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Das große Abenteuer an der Wolga geht weiter! »Dunkle Wälder, ferne Sehnsucht« ist der zweite Teil der mitreißenden Auswanderer-Trilogie über drei mutige Schwestern und ihr dramatisches Familien-Schicksal von der SPIEGEL-Bestsellerautorin Martina Sahler! Russland 1780. Seitdem die Weber-Schwestern ihr Heimatdorf in Hessen verlassen haben, sind vierzehn Jahre vergangen. Im fernen Russland haben sie mit anderen Auswanderern eine deutsche Siedlung gegründet, doch Eleonora lebt inzwischen in Saratow, Christina hat sich ihr Leben in der russischen Hauptstadt aufgebaut, und nur Klara ist in der Einwanderer-Siedlung geblieben. Im weiten Land an der Wolga hält das Schicksal große Herausforderungen für die kämpferischen Frauen bereit. Für Band 1 der Auswanderer-Trilogie Weiße Nächte, weites Land erhielt Martina Sahler den HOMER-Literaturpreis in Silber in der Kategorie Biographie/historisches Ereignis. Auch im zweiten Band der Wolgasiedler-Trilogie überzeugt sie mit ihrem mitreißenden Schreibstil. »Dunkle Wälder, ferne Sehnsucht« begeistert und fasziniert wie der Auftakt der historischen Roman-Trilogie »Weiße Nächte, weites Land« mit authentischer Darstellung historischer Details, vielseitigen, lebendigen Figuren und berührenden Familienschicksalen.
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Seitenzahl: 437
Martina Sahler
Roman
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Russland 1780. Seitdem die Weber-Schwestern ihr Heimatdorf in Hessen verlassen haben, sind vierzehn Jahre vergangen. Im fernen Russland haben sie mit anderen Auswanderern eine deutsche Siedlung gegründet, doch Eleonora lebt inzwischen in Saratow, Christina hat sich ihr Leben in der russischen Hauptstadt aufgebaut, und nur Klara ist in der Einwanderer-Siedlung geblieben. Im weiten Land an der Wolga hält das Schicksal große Herausforderungen für die kämpferischen Frauen bereit.
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Vorbemerkung
Karte
Personenverzeichnis
Buch 1 | Wandel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Buch 2 | Widerstand
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Buch 3 | Erwachen
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Nachwort
Das Dorf und die Kolonie Waidbach sowie sämtliche Bewohner sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit den Menschen, die tatsächlich im 18. Jahrhundert in den deutschen Kolonien an der Wolga lebten, wären rein zufällig.
Klara Mai, 22, als Einzige der drei 1766 nach Russland eingewanderten Weberschwestern in der Kolonie Waidbach geblieben.
Sebastian Mai, 22, Klaras Mann, der seine verkrüppelte Hand mit besonderer Tüchtigkeit in der Landwirtschaft wettzumachen versucht.
Amelia, 4, ihre älteste Tochter.
Henny, 1, ihre zweite Tochter.
Franz Lorenz, 37, schrulliger Viehhüter, der neuen Lebensmut schöpft.
Anastasia, 21, Franz’ russische Geliebte.
Claudius Schmied, ein jugendlicher Waffennarr, der darauf vertraut, dass das Glück auf seiner Seite ist.
Walter Schmied, 17, Claudius’ Cousin, Kolonist, der nicht gut auf die Russen zu sprechen ist.
Joseph Müllau, 42, neuer Kolonist in Waidbach mit dunklem Geheimnis.
Ella Müllau, 32, Josephs verhuschte Frau.
Mathilda, 12,ihre Tochter, die hofft, in der Kolonie Geborgenheit zu finden.
Frannek, 10,sein Sohn, der unter der Tyrannei des Vaters leidet.
Veronica von Kersen, 36, Hebamme und Gründerin der Kinderstube in Waidbach.
Anton von Kersen, 44, Schulmeister.
Anja Röhrich, 36, Apothekerin.
Bernhard Röhrich, 34, Dorfschulze.
Helmine Schmied, geborene Röhrich, 27, alleinstehend, Pächterin der Maulbeerplantage, Seidenherstellerin und Klatschtante.
Trude Platen, 65, zuständig für den Dorftratsch.
Dr. Cornelius Frangen, 39, Arzt in der Kolonie Waidbach.
Pfarrer Laurentius Ruppelin, 59.
Der ProvinzialbeamteWladimir Ivanowitsch Kozlow und sein Hund.
Eleonora Lorenz, 35, die ihre Tochter Sophia vermisst.
Matthias Lorenz, 35, Kompagnon in der Firma des Deutschen Oscar Hartung.
Stephan, 7, ihr ältester Sohn.
Justus, 6, ihr zweiter Sohn.
Oscar Hartung, 60, aus Leipzig stammenderInhaber einer Seidenmanufaktur in Saratow.
Sophia Lorenz, 17, Eleonoras Tochter, Studentin an der Akademie der Künste.
Jiri Jegorowitsch Orlowski, 19, Kunststudent und Sophias bester Freund.
Olga, 19, Jiris Verlobte.
Daniel Meister, 39, deutscher Abenteurer in Russland.
Christina Haber, 34, hessische Weberin, die in St. Petersburg zur bekanntesten Modehändlerin aufgestiegen ist.
André Haber, 49,ihr ungeliebter Gatte.
Alexandra Lorenz, 13, Christinas uneheliche Tochter, die ihre Mutter zu erpressen versucht.
Felicitas Haber, 42, Andrés Schwester und Christinas schärfste Konkurrentin.
Maria Petrowna, 39, Dozentin an der Akademie der Künste, Sophias Mentorin, Mascha genannt.
Ljudmila, 42,Maschas Mitbewohnerin, ebenfalls Dozentin.
… und natürlich: Katharina II. (1729–1796), genannt Katharina die Große, Zarin von Russland seit 1762.
Buch 1
1780–1781
Das alles haben wir mit unseren Händen geschaffen, dachte Klara, während ihr Blick die von Holzhäusern gesäumte Dorfstraße entlang bis zum Kirchplatz ging. Dort bildete das weiß getünchte Gotteshaus das Herz der Kolonie Waidbach.
In den Bauerngärten sprossen Frühblüher, Tulipane und Narzissen, das Grün an den Zweigen vereinzelter Apfel- und Pflaumenbäume leuchtete in der Mittagssonne.
Klara legte eine Hand voll Frühlingslauch in den Weidenkorb, der über ihrem Arm baumelte, und stemmte die Hand in den Rücken. Sie ächzte und lächelte zugleich.
Was war schon ein drückendes Kreuz gegen das Leid der letzten vierzehn Jahre, in denen sie sich hier auf der Bergseite der Wolga eine neue Heimat aufgebaut hatten?
Aus der Hütte hinter ihr drangen Klappern, Kinderrufen und das Weinen der Kleinen. Die vertrauten Geräusche mischten sich mit dem Rauschen des Aprilwindes durch das Steppengras, das die Kolonie umgab.
Ein Scheppern erklang. Klara lauschte für einen Moment. Hatte Amelia die Holzschüsseln, mit denen sie den Tisch für das Mittagsmahl decken wollte, fallen gelassen? Die knapp einjährige Henny quäkte. Amelia begann zu singen, laut und klar, ein Lied aus der alten Heimat, das Klara ihrer Ältesten selbst gern vorsang, wenn sie abends nicht einschlafen konnte. Es waren zwei Königskinder …
Wie gut sich die Tochter Melodie und Text gemerkt hatte, wie rein ihre Stimme tönte und die jüngere Schwester beruhigte.
Ihre beiden Mädchen.
Wann immer Klara die Kinder lachen oder singen hörte, den Sommerwiesenduft ihrer Haare einsog, ging ihr das Herz über vor Glück. Dass ein Mensch so viel Liebe empfinden konnte, hätte Klara nicht für möglich gehalten, bevor sie mit Sebastian vor den Traualtar getreten war.
Sie streichelte über ihren wachsenden Bauch, bevor sie erneut in die Hocke ging, um weitere Lauchstangen abzuschneiden und das Unkraut zu jäten.
Amelia trat aus der Haustür, mit nackten Füßen und einer geflickten Schürze über dem Trägerrock. Klara stellte den Korb ab, bückte sich und öffnete die Arme. Das Mädchen schmiegte sich an sie.
»Essen wir jetzt, Mutter? Ich hab Hunger wie ein Wolf.« Ein bittender Ausdruck trat in ihre schlehenblauen Augen.
Klara küsste sie auf den Scheitel. Ihre Haare, mit all den Farben des Herbstlaubs wie ihr eigenes, waren an den Seiten geflochten und zu taudicken Schnecken gedreht. »Fangt schon ohne mich an.«
Amelia nickte und lief zurück ins Haus.
»Nimm deine Schwester auf den Schoß, wenn du sie fütterst!«, rief Klara ihr noch nach und fragte sich einmal mehr, ob sie der Vierjährigen nicht zu viel zumutete.
Die anderen Mädchen und Jungen in diesem Alter verbrachten die Tage in der Kinderstube. Diese grenzte an die Dorfschule, die Anton von Kersen mit Rute und Zeigestock führte. Alle Waidbacher brachten die Kinder in diese dörflichen Einrichtungen, damit die Erwachsenen ihrem Tagwerk auf den Äckern, an den Schutzwällen, im Backhaus oder in der Mühle nachgehen konnten.
Dass Amelia nicht die Kinderstube besuchte, lag daran, dass Klara sich kaum von ihr trennen mochte. Und warum denn auch? Klara wuselte nur in der Nähe des Hauses herum, fegte, putzte, kochte, kümmerte sich um den Garten – da störte das Kind nicht, konnte ihr gar bei der Pflege des Geschwisterkindes zur Hand gehen.
Ihr Haus erschien ihr nicht nur wie ein Platz zum Wohnen, Essen, Schlafen, sondern wie der sicherste Ort der Welt. Ein Ort, der ihr Recht, Schutz und Frieden bot. Am behaglichsten fühlte sich Klara, wenn sich all ihre Lieben um sie scharten.
Das Dorf lag still, nur das Hämmern aus der Schmiede erklang gedämpft, ein Schwarm Krähen rief sein Kra-kra über die Dächer. Ab und zu drang aus den geöffneten Fenstern der Dorfschule ein Kinderlachen, ein Weinen oder ein gemeinsam gesungenes Lied mit dünnen Stimmen und dem Bass des Lehrers.
Sie beschattete die Augen mit einer Hand, als eine Gruppe zerlumpter Männer und Frauen aus der Kirche schlurfte. Ihnen voran schritt erhobenen Hauptes Pastor Laurentius Ruppelin, die Hände vor der Brust gefaltet, den massigen Körper leicht gebeugt. Sonnenstrahlen schimmerten auf seinen grauen Haarbüscheln. Er hatte schon einige Jahre auf dem Buckel, wirkte aber lebendig wie ein knorriger, trutziger Baum.
Klara richtete sich auf und trat an den Lattenzaun, der ihren Garten umgab. Sie reckte den Hals, kniff die Augen zusammen.
Was waren das für Leute? Sie zählte ein knappes Dutzend, Erwachsene und Kinder: abgerissene Gestalten in durchlöcherter, vor Schmutz starrender Kleidung, Lumpen um die Füße gewickelt.
Die Worte des Pfarrers wehten zu ihr herüber, ohne dass sie sie verstand. Die Fremden trotteten schweigend, als wären sie zu ermattet oder zu krank, um zu sprechen.
Weitere Einwanderer?
Klaras Magen verkrampfte sich, sie drückte die Handflächen auf ihren Leib, als müsste sie das Ungeborene vor Gefahr bewahren. Ihr Blick flackerte zum Haus. Durch die geöffnete Tür sah sie, dass die Kinder sich über eine Schüssel beugten.
Unvermittelte Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie war ihr vertraut, und meistens kam sie grundlos. Sebastian schimpfte sie lachend ein Hühnchen, sobald er mitbekam, dass sie sich in ihre Furcht hineinsteigerte und sich aufplusterte wie ein Federvieh über dem Gelege.
Immer wieder mal trafen weitere Kolonisten aus den deutschen Gebieten ein, setzten sich hier in Waidbach ins gemachte Nest. Tief in ihrem Inneren wusste Klara, dass sie die Landsleute zu Unrecht verurteilte und dass die Neuen ein Anrecht auf ein Willkommen und eine Unterkunft hatten. Wenigstens das, wenn sie schon nicht das erhoffte Paradies vorfanden.
Auch diese Leute mühten sich, genau wie die erste Generation, zu Tode erschöpft, verlaust und entwurzelt, Tausende von Meilen von der deutschen Heimat entfernt, ein neues Leben aus dem Nichts aufzubauen. Die meisten hatten, genau wie die Koloniegründer, den Großteil des ursprünglich verschnürten Gepäcks auf dem Weg gelassen, weil die Last zu schwer wurde. Auch ihre Träume.
Als die Gruppe näher kam, verstand Klara Satzfetzen. Pastor Ruppelin wies mal nach rechts, mal nach links, erklärte den Leuten, was sie wo fanden. Das Arzthaus, in dem der Medicus Cornelius Frangen die Verletzten und Kranken heilte; die angrenzende Apotheke von Anja Röhrich; die Dorfschenke, in der an den Festtagen die Dielen im Polkatakt knarzten; den Krämerladen, in dem es nach Seife und Fallobst, nach Most und Bienenwachs roch; die Schmiede, aus der das Klirren von Metall auf Metall drang und hin wieder ein Zischen.
Dem Dorfschulzen Bernhard oblag die Pflicht, die Neuen einzuweisen, aber der ackerte wohl mit den anderen auf den Feldern. Den Pfarrer freute es, sich wichtigtun zu dürfen.
Klara verengte die Lider zu Schlitzen, um die Gesichter erkennen zu können. Doch die Ankömmlinge schleppten sich gebeugt und hielten die Köpfe gesenkt, als fehlte ihnen die Kraft, aufrecht zu gehen.
Klara zählte drei Männer, drei Frauen und eine Traube von Kindern. Wo würden die unterkommen? Hoffentlich würde der Pastor ihnen ein Baugrundstück am äußersten Ortsrand abstecken. Während der Übergangstage durften sie allerdings das Gästehaus nutzen, das zum Pfarrhaus gehörte.
Die Waidbacher galten als hilfsbereit, der Bau der Hütten würde nicht mehr als einen Monat dauern. Dann konnten die Neuen einziehen und damit beginnen, sich ihren Platz in der Gemeinschaft zu suchen.
Was für eine Bequemlichkeit, ging es Klara durch den Sinn. Mit Schaudern dachte sie an ihre eigene Ankunft hier auf der Bergseite der Wolga. Wie sie sich mit ihren Schwestern und Mitreisenden fassungslos umgesehen hatte, weil es nicht das geringste Anzeichen gab, dass hier jemals schon Menschen gelebt hatten. Eine Wildnis – und diese Erdhöhlen, in denen sie den ersten Winter über schliefen, kochten und auf das Licht des Frühjahrs warteten, ohne Hoffnung, ohne Kraft, ohne Zuversicht.
Dennoch hatten sie es nach der Schneeschmelze geschafft, in dieser Ödnis Häuser zu zimmern und in den Jahren danach eine Dorfgemeinschaft zu entwickeln, in der ein jeder seine Verantwortung trug und keiner hungern musste.
Klara erinnerte sich an ihre Weigerung, die deutsche Heimat zu verlassen, an das Gefühl von Fremdheit, als sie sich zum ersten Mal in diesem entlegenen Landstrich umgesehen hatte.
Ohne Sebastian wäre sie verloren gewesen.
Ihre beiden Schwestern, die mit ihr reisten, erwiesen sich als wenig verlässliche Stützen. Die älteste, Christina, ertrug den Dorfalltag nicht und floh nach St. Petersburg. Die zweite, Eleonora, fand ihr Glück an der Seite des Knechts Matthias im nahe gelegenen Saratow.
So war Klara als Einzige der drei hessischen Webertöchter, die im Februar 1766 dem Ruf der russischen Kaiserin Katharina gefolgt waren, in der Kolonie Waidbach verblieben.
Das Leben hatte Klara gelehrt, wie leicht man verlieren konnte, was man liebte, und wie weh der Verlust tat. Ihre Mutter, die Schwestern, vermeintliche Freunde und einmal sogar fast sich selbst … Die Angst in ihr lauerte hellwach.
Aber gegen die Furcht stand ihr kriegerischer Wille, diejenigen zu schützen, die jetzt zu ihr gehörten: ihre Töchter und ihren Mann. Eine heile Welt in einer schmucken Hütte inmitten der Kolonie Waidbach, die sie mit Klauen und Zähnen gegen jede Bedrohung verteidigen würde. Sie und Sebastian, ihre beiden Mädchen und alle Kinder, die noch kommen sollten – das war Klaras Welt. Alle, die nicht zu ihrer Familie gehörten, alles Fremde, bedeutete Gefahr, von Klara auf Abstand gehalten und argwöhnisch beobachtet.
Sebastian machte sich manchmal lustig darüber, um Klaras Furcht die Schwere zu nehmen. Was sollte ihnen schon passieren? Nicht alle Fremde wollten ihnen Böses oder sie auseinanderreißen.
Aber Klara wusste es besser.
Sie hoffte, dass der Pfarrer den Neuen einen Platz weit von ihrem eigenen Zuhause entfernt anbieten würde. Je weiter, desto besser. Mehr Worte als »Guten Tag« und »Guten Weg« würde sie mit denen nicht wechseln.
Jetzt hatte der Geistliche sie am Zaun entdeckt, hob grüßend die Hand und lenkte die Schritte auf sie zu. Zu spät für Klara, noch ins Haus zu huschen und die Fremden vom Fenster aus zu beobachten.
Sie blies sich eine Strähne aus der Stirn, die sich unter der Haube gelöst hatte, und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Gott zum Gruße, Klara Mai!«, rief der Pfarrer übertrieben leutselig. Wenn es weniger Menschen mitbekamen, gab er sich gerne schroff. Seine aufgesetzte Munterkeit, mit der er die Neuen für sich und den Gottesdienst einzunehmen versuchte, entlarvten aber nur die alten Bekannten als peinlich. »Ist es nicht wunderbar, dass weitere Deutsche zu uns kommen? Sie stammen aus dem Hessischen wie wir. Gewiss werden sie, wenn sie sich ausgeruht haben, uns allerlei Neuigkeiten aus der alten Heimat berichten. Wir wollen uns heute Abend in der Schenke treffen.«
Klara deutete einen Knicks an. »Sehr wohl, Herr Pastor, aber Sebastian wird zu erschöpft sein nach der Feldarbeit.« Das sollte der Geistliche doch wissen, dass ihr Mann für drei schuftete, um seine verkrüppelte Hand wettzumachen, mit der er auf die Welt gekommen war.
Ruppelin winkte ab. »Ach, Unfug. Schick ihn mal nach dem Abendbrot. Und komm gerne mit, Klara!«
Klaras Blick ging zu den Einwanderern. Die Kinder standen wie Vogelscheuchen zusammengedrängelt. Kaum konnte sie erkennen, ob es Mädchen oder Jungen waren. Alle drückten sie sich mager und zitterig aneinander, manche hielten sich an den Händen, andere zwängten sich an die Beine der Eltern. Die Gesichter der Erwachsenen lagen im Schatten, da sie die Köpfe gesenkt hielten, als schämten sie sich für den Schmutz und den Gestank, den sie verströmten.
Da richtete eine Frau die Schultern auf, langsam, als lasteten Bleigewichte in ihrem Nacken. Klara starrte in halb geschlossene graublaue Augen. Das faltige Antlitz hatte die Farbe von Asche und wirkte wie das einer Greisin, obwohl sie vermutlich nicht mehr als zehn Jahre älter als Klara war. Die gelb-grauen Haare hingen ungekämmt um ihre Schläfen. Klara schluckte und verhärtete ihre Miene, hob das Kinn. Seht zu, wie ihr zurechtkommt. Wir haben es auch allein geschafft!
Ihr Blick wanderte zu dem Mann an der Seite der Frau, der die bulligen Oberarme vorgeschoben hatte und sein Eheweib um drei Handbreit überragte. Das durchlöcherte Jackett spannte an den Armen und im Kreuz. Klara sah den stoppeligen Bartschatten, den verfilzten Haarschopf, die von roten Adern durchzogene Nase, die wie ein Geschwür in seinem Gesicht hing.
Da hob er den Kopf, und der Blick aus stechenden Augen, schwarz wie Kohle, traf Klara.
Oh, Herr im Himmel, steh mir bei.
Sie taumelte einen Schritt rückwärts, suchte mit den Händen einen Halt, den sie nicht fand. Mühsam rang sie ums Gleichgewicht, ohne sich lösen zu können.
Was war das?
Ein Trugbild, aus ihren Ängsten erwachsen?
Wie konnte das sein?
In ihrem Schädel begann es zu hämmern. Die Knie gaben nach wie Grütze, Schüttelfrost überfiel sie, ihre Hände zitterten, als wäre der Teufel in sie gefahren. Ihre Mundhöhle trocknete aus, die Zunge klebte am Gaumen, als sie die Lippen öffnete, ohne dass ein Wort herauskam.
Wie kam dieser Mann hierher?
Dieses Ungeheuer, das sie seit ihrer Kindheit in ihren Träumen verfolgte. Im Lauf all der vergangenen Jahren waren ihre Erinnerungen an das Erlebnis von damals verblasst, als gehörten sie zu einem anderen Leben. Nur die Angst brannte in ihr, stets bereit, erneut aufzuflammen.
Noch während sie taumelte, sich mit dem Blusenärmel den Schweiß von der Stirn wischte und nach Luft rang, schritt der Pfarrer an der Spitze der Prozession weiter. Die Menschen folgten ihm mit schlurfenden Schritten.
Klara ließ sich auf die Beetsteine nieder, verhakte die Finger ineinander, strich über ihre Schläfen, feucht vom kalten Schweiß.
Sie starrte der Gruppe hinterher, biss auf ihre Unterlippe, bis sie Blut schmeckte.
Er hat mich nicht erkannt.
Aber sie – sie würde dieses Gesicht nie vergessen.
Nicht, solange sie lebte.
Das Grauen ihrer deutschen Heimat hatte sie eingeholt.
Franz Lorenz ließ sich auf dem Findling nieder, der ihm als Rastplatz diente, und griff in das Leinensäckel, das an einer quer über die Brust reichenden Kordel baumelte. Ein Kanten Brot, ein paar Streifen Trockenfleisch, Dörrobst … eine Stärkung konnte er jetzt gebrauchen. Derweil weideten und wiederkäuten die zwei Dutzend Schafe und Rinder, die er an diesem Frühlingsmorgen wie an jedem schneefreien Tag aus dem dorfeigenen Stall getrieben hatte.
Trotz der gemeinschaftlichen Nutztiere, deren Wolle die Frauen verspannen und aus deren Milch sie Butter, Käse und Molke gewannen, hielten die meisten Waidbacher auch eigenes Kleinvieh, mit dem sie unter einem Dach hausten.
Franz mochte die Aufgabe, die Herde zu hüten. Keiner erteilte ihm Befehle, keiner plapperte ihn plump von der Seite an. Und er mochte es, wie die Kinder jubelten, wenn er nach den letzten Eisnächten im März zum allerersten Mal die Tiere hinaustrieb. »Jetzt kommt der Sommer! Jetzt kommt der Sommer!«, riefen sie dann lachend und tanzten im Reigen um ihn herum, während er die Bengel versteckt grienend mit seinem knotigen Birkenstock zu vertreiben versuchte.
An diesem Flecken – weit vom Dorf entfernt, sodass er nur die geduckten Dächer und den Kräuselrauch aus den Feuerabzügen am Horizont erkennen konnte – stand das Gras im Sommer am fettesten. Jetzt, Ende April, reichte es ihm bis zu den Knöcheln. Seinen zwei Meter langen Stock, der ihm als Krücke, Treibwerkzeug und Waffe diente, legte er griffbereit neben sich.
Als Franz ein Stück Fleisch mit den schadhaften Zähnen abriss, ging sein Blick in alter Gewohnheit nach rechts und links und hinter sich.
Er war hier ganz allein.
Über die kriegerischen Nomadenvölker redeten sich die Männer in der Kolonie die Köpfe heiß und überboten sich in sinnlosen, nicht durchführbaren Vorschlägen, wie sie die Überfälle ein für allemal abwenden konnten. Die Frauen dagegen zogen die Schultern hoch und raunten, ob Knoblauch, Knuten neben der Schlafstatt oder Kreuze über der Tür den besten Schutz boten.
Zweimal waren sie schon über sie hergefallen, jedes Mal hatten sie das Dorf in Schutt und Asche gelegt. Sie zertrümmerten Häuser, raubten Tiere und verwundeten Menschen. Eine starb, die alte Marliese, als sie die Tochter aus den Fängen eines kahlköpfigen Wilden befreite. Aber gut, was kratzte es den Franz?
Er hatte bislang Glück gehabt. Wann hatte man je davon gehört, dass die Wilden am helllichten Tag zum Angriff über die Steppe preschten? Nachts stoben sie feige heran, die Fackeln gereckt, die Speere gezückt, johlend auf trampelnden Ponys mit Zottelmähnen und irr verdrehten Augen.
Trotzdem blieb er wachsam.
Noch im Winter war ihm sein Dasein nicht das Schwarze unterm Fingernagel wert gewesen. Da hatte er in seiner morschen Hütte am äußersten Rand des Dorfes gelegen wie in einem Sarg. Verbarrikadiert hatte er sich, die Tür verriegelt, die Fensterläden verrammelt, ein Bollwerk gegen jegliche Versuche der Waidbacher, ihn aus seiner Einsiedelei herauszulocken. Zum Teufel sollten sie sich alle scheren, der Franz war sie alle quitt.
Seine Verbitterung hing mit Anja Eyring zusammen, bei deren Hochzeit mit dem Dorfschulzen alle Waidbacher getanzt und die Goldene Suppe aus Gänseblut gelöffelt hatten. Alle, außer ihm. Die Dorfgören hatten, wie es der Brauch verlangte, damals den Brautschuh gestohlen und diesen ausgerechnet an seiner Hütte versteckt, wo ihn der Bräutigam fand. Franz würdigte die Hochzeitsgesellschaft keines Blickes.
Er hatte selbst eine Schwäche für die Apothekerin gehabt. Auf der langen Reise hierher hatte er erkannt, welch schöne Seele in ihrem eher ungefälligen Äußeren wohnte, und sich in sie verliebt.
Dass er trotz hartnäckiger Versuche nicht auf Gegenliebe, nur auf Spott und Verachtung stieß, bestärkte Franz darin, dass die Auswanderung nach Russland unter einem besonders schlechten Stern stand. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Visionen, die seine abergläubische Mutter in Hessen am heimischen Feuerplatz mit zitteriger Stimme heraufbeschworen hatte.
Lange Zeit hatte Franz angenommen, dass sie tatsächlich die Wahrheit vorausgesehen hatte, die missgünstige Alte, und lange Zeit schien es ein gangbarer Weg, der Welt den Rücken zu kehren und sich in aller Seelenruhe zu Tode zu saufen.
Dann aber hatte er vor vier Wochen, an dem Tag, an dem die Kinder ihre Freude auf den Sommer herauskreischten, Anastasia getroffen.
Franz reckte den Hals, richtete sich für einen Moment auf.
Wo blieb sie nur?
Zwitschernd begrüßten die Vögel den ersten richtig warmen Tag des Jahres, die Hummeln und Bienen summten und sirrten, und drüben auf der Anhöhe stieß ein Murmeltier seinen warnenden Pfiff aus.
Da! Im Gleißen der Sonne schien sie über dem Steppengras zu schweben, wie sie leichtfüßig auf ihn zulief. Die nussbraunen Zöpfe unter dem im Nacken geknoteten Kopftuch flogen ihm Wind. Über dem Trägerkleid, dessen bestickter Saum um ihre Bastschuhe flatterte, trug sie heute zum ersten Mal nicht die Steppjacke, die er ihr so gern von den Schultern streifte, um die Nase in ihre Halsbeuge zu stecken und ihren Duft nach Heu und Rosen einzuatmen.
Wie frisch sie aussah mit ihrer blütenweißen Bluse, deren Ärmel ihr um die Handgelenke schwangen!
Franz schluckte die Brocken, die er im Mund eingeweicht hatte, hinunter und räusperte sich, weil seine Kehle zu eng geworden schien.
Die Schafe hoben die Köpfe, glotzten und fraßen weiter. Der Wind, der durch Franz’ Kringellocken fuhr, trug den Geruch nach trockener Erde und Rinderdung mit sich.
Prüfend, mit vorgeschobenem Unterkiefer, fuhr sich Franz mit dem Mittelfinger übers Kinn. Doch, es fühlte sich glatt an. Er würde ihre kostbare Haut nicht zerkratzen, wenn er sie mit Küssen bedeckte.
Einmal in der Woche schaffte sie es, sich zu einem Stelldichein zu stehlen. Das war der Tag, an dem Franz sich wusch und rasierte. Noch im Winter und all die Sommer zuvor hatte er auf solche lästigen Dinge verzichtet, sein Bart hing ihm damals bis auf die Brust. Die Waidbacher Mütter hatten ihre Kinder zurückgerufen, wenn sie ihn foppten.
Alles vergangen, alles vergessen, dachte Franz. Das Leben hatte ihn wieder, heiß und hungrig wie eh und je flossen die Säfte in ihm. Das hatte er diesem Engel zu verdanken, der da auf ihn zuflog.
Er breitete die Arme aus, als sie nahe genug heran war. Sie schmiegte sich an ihn, ihr Brustkorb hob und senkte sich beim Atmen.
Er streifte ihr Tuch ab, streichelte über ihren Scheitel, drückte einen Kuss darauf und seufzte vor Glück, als er sie fest an sich zog.
Doch heute wollte sich Anastasia gar nicht beruhigen. Statt ihm die Lippen zum Kuss zu reichen, rang sie immer noch um Atem. Die Worte stieß sie tonlos hervor. »Familie weiß!«
In den stillen Stunden, wenn sie nach ihrem Liebesspiel im Gras dösten und zu den vorüberziehenden Wolken hinaufsahen, hatte Anastasia ein paar deutsche Brocken von ihm aufgeschnappt, obwohl sie kaum Worte brauchten für das, wonach ihre Leiber hungerten. Sie liebkosten sich und versanken in ihren Blicken. Zu erzählen gab es im Allgemeinen wenig.
Franz verstand sofort. Er rückte ein Stück von ihr ab, ohne sie loszulassen, um ihr in die Augen schauen zu können. »Was weiß deine Familie? Weiß sie von uns?« Er deutete zwischen ihr und ihm hin und her.
Anastasia nickte und zuckte die Schultern. Ihre Miene drückte Bedauern aus, ihre Haltung Gelassenheit.
Franz hob ihr Kinn und küsste sie, weil er dennoch glaubte, sie trösten zu müssen. »Von mir aus kann es die ganze Welt wissen!«, sagte er dicht an ihrem Mund, obwohl er wusste, dass sie das nicht verstand. Aber der Klang seiner Stimme mochte sie vielleicht beruhigen. »Um uns zu trennen, reichen alle Krieger der Welt nicht aus, meine Geliebte. Wir gehören zusammen bis ans Ende aller Tage!« Franz lauschte den eigenen pathetischen Worten hinterher und spürte das Echo in seiner Brust, die anschwoll vor Stolz. Dass solch große Wahrheiten noch einmal aus seinem Mund kommen würden, hätte er selbst nicht für möglich gehalten.
Da fühlte er Anastasias fleißige Hände an seiner Manneszierde und stieß im nächsten Moment ein Stöhnen aus, als sie ihm in den Hosenbund griff.
Franz blickte auf eine erquickliche Vergangenheit als Weiberheld und Witwenbeglücker zurück, eine Lebensart, die ihm die haarfeine Narbe beschert hatte, die sich von seiner Wange bis zur Schläfe zog. Einmal war er nicht schnell genug ausgewichen, als ihm ein gehörnter Gatte mit dem Degen nachsetzte.
In Hessen war sein zweifelhafter Ruf bis weit über Büdingens Grenzen hinaus bekannt gewesen. Damals hatte er alles mitgenommen, was einen Rock trug und sich ihm anbot, aber so etwas wie mit Anastasia hatte er noch nicht erlebt. Die Weibsbilder in Hessen spreizten die Beine und ließen es über sich ergehen, hin und wieder ein gepresstes Seufzen, wenn er es gar zu toll trieb.
Anders bei der jungen Russin.
Gerade gab sie ihm einen Schubs, sodass er taumelte und im Fallen ein erregtes Lachen ausstieß. Er ließ sich auf den Rücken sinken, spürte das stachelige Salzkraut kaum in seinem Rücken, weil all seine Sinne auf Anastasia gerichtet waren. Seine Hose hing ihm bereits an den Schenkeln, seine Manneszierde stand wie eine Fahnenstange gereckt.
Anastasias Gesichtsausdruck glich dem einer Wildkatze, die sich über ihre erlegte Beute hermachte, als sie ihn mit dem Mund und den Händen zu bearbeiten begann. Ein paar Schafe in der Nähe drehten wiederkäuend die Köpfe.
Da hatte sie schon mit gekreuzten Armen ihr Trachtenkleid ausgezogen und die Schnüre der beim näheren Hinsehen doch fleckigen Bluse geöffnet, sodass ihre Brüste frei schwangen.
Franz glaubte, wie jedes Mal, fast zu platzen vor Beherrschung, als sie sich nun rittlings auf ihn setzte, als wäre er ein Spielzeug, an dem sie sich erfreute.
Sie stieß russische Worte aus, während sie sie gemeinsam zum Höhepunkt trieb. Franz verging fast vor Wonne.
So war es jedes Mal. Einem so gierigen Weib hatte Franz noch nie beigelegen. War es da ein Wunder, dass er bereit war, die Sterne über den Wolgawiesen für sie zu holen, wenn sie nur bei ihm blieb?
Wie dumm war er gewesen, der verknöcherten Anja Eyring nachzutrauen, und das auch noch über viele Jahre! Mit ihr hätte er ein solches Liebesglück niemals erlebt, ging es ihm durch den Sinn, als sie nun, ermattet und noch halb nackt, eng umschlungen im Gras lagen.
Dass ihm in der zweiten Lebenshälfte, jetzt, mit neununddreißig Jahren, noch einmal ein solches Glück widerfuhr – wer hätte das je vermutet? Und dann mit einem viel jüngerem Weib. An den Händen hatte sie ihm abgezählt, dass sie einundzwanzig Jahre alt war. Warum sie nicht verheiratet, warum sie nicht mehr unbefleckt war, als sie zum ersten Mal beisammen lagen, ach, wen juckte das Altweibergewäsch? Was zählte, war das Hier und Jetzt und wie sie ihr gemeinsames Leben gestalten würden.
Dass Anastasia in manchen Momenten ein flatterhaftes Gemüt zeigte, wenn sie mit seinen letzten Brotbrocken die Wildgänse fütterte, obwohl ihm der Magen knurrte, oder wenn sie ihm sein Hemd beim Liebesspiel zerriss, obwohl es sein Letztes war – nun, vielleicht war das ein Vorrecht ihrer Jugend. Gerade die Leichtigkeit, mit der sie das Leben nahm, zog ihn fast noch stärker an als ihr verschwenderisch gefülltes Mieder.
Die Russen waren ohnehin ein merkwürdiges Volk mit allerlei haarsträubenden Sitten und Gebräuchen; wer wusste schon, was sie unter Beständigkeit, Ehre und Anstand verstanden? Es war der Mühe nicht wert, dahinterzusteigen, fand Franz. Sein Vertrauen in Anastasia und ihre Liebe zu ihm war unerschütterlich.
Er kaute auf einem Grasstängel, Anastasia neben ihm summte wie ein ins Spiel versunkenes Mädchen, während sie seine Brusthaare kraulte.
Ja, so konnte es bleiben, so wollte er sterben. Sie beide allein auf der Welt in diesem weiten Land unter dem unendlichen Himmel.
Franz versuchte, die quälenden Gedanken, die sich ihm nach Anastasias hervorgestoßenen Worten aufgedrängt hatten, zu verjagen, um den Moment zu genießen. Aber sie drängten mit Macht in sein Bewusstsein.
Von Anfang an beäugten die Russen die deutschen Kolonisten mit Misstrauen. Anders als die marodierenden Horden der Steppenvölker beanspruchten sie allerdings nicht das Land, auf dem sich die Deutschen niedergelassen hatten. Franz glaubte Neid zu spüren, Missgunst und Fremdenhass.
Elendes Pack! Arm und unwissend, faul und unredlich war er, der russische Bauer, der Mushik. Verflucht seien sie alle miteinander. Außer Anastasia.
War es ein Wunder, dass die Deutschen ihre eigene Sprache und Bräuche bewahrten? In bierseliger Stimmung hatte Franz sich in den langen Wintermonaten ein ums andere Mal mit den Russen angelegt. Lustig machten die sich darüber, mit welch hamstergleichem Eifer die Deutschenihre Häuser sauber hielten, als gäbe es nichts Vergnüglicheres zu tun.
Sie waren sich fremd und würden es immer bleiben, die Russen und die maulfaulen Deutschen. Franz hatte noch nie davon gehört, dass eheliche Verbindungen untereinander eingegangen worden wären.
Obwohl sich Franz mit jeder Faser der deutschen Heimat verbunden fühlte und das russische Volk mit Inbrunst verachtete, hatte er sich nun in eine von den Einheimischen verliebt.
Anastasia war viel mehr für ihn als eine Sommerliebelei. Diese Frau bereicherte sein Dasein auf jede nur erdenkliche Weise. Er würde bis aufs Blut um sie kämpfen, und wenn es das Letzte sein sollte, das er tat.
Dummerweise schien es genau darauf hinauszulaufen.
Familie weiß.
Seit sie sich im Frühjahr, als das erste Grün aus dem Erdreich sich der Sonne entgegengereckt hatte, kennengelernt hatten, trafen sie sich einmal die Woche hier am Hüteplatz. Franz wusste nicht genau, warum Anastasia an jenem Tag durch die Steppe gewandert war. Ihre Worte und Gesten verhießen, dass sie irgendetwas in Waidbach zu erledigen hatte. Möglicherweise benötigte sie Medizin aus der Apotheke oder versuchte mit russischen Waren zu handeln. Sie hatten sich angesehen, und um ihn war es geschehen gewesen. Er hatte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen gehaucht, nachdem er ihr den Weg nach Waidbach mit Gesten und Worten wie für eine Taubstumme erklärt hatte. Am nächsten Tag war sie wieder erschienen, hatte sich neben ihn gesetzt, nach seiner Hand gegriffen, und um ihn war es geschehen gewesen. Ohne Worte, ohne Erklärungen, als wäre es von Gott gewollt und gefügt.
Seit diesem Tag fühlte sich Franz dem Himmel nah.
Er hatte inzwischen begriffen, dass sich Anastasias Dorf einen dreistündigen Fußmarsch entfernt befand. Sechs Stunden, hin und zurück, setzte sie Fuß um Fuß durch das Kraut, nur um bei ihm sein zu können. Einmal in der Woche. Wenn das nicht ein Zeichen bedingungsloser Liebe war!
Wenn Matthias davon wüsste!
Als Franz an seinen Bruder dachte, stieß er ein verächtliches Lachen aus. Anastasia neben ihm richtete sich auf, sah ihn fragend an. Zur Antwort nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie.
Als wäre es gestern gewesen, erinnerte er sich an den Abend vor sechs Jahren, als Matthias an seinem letzten Tag in Waidbach zu seiner Hütte geschlichen war und an die Tür klopfend nach ihm gerufen hatte.
Ha, was hatte er sich vorgestellt? Hätte er, Franz, dem Jüngeren folgen sollen wie ein gehorsamer Leibeigener, um in der Saratower Manufaktur Handlangerdienste zu übernehmen?
Franz hatte Matthias hinter dem Fenster verborgen nachgeschaut, wie er mit geradem Rücken gegangen war, dieser Glückspilz, sein kraftstrotzender, hoffnungsfroher Bruder. In den Jahren darauf wuchs sein Groll auf Matthias – der erkämpfte sich tatsächlich das, wovon sie als Jungmänner in Hessen geträumt hatten, mit nichts als Flausen und Wolken im Kopf.
Aber nun, da er in Anastasias Armen neuen Lebensmut schöpfte, schwand der Unmut gegen den Bruder. Irgendwann einmal würde er ihn vielleicht besuchen, würde sehen, was aus der schönen Eleonora geworden war, wie sich die Neffen Justus und Stephan entwickelt hatten. In Franz’ Vision begleitete ihn bei diesem Gang Anastasia als seine Gattin in einer perlenbestickten Tracht, das schönste Eheweib der Welt.
Er richtete sich auf und zog den restlichen Proviant aus dem Säckel, um ihn mit der Geliebten zu teilen. Anastasia nahm den Brotkanten in beide Hände, als sie abbiss. Franz ging das Herz über, als er sie dabei beobachtete.
»Familie sagt nicht mehr kommen zu Franz.« Anastasia kaute mit vollen Backen und sah ihn nun mit geweiteten Pupillen an.
Franz schluckte.
»Das können sie uns nicht verbieten. Wir werden eine Lösung finden«, behauptete er. Sie verstand ihn nicht, und Franz verstand es selbst nicht. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Anastasias Vater und Brüder überzeugen sollte, dass er der Richtige für sie war. Würde Anastasia es ertragen, sich von der Familie loszusagen, um mit ihm in der deutschen Kolonie zu leben?
Sein Verstand war leer, aber sein Herz war voll. Ihre Liebe würde – musste – alle Hindernisse überwinden. Irgendwann würde er die windschiefe Viehhüterhütte vergrößern, würde eine Stube anbauen, die Feuerstelle erneuern, Ehebetten zimmern, und …
Sie wandten gleichzeitig die Köpfe, als vom Dorf her Hufgetrappel erklang. Eine Gruppe von vielleicht einem halben Dutzend jungen Kerlen preschte auf sie zu. Sie johlten und trieben die kurzbeinigen, kräftigen Ponys an.
Franz richtete seine Hose, Anastasia schnürte die Bluse zu und schlüpfte in die Tracht. Als die Reiter vor ihnen hielten, saßen sie wie Bruder und Schwester auf dem Findling.
Anastasia lächelte, Franz nickte ihnen mit verbissenem Mund zu. Was wollten die Heißsporne? Die sollten zusehen, dass sie weiterritten. Drückten die sich vor der Feldarbeit an den Eggen?
Durch sein Einsiedlertum kannte Franz inzwischen nur noch die wenigsten Gesichter der Kolonisten. Die Kinder wuchsen, die Jugendlichen reiften heran, heirateten. Die neuen Deutschen, in den späteren Jahren dazugestoßen, blieben Franz fremd.
Aber den, der voranritt, die strähnigen Haare zu einem Zopf zusammengefasst, die Wangen unrasiert, die Augen blitzend vor Mutwillen, den hatte er schon mal gesehen. Walter hieß er und gehörte zu der aufrührerischen Schmied-Sippe. Von denen kam nichts Gutes. Schmieds Gregor hatte sich damals, in den Jahren des Pugatschow-Aufstands, den Rebellen angeschlossen und war mit gereckter Faust in den Bauernkrieg gegen die Zarin gezogen. Seine Frau Helmine hatte er zurückgelassen.
»Na, Franz, hat dir die Gesellschaft der Schafe nicht mehr gereicht? Glaubst du, dass du mit der Russenhure einen guten Tausch gemacht hast?« Die höhnischen Worte des Kerls wehten über die Steppenlandschaft und drangen wie Giftpfeile in Franz’ Ohren. In seinen Eingeweiden rumorte es.
In früheren Jahren hätte er, ohne nachzudenken, den Kampf gegen die sechs Grünschnäbel aufgenommen. Wie ein Berserker hätte er mit dem Hütestab auf sie eingedroschen. Aber er war gealtert, seine Bewegungen langsam, die Knochen morsch, die Muskeln erschlafft.
»Verdrückt euch, ihr verpestet die Luft!«, zischte Franz ihnen zu.
Die Kerle lachten höhnisch. »Gestank bist du doch gewöhnt mit deinen Viechern und der läufigen Hündin an deiner Seite, Lumpensack!«, rief einer, der sich links neben Walter hielt und sich umschaute, um den Triumph zu genießen, als die Kumpane vor Belustigung grölten.
Franz packte seinen Stab und sprang auf.
Sofort richtete einer der Heißsporne eine rostige Muskete auf ihn. Franz bebte vor Zorn, hörte die Zähne aufeinander knirschen. In seinem Schädel brodelte es, während Anastasia sich dicht hinter ihm hielt. Er spürte ihr Zittern und wie sie sich an seinen Arm klammerte.
»Schert euch davon, oder ich mache dem Dorfschulzen Meldung. Wenn der sich mit dem Provinzbeamten berät, sind die Tage gezählt, bis ihr nach Sibirien geschickt werdet!« Franz spuckte aus.
Die Ponys tänzelten, als die Kerle sie an den Zügeln zurückrissen. Das Lachen aus ihren Kehlen klang schon weniger siegessicher.
Walter wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Anastasia. »Wage es nicht, mit der Schlampe in der Kolonie aufzutauchen. Hör auf meine Worte, Viehhüter Franz Lorenz. Kurzen Prozess machen wir mit jedem Mushik, der es wagt, unseren Dorffrieden zu stören. Ob mit oder ohne den Schulzen!«, fügte er hinzu, bevor er mit einer weit ausholenden Armbewegung seine Kumpane anwies, ihm zu folgen. Kiesel spritzen auf, als die Horde in einer Staubwolke davonstob.
Franz legte den Arm um Anastasia, die nun weinte. Auch ohne die deutschen Worte zu verstehen, hörte sie die Beleidigung. Die angewiderten Mienen sprachen eine Sprache, die jeder verstand.
Die Russen verhöhnten die Deutschen, die Deutschen bekämpften jeden Russen, der es wagte, das ihnen von der Kaiserin zugeteilte Stück Land zu betreten.
Und mittendrin er, Franz, und Anastasia.
Sie würden alle Widerstände überwinden.
Er würde kämpfen mit allem, was ihm noch geblieben war.
Für sie.
Und für sein Leben.
Wie eingesperrt tigerte Klara durch die Stube, als suchte sie nach einem Fluchtweg. Dabei rang sie die Hände, bis sich die Fingerknochen wachsweich anfühlten.
Von der Bettstatt unter dem Dach vernahm sie leises Schnarchen und Schmatzen, die Kinder schliefen fest und träumten.
Herr im Himmel, die Kinder!
Klara fiel von einer Panik in die nächste, während sie sich ausmalte, was es bedeutete, dass dieser Verbrecher nun zu ihrer Dorfgemeinschaft gehören sollte.
Es gab keinen Zweifel: Am Nachmittag hatte sie in das Gesicht des Mannes geblickt, der sie vor vierzehn Jahren vergewaltigt hatte.
An der Seite des Gottesdieners ließ seine Miene keinen Rückschluss auf seinen verderbten Charakter zu – er war nur ein zu Tode erschöpfter weiterer deutscher Auswanderer. Ein gottgefälliger Mann, der seine Familie über viele Monate durchs Land geführt hatte, mit der Hoffnung auf ein bisschen Glück im Gepäck.
Sie war ein Kind gewesen, gerade mal acht Jahre alt, und er hatte sich an ihr vergangen, als sie durch eine Flucht vor ihren Schwestern zu verhindern suchte, dass sie nach Russland zogen. Ihre Verlorenheit, als sie weinend am Wegesrand stand und nicht wusste, ob sie sich nach rechts oder links wenden sollte, hatte der Kerl ausgenutzt.
Aber selbst wenn sie bei Kräften gewesen wäre, hätte sie ihm nichts entgegensetzen können, als er ihr mit seiner nach Unrat stinkenden Hand den Mund zudrückte, bis sie zu ersticken glaubte, sie ins Unterholz presste, ihr die Röcke hochriss und ihr das Vertrauen in die Menschen raubte.
Klara hatte nicht gewusst, was Männer zu tun imstande waren. Sie hatte nicht damit gerechnet zu überleben.
Damals fanden sie die Knechte Matthias und Franz Lorenz, brachten sie heim zu den Schwestern. Die körperlichen Wunden heilten, die Verletzungen an der Seele blieben.
Mit einem Brennen in der Brust erinnerte sie sich daran, wie sie sich mit fünfzehn Jahren aus freien Stücken einem Mann hingab, und war davon überzeugt, dass es kein anderer als Sebastian geschafft hätte, ihr die Todesängste zu nehmen. Doch seine Zartheit, seine Fürsorge, seine geflüsterten Liebesworte an ihrem Ohr hatten sie schmelzen lassen, obwohl ein Teil ihres Verstandes bis heute bei der Liebe wachsam und ängstlich blieb.
Damals hatte es sich für das Kind Klara wie die Hölle angefühlt, heute, mit ihren zweiundzwanzig Jahren, konnte sie die Tat mit dem Verstand einer Erwachsenen verurteilen. Schlimm genug, was Männer Frauen antun konnten, aber einem Kind? Wie viel Schlechtigkeit gehörte dazu?
Immer wenn Klara bei ihrem Gang durch die Stube ans Fenster zur Dorfstraße kam, warf sie einen Blick nach draußen. Wo blieb Sebastian nur?
Sebastian war keiner der Männer, die der Bierbrauer des Dorfes in den frühen Morgenstunden zum Heimweg drängeln musste, weil sie vor dem halbleeren Humpen kein Ende fanden.
Die Stiege knarrte, als Klara einen Fuß darauf setzte, um nach den schlafenden Kindern zu sehen. Der Anblick der entspannten Mädchengesichter verfehlte seine beruhigende Wirkung nie. Vielleicht half es heute, wo sie die Minuten zählte, bis Sebastian aus der Dorfschenke heimkehrte. Sie hatte behauptet, sie fühle sich nicht gut, als Sebastian sie drängte, ihn zu begleiten. Beim Abschied hatte er sie länger als üblich an sich gedrückt.
Im späten Winter würde, wenn alles gut ging, ihr drittes Kind zur Welt kommen, vielleicht im Dezember, vielleicht im Januar. Die Schwangerschaft stand noch am Anfang.
Klara betete, dass es diesmal ein Junge werden würde. Ihr wären auch noch sieben weitere Mädchen lieb, aber Sebastian sehnte sich nach einem Stammhalter, einem Burschen, dem er all das beibringen konnte, was er selbst über Ackerbau und Schmiedekunst, Zimmern und Jagen wusste. Nach einem Jungen, der den Namen Mai in die nächste Generation trug, die das Erbe der Gründer fortführen sollte.
Weil Klara seit ihrer Hochzeit ständig entweder schwanger war oder eines ihrer Kinder stillte, war sie von der Arbeit auf den Feldern, bei den Mühlen und den Backöfen befreit. Die Dorfgemeinschaft hatte festgelegt, dass sie auf schwangere und stillende Mütter verzichten konnten. Sie sollten sich der Pflege des Nachwuchses widmen, denn genauso wichtig wie die Kornkammern für den Winter war das Wachsen und Gedeihen der Kolonie. Wofür schufteten sie, wenn Waidbach aufgrund mangelnder Nachkommen auszusterben drohte? Nein, die Frauen, die Kinder zur Welt brachten, genossen Rücksichtnahme und Wertschätzung.
Ein Schaudern durchlief Klara, während sie vorsichtig die nächsten Sprossen der Stiege erklomm, als sie an die beiden Fehlgeburten zwischen Amelia und Henny dachte, die sie viel Kraft gekostet hatten.
Ihre zweite Schwangerschaft hatte nach einem Sturz von der Dachbodenleiter ein jähes Ende gefunden. Sie hatte laut geschrien, bis die Nachbarn, mit Äxten und Musketen gegen mögliche Räuber bewaffnet, mitten in der Nacht herbeigeeilt waren. Sie hatten mit ansehen müssen, wie Sebastian das Bündel aus Blut und Knochen, das aus Klara herausgedrungen war, in altes Leinen wickelte, um es in den Wald zu tragen.
Auch bei der dritten Schwangerschaft war das Kind schon gut entwickelt, als Klara es unter heftigen, viel zu frühen Wehen verlor. Tagelang hatte sie sich verkrochen und geweint. Nur die Sorge und die Verantwortung für ihre Tochter Amelia, die sich manchmal tröstend zu ihr ins Bett kuschelte, hatte sie getrieben, wieder am Leben teilzunehmen.
Als sie mit Henny schwanger ging, war ihr ständiger Begleiter die Furcht, dass das Kind ihr erneut weggeholt werden könnte. Umso größer die Freude, als nach neun Monaten ihr zweites Mädchen zur Welt kam, mit blauen Murmelaugen und zahnlosem Mündchen die Mutterbrust suchend.
Auf der fünften Sprosse hörte sie das Knarren der Tür. Sebastian! Sie wandte sich um und sprang herunter, federte ihr Gewicht ab und lief auf ihn zu.
Sebastian lachte und küsste sie links und rechts auf die runden Wangen. »Ich war nur ein paar Schritte entfernt, Klärchen, und das nur für knapp zwei Stunden. Schon vergehst du vor Sehnsucht? Ich nehme es als Kompliment.« Er senkte den Mund auf ihre Lippen, wollte sie küssen.
Doch Klara wandte sich ab. »Mir ist nicht zum Scherzen zumute, Sebastian. Ich bin nur froh, dass du da bist. Erzähl! Wie war es? Was berichten die neuen Kolonisten? Haben sie sich vorgestellt? Welches Handwerk haben sie gelernt?« Beim Sprechen fühlte sich ihre Brust an, als läge ein Pflasterstein darauf.
»Wollen wir uns nach draußen auf die Bank setzen? Dann berichte ich dir alles.«
Klara schüttelte den Kopf so heftig, dass sie ihre Haube richten musste. »Nein, lieber hier am Tisch.« Sie wollte heute niemandem mehr begegnen.
Sebastian erzählte, dass die Not in den deutschen Gebieten nicht geringer war als damals, als das Russlandfieber grassiert hatte. An den Fürstenhöfen lebten sie in Protz und Prunk wie eh und je, und in den Bauernstuben verreckten die Kinder und Alten vor Hunger. Nichts hatte sich verändert, obwohl es hieß, aus Paris drängen aufrührerische Parolen von Freiheit und Gleichheit für alle. »Wohin das wohl führen soll? Und ob sich die Preußen in einen weiteren Krieg verwickeln lassen? Der bringt am Ende nichts als neue Not. Stell dir vor, Klärchen, die Heere der Preußen standen den Österreichern in Bayern auf dem Schlachtfeld gegenüber, ohne dass es zu einem Gefecht kam, weil alle sich nur darum sorgten, wie sie Lebensmittel beschlagnahmen konnten. Ein Kartoffelkrieg!« Sebastian lachte auf. Klara bemühte sich, einzustimmen. »Die Zarin persönlich hat den Frieden in diesem denkwürdigen Kampf herbeigeführt.« Ein Hauch von Stolz schwang in Sebastians Stimme mit, dass sie Untertanen im Reich der mächtigsten Frau der Welt sein durften. Er drückte Klara einen Kuss auf die Wange und zog sie an sich.
»Wir können froh sein, dass wir weit weg sind von den Schlachtfeldern und den verwaisten Äckern«, sagte er, aber es klang halbherzig. Viel besser als den Deutschen in ihren zersplitterten Teilstaaten unter Friedrich dem Großen erging es den Kolonisten nicht, obwohl Zarin Katharina überall in der europäischen Politik ihre Finger im Spiel hatte und obwohl sich die Kolonisten, von der Wehrpflicht befreit, aus allen Gefechten heraushalten konnten, die die Regentin im Zuge ihrer Expansionspolitik führte.
»Was sind das für Leute?«, fragte Klara.
»Hm?« Sebastian sah auf.
»Die neuen Waidbacher! Nun erzähl schon! Was interessieren mich die Schlachten, die uns nicht betreffen? Ich will wissen, wen wir künftig in unserer Nachbarschaft haben!«
»Ach, Klärchen, nun grummele nicht. Die machen alle einen ordentlichen Eindruck. Wart nur ab, bis sie gewaschen und rasiert sind und sich von den Strapazen erholt haben.«
Es handelte sich um zwei Familien mit Kindern sowie ein frisch vermähltes Ehepaar, fuhr Sebastian fort. Das junge Ehepaar und die eine Familie stammten aus Kassel, die zweite Familie kam direkt aus Büdingen.
Klara stockte der Atem. Das musste er sein.
Das Ehepaar waren ein Knecht und eine Magd, die sich bis zuletzt auf einem hochherrschaftlichen Gut verdingt hatten. Für sie fand man in Waidbach bestimmt zahlreiche Aufgaben. Der Familienvater aus Kassel war Schmied und wollte gleich am Morgen in der dörflichen Werkstatt vorsprechen.
Was die Familie aus Büdingen betraf …
Klara schluckte und rückte näher an ihren Mann heran. Sie verkrampfte die Finger ineinander, um das Zittern zu verbergen.
Sebastian schmunzelte und wiegte den Kopf. »Nun, der Joseph Müllau scheint ein lustiger Geselle zu sein. Er hat uns ununterbrochen zum Bier eingeladen, verständlich nach den Entbehrungen der letzten Wochen. Er wusste allerlei kurzweilige Geschichten vom alten Fritz zu erzählen. Und er scheint viel herumgekommen zu sein und hatte sein Ohr überall. Womit er sein Brot verdient, habe ich nicht begriffen. Aber angeblich verdingt er sich im Handel, als Bote und Mittelsmann. Wir werden sehen, wie er dem Dorf nützlich sein kann.«
Ein lustiger Geselle! Eine kalte Hand schien nach ihrer Kehle zu greifen. »Manchmal täuscht der erste Eindruck. Vielleicht hat er nur den Scherzbold und Weitgereisten gespielt, um euch zu beeindrucken?«
Sebastian zog die Brauen hoch. »Warum denn nur so misstrauisch, Klärchen?«
»Nicht misstrauisch.« Klara wischte über den Tisch, als wollte sie Krümel wegfegen. »Gesunder Menschenverstand. Du kannst dir noch kein Urteil über ihn erlauben nach dem ersten Abend.«
»Aber du, obwohl du ihn noch gar nicht kennst?«, gab Sebastian mit liebevollem Spott zurück.
Klara spürte Hitze in ihren Wangen. War jetzt nicht der rechte Zeitpunkt, ihrem Mann zu erzählen, warum und woher sie Joseph Müllau kannte?
Würde es sie nicht entlasten, wenn sie ihre Befürchtungen, die Erinnerungen und das Wissen mit dem Gatten teilte?
Warum sie es nicht tat, warum sich ihr Hals anfühlte, als passte keine Silbe mehr hindurch, wusste sie selbst nicht zu sagen. Vielleicht war es Scham darüber, dass Sebastian nun den Mann kannte, der mit ihr das getan hatte, was nur der Liebste tun sollte. Vielleicht war es die Befürchtung, dass Sebastian – obwohl er keineswegs zu unbedachten Handlungen neigte – sie rächen wollen und sich selbst und sie mit den Kindern in Gefahr bringen würde.
Vielleicht würde er ihre Erkenntnis als Trugschluss abtun, als Streich, den ihr der Verstand spielte. Einen solchen Zufall gäbe es nicht, dass es den Vergewaltiger aus ihrer Kindheit ausgerechnet in das Dorf im russischen Steppenland zog.
Vielleicht war es von allem ein bisschen, was Klara nun aufstehen ließ, bevor sie ihrem verdutzten Mann einen Kuss auf die Wange drückte und ohne ein weiteres Wort, mit hängenden Schultern und bleischwerer Sorgenlast, zu Bett schlich.
Aus weiter Ferne drang mit dem Nachtwind das Heulen von Wölfen durch die Fensterritzen, ein Geräusch, an das sich Klara nie gewöhnen würde. Sie fröstelte und rieb sich die Arme.
Der liebe Gott hatte ihr eine weitere Bürde aufgelastet. Sie würde sie allein tragen. Ihre Familie – das Liebste, was sie auf der Welt besaß – sollte unbeschwert in die Zukunft gehen.
Gelitten hatten sie allesamt lange genug.
Sie würde die zermürbenden Gedanken und die schlaflosen Nächte aushalten.
Und wachsam sein.
Seit den frühen Morgenstunden hatte Eleonora Lorenz die Stadtwohnung geputzt, das Silber poliert und den Teig für den Mandelkuchen geknetet, der jetzt seinen butterigen Duft verströmte. Anna, die runzelige Russin mit dem Kartoffelgesicht und den Knopfaugen, die ihr unter der Woche bei den Hausarbeiten und der Beaufsichtigung der Söhne half und die die Kinder Babuschka nennen durften, hatte an diesem Samstag frei.
Eleonora ließ es sich nicht nehmen, ihren liebsten Gast persönlich zu bewirten. Lange genug hatte sie als bettelarme Weberin in Hessen, später als Kolonistin in der russischen Steppe alle hausfraulichen Herausforderungen tadellos gemeistert. Das Kochen und Backen hatte stets zu ihren angenehmsten Pflichten gehört – zumal, wenn sich die Regale in der Vorratskammer unter Mehlkisten und Eierkörben, Butterfässern und Milchkrügen bogen, was dieser Tage nicht allerorten selbstverständlich war.
Hoffentlich hielt Daniel Wort und kam tatsächlich heute! Sie sehnte sich danach, zu erfahren, wie es ihrer Tochter Sophia nach drei Monaten in der russischen Hauptstadt erging und was ihre Nichte Alexandra erlebt hatte.
War Sophia bei der Kunstdozentin Mascha gut untergeschlüpft?
Gab es eine große Versöhnung zwischen Alexandra und ihrer Mutter Christina?
Vor zwei Wochen hatte Daniel Meister seinen Besuch auf halbem Weg in einer Nachricht aus Moskau angekündigt.
Daniel war seit vierzehn Jahren ein guter Freund der Familie, seit sie sich bei der Einwanderung nach Russland im Hafen von Lübeck kennengelernt hatten. Wie kein zweiter kannte der ehemalige Handwerksgeselle aus Berlin sich in den Weiten des Zarenreichs aus, mochte nirgendwo sesshaft werden und bildete sich unermüdlich fort auf seinen Reisen zwischen Saratow, Moskau und Sankt Petersburg.
Seit der Postkutscher die Nachricht von seiner Rückkehr gebracht hatte, arbeitete es hinter Eleonoras Stirn wie in einem Räderwerk, und sie vermochte keine Minute still zu sitzen.
Ohnehin verging kaum ein Tag, an dem sie nicht an Sophia dachte. Manchmal spürte sie ihr Gewissen, weil sie durch die Sorgen um ihre einzige Tochter die beiden Söhne zu vernachlässigen drohte. Aber, ach … Die beiden waren stark, jeder auf seine Art, sie waren Jungen in einer Männerwelt, geborgen in ihrem Elternhaus. Sophia dagegen war als zerbrechliche junge Frau im Juni allein hinausgegangen in die brodelnde Hauptstadt des Zarenreichs.
Wenn Daniel heute anreiste, passte es vortrefflich, dass sich Matthias wie an jedem Samstag mit seinem Kompagnon Oscar Hartung im Badehaus verwöhnen ließ und erst später dazukommen würde. Matthias interessierte das Wohlergehen der beiden Mädchen zwar genau wie sie, aber ihre detailreichen Fragen stellte sie Daniel zunächst lieber ohne die belustigten Kommentare ihres Mannes, der ihr ständig nur halb im Spaß vorwarf, sie benähme sich wie eine Glucke und sollte Sophia endlich eigenständig werden lassen.
Wie stellte er sich das vor? Sie musste doch wissen, ob ihre Tochter keine Not litt! Aber gut, sie hatte Zeit für solche Grübeleien, weniger Ablenkung als er. Der Haushalt, die Jungen, der Literaturkreis, den sie gegründet hatte … Es blieben genug Stunden, in denen ihre Bedenken ins Uferlose wachsen konnten.
Was, wenn Sophia unter Heimweh litt? Wenn sie fürchtete, sich mit den anderen Studenten nicht messen zu können? Wenn sie keine Freundinnen fand? Wenn sie erkrankte und niemand da war, der ihr die Stirn fühlte, die Decke um sie feststeckte, ihr Kräutertee und Hühnersuppe einflößte?
Matthias dagegen beschäftigte sich von den frühen Morgenstunden bis zur Nachtruhe mit Rechnungen und Aufträgen, Buchhaltung und Materialprüfung in der Seidenmanufaktur des Deutschen Oscar Hartung und sorgte für ihren Lebensunterhalt – da blieb für solche Grübeleien keine Zeit.
In Saratow florierten die drei von Einwanderern angelegten Fabriken. In einer entstanden Hüte, in der anderen baumwollene Tücher und Schärpen. Hartung hatte sich auf Seidenwaren spezialisiert. Wie seine verstorbene Gattin stammte er aus Leipzig und hatte, ehe er nach Saratow übersiedelte, bereits eine Fabrik in Polen zum Blühen gebracht – ein tüchtiger Unternehmer, von dessen Fachwissen die Region fernab der russischen Hauptstadt nur profitieren konnte.
Die Regierung hatte ihn wie alle Fabrikanten mit einem üppigen Vorschuss und einem Wohnhaus mitten im Zentrum der Stadt ausgestattet.
Die ersten Monate hatte Matthias neben drei weiteren Deutschen und zwei Tartaren als Angestellter in der Produktion gearbeitet, aber obwohl er sich am Webstuhl und bei der Verfertigung geschickt anstellte, zeigte sich bald, dass sein wahres Geschick auf anderen Gebieten lag.