Geschichte ihnen aufzwingt: Napoleons Feldzug gegen Russland. Doch nicht nur die politische Lage, sondern auch persönliche Schicksale bedrohen ihr Lebensglück. Christina hat sich als Modezarin in St. Petersburg etabliert, muss sich jedoch gegen eine unerwartete Mitstreiterin beweisen. Eleonora wünscht sich nichts sehnlicher als in ihre Heimat zurückzukehren, doch eine schwere Krankheit durchkreuzt ihre Pläne. Amelia Mai muss ihre verbotene Liebe für einen verheirateten Mann verheimlichen und Frannek Müller zieht in den Krieg gegen Napoleon. Klara kämpft dafür, dass das Vermächtnis ihrer Familie überlebt. Im mitreißenden Finale der Wolga-Trilogie holt die HOMER-Literaturpreis Gewinnerin Martina Sahler begeisternde Lesende zurück in die Weiten Russlands und taucht ein letztes Mal in die fesselnde und emotionale Geschichte der Weber-Schwestern ein. Die historische Familiensaga ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Band 1: Weiße Nächte, weites Land - Band 2: Dunkle Wälder, ferne Sehnsucht - Band 3: Weiter Himmel, wilder Fluss
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Seitenzahl: 462
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martina Sahler
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Russland Anfang des 19. Jahrhunderts. Vor zwei Generationen erbauten die Weber-Schwestern ihre Siedlung, doch einiges hat sich seitdem verändert. Christina hat sich als Modezarin in St. Petersburg etabliert, muss sich jedoch gegen eine unerwartete Mitstreiterin beweisen. Eleonora hingegen wünscht sich nichts sehnlicher, als in ihre Heimat Deutschland zurückzukehren, während Klara, als Einzige der Schwestern, um das Vermächtnis ihrer Familie kämpft. Doch neben ihren persönlichen Schicksalen müssen sie sich einer weiteren Bedrohung stellen: Napoleons Feldzug gegen Russland.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Vorbemerkung
Karte
Die wichtigsten Figuren um 1800
Abschiede
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Irrwege
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Heimkehr
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Epilog
Nachwort
Die Kolonie Waidbach sowie sämtliche Bewohner sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit den Menschen, die tatsächlich im 18. Jahrhundert in den deutschen Kolonien an der Wolga lebten, wären rein zufällig.
Christina Haber, 53, ehemalige Kolonistin, jetzt Modezarin in Sankt Petersburg.
André Haber, Christinas Mann, durch den sie in den Geldadel der russischen Hauptstadt aufgestiegen ist.
Anouschka, Christinas Hausmädchen.
Oleg, Christinas Hausdiener.
Alexandra, 34, Christinas ungeliebte leibliche Tochter und ihre Konkurrentin auf dem Modemarkt. Alexandra hat sich mit Christinas Rivalin Felicitas Haber zusammengeschlossen und ist verheiratet mit dem Gardeoffizier Fjodor Michailowitsch.
Daniel Meister, 59, Christinas langjähriger Freund und Geliebter. Ein Abenteurer, den es schon immer gereizt hat, die Welt zu bereisen.
Felicitas Haber, Schwester von André Haber und Christinas schärfste Konkurrentin.
Sophia, 37, Christinas Nichte, Tochter ihrer Schwester Eleonora. Sophia ist Kunstdozentin an der Petersburger Akademie der Künste.
Jiri Jegorowitsch Orlowski, 41, Sophias Ehemann und ein über die Landesgrenzen hinaus berühmter Maler.
Marija Tomasi, zuverlässigste Mitarbeiterin Christinas in ihrem Modegeschäft am Newski-Prospekt.
Klara Mai, 42, die Jüngste der Weber-Schwestern und als Einzige noch in der Kolonie verwurzelt, die sie mitgegründet hat.
Sebastian Mai, 42, Klaras tüchtiger Ehemann mit einer von Geburt an verkrüppelten Hand.
Amelia Mai, 24, die älteste Tochter der Mais. Vor 16 Jahren wurde sie von den Kirgisen verschleppt und verbrachte zwei Jahre in Gefangenschaft, bevor sie mit Claudius Schmied fliehen konnte.
Henny Mai, 21, halb taub, aber blitzgescheit. Seit drei Jahren führt sie dem Pastor den Haushalt.
Martin Mai, 19, das dritte Kind der Mais. Als kleiner Junge verbrannte er sich die Beine, weil Frannek Müllau ein Feuer entfachte. Er ist verheiratet mit Hilda (18). Das Kind der beiden ist der Säugling Simon.
Luise Mai, 15, die leichtlebige Tochter der Mais, die den Männern in der Kolonie den Kopf verdreht.
Philipp Mai, 13, jüngster Spross der Mais, der zu Klaras Leidwesen nichts als Flausen im Kopf hat.
Claudius Schmied, 32, verbrachte mit Amelia Mai zwei Jahre in Gefangenschaft der Kirgisen. Seit 14 Jahren ist er verheiratet mit seiner großen Liebe Mathilda.
Mathilda Schmied, 32, lebt seit 20 Jahren in Waidbach, sieht sich aber immer noch als Fremde unter den Kolonisten der Gründergeneration. Sie fühlt sich zu Johannes Schaffhausen hingezogen.
Johannes Schaffhausen, 40, lebt als Witwer mit seinem Sohn Frieder (14) in der Kolonie. Er verehrt Mathilda Schmied.
Stephan Lorenz, 27, ältester Sohn von Eleonora und Matthias. Er lebt mit seiner Frau Charlotte und den Kindern Franz, Peter und Lara in Waidbach als Bauer.
Pastor Laurentius Ruppelin.
Dorfarzt Dr. Cornelius Frangen.
Lehrer Anton von Kersen, Hebamme Veronica von Kersen und ihre Söhne Gustav (24), Hermann (22) und Rudolf (20).
Dorfschulze Bernhard Röhrich und Apothekerin Anja.
Helmine Schmied, geborene Röhrich, Klatschtante und Besitzerin der Maulbeerplantage.
Eleonora Lorenz, 55, gehört zur Gründergeneration der Kolonie Waidbach, lebt aber jetzt in Saratow mit ihrem Mann Matthias und ihrem zweiten Sohn Justus.
Matthias Lorenz, 57, ehemaliger Ackerknecht, nun erfolgreicher Tuchfabrikant in Saratow. Er trägt seine langjährige Ehefrau Eleonora noch immer auf Händen.
Justus Lorenz, 26, hilft seinem Vater Matthias in der Tuchfabrik und hofft darauf, endlich mehr Verantwortung übernehmen zu können.
Frannek Müllau, 30, floh im Jahr 1786 aus Waidbach nach Saratow. Nach seiner unglücklichen Kindheit wurde ihm sein jugendliches Spiel mit dem Feuer zum Verhängnis. In Waidbach weiß man nicht, was aus ihm geworden ist.
Valentina, herzensgute Saratowerin. In ihrem Haus wird jeder, der Schutz benötigt, willkommen geheißen.
Major Anatolij Danilowitsch, Valentinas Ehemann, der sich dem Militär verschrieben hat.
Wanja, Hausdiener in Valentinas Stadtvilla.
Inna, geheimnisvolle Schöne im Hafenviertel von Saratow.
Kristian Walter, 22, Schreiner, dem seine Heimat zu eng wird.
Josefine Walter, Kristians schwangere Frau.
Elfriede Walter, Kristians herrschsüchtige Schwester.
Gottlieb Walter, Kristians Vater.
Ruppert, Lehrling in der Schreinerei.
Helena Jagt, Hebamme.
Gernot, 18, Sohn eines Pastors aus Ellwangen, verlobt mit Hedwig.
Kaspar und Hans, zwei Leutnants im Württembergischen Regiment.
Thomas von Ackeren, Oberstleutnant in der Grande Armée.
Buch 1
1800–1803
Es war merkwürdig still in Andrés Privatgemach.
Christina hob den Kopf und lauschte, als sie den Salon in ihrer Stadtvilla am Newski-Prospekt betrat. Ofenwärme und Parfümduft empfingen sie. Eine Wohltat nach der kühlen Brise auf ihrem Heimweg vom Modegeschäft Haber, dessen Räumlichkeiten sich nur wenige Gehminuten entfernt befanden.
Kein Geräusch drang aus den Zimmern ihres Gatten.
Sie ließ sich von ihrer Dienerin den Umhang mit dem Fuchspelzbesatz abnehmen und drückte ihr die Entwürfe einer französischen Modezeichnerin in die Hände. Grauenvoll dilettantische Machwerke. Kein Wunder, ihr Mann André hatte die Empfehlung ausgesprochen. Die unbegabte junge Frau war die Tochter eines Diplomaten, dem er offenbar einen Gefallen schuldete.
Christina schätzte es nicht, wenn ihr andere ins Handwerk pfuschten. Wenn jemand frische Talente auf dem Modemarkt entdeckte, dann war sie das, niemand sonst. »Bring dies in mein Bureau. Und sorg dafür, dass mich niemand stört.«
»Sehr wohl, Madame.« Anouschka verschwand fast unter dem üppigen Mantel, als sie knickste.
Christina reagierte mit einer barschen Geste, als wollte sie ein Huhn verscheuchen. Ach, wie gingen ihr diese Lakaien auf die Nerven! Anouschka war die Letzte in einer langen Reihe von Schwachköpfen, von denen keiner Christinas Ansprüchen genügen konnte. Entweder waren sie tollpatschig, begriffsstutzig, faul oder durchtrieben. In den zwanzig Jahren, in denen sie als deutsche Einwanderin in Russland über leibeigene Bedienstete verfügen konnte, hatte es nicht eine gegeben, die sie zufriedenstellte. Anouschka gehörte zu der bangen Sorte, die aus Furcht, einen Fehler zu begehen, ihr devotes Verhalten auf den Höhepunkt trieb. Keine vor ihr hatte sich tiefer verneigt, keine vor ihr war schneller gelaufen, wenn Christina ihr einen Auftrag erteilte. Sie benahm sich wie eine Hündin, die auf ein Lob oder einen Knochen wartete.
Christina zog die Nadeln aus ihrem breitkrempigen Hut und warf ihn auf die Kommode zu ihrer Rechten. Anouschka sollte ihn später in die Schachtel legen. Sie außer mit Mantel und Mappe auch noch mit dem Hut gehen zu lassen, hätte die Kleine überfordert. Christina seufzte. Vielleicht sollte sie Anouschka so bald wie möglich verheiraten. Manche blühten in der Ehe auf. Im Geiste ging sie durch, welche ihrer Leibeigenen für eine Ehe mit Anouschka infrage kamen. Auf Alter und Zuneigung würde sie dabei keine Rücksicht nehmen.
Christina hatte viel von ihrem Deutschtum bewahrt, aber die russische Tradition der Leibeigenschaft bedeutete einige Vorteile, zumindest in der Position der Herrin.
Sie zupfte sich die Finger der seidenen Handschuhe ab, bevor sie das Accessoire abstreifte. Der Fächer lag griffbereit neben dem Diwan. Mit geübtem Griff klappte Christina ihn auf. Ihre Löckchen flogen, als sie sich Luft zufächelte.
Zwar war die Hitze des Sankt Petersburger Sommers jetzt im September verflogen, und in den Abendstunden waberten zartlila Nebel über die in Stein gefasste Newa, die Mojka und die Fontanka, aber seit einigen Monaten plagten Christina Schweißausbrüche, unabhängig vom Wetter.
Sie rupfte an ihrem Kleid, das unter der Brust gerafft war und in Wellen bis zu ihren Seidenschuhen fiel. Durch den Schweiß klebte der Stoff an ihrer Haut. Als wäre diese neue Mode nicht schon unvorteilhaft genug für eine Frau von dreiundfünfzig Jahren, die sich zwar Zeit ihres Lebens diszipliniert hatte, aber einem Praliné oder einem Kelch Ungarwein bei den gesellschaftlichen Ereignissen im Winterpalast gern zusprach. Diese neue Mode stand den blutjungen Mädchen gut, und sie besaß zweifellos ihre Vorteile. Nie zuvor konnten Frauen so viel Bewegungsfreiheit genießen. Aber was nützte der schönste Schwung, wenn sich bei jedem Schritt die Rollen an Bauch und Taille zeigten?
Bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr hatte sich Christina ihre mädchenhafte Figur bewahrt, aber nun forderte das Alter seinen Tribut. Nicht nur geriet ihre Figur aus der Form, auch das strahlende Blond ihrer Haarpracht verblich.
An manchen Tagen beneidete Christina andere Frauen in ihrem Alter, die sich die Freiheit nahmen, das Modediktat außer Acht zu lassen, und sich weiterhin die Taillen schnüren und in die Reifröcke helfen ließen. Das konnte sich Christina, die Modezarin der russischen Weltmetropole, nicht leisten.
Seltsam, diese Ruhe aus Andrés Gemächern.
An anderen Tagen, wenn er sich die Gespielen kommen ließ, erklangen Gelächter, Geplauder und widerwärtiges Lustgeschrei aus den Zimmern. André kannte keine Scham mehr, seit Christina hinter sein Geheimnis gekommen war.
Ein Frösteln lief ihr über den Rücken, als das Bild in ihrem Verstand aufblitzte, wie ihr Gatte in einem Gartenpavillon einen Lustknaben bestieg. Damals traf sie die Wahrheit wie ein Faustschlag ins Gesicht: Der stets einfältig wirkende André Haber, durch den sie in den russischen Geldadel aufgestiegen war, benutzte sie nicht weniger als sie ihn. Unter dem Deckmantel ihrer Ehe frönte er seinen widernatürlichen Trieben. Christina schüttelte es bei dem Gedanken, welchen Preis sie dafür zahlte, zu den angesehensten Bürgerinnen dieser Stadt zu gehören. Sie wahrte sein Geheimnis, um ihn und damit auch sich selbst nicht dem Gespött preiszugeben. Abgesehen davon, dass André vermutlich die Reise nach Sibirien antreten konnte, wenn seine homosexuellen Neigungen an die Öffentlichkeit gelangten. Stillschweigend duldete man zwar solche Liaisons, aber ans Tageslicht kommen durften sie nicht.
Sie selbst war in romantischen Angelegenheiten bestens versorgt mit ihrem langjährigen Geliebten Daniel Meister – nicht nur ein Bettgefährte, sondern auch ihr bester Freund. In manch wehmütiger Stunde gestand sich Christina ein, dass dieser mittellose deutsche Abenteurer, der damals in Lübeck bei der Ausreise nach Russland ihr Herz im Sturm erobert hatte, die Liebe ihres Lebens war.
Christina öffnete eines der Fenster, die auf den Newski-Prospekt hinausgingen, und ließ die herbstliche Brise herein. Das Rattern der Kutschräder, das Rufen und Hämmern der Maurer und Architekten gehörten zur Begleitmusik ihres Lebens im Zentrum der russischen Hauptstadt. Der Newski-Prospekt entwickelte sich in diesen Tagen von einer Repräsentationsmeile zu einer Geschäftsstraße, was Christina begrüßte. In beide Richtungen – zur Admiralität und zum Alexander-Newski-Kloster – rumpelten die Equipagen vom ersten Hahnenschrei bis in die Nacht und in die frühen Morgenstunden hinein. Wer hier unter seinesgleichen wohnen und leben wollte, duldete den Lärm. Die zahlreichen Gefährte wiesen auf den Wohlstand der Sankt Petersburger Gesellschaft, die sich in den letzten hundert Jahren an der Prachtstraße angesiedelt hatte.
Wer hätte das für möglich gehalten, damals, als Peter der Große auf dem sumpfigen Boden an der Newa auf der Haseninsel den ersten Spatenstich für den Bau seiner Festung befahl? Deutsche, Engländer, Holländer, Italiener und Franzosen mit Expertise waren auf seinen Wunsch hin herbeigeeilt, um den Bau dieser Metropole, das Tor zum Westen, voranzutreiben. Und dieser Tage schauten die Bojaren aus der Mitte des Reichs neiderfüllt auf Sankt Petersburg, das Moskau längst den Rang als bedeutendste Stadt Russlands abgelaufen hatte.
Die bodenlangen Gardinen wehten, und Christina sog den Duft der Stadt ein, dieses Gemisch aus salziger Meeresluft, der modrigen Newa und Mojka und dem Dung der Kutschpferde, den die Lakaien kaum schnell genug wegschaffen konnten, wollten sie nicht unter die Hufe des folgenden Gefährts geraten. Sie schenkte sich ein Glas Wasser aus einer auf einem Beistelltisch bereitstehenden Karaffe ein. Sie trank es in einem Zug leer und tupfte sich mit den Fingerspitzen die Schweißtropfen von den Schläfen.
Andrés Gespiele musste noch da sein. Der Kutscher in dem Zweispänner wartete auf ihn unten auf der Straße vor ihrem dreistöckigen Stadthaus. Christina hatte ihn beim Hochkommen gesehen. In zusammengekrümmter Haltung hockte er auf dem Kutschbock, die Stirn berührte fast seine Oberschenkel, die Arme baumelten daneben bei jedem Schnarchen, das aus seinem Bart drang. Er war offenbar berauscht vom russischen Nektar, dem Wodka, den er und seinesgleichen sich mitunter schon zum Frühstück gönnten.
Ob André mit seinem Knaben ebenfalls döste?
Normalerweise scheute ihr Mann das Risiko und schickte die Burschen, die er sich bei Besuchen auf seinen Ländereien vor den Toren der Stadt oder auch unter den jungen Werftarbeitern auswählte, umgehend zurück in ihre schäbigen Hütten, wenn er mit ihnen fertig war.
Christina fieberte der Begegnung mit André an diesem Nachmittag entgegen. Es bereitete ihr nach all den Jahren immer noch Freude, ihren Mann mit Sticheleien aus der Fassung zu bringen. Die Botschaft, dass sein untalentiertes Mentee besser Nachtwäsche für Leibeigene entwerfen sollte, statt sich an den gehobenen Mode-Kreationen zu versuchen, würde sie ihm mit Vergnügen überbringen.
Augenscheinlich bereitete es André keine Schwierigkeiten, Lustknaben zu finden. Was weniger an seiner Attraktivität liegen mochte, eher an der großzügigen Entlohnung, für die er bekannt war.
Christina interessierte es nicht, wofür er seine Rubel verschleuderte, solange er sie in ihrem Mode-Imperium walten ließ, wie es ihr behagte. Sie verfügte nicht nur über einen vorzüglichen Geschmack in allen Stilfragen, sie besaß auch einen klingenscharfen Geschäftssinn.
Auf leisen Sohlen tappte sie zu der zweiflügeligen Tür, die den Salon von Andrés Reich trennte. Sie drückte das Ohr an den Türspalt, lauschte.
Totenstille.
Ein Lufthauch wehte an ihre Schläfe, so, als zöge der Wind durch die Ritzen. Er pfiff flüsternd in den Scharnieren. Die Gardinen an den Salonfenstern tanzten wie Nebelgeister. Christina zauderte selten, aber jetzt wuchsen in ihr Zweifel und Skrupel. Außerordentlich bemerkenswert, dass kein Ton aus diesen Räumen drang. Und dieser Durchzug … Sollte sie klopfen? Nein, eleganter schien es ihr, die Tür einen Spalt zu öffnen und nachzusehen, was sich in Andrés Schlafzimmer abspielte. Sie schluckte trocken und wappnete sich für den beschämenden Anblick kopulierender Körper.
Mit beiden Händen umfasste sie den silbernen Knauf, drückte geräuschlos dagegen. Nur wenige Zentimeter öffnete sich die stuckverzierte Tür, aber dieser Zwischenraum reichte, um ihr eine Übersicht zu verschaffen. Sie entspannte sich und schob die Tür vollends auf.
Der Luftzug ließ ihre Haare wehen, die Gardinen im Schlafraum flogen an die mit Seidentapeten und Stuck verzierten Wände. Rasch trat Christina ein und schloss die Tür hinter sich.
Auf dem mit persischen Teppichen ausgelegten Boden lagen Herrenstrümpfe, Schuhe, knielange Hosen, ein mit Spitze verziertes Hemd und der bordeauxrote Brokatrock, den André bei nachmittäglichen Veranstaltungen bevorzugt trug.
Ihr Blick glitt zu dem mit einem Baldachin behangenen Bett. Sie sog die Luft ein. André lag quer über der Matratze, sein madenweißer Körper nur in der Mitte mit einem zerknäulten Laken bedeckt, Arme und Beine weit von sich gestreckt, seine rechte Hand hing locker über den Bettrand. Schwindel überkam sie, Ekel und Entsetzen würgten sie, als sie sein Gesicht betrachtete. Andrés Mund stand leicht offen, in seinen Mundwinkeln klebte weißer Schaum. Die Augen waren starr an die Decke gerichtet, als suchte er noch im Tod nach dem Richter, der ihn zu diesem erbärmlichen Ende verurteilt hatte.
Auf Zehenspitzen ging Christina auf den Körper zu. Sie fingerte ein Seidentüchlein aus ihrem Mieder, um es sich vor Mund und Nase zu pressen. Als wären die Umstände seines Todes nicht schon entwürdigend genug, hatte sich André mit seinen letzten Atemzügen erleichtert. Je näher sie an ihn herankam, desto beißender stach der Gestank in ihrer Nase. Ihre Beine fühlten sich an wie weiche Grütze, ihre Finger zitterten. O Gott, was war hier passiert? Sie zwang die Panik im Angesicht des Todes nieder.
Warum lag er hier allein? Wo war der Knabe?
Christina zwang sich, ruhig zu atmen. Dass das Fenster offen stand, ließ nur den Schluss zu, dass sich der junge Mann davongestohlen hatte. Auf Schleichwegen musste er geflüchtet sein, denn die Kutsche wartete noch vor dem Haus auf ihn.
War André im Liebesakt vor Erschöpfung gestorben und der junge Mann in Panik geflohen?
Christina beugte sich über den Leichnam. Kälte durchdrang sie wie ein plötzlicher Frost. Sie nahm erst seine linke, dann seine rechte Hand. Alle Ringe fehlten. André hatte es geliebt, sich mit Schmuck herauszuputzen, und stets mindestens sechs goldene Fingerreifen getragen, mit Smaragden und Rubinen besetzt. Ohne den Schmuck hätten seine Hände einem Bettelgreis gehören können, wenn man von den sorgfältig zu Halbmonden geschliffenen Nägeln absah. Ekel saß in ihrer Kehle, während sie das tote Fleisch seiner Hände hielt. Sie ließ sie fallen.
Vorsichtig lüpfte sie das Tuch vor ihrer Nase, als sie einen eigenartig bitteren Geruch bemerkte, der den Urin noch überlagerte. Sie verzog das Gesicht, als sie mit der Nase dicht an seine Lippen ging. Ja, eindeutig. In den Alkoholgeruch mischte sich ein Duft wie von zerstoßenen Mandeln. Es roch widerwärtig, wie etwas, das man sofort mit der Zunge aus dem Mund stoßen wollte, wenn es die Geschmacksnerven berührte.
Eine Kälte breitete sich in Christina aus, die jedes Gefühl betäubte. Ihr Verstand arbeitete glasklar, während ihr Herz in einem gleichmäßigen Takt pumpte.
Auf dem Nachttisch standen zwei Kelche mit dunkelrotem Wein, daneben die leere Flasche. Eines der Gläser war halb voll, das andere leer getrunken. Christina griff nach dem vollen und schnupperte daran. Es roch nach reifen süßen Trauben. Das leere Glas hingegen … Christina steckte die Nase hinein. Tatsächlich! Der gleiche Geruch, der aus Andrés Mund strömte, schwach nur, aber deutlich bitter.
Der tote Mann, der vergiftete Wein, das offene Fenster – André hatte sich den Falschen ins Bett geholt. Über dessen Gründe, den alternden Liebhaber zu ermorden, konnte Christina nur spekulieren. Ob er tatsächlich nur die Ringe rauben wollte? Christina ließ den Blick im Zimmer umherschweifen. Die Schubladen der Kommoden, des Frisiertisches und der Nachtschränke waren verschlossen, hier hatte niemand nach Beute gewühlt.
Wahrscheinlicher war es, dass sich der Knabe aus der Not heraus dafür bezahlen ließ, mit André ins Bett zu steigen, und dass ihn beim heutigen Rendezvous der Widerwillen übermannt hatte. Er schien dies alles gut vorbereitet zu haben, wie auch immer er in den Besitz der Giftmischung gekommen war. Nach vollbrachter Tat hatte er sich vermutlich besonnen, dass es schade wäre, den Schmuck nicht mitgehen zu lassen. Vielleicht sah er ihn als Entschädigung für das, was er mit André treiben musste.
Müßig, über seine Motive zu spekulieren. Was sollte sie jetzt tun? Die Polizei rufen? Einen Arzt benachrichtigen?
Überall würden sie herumschnüffeln und herauszufinden versuchen, wer sich für dieses abscheuliche Verbrechen verantworten musste. Und wenn sie den Kerl erwischten? Dann würde Andrés intimstes Geheimnis auffliegen. Nicht, dass sein Ruf post mortem Christina Kopfzerbrechen bereitete, aber ihr eigenes Ansehen stände auf einem wackeligen Podest. Sie mochte sich kein Leben als Witwe eines widernatürlich veranlagten Lüstlings vorstellen. Das würde ihr als Person schaden und kein gutes Licht auf das weltweit exportierende Modehaus Haber werfen.
Bei diesem Gedanken angelangt, kam Leben in Christina. Sie musste handeln. Schnell. Sie eilte zum Fenster, spähte hinunter – ja, die Droschke stand immer noch an der Straße. Sorgfältig schloss sie das Fenster, bevor sie die Treppe hinuntersprang. Der Herbstwind pfiff über den Newski-Prospekt, als sei von einer Stunde auf die andere der Spätsommer zu Ende gegangen. Sie trat an den Kutschbock, auf dem der Fahrer immer noch zusammengekrümmt schnarchte wie eine Baumsäge. Sie überwand sich und berührte sein Bein, um es zu schütteln. »He! Ihr da!«
Der Kutscher zuckte und saß in der nächsten Sekunde stocksteif. »Madame?« Die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, eine Schlaffalte durchfurchte seine bärtige Wange. Seine Augen waren rot gerändert.
Aus den Taschen ihres Kleides zog sie ein Säcklein mit Kopeken und warf es ihm zu. »Ihr könnt fahren! Und Ihr wart niemals hier!« Christina fixierte ihn mit einem Funkeln.
Der Kutscher stutzte, starrte erst auf den Geldsack in seinen Pranken, dann in Christinas Augen. Ein Grinsen entblößte sein gelbes Gebiss zwischen dem krausen Graubart. »Sehr wohl, Madame. Stets zu Diensten.« Er ließ die Peitsche knallen, die Kutschpferde tänzelten und reihten sich in den Verkehr auf der Prachtstraße ein.
Von dem würde sie nichts mehr hören und sehen.
Bestechung war im russischen Reich vom niedersten Knecht bis zum kaiserlichen Sekretär gang und gäbe. Keiner konnte sich dem weitverzweigten Netz aus Bezahlung und Dienstbarkeit entziehen, alle spielten mit. Kaiserin Katharina persönlich – Gott hab sie selig – hatte noch vor ihrem Sterbejahr 1796 einen Ukas herausgegeben mit der ausdrücklichen Aufforderung, gegen die Käuflichkeit vorzugehen und sie auszumerzen. Aber ihre ehrenvollen Bemühungen zeigten genauso wenig Erfolg wie die ihres Nachfolgers. Ihr von allen verachteter Sohn Paul schien ohnehin nichts Besseres zu tun zu haben, als alle Einwanderer in seinem Land mit Argusaugen zu beobachten. Zu seinen erklärten Zielen gehörte es, Russland von allem europäischen Einfluss fernzuhalten und sich auf die alten Traditionen zu besinnen. Christina trug sich mit der Hoffnung, dass seine Regierungszeit ein abruptes Ende finden würde. Gerne ein tragisches.
Doch jetzt war nicht die Zeit für die Irrwege der Innenpolitik. Sie musste flink handeln, wenn sie mit heiler Haut aus dieser Angelegenheit herauskommen wollte.
Sie lief zurück ins Haus, die Stufen hinauf, durch den Salon und in Andrés Gemächer. Hinter verschlossener Tür beseitigte sie die Spuren des Mordes.
Sie spülte die Weinkelche an der Waschschüssel mit Wasser aus dem Krug sorgfältig aus und platzierte sie auf der Anrichte bei den anderen Gläsern, als wären sie nie benutzt worden. Sämtliche am Boden verstreut liegende Kleidung sammelte sie ein, faltete sie und drapierte sie über einen Stuhl.
Der schwierigste Teil war, André in eine Liegeposition zu hieven, die keine Rückschlüsse auf sein nachmittägliches Treiben zuließ.
Sie ächzte, als sie den leblosen Körper zerrte und schob, bis der Kopf auf dem Kissen ruhte, würgte vor Anstrengung und Widerwillen, diesen Leib zu berühren. War er ihr schon zu Lebzeiten ein Gräuel gewesen, so steigerte sich im Angesicht des Todes ihre Abneigung ins Unermessliche.
Aber eine Viertelstunde später hatte sie es geschafft. Die Hände lagen gefaltet auf dem Bauch, die Beine dicht beieinander. Sie zog die beschmutzte Seidendecke von ihm, warf eine frische auf ihn und bedeckte ihn bis zum Hals. Das nasse Tuch würde sie persönlich in die Wäschekammer bringen.
Erst jetzt fuhr sie mit einer Hand über sein Gesicht, sodass sich die Lider über die Augen senkten. Dabei dachte sie darüber nach, wie sie es schaffen sollte, den verräterischen Geruch zu übertünchen.
Sie verließ das Zimmer, als ihr eine Idee kam, und eilte – das nasse Tuch unter dem Arm – in die Küche. Dort warf sie die Schmutzwäsche in einen bereitstehenden Korb und verbarg sie unter soßenfleckigen Schürzen und Topflappen. Keiner der Dienstboten würde es wagen, Fragen zu stellen.
Die Köchin und das Serviermädchen waren an diesem Abend bereits in ihren Unterkünften. Christina wusste, dass auch Anouschka darauf wartete, dass sie sie entließ. Aber die Zofe würde sie heute noch brauchen.
In der Küche fand Christina in einem Bastkorb, wonach sie suchte. Sie nahm sich eine Zwiebel, griff nach einem scharfen Messer und schnitt sie in der Mitte entzwei. Die eine Hälfte warf sie in den Müll, mit der zweiten eilte sie in Andrés Schlafraum zurück.
Galle stieg in ihr auf, als sie mit einem Finger in seine Mundhöhle glitt und den Saft der Zwiebel auf seiner Zunge und in seinem Rachen verteilte. In ihrem Leben hatte sie nichts Widerwärtigeres getan.
Nach vollbrachtem Werk wusch sie sich die Hände unter dem Krugwasser und befeuchtete einen bereitliegenden Baumwolllappen. Mit diesem wischte sie André über Augen, Nase, Stirn, Wangen und Mund. Sein Teint nahm bereits die wächserne Farbe des Todes an, aber nichts deutete mehr auf einen gewaltsamen Tod.
Christina gestattete sich ein Lächeln, bevor sie ihr Werk ein letztes Mal überprüfte.
Alles perfekt.
Sie beschleunigte künstlich ihr Atmen, wie um Anlauf zu nehmen, und kreischte in der nächsten Sekunde gellend, während sie gleichzeitig aus dem Gemach hinaus in den Salon polterte. »Zur Hilfe! Zur Hilfe! Anouschka, schnell, ruf einen Arzt! Etwas Schreckliches ist geschehen!«
Du warst wieder bei ihm.«
Mathilda hob den Kopf. Claudius’ Blick traf sie wie ein Faustschlag. Wut, Schmerz und Enttäuschung glommen in seinen Augen. Im Lauf der vierzehn Jahre ihrer Ehe hatte sich seine Miene von der eines überschwänglichen Helden zu der eines verletzten Mannes gewandelt. Das jugendliche Funkeln war einem Ausdruck gewichen, der Mathilda wehtat. In den Falten auf seiner Stirn und zwischen seinen Brauen schien all die Verzweiflung darüber zu liegen, dass ihre Liebe den Stürmen des Lebens nicht gewachsen war.
Mathilda streifte das Tuch ab, das sie sich gegen den Herbstwind um den Kopf geschlungen hatte, und legte es um ihre Schultern. Sie zog es am Hals zu, als fröstelte sie noch immer, obwohl sie nach dem Weg durchs Dorf jetzt in der beheizten Stube stand. Das Feuer loderte unter dem eisernen Wassertopf, der Geruch von brennendem Birkenholz erfüllte die Luft. Sie besaßen wie die meisten Waidbacher ein Haus mit Schornstein, sodass der Rauch abziehen konnte. Claudius war nicht nur in der Schmiede tüchtig, sondern auch bei allen anfallenden Handwerksarbeiten.
»Sie brauchen mich«, erwiderte Mathilda so gelassen, als wäre dies eine unumstößliche Tatsache und Claudius müsse das doch wissen.
Er mahlte mit dem Kiefer. »Ich brauche dich auch.«
»Ich bin da, wenn du abends heimkommst.« Sie hielt seinem Blick stand und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was ihr seine Augen einmal bedeutet hatten. Bei ihrem ersten Kuss hatte sie sich in ihnen verloren, aber das Gefühl war verblasst wie die einst sonnengelben Gardinen am Fenster.
Er trat mit zwei schnellen Schritten auf sie zu und packte sie an den Schultern, schüttelte sie. »Das reicht mir nicht, Mathilda. Du gehörst hierher, in dieses Haus, an meine Seite. Ich kann hier nicht atmen, wenn du fehlst.«
Sie senkte die Lider halb. »Fehle ich dir wirklich als Frau, oder verleidet es dir dein Zuhause, wenn die Betten nicht aufgeschüttelt sind und keine Suppe auf dem Feuer dampft?«
Tief sog er die Luft durch die Nase ein. Eine Ader an seiner Schläfe schwoll an. Es schien ihm Mühe zu bereiten, sich zu beherrschen. Mathildas Fingerspitzen begannen zu zittern. Sie wollte vor ihm zurückweichen, aber er packte sie am Ellbogen. »Treib mich nicht zur Weißglut, Weib«, sagte er heiser. »Ich weiß nicht, was du bei Schaffhausen noch zu suchen hast. Der soll sich eine Frau nehmen oder eine Haushälterin. Deine Arbeitskraft bist du unserem Haus und Gut schuldig. Die Leute reden schon! Und komm mir nicht mit mütterlichen Gefühlen!«, spie er aus. »Sein Frieder ist inzwischen, lass mich rechnen, vierzehn Jahre alt! Der braucht keine mehr, die ihm den Hintern pudert und den Brei vorkaut.«
Mathilda hob das Kinn. »Die Leute reden immer. Egal was ich tue: Sie zerreißen sich die Mäuler. Weil sie mich nie akzeptiert haben. Erst recht nicht, seit Frannek verstoßen wurde.«
Wie oft hatten sie diesen Streit schon geführt? Es ermüdete und bekümmerte sie zugleich, vor allem, wenn Claudius in Rage geriet, so wie jetzt. Wann würde er seine Beherrschung verlieren? Bislang hatte er nur einmal die Hand gegen sie erhoben und sich in letzter Sekunde besonnen. Aber sie fürchtete, sein Zorn staute sich auf, bis er gewaltsam ausbrach. Sie hätte gerne etwas gesagt, was ihn beschwichtigte, aber Worte waren längst genug gewechselt. Es nagte an ihm, wie sehr sie sich zu Johannes und seinem Sohn Frieder hingezogen fühlte, und dass kein Tag verging, an dem sie den beiden nicht wenigstens einen Napfkuchen, Klöße oder einen Topf Soljanka brachte. Dann saß sie an dem hölzernen Küchentisch und trank einen Becher Kwass mit Johannes. Während sie an dem trüben Gebräu aus gebackenem Brot, Hefe, Honig und Gewürzen nippte und der Duft seiner Tabakpfeife sie umwehte, ließ sie sich von ihm berichten, was ihn bewegte. Frieder reichte ihr manchmal Hosen oder ein Hemd, damit sie einen Riss nähte oder einen Flicken aufsetzte, und manchmal half sie Johannes, das Unkraut in seinem Gemüsegarten zu zupfen. Nichts Großes, nichts, wofür es sich lohnte zu streiten, aber Claudius sah rot, wann immer sie mit leuchtenden Augen und vom Wind geröteten Wangen heimkehrte.
»Frieder sieht mich wie eine Mutter an«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass dies genau die falschen Worte waren.
Tatsächlich sprühten seine Augen Funken, seine Nasenflügel bebten. Mit einem Ruck warf er sich die Haare aus dem Gesicht. Das Weizenblond aus früheren Tagen war einem hellen Grau gewichen. Aber immer noch waren seine Züge anziehend, sein Kinn energisch, seine Haut von der Sonne gebräunt. »Vielleicht verwehrt der Herrgott deshalb deinem Leib ein eigenes Kind, weil er sieht, dass du woanders gebraucht wirst.«
Mathilda biss die Zähne aufeinander, befreite sich aus seinem Griff. Sie wies mit dem Finger auf ihn. »Dass ich keine Kinder mehr bekommen kann, ist noch lange nicht bewiesen! Immerhin habe ich bereits ein Kind geboren.« Ein Zittern lief über ihr Rückgrat, wie immer, wenn sie sich an jenes unglückselige Wesen erinnerte, das sie auf die Welt gebracht hatte, als sie selbst noch ein Kind war. Der eigene Vater hatte sie geschwängert, und ihre Mutter nahm das Kind an wie ihre eigenen: kühl und lieblos. »Vielleicht bist du derjenige mit dem toten Samen?«, fügte sie noch hinzu.
Er trat so dicht vor sie, dass sie seinen Atem riechen konnte, den Geruch von Ruß und Arbeitsschweiß nach einem Tag in der Schmiede. Er senkte die Stimme zu einem zischelnden Flüstern: »Du probierst es wahrscheinlich längst mit deinem Johannes aus und treibst es mit ihm, um mir nachher das Balg unterzuschieben.«
In einem Impuls hob sie die Hand, um ihn zu ohrfeigen, doch er fing ihr Handgelenk ab, drückte so fest zu, dass sie vor Schmerz aufschrie und in die Knie ging. Endlich ließ er sie los und wirbelte herum, um sich aus dem Küchenschrank die Flasche Wodka zu holen. Er schenkte sich ein Glas halb voll und trank es in kleinen Schlucken leer.
Mathilda rappelte sich auf. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Was ist nur aus uns geworden?«, zischte sie in seine Richtung.
»Das frag dich selbst«, gab er zurück. Die Kälte in seiner Stimme ließ sie innerlich frieren.
Sie musste hier raus. Keine Stunde länger ertrug sie die vergiftete Luft zwischen ihnen. Ihre Augen brannten, in ihrer Kehle würgte es. Sie eilte in die Schlafkammer, die die Ehebetten und einen offenen Schrank beherbergte, griff sich ein Tuch aus grob gewebtem Leinen und packte einen Kanten Brot aus der Küche, eine Handvoll Äpfel und eine Trinkflasche hinein. Das Tuch schnürte sie zu einem Bündel, bevor sie in ihre Stiefel schlüpfte und ihren wollenen Umhang vom Haken neben der Tür riss. Noch wehte zwar der Spätsommer übers Land, aber in diesen Tagen konnte der Wind über der Steppe jederzeit drehen und den ersten Frost mitbringen. Es war früher Abend, bis zum Einbruch der Dunkelheit konnte sie das nächste Dorf erreicht haben.
»Was hast du vor? Wo willst du hin?« Claudius stellte das Glas so hart auf den Tisch, dass es schepperte. Er stapfte auf sie zu, wollte sie wieder packen, aber sie wehrte sich mit beiden Armen. Strähnen lösten sich aus den Flechten, mit denen sie ihr Haar zusammenhielt.
»Lass mich! Ich muss hier raus! Ich ertrage deine Nähe nicht, deine bösen Worte. Und auch nicht das Getuschel der Leute.«
»Wo willst du hin?«
»Nach Saratow.«
»Bist du verrückt?«, schrie er sie an. »Die Dunkelheit bricht bald herein, in der Gegend lauern Straßenräuber, Kirgisen, in den Wäldern Wölfe …«
»Sorg dich nicht.« Sie hob das Kinn. »Nach deinem Empfinden bin ich dort draußen wohl sicherer als in Johannes’ Küche.« Damit wandte sie sich um, stürmte aus dem Haus und eilte zu der Scheune, in der die beiden Steppenponys dicht beieinanderstanden, schnoberten und nickten, als Mathilda sich ihnen näherte. Sie sattelte das stärkere der beiden robusten Pferde, befestigte ihr Bündel und schwang sich auf seinen Rücken.
Mit einem Schnalzen hieb sie die Fersen in die Flanken des Tieres und galoppierte wenige Minuten später über die Wiese, während die Häuser, der Kirchturm und der Grenzwall der Kolonie Waidbach hinter ihr im Dunst zurückblieben.
Die Leute reden schon.
Taten sie je etwas anderes? Als sie mit ihrer Familie vor zwanzig Jahren in die Kolonie Waidbach gekommen war, hatte die Gründergeneration bereits einen vierzehnjährigen Kampf ums Überleben hinter sich. Aus dem Nichts heraus, mitten in der Steppe, hatten sie die ersten Erdhöhlen gegraben, bauten später die Holzhäuser. Sie lernten, dem fruchtbaren schwarzen Boden unter der trockenen Sandschicht Früchte abzuringen, und sie schufen sich ihr eigenes Dorfgefüge, in dem jeder mit seinem Geschick und seinem Handwerk zum Gemeinwohl beitrug. Misstrauisch hatten sie die Neuankömmlinge beäugt, als Mathilda – klapperdürr, verlaust, mit Haut wie Pergament – mit ihrem Bruder Frannek und den Eltern am ersten Tag durch die Siedlung geschlichen war. Unverhohlene Ablehnung schlug ihnen entgegen. Sie waren Außenseiter, ungeliebt und missachtet.
Neben dem Pastor hatten nur der Dorfschulze Bernhard Röhrich und seine Frau Anja sie mit Respekt behandelt, seine Schwester Helmine gab ihr, ohne zu murren, Arbeit auf ihrer Maulbeerplantage.
Und Johannes Schaffhausen verehrte sie.
War es ein Wunder, dass sie sich an seiner Zuneigung wärmte, wenn überall um sie herum Bitterkeit und Verachtung die Luft zum Atmen vergiftete?
Vielleicht litt ihre Ehe mit Claudius wegen ihres geringen Ansehens im Dorf? Claudius selbst hielt ihre Empfindlichkeit gegenüber dem Gerede für Einbildung. So tüchtig er in seinem Handwerk war, so mutig er sich bei der Flucht vor den Kirgisen bewiesen hatte – mit seinem Einfühlungsvermögen war es nicht weit her. Er verstand nicht, wenn Mathilda litt, und brummte nur, wenn sie sich von ihm trösten lassen wollte. Wie anders war da Johannes mit seiner Sanftmütigkeit und seinem Feingefühl.
Würde sich etwas in ihrer Ehe mit Claudius ändern, wenn ihnen die anderen mehr Achtung entgegenbrachten? Wenn sie sich mit Frannek versöhnten und sie nicht länger als die Schwester eines Geächteten ansahen? Vielleicht würde alles ein gutes Ende nehmen, wenn es zu einer Annäherung kam und sie ein vollwertiges Mitglied der Dorfgemeinschaft werden konnte. Hoffentlich gelang es ihr diesmal, Frannek zu einem Besuch in Waidbach zu überreden!
Die gleißende Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, aber bis sie unterging, würde sie die nächste Kolonie erreichen. Dort kannte sie Wirtsleute, die ihr Quartier bis zum nächsten Morgen geben würden.
Zwischen Waidbach und den direkt angrenzenden Nachbarkolonien herrschten immer mal wieder Reibereien, kleine Streitigkeiten wegen des Viehs oder der Grenze. Es gab Keilereien, wenn die Burschen von einer Kolonie zur anderen schlenderten, um mit den Mädchen anzubändeln. Manche dachten sich Schimpfwörter für die Nachbarn aus. Die einen riefen sie die Äpfeldiebe, die anderen die Hosenspättel. Aber in den weiter entfernten Dörfern wurden Reisende generell freundlich aufgenommen.
Auffällig war, dass in jeder Kolonie ein eigener Dialekt gesprochen wurde. Hochdeutsch konnte kaum noch ein Kolonist. Aber verstehen konnte man sich, ob man hoschte, kannschte, willschte sagte, oder hoste, kannste, willste, ob man die Straße nob und rob oder naaf und runner ging.
Mathilda sehnte die nächste Unterkunft herbei. Am Abend des folgenden Tages müsste sie Saratow erreichen.
Ihr Bruder Frannek würde sie, wie all die Male, die sie ihn in der Stadt an der Wolga besucht hatte, mit Freude empfangen.
Vom Frühstück gaben die grundguten Wirtsleute Mathilda noch eine Scheibe Speck mit, bevor sie sich von ihr verabschiedeten und versicherten, dass sie sich jederzeit auf ihre Gastfreundschaft verlassen konnte. Mathilda dankte ihnen mit Wangenküssen, bevor sie bei Sonnenaufgang ihren Weg fortsetzte. Bis zum Abend würden die Mauern der Stadt am Horizont auftauchen, wenn sie keine Rast einlegte.
Eine Frau sollte sich den Gefahren allein in der Steppe nicht länger als nötig aussetzen. Aber Mathildas größte Furcht galt weder den Wölfen noch russischen Wegelagerern. Schaudernd erinnerte sie sich an den letzten Überfall der räuberischen Kirgisen auf Waidbach vor sechzehn Jahren. Man hörte allerorten von weiteren Heimsuchungen der Wilden, die glaubten, ein Anrecht auf dieses Land zu haben. Obwohl in dem Wolgagebiet inzwischen an mehreren Orten Kosakenabteilungen stationiert worden waren, die die Bewohner vor den Nomaden schützen sollten, gab es immer noch Überfälle. Entführung, Ausplünderung und Ermordung der Menschen auf der Landstraße waren alltägliche Plagen. Die Angst vor den Kirgis-Kaisachen, wie die Wolgadeutschen die räuberischen Nomaden nannten, war tief verwurzelt. Sie würden sie an die nächsten Generationen weitergeben, allein dadurch, dass ungehorsame Kinder landläufig mit »Die Kirgisen kommen!« eingeschüchtert wurden, oder dadurch, dass sie ihnen zum Einschlafen das Wiegenlied sangen: Herrgottsvögelche, flieg fort. Komme drei Kirgise, wolle dich totschieße.
Mathilda hatte den Raubzug damals in der Schäferhütte – ihrem Liebesnest – nur am Rande mitbekommen und war, als sich die Horde dem Dorf näherte, auf Claudius’ Anweisung in den Wald geflitzt, um sich unter Reisig und Laub zu verstecken.
Claudius selbst lief den heranpreschenden Angreifern voran ins Dorf, um die Bewohner zu warnen, aber sein Mut wurde ihm zum Verhängnis. Die Kirgisen fingen ihn mit einem Lasso ein und schleppten ihn erbarmungslos hinter sich her. Ein Dutzend anderer Menschen aus Waidbach ereilte dieses Los der Versklavung, darunter die achtjährige Amelia, Tochter von Mathildas Ziehmutter Klara.
Erst zwei Jahre später gelang Claudius, gemeinsam mit Amelia, die Flucht über die Berge und die Steppe, eine wochenlange Tortur, die beide an die Grenze ihrer Leidensfähigkeit gebracht hatte. Mathildas Herz pochte, wann immer sie sich an den magischen Moment erinnerte, da Claudius wieder vor ihr stand. All die Wochen, Monate seiner Abwesenheit hatte sie sich Tag für Tag aufs Neue geschworen, keinen anderen Mann zu ehelichen und an der Verlobung mit ihm festzuhalten. In jener Stunde schienen all ihre Hoffnungen und Wünsche in Erfüllung zu gehen. Sie hielt ihn umschlungen, ließ sich von ihm streicheln und küssen, und auch in der Erinnerung fiel Mathilda kein anderer Moment so reinen Glücks ein.
Sie spürte ein Stechen in der Brust und zog die Zügel, um das Pony in einen Trab zu führen. Hatte sie wirklich geglaubt, das Glück ließe sich anbinden? War fortdauerndes Glück überhaupt möglich? Oder war es stets nur ein flüchtiger Moment, ein Lichtflackern in der düsteren Wirklichkeit?
Ob Claudius sie noch liebte?
Liebte sie ihn noch?
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie Kinder bekommen hätten. Eine Träne löste sich aus Mathildas Augen, der Wind trieb sie ihre Schläfe entlang bis zu ihrem Flechtkranz.
All die Jahre hatte sich Mathilda damit getröstet, dass sie sich wenigstens um Frieder kümmern durfte.
Der Pfad, auf dem ihr Pony trabte, führte nun durch ein Wäldchen. In der Mittagshitze boten die Bäume erholsamen Schatten. Ihr Hinterteil schmerzte vom langen Reiten. Sollte sie eine Rast einlegen? Sie entschied sich dagegen. Nein, sie musste vorankommen. Besser, sie ruhte sich in der nächsten Kolonie aus. Rund um Saratow, auf der Wiesen- und auf der Bergseite, gab es inzwischen mehr als hundert Kolonien und Tochterkolonien von Deutschen. Ihre Gebräuche und Sitten aus der Heimat bewahrten sie sich, die russische Sprache beherrschten nur die wenigsten. Man konnte in diesem Steppengebiet tagelang reisen, ohne ein russisches Wort zu hören. Die gemeinsame Heimat verband diese Menschen, sie halfen sich gegenseitig aus und öffneten einer Durchreisenden gern die Tür. Sie wussten nichts von Mathildas Leben, freuten sich nur, eine Frau aus der alten Heimat zu bewirten.
Der Wind raschelte in den Bäumen, vereinzelte Vögel stießen ihre Laute aus, die Hufe des Ponys tockerten in einem gleichmäßigen Rhythmus über die trockene Erde. Die Luft war erfüllt von dem Duft der Wildkräuter und dem modrigen Aroma der Blätter, die bereits von den Bäumen gefallen waren und eine dünne Schicht auf dem Waldboden bildeten, um zu neuer Erde zu zerfallen.
Mathilda ließ den Blick nach rechts und links schweifen, um eine mögliche Gefahr sofort zu erkennen und dem Pony die Fersen in die Flanken zu stoßen. Sie war eine gute Reiterin. Wenn es sein musste, konnte sie im gestreckten Galopp flüchten. Aber das Wäldchen wirkte friedlich, und Mathilda konnte sich ihren Erinnerungen an vergangene Zeiten hingeben.
Nachdem ihre Eltern auf tragische Weise ums Leben gekommen waren, hatte sie sich als Kind wie eine Ertrinkende an Klara Mais Schürzenzipfel gehängt. Klara gehörte zu den ersten Siedlern in Waidbach, war hoch angesehen und kümmerte sich um einen ganzen Stall voller eigener Jungen und Mädchen. Damals malte sich Mathilda aus, dass eine Frau mit so vielen Kindern doch ein nobles Gemüt haben musste. Zwei Esser mehr – sie und ihr kleiner Bruder Frannek – würden einfach mitlaufen und dann und wann von der Liebe profitieren, die ein solches Mütterchen zu geben imstande war.
Doch es war nicht alles nach Mathildas Wunsch gelaufen. Klara hatte sich lange gesträubt, sie und ihren Bruder zu akzeptieren. Frannek hatte sich die Abneigung selbst zuzuschreiben. Mit seinem Hang zum Zündeln war er ein schwieriges Kind gewesen. Seine Neigung wurde ihm letztlich zum Verhängnis, als er beim Spiel mit dem Feuer den kleinen Martin Mai in Brand setzte, der schwer verletzt überlebte. Vor dem Zorn seiner Zieheltern flüchtete Frannek hinaus in die Wälder mit einem Beutel Münzen, den Mathilda ihm in aller Hast noch zugesteckt hatte. Mathilda hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, aber es war anders gekommen. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, wann immer ihr einfiel, wie sich Frannek aus seiner trostlosen Lage hinausgestrampelt hatte.
Nachdem Frannek zu Fuß aus Waidbach geflüchtet war, schien die Familie Mai aufzuatmen. Eines der fremden Kinder waren sie losgeworden. Wie sie Mathilda vertreiben wollten, offenbarte sich in den Wochen danach. Klara Mai präsentierte ihr einen Heiratskandidaten nach dem anderen und schimpfte und schob es auf ihre Verbohrtheit, wenn sich Mathilda den jungen Männern gegenüber stur wie ein Maultier verhielt. Nie ließ Mathilda einen Zweifel daran, dass sie zu Claudius gehörte, der allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits von den Kirgisen verschleppt worden war. Ihre Ziehmutter schalt sie eine Närrin. Claudius und ihre eigene Tochter Amelia würden niemals heimkehren, behauptete sie, aber Mathilda gab die Hoffnung nicht auf. Und hatte sie nicht recht behalten? Was für ein Freudentag, als Claudius mit Amelia auf den Armen in das Haus der Mais stolperte.
Mathilda hatte nur noch Augen für ihn gehabt in diesen Stunden ihres Wiedersehens, obwohl genau an diesem Abend Johannes mit dem Säugling Frieder zum ersten Mal Gast im Hause Mai war. Klara hatte ihn eingeladen, wohl in der Hoffnung, dass Johannes Mathildas Zuneigung mithilfe des Buben gewinnen würde. Ein geschickter Schachzug.
Aber obwohl Kalkül dahintersteckte – der herzige, in ein Russenleibchen gekleidete Frieder mit den abstehenden Ohren und den lockigen Haaren verzauberte sie. Als Johannes angesichts des Freudentaumels der Liebenden stillschweigend mit seinem Söhnchen das Haus verlassen wollte, hatte Mathilda ihm hinterhergerufen, dass sie sich um ihn kümmern werde. Und sie hatte ihr Versprechen gehalten.
So sehr sie das Zusammensein mit Claudius in den ersten Tagen und Wochen nach ihrer Wiedervereinigung genoss, sie vergaß nie, mindestens einmal am Tag bei Vater und Sohn Schaffhausen nach dem Rechten zu sehen. Im Lauf der Zeit wuchs ihr Frieder ans Herz wie ein eigenes Kind. Sie fütterte ihn mit Hingabe, küsste seine Füßchen, wenn sie ihm die Windel wechselte, koste seine runden Wangen und klatschte vor Begeisterung, als er zu krabbeln und später auf wackeligen Füßen zu laufen begann.
So blieb es nicht aus, dass sie in all der Zeit, die sie sich um das Kind kümmerte, eine gewisse Zuneigung zu Johannes entwickelte. Nicht so himmelstürmend wie ihre Liebe zu Claudius, nicht so hingebungsvoll. Es war eher ein stilles Gefühl von Freundschaft, auf das Mathilda aber niemals mehr verzichten wollte.
Über ihre Kinderlosigkeit war sie sich mit Claudius immer häufiger in die Haare geraten. Sie wusste, dass er sich nicht weniger als sie wünschte, dass Kinderlachen durch ihre Hütte erklang. Aber erzwingen konnte man es nicht, und sie mussten ohnmächtig mit ansehen, wie angesichts dieser Umstände ihre Liebe zerfiel. Dennoch hielten sie aneinander fest. Sie waren gebunden an den Treueschwur und das Hochzeitsgelübde gegenüber Pastor Laurentius Ruppelin, der mit seinen inzwischen achtzig Jahren mit krummem Rücken, morschen Knochen und schlohweißem Haar immer noch über Ordnung, Sitten und Moral in den Familien und in der Gemeinde wachte.
Nein, sie war nicht die Einzige im Dorf, der der Kindersegen verwehrt blieb. Die alte Helmine, die zu der Gründergeneration von Waidbach gehörte, hatte auch keinen Erben für ihre riesige Maulbeerplantage, die durch die Seidenproduktion einen erheblichen Beitrag zum Wohlstand der Kolonie leistete. Aber Helmine litt nicht unter ihrer Kinderlosigkeit. Sie fand Erfüllung in ihrer Arbeit für die Gemeinschaft. Irgendwann, wenn sie nicht mehr war, würde sie ihr Lebenswerk der Dorfgemeinschaft hinterlassen.
Die Apothekerin Anja hatte über ihre Unfruchtbarkeit eine besondere Liebe zu Tieren entwickelt, wie sie ihr erzählt hatte. Die Hunde in ihrem Haus waren immer mehr als Wachhunde – Anja liebte sie wie Freunde, wobei sie stets ins Schwärmen geriet, wenn sie von ihrem ersten Hund Lambert erzählte, der ihr bei der Einreise im Jahr 1766 zugelaufen war.
Den wenigen kinderlosen Ehepaaren standen mehrere Hundert Familien gegenüber, die sich fast im Jahresrhythmus vermehrten. Das Überleben der Wolgakolonie war gesichert, wenn auch nur ein Bruchteil des Nachwuchses überlebte, daheim blieb und das fortführte, was die Eltern geschaffen hatten.
Mathilda seufzte, während die eintönige Landschaft aus Wiesen und Feldern an ihr vorbeizog. Sie griff an die Seite des Sattels und fingerte sich aus dem Leintuch ein Stück von dem knusprigen Bauernbrot hervor, das die Frauen der Kolonie im Gemeinschaftsofen gebacken hatten. Sie kaute den Brocken langsam, genoss es, wie er nach einem Schluck Wasser aus dem Lederbeutel in ihrer Mundhöhle aufquoll.
Das Pony wackelte mit dem Kopf und setzte brav Huf vor Huf. Die Sonne stand schon am Horizont und wandelte sich in einen Feuerball, der orangerotes Licht über die Salzwiesen warf. Sie beschattete die Augen mit der Hand. Ihr Herz machte einen Hüpfer, als sie weit in der Ferne die ersten Dächer und Kirchtürme von Saratow erspähte. Davor glitzerten die Wasser der Wolga wie ein silberner See. Hier trennte der gewaltige Fluss Europa von Asien. Noch zwei Stunden, dann würde sie die Brücke überqueren und die Tore der Stadt passieren.
Mathilda schüttelte sich, wie um die Erinnerungen loszuwerden. Ihr Elternhaus, die Auswanderung, die Ablehnung der Dörfler in den ersten Jahren … Nein, ihr Leben hatte eigentlich erst mit Claudius begonnen. Seit sie Claudius liebte, hatte ihr Leben einen Sinn. Umso schmerzvoller, dass diese Liebe verloren ging.
Sie schluckte. Nicht wieder weinen. Sie wollte ihrem Bruder nicht aufgelöst gegenübertreten. Sie wollte sich ablenken, ein paar entspannte Stunden mit ihm und der Familie verbringen, die ihn aus seinem Elend gerettet und ihn angenommen hatte wie ihr eigen Fleisch und Blut.
Sie machte einen tiefen Atemzug, beugte sich über die Mähne des Ponys und flüsterte in sein Ohr: »Komm, mein Junge, bald haben wir es geschafft.« Sie schnalzte und drückte die Unterschenkel gegen den Pferdeleib. Das Pony wieherte. Der Staub hinter ihm wirbelte auf, als es in einen zügigen Trab fiel.
Die Dämmerung war hereingebrochen, als Mathilda das Stadttor passierte. Sie nannte dem kahlköpfigen Wächter ihren Namen, ihren Gastgeber und den Grund ihres Besuchs. Er winkte sie durch, ohne eine Miene zu verziehen. Man war es gewohnt, dass Deutsche aus den umliegenden Kolonien nach Saratow kamen. Viele hatten hier Verwandte oder trieben Geschäfte. Vor allem Weizen, aber auch Kartoffeln und Rohseide lieferten die Kolonisten, manche handelten mit Pferden.
Mathilda schwang sich aus dem Sattel, als sie die engen Gassen und Winkel der betriebsamen Stadt erreichte. Am Rande fand man noch einige schäbige, eng aneinandergebaute Bauernhäuser, aber je weiter sie in die Stadt vordrang, desto breiter präsentierten sich die Straßen und desto herrschaftlicher die Häuser, alles überragt von der Kathedrale und mehreren Kirchen, darunter eine lutherische für die protestantischen Einwanderer.
Das schönste Gebäude im Zentrum bewohnte der Gouverneur. Es war fast ein Palast, in dem ihm mehr als dreihundert Angestellte zur Hand gingen. In unmittelbarer Nähe befanden sich das Polizeigebäude und der betriebsame Basar mit einheimischen Waren und Kostbarkeiten aus Persien und der Türkei. Über all den fremdartigen Gerüchen nach Gewürzen und Proben von rotem Wein aus Astrachan sammelte sich eine Duftwolke nach dem Fisch, von dem die Wolga in und um Saratow übervoll war. Die Fischer holten zum Bersten volle Netze mit fetten, silbrig schimmernden Fischleibern aus dem Fluss. Der größte Fisch war der Beluga, dessen festes Fleisch Mathilda einmal hatte probieren dürfen. Den Kaviar verschifften die Saratower Händler bis nach Sankt Petersburg.
Das Stadtbild prägten wohlhabende Kaufleute. Der Wohlstand zeigte sich nicht nur an den reich verzierten, gepflegten Fassaden der Wohnhäuser, sondern auch an den zahlreichen Droschken und den rassigen kirgisischen Pferden, die allerorten an ihr vorbeitrabten und stolz nickten. Mathildas kalmückisches Pony fiel äußerlich gegen diese Prachtpferde ab, aber was dem kleinen Pferd an Schönheit mangelte, das machte es mit Ausdauer wett. Mathilda tätschelte ihrem treuen Gefährten die Flanke.
Modisch gekleidete Passanten strömten über die Wege und wichen vor den Einspännern der Händler zurück, die ihre Waren in den Hafen brachten. Die Rufe der Kutscher, das Zischen der Peitschen, das Tockern der Hufe auf den Wegen mischten sich mit den heiseren Rufen der Seevögel, die sich um Fischreste balgten, und mit den melancholischen Gesängen eines Wandermusikers, um den sich auf dem Marktplatz Zuhörer drängten.
Mathilda nahm all diese Eindrücke staunend in sich auf. Schon häufig hatte sie die Stadt besucht, aber das Lärmen und bunte Treiben überwältigte sie jedes Mal aufs Neue.
Die Wolga hatte sich zu einem der wichtigsten Handelswege des Landes entwickelt, wovon auch die Kolonisten profitierten, die ihren Überschuss an Getreide bis nach Moskau und Sankt Petersburg lieferten. Das Anwachsen der Metropolen hatte dazu geführt, dass sich die Städte nicht mehr allein versorgen konnten: ein Glücksfall für die deutschen Bauern in den Kolonien in dieser Gegend. Getreideanbau war von jeher ihre Lebensgrundlage gewesen, und mit Fleiß und Tüchtigkeit gegen alle Widrigkeiten des Wetters und Überfälle marodierender Steppenvölker hatten die Deutschen im Laufe der Jahre ihre Erträge vervielfältigt.
Neben jeder Straße verliefen Rinnsteine, durch die die Abwässer aus den Haushalten zum Fluss hin sickerten. Der letzte Regenguss hatte den Unrat aus den Bahnen geschwemmt, und Mathilda musste aufpassen, wo sie hintrat. In Waidbach leerten die Menschen ihre Nachttöpfe und das Spülwasser in Gruben in ihren Gärten, aber hier in der Stadt, wo viele Menschen auf engstem Raum lebten, besaßen die wenigsten ein eigenes Stück Land, und so sammelte sich der Unrat in Kloaken. Mit dem ersten Frost wäre dieses Problem gelöst, nur um im Frühjahr nach der Schneeschmelze wieder auszubrechen. An manchen Tagen vermochte man keinen Schritt auf die Straße zu setzen, ohne bis zu den Knien im Morast zu stehen.
Mathilda passierte die Deutsche Straße, in der sich nur deutsche Einwanderer niedergelassen hatten. Einige kannte sie, so zum Beispiel Klaras Schwester Eleonora, die mit ihrem Mann und ihrem zweitgeborenen Sohn Justus hier wohnte. Ihren ältesten Sohn Stephan hatte es der Liebe wegen zurück nach Waidbach gezogen.
Ob sie hier glücklich waren? Sicher, das Kulturangebot in der Handelsstadt war überwältigend, nicht vergleichbar mit dem, was man in der Kolonie geboten bekam. Einige begabte Musiker unter den Bediensteten des Gouverneurs hatten sich zu einem Orchester zusammengeschlossen, dessen Aufführungen Berühmtheit erlangt hatten. Es gab die deutsche Gesellschaft in Saratow, die Veranstaltungen organisierte. Eleonora Lorenz, die Schwester von Mutter Klara, hatte einen Literatursalon ins Leben gerufen, dem zahlreiche vornehme Frauen angehörten.
Aber machten das mannigfaltige Vergnügungsangebot, die Vielfalt der Waren und das regenbogenbunte Treiben die Geborgenheit wett, die die Gemeinschaft in einer Kolonie ihnen schenkte?
Mathilda genügte es, sich hin und wieder die Stadtluft um die Nase wehen zu lassen, sofern sie nach wenigen Stunden oder Tagen in ihr Heimatdorf zurückkehren durfte. Obgleich in Waidbach nicht jeder Tag friedlich und harmonisch verstrich, bevorzugte Mathilda das beschauliche Landleben.
Zur Wolga hin, dort, wo die wachsenden hölzernen Getreidespeicher von dem aufblühenden Handel kündeten, zeigte die Stadt ihr schäbigeres Gesicht. Dort fanden sich die Spelunken und verruchten Gassen, in denen Frannek vor nunmehr vierzehn Jahren umhergeirrt war.
Major Anatolij Danilowitsch und seine Frau Valentina – eine Deutsche – bewohnten ein prachtvolles Stadthaus mit einem Dutzend Zimmern und allem Komfort. Frannek hätte nichts Besseres passieren können, als genau diesen beiden Menschen in die Arme zu fallen und von ihnen aufgenommen zu werden.
Endlich erreichte Mathilda das pastellgelb gestrichene Gebäude und legte den Kopf in den Nacken, um an der dreistöckigen Front nach oben zu schauen. Vor den Fenstern hingen duftige Stoffe; Ornamente und schmiedeeiserne Balkone schmückten die Simse. Aus dem Schornstein quoll grauer Rauch. Man heizte in diesen Tagen, wenn man es sich leisten konnte. Holz war kostbar und begehrt in der Stadt.
Sie nickte dem Stallburschen zu und reichte ihm die Zügel, bevor sie die zwei Stufen zum Eingangsportal hochstieg. Das Pony würde im Innenhof bei den anderen Pferdeställen versorgt werden. Sie richtete ihr Mieder, zupfte an ihrem Rock und tastete mit den Händen nach ihrer Flechtfrisur. Vermutlich gab sie einen erbärmlichen Anblick ab: eine Frau, die zwei Tage lang durch die Wolgawiesen geritten war, vom Wind zerzaust, von Staub bedeckt. Egal.
Sie betätigte den silbernen Türklopfer und strahlte, als ihr der alte Diener Wanja in seiner schwarzen Livree öffnete. Das wettergegerbte kantige Gesicht des Leibeigenen mit den buschigen Brauen stand im Gegensatz zu seiner tadellosen Uniform. Welchen Putz er auch trug, er würde in diesem Leben nicht mehr verbergen können, dass er die meisten Jahre als mittelloser Leibeigener auf der Scholle geackert hatte, bevor ihn der Gutsherr mit Schimpf und Schande vertrieben hatte. Die Liebe zur koketten Tochter des Gutsherrn war Wanja zum Verhängnis geworden, die Narben von Peitschenhieben auf seinem Rücken legten Zeugnis davon ab. Madame Valentina hatte ihn als halb verhungerten Bettler im Hafenviertel der Stadt aufgelesen, ihn aufgepäppelt und ihm ein Zuhause gegeben. Einen treueren Diener als den alten Wanja konnte sie sich nicht wünschen. Dankbarkeit war stärker als alle Fesseln.
Er verneigte sich vor Mathilda, gestattete sich ein kleines Schmunzeln der Wiedersehensfreude und bat sie mit einer Geste, einzutreten.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen«, sagte Mathilda. »Ich konnte diesmal meinen Besuch nicht ankündigen.«
»Bestimmt nicht, Madame, ich werde gleich Bescheid geben.« Er besaß nicht die Eleganz eines ausgebildeten Dieners, wie er sprach, wie er davonstapfte, um die Herrschaft zu benachrichtigen, aber sein Bemühen reichte der Hausherrin, um ihm eine Unterkunft und Versorgung auf Lebenszeit zuzusichern.
»Mathilda, meine Liebe!« Über Valentinas breites Gesicht ging ein Strahlen, als sie mit wehenden Röcken aus dem Salon heraneilte, angelockt vom Klopfen und den Stimmen.
Valentina war so breit in ihrem ausladenden Rock, dass kaum eine Hand zwischen den Türrahmen und ihre Hüfte passte, als sie auf Mathilda zuflog.
Mathilda seufzte, als die füllige Frau sie an ihre Brust zog, sie drückte und wiegte wie ein Kind. Es tat gut, so willkommen zu sein. In Valentinas Nähe blühten alle vom Schicksal benachteiligten Menschen auf. Sie gab jedem das Gefühl, sie würde es schon richten, man solle sich bloß auf sie verlassen. Es tat gut, umhegt und beschützt zu werden. »So schön, wieder bei euch zu sein«, murmelte Mathilda.
Valentina rückte ein Stück von ihr ab, umfasste ihre Schultern und betrachtete ihr Gesicht. »Gottchen, Kind, wie ausgezehrt du aussiehst. Warum hast du dich nicht angemeldet? Ich hätte etwas vorbereiten lassen. Aber wir schauen gleich, was die Küche hergibt, ja?«
Mathilda lächelte matt. »Ich bin gar nicht so hungrig.«
Valentina musterte ihr Gesicht. »Benutzt du die Salbe, die ich dir gegen die Sommersprossen gegeben habe? Und fang bloß nicht mit Schminke an! Unter der Schlachtbemalung altert deine Haut schneller als die einer Greisin! Schau dir die Äffinnen auf den Gesellschaften an, die die Schminke zentnerweise verschleudern. Wie übertünchte Gräber kommen sie daher!«
Mathilda schüttelte den Kopf. »Ich halte mich an deine Ratschläge. Und die Creme trage ich jeden Abend auf.« Für Mathildas Sommersprossen hatte sie ihr eine Lotion aus zerstoßenen Mandeln, Eiweiß und Zitronensaft bereitet. Die Sommersprossen verblassten darunter allerdings nur gering, aber es tat gut, sich abends damit zu pflegen.