Die englische Gärtnerin – Weißer Jasmin - Martina Sahler - E-Book

Die englische Gärtnerin – Weißer Jasmin E-Book

Sahler, Martina

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Beschreibung

Charlottes Träume wachsen in den Himmel 1929: Charlotte ist eine anerkannte Rosenzüchterin, ihr Anwesen Summerlight House gilt als Inbegriff Englischer Gartenkunst. Doch in der Wirtschaftskrise sind Haus und Garten kaum noch zu unterhalten. Unvermittelt taucht der verschollen geglaubte Besitzer des Gutes auf. Charlotte droht, alles zu verlieren, was sie sich aufgebaut hat. Ihre letzte Hoffnung gilt Kew Gardens, wo ihr Traum von einem freien Leben als Botanikerin begann. Ein verwildertes Anwesen in England und eine Frau zwischen alten Wünschen und neuer Liebe.

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Die englische Gärtnerin – Weißer Jasmin

Die Autorin

Martina Sahler lässt sich bei der Gestaltung ihres eigenen Gartens am liebsten von den englischen Botanikern inspirieren und verbringt im Frühjahr, Sommer und Herbst viel Zeit mit der Recherche in England, bevorzugt in Sissinghurst und Kew Gardens. Mit ihren bisherigen historischen Serien hat sie eine begeisterte Leserschaft gewonnen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln. www.martinasahler.de

Das Buch

Rückkehr nach Kew Gardens 1929: Charlotte ist eine anerkannte Rosenzüchterin, ihr Anwesen Summerlight House gilt als Inbegriff englischer Gartenkunst. Doch in der Wirtschaftskrise muss Charlottes Ehemann Victor seine Fabrik schließen, Haus und Garten sind kaum noch zu unterhalten. Unvermittelt taucht der verschollen geglaubte Besitzer des Hauses auf und zwingt die Brombergs, Summerlight House zu verlassen. Als die Koffer gepackt sind, stirbt Victor an einem Infarkt. Und der junge Gärtner Quinn, der für sie stets eine Stütze in schweren Zeiten war, folgt seiner Frau nach Irland. Mittellos zieht Charlotte mit ihrer kleinen Tochter nach London. Ihr Leben ist armselig, doch sie setzt alle Hoffnungen darauf, eine Anstellung in Kew Gardens zu bekommen.Englische Gartenkunst, unbändige Blütenpracht und eine junge Frau, deren Träume in den Himmel wachsen.

Martina Sahler

Die englische Gärtnerin – Weißer Jasmin

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein TaschenbuchAugust 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: bürosüd GmbH, MünchenTitelabbildung:Arcangel Images / Rekha Arcangel (Frau);Mauritius Images (Landschaft, Haus)Autorinnenfoto: © franzhamm.deAlle Rechte vorbehalten. E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com (2)

ISBN 978-3-8437-2146-2

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

März 1929

Das Hupen am Piccadilly Circus war ohrenbetäubend, die Abgaswolke unerträglich. Charlotte und Debbie husteten und mussten schreien, um sich zu verständigen. Zahllose Automobile verstopften den Platz und die Straßen, die von ihm abgingen. Jeder schien zu glauben, man könne den Stau durch Lautstärke auflösen. Eine Gruppe von Demonstranten, die die komplette Breite der Straße beanspruchte, hielt den Verkehr auf. Keinem der Autofahrer kam in den Sinn, den Motor solange abzustellen.

Wie hatte sich die Metropole verändert! Charlotte war in den vergangenen Jahren häufig in London gewesen. Obwohl Maidstone und Canterbury gute Einkaufsmöglichkeiten boten, war die Vielfalt in der Hauptstadt doch am größten. Aber nie zuvor hatte sie den Wandel deutlicher gespürt als an diesem Samstagmorgen beim Einkaufsbummel mit ihrer Schwester. Sie war so an das Leben auf ihrem idyllischen Anwesen und mit dem prachtvollen Garten gewöhnt, dass sie sich inmitten der von Elektrizität geprägten Großstadt wie aus der Zeit gefallen fühlte. Wie sehr unterschied sich ihr Alltag auf dem Land von dem Leben der Menschen in der Metropole. Sie würde nicht tauschen wollen.

Kinos waren neben Tanzhallen, Clubs und Cafés wie Pilze aus dem Boden geschossen. Odeon, Astoria, Gaumont und wie sie alle hießen brachten Hollywood-Glamour ins Zentrum und boten Platz für bis zu zweitausend Menschen. Auf dem regennassen Asphalt schillerten im Grau des Tages die neonbunten Reklamelichter der Stadt. Die Frauen kleideten und schminkten sich wie Gloria Swanson, Jean Harlow oder Greta Garbo, drehten sich die Haare zu Locken und legten ihren besten Schmuck an, der funkelte wie Diamanten, auch wenn es nur Glassteine waren. Charlotte und Debbie passten sich zwar der Mode an, aber es wäre ihnen im Traum nicht eingefallen, Glassteine als Schmuck zu tragen. Die Lichtspielhäuser jedoch besuchten sie regelmäßig, und vorab informierten sie sich in Film Weekly über ihre Leinwandhelden. All talking, all dancing, all singing. Die Zeit des Stummfilms war vorbei. Das Kino war eine eigene Welt geworden, deren Faszination sich niemand entziehen konnte. Wachstum und Wandel waren nicht zu stoppen.

Charlotte mochte sich nicht vorstellen, wie wild und zügellos es in den berüchtigten Vierteln Londons bei Nacht zuging. Sie passierten zahlreiche Clubs, deren Türen um diese Zeit noch verschlossen waren. Erst wenn sich die Dunkelheit wie eine alles verhüllende Decke über die Dächer senkte, würden sie zum Leben erwachen. Nicht Charlottes Welt – und zum Glück auch nicht Debbies. Dankbarkeit erfüllte Charlotte jedes Mal, wenn sie nach Summerlight House heimkehrten, wo das Leben wenig glamourös und schnelllebig war, sondern die Jahreszeiten den Rhythmus vorgaben.

In der Stadt dagegen schienen alle Menschen in Eile zu sein, hasteten mit gesenkten Köpfen durch den Nieselregen und strebten ihren Wohnungen zu. Und überall Menschenschlangen: Die einen warteten in ihren pelzbesetzten Roben darauf, in die Lichtspielhäuser eingelassen zu werden, um Bessie Love in The Broadway Melody zu bewundern. Die anderen standen bettelnd mit ihren hohlwangigen Kindern an den Ausgängen der Läden. Niemals war die Schere zwischen Arm und Reich in London größer gewesen.

Trauben von Arbeitern verließen zum Feierabend Fabriken und Büros, aber mehr noch hockten in dunklen Ecken oder hatten sich zu diesem Hungermarsch zusammengeschlossen, der den Schwestern nun entgegenkam. Männer in abgerissener Kleidung, die Gesichter grau und verzerrt, hatten sich zusammengerottet, um gegen die Schließung eines Stahlwerks zu demonstrieren. Mit ihrer Arbeit in der Fabrik hatten sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie verdient. Ihre Frauen und Kinder hockten zu Hause und hungerten, während die Männer wütend ihre Plakate – All Power to the Workers! – in die Luft reckten und in Trillerpfeifen bliesen.

Charlotte fasste nach Debbies Ellbogen und zog sie hastig an den Menschen vorbei. Sie hatte großes Mitgefühl mit den Arbeitern, aber wer wusste, wozu sie in ihrer Verzweiflung fähig waren, wenn ihnen zwei junge Frauen in teuren Mänteln begegneten? Viele trugen ihre Werkzeuge – Hammer, Schaufeln und Feuerzangen – bei sich.

»Hoffentlich finden sie bald wieder Arbeit«, murmelte Debbie, ohne den Blick von den Demonstranten zu nehmen.

»Es wird eher schlimmer. Mit unserer Wirtschaft geht es bergab«, erwiderte Charlotte. Auf ihrem Landsitz in Kent lief von morgens bis abends das neu angeschaffte Radio mit den Nachrichten aus allen Teilen des Landes. Überall wurde gestreikt und protestiert. Eine solche Demonstration nun mit eigenen Augen zu sehen erschütterte Charlotte. Unwillkürlich fragte sie sich, wohin die Wirtschaftspolitik des Landes noch führen würde.

»Möchten Sie Bohnensprösslinge kaufen, Madam?« Ein hoch aufgeschossenes Mädchen, etwa in Debbies Alter, trat ihnen mit einem Bauchladen in den Weg. Ihre schmutzig blonden Haare waren modisch kurz geschnitten, aber man sah überdeutlich, dass kein Friseur Hand angelegt hatte. Vermutlich hatte sie es selbst versucht. Sie trug ein zerschlissenes dunkelblaues Kleid, aus ihren Schuhen lugten die Zehen hervor. Charlotte erfasste dies alles im Bruchteil einer Sekunde, und auch das Flehen in den Zügen der jungen Frau. Es versetzte ihr einen Stich. Wie ungerecht alles verteilt war im Leben. Sie selbst schwelgte im Luxus, und dieses Mädchen bekam vermutlich kein Abendessen, wenn sie ihre Bohnensprösslinge nicht verkaufte. Es gab an mehreren Ecken in London Speisungen für die Armen, aber wer zu spät kam, ging leer aus.

»Lass mal sehen, was du da hast.« Debbie trat einen Schritt vor und lugte neugierig in den Holzkasten, dem eine mit Scharnieren befestigte, sauber geputzte Glasplatte als Deckel diente. Möglicherweise war diese Kiste der kostbarste Besitz der jungen Frau, ging es Charlotte durch den Sinn. Das Glas war von innen beschlagen, aber als das Mädchen es anhob, sahen sie sauber in Reihen aufgestellte, aus Zeitungspapier gefaltete kleine Pflanzgefäße. In jedem Behälter lag etwas Mutterboden, und daraus wuchs ein zweiblättriger Stängel. An manchen hingen noch die Reste der Saatbohne.

Unwillkürlich glitt ein Lächeln über Charlottes Gesicht. »Was für eine schöne Idee, die Pflänzchen zu verkaufen. In wenigen Monaten können deine Käufer ernten.«

Das Mädchen erwiderte ihr Lächeln. Es sah aus, als hätte jemand das Licht angeknipst. Die dunklen Schatten um ihre Augen und Mundwinkel verschwanden. »Ein paar Pflanzen behalte ich immer selbst, damit mir die Saatbohnen nicht ausgehen.«

»Du musst sie vor Kälte schützen«, bemerkte Charlotte.

Die junge Frau nickte. »Ich weiß. Und ich muss sie feucht halten und in die Sonne stellen. Die Glasplatte wirkt wie ein Gewächshaus. Ideales Klima zum Wachsen.«

Bohnen waren leicht heranzuziehen, dennoch erstaunte es Charlotte, dass die junge Frau sich damit offenbar über Wasser hielt. »Verkaufst du nur Bohnen?«

Eine fleckige Röte überzog den Hals der Verkäuferin. »Ich experimentiere noch, um auch Karotten, Schnittlauch und Kartoffeln anbieten zu können.«

Debbie wandte sich an ihre Schwester. »Wollen wir welche nehmen?«

»Ich gebe Ihnen drei Setzlinge für fünf Penny«, rief das Mädchen. »Ach bitte, Madam!«

Charlotte lächelte ihr zu und griff in ihre Handtasche. »Wir haben noch viel vor heute, dabei würden die Pflanzen nur stören. Ich gebe dir die fünf Penny und hole die Pflanzen auf dem Rückweg ab. Einverstanden?«

Das Mädchen machte runde Augen. »Aber was, wenn ich bis dahin mit dem Geld über alle Berge bin?«

»Dann weiß ich, dass du mein Vertrauen nicht verdient hast.« Damit wandte Charlotte sich ab und ging an ihr vorbei.

»Fragen Sie nach Letitia Hancock, man kennt mich hier!«, rief ihnen das Mädchen hinterher.

Ohne sich umzudrehen, hob Charlotte in ihrem eleganten Kaschmirmantel einen Arm zum Abschied. Hundert Meter weiter auf der Regent Street lag die Schneiderei mit den Hochzeitskleidern. Dort sollte bei Debbie heute Maß genommen werden. Vielleicht fanden sie aber auch ein bereits fertiges Kleid.

Debbies anstehende Hochzeit hielt Charlotte in diesen Tagen auf Trab. Selbst ihren geliebten Garten überließ sie weitgehend Harriet, obwohl sie im April die Tore wieder öffnen wollte und es bis dahin mehr zu tun gab, als es eine allein schaffen konnte.

Debbie war wichtiger. Es sollte der schönste Tag in ihrem Leben werden. Wie ihre Mutter Elizabeth es getan hätte, stand Charlotte der jüngeren Schwester mit Rat und Tat zur Seite. Deswegen musste auch die Arbeit an ihrer Dissertation ruhen. Nach dem Besuch der Linnean Society vor drei Jahren hatte Charlotte angefangen, ihre Aufzeichnungen zusammenzutragen und ein Exposé anzufertigen, mit dem sie sich an der botanischen Fakultät der University of London vorstellen wollte in der Hoffnung, einen Betreuer für ihre Dissertation zu finden. Aber sie verschleppte die Arbeit, kam nicht so gut voran, wie sie gehofft hatte. Das zweite Zimmer, das neben dem Schlafzimmer zu ihrem privaten Trakt gehörte, hatte sie mit Victors Einverständnis zu einem Studierzimmer umgestaltet mit einem wuchtigen Schreibtisch in der Mitte und zahlreichen Regalen voller Bücher, Hefte und Manuskripte. Prunkstück in der Mitte des Schreibtisches war die Schreibmaschine, ein Erbstück ihrer Mutter. Immer, wenn Charlotte darauf tippte, musste sie an sie denken und wie schwer es ihr mit ihrer Krankheit gefallen war, die richtigen Buchstaben zu treffen. Victor nannte es nur das Chaoszimmer. Auf Außenstehende musste das Zimmer wirken, als wäre ein Sturm durchgefegt, aber Charlotte hatte ihre eigene Ordnung, der Parkettboden diente als Ablagefläche. Als Arbeitstitel für ihr Exposé hatte sie Die Schönheit öffentlicher Gärten gewählt. Vielleicht käme sie heute Abend doch noch dazu …

Debbie riss sie aus ihren Gedanken. »Sie wird auf dem Rückweg nicht mehr da sein«, sagte sie und zog Charlotte zwischen den stehenden Autos hindurch auf die andere Straßenseite.

Charlotte brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, dass Debbie über das Bohnenmädchen sprach. »Wir werden sehen.«

Die Türglocke ertönte silberhell, als die beiden Schwestern das Brautmodengeschäft betraten. Der Geruch nach Lavendel und Zitrone schlug ihnen entgegen, ein angenehmer Gegensatz zu den stinkenden Abgasen draußen vor der Tür. Ein Kronleuchter schmückte den Verkaufsraum und warf Licht auf die exquisiten Modelle. Debbie schaute sich ergriffen um. Sie hatte Charlotte bereits daheim auf Summerlight House ihre Vorstellungen beschrieben und mit geübter Hand ihr Traummodell skizziert. Ob sie genau dieses Kleid hier finden würde, stand in den Sternen, aber für ihren Verlobten Alex McLaren würde sie in jedem Fall die schönste Braut aller Zeiten sein.

Eine Verkäuferin kam mit freundlicher Miene auf sie zu und begrüßte sie. Kurz darauf saß Charlotte auf einem Samtsessel, neben sich auf dem Beistelltisch ein Glas Champagner und eine Schale mit Käsecrackern, während Debbie mit der Schneiderin ihre Wünsche besprach.

Wer hätte das gedacht. Ihre wilde kleine Schwester konnte nicht nur ein abgeschlossenes Kunststudium vorweisen, sondern würde bald auch den angesehenen Alex McLaren heiraten, der in Wirtschaftswissenschaften promoviert hatte und sich künftig vermutlich um den elterlichen Hof in ihrer Nachbarschaft kümmern würde. Vielleicht zog das Paar auch nach Summerlight House? Victor hatte es ihnen angeboten, er konnte Hilfe gebrauchen, aber die beiden hatten sich noch nicht entschieden.

Debbie hielt sich vor dem deckenhohen Spiegel ein Kleid mit Spitzen an den Ärmeln und einer Taillenschärpe vor den Leib. »Was meinst du, Charlotte? Ist das schön?«

»Es ist ein Traum«, bestätigte Charlotte und lächelte. Debbie konnte ohnehin tragen, was sie wollte. Sie sah mit ihrer biegsamen Figur und dem weizenblonden Bubikopf immer fantastisch aus.

»Welchen Schleier würden Sie mir dazu empfehlen?«, wandte sich Debbie an die Verkäuferin, die gleich in die hinteren Lagerräume lief, um etwas Passendes zu suchen.

Viele Jahre lang war ihr Debbie mit ihrer impulsiven Art trotz aller Geschwisterliebe auf die Nerven gegangen. Und nun stand hier eine muntere junge Frau vor ihr, immer noch vorwitzig und aufgekratzt, aber der Rolle des Sorgenkindes entwachsen. Debbie hatte das Studium in nur drei Jahren absolviert und mit guten Noten abgeschlossen. Charlottes größte Angst hatte Debbies Lebenswandel in Cambridge gegolten, denn natürlich traf sie sich dort mit Alex, aber wie weit würde sie gehen? Charlotte befürchtete, dass es Gerede geben könnte, dass sich Gerüchte verbreiteten. Dabei hatte sie beste Vorsorge getroffen: Sie hatte für Debbie ein Zimmer zur Untermiete im Haus einer älteren Witwe gefunden. Charlotte hatte den Mietpreis großzügig aufgerundet, verbunden mit dem Wunsch, dass die alte Dame ein Auge auf Debbie hatte. Mrs Wood hatte gekichert und versprochen, jeden jungen Kerl zu erschießen, der sich Zugang zu Debbies Zimmer verschaffen wollte.

Heute musste Charlotte selbst darüber lachen, aber damals war sie froh gewesen, eine Mrs Wood auf ihrer Seite zu haben. Charlotte nahm die Verantwortung für ihre jüngere Schwester ernst, seit ihre Mutter vor sechs Jahren gestorben war. Natürlich hatte sie nicht jede Stunde in Debbies Leben unter Kontrolle, wie im vergangenen Herbst, als Debbie, ohne sie zu fragen, mit Alex für eine Woche nach Schottland gereist war, um seine Familie mütterlicherseits kennenzulernen. Sie war völlig begeistert heimgekehrt und hatte nicht nur von Alex’ Lieblingsonkel Angus Baird geschwärmt, sondern auch von dessen Landgut. Kurz hatte Charlotte befürchtet, es zöge sie mit ihrem zukünftigen Mann in die Highlands, aber nein, Debbie wusste, dass sie nach Kent gehörte.

Ein Seufzen entfuhr ihr, als ihre Gedanken zu ihrem Bruder Robert gingen. Er unterrichtete an der University of Stanford, Tausende Meilen entfernt jenseits des Atlantiks. Trotz seiner Querschnittslähmung hatte er dort den Doktortitel in Medizin erworben. Sie vermisste ihn, obwohl er lange Zeit ein gebrochener, missmutiger Mann gewesen war. Vielleicht hatte er in Amerika zu seiner alten Lebensfreude zurückgefunden.

Nachdem er ausgewandert war, bedeutete Charlotte die Nähe zu ihrer Schwester viel. Familie hatte schon immer eine besondere Stellung in ihrem Leben eingenommen.

Auch Aurora vermisste sie, Roberts Frau und Charlottes Freundin. Sie freute sich unbändig darauf, dass die beiden mit ihrer inzwischen sechsjährigen Adoptivtochter Claire zu Debbies Hochzeit anreisen würden.

Die Verkäuferin brachte einen ganzen Arm voller Brautkleider, die Debbie in der Umkleidekabine nacheinander anzog und anschließend Charlotte präsentierte. Keines davon traf jedoch ihren Geschmack, alles war entweder zu langweilig oder zu konservativ.

»Wenn du so weitermachst, sitzen wir morgen früh noch hier«, bemerkte Charlotte mit einem Grinsen. Sie hatte bereits zu mehreren Kleidern ihre Zustimmung gegeben, aber Debbie war offenbar auf der Suche nach etwas ganz Besonderem.

Schließlich trat sie in einem perlweißen bodenlangen Kleid mit Lochstickerei an den kurzen Ärmeln und am spitz ausgeschnittenen Dekolleté aus der Umkleidekabine. Als sie mit ausgestreckten Armen eine Pirouette drehte, konnte Charlotte sehen, dass der Rückenausschnitt bis weit über die Schulterblätter hinausreichte, und sog scharf die Luft ein. Wenn es Debbies Ziel war, mit Extravaganz Aufmerksamkeit zu erregen, dann würde sie es erreichen. So unschuldig das Kleid von vorne wirkte, so frivol präsentierte es sich auf der Rückseite.

»Bist du sicher?« Charlotte starrte ihre Schwester entgeistert an.

Debbie stoppte in der Bewegung. »Gefällt es dir nicht?«

»Nun ja, ich finde es ein bisschen gewagt.«

Debbie lachte auf. »Ich bin die Braut, ich darf das!«

Charlotte zuckte mit den Schultern. »Du machst ja doch, was du willst. Wenn du dich wohlfühlst, dann lass es uns kaufen.«

Die Verkäuferin hob eine Hand. »Ich müsste noch ein paar Abnäher in der Taille setzen und den unteren Saum um einen Fingerbreit kürzen, damit die Braut sich mit den Schuhen nicht darin verfängt.«

»Aber bezahlen können wir es gleich, nicht wahr?« Charlotte suchte bereits in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie.

Die Verkäuferin bekam rote Wangen und wischte sich fahrig über die Stirn. »Nun, der Stoff ist reine Seide, die Stickereien sind handgeklöppelt, und …«

Charlotte schloss für einen Moment die Augen. »Sagen Sie mir einfach den Preis. Wir haben noch viel vor heute, nicht wahr, Debbie?«

Debbies Stimme war nur gedämpft aus der Umkleidekabine zu hören. »Aber mit dem Kleid haben wir schon einmal das Wichtigste.«

Als sie kurz darauf die Brautmodenschneiderei verließen, war der Verkehr draußen wieder ins Fließen gekommen. »Schuhe, Strümpfe, Wäsche?«, erkundigte sich Charlotte bei Debbie und hakte sich bei ihr ein.

»Ja, in dieser Reihenfolge. Lass uns in die Hunter Street gehen. Ein Spaziergang durch die Stadt zum Laden von Miss Evans wird uns guttun. Ich will sehen, wie es ihr geht.«

»Du willst Erinnerungen auffrischen, stimmt’s? Du kannst nur enttäuscht werden. Wir sollten es lassen.«

Doch Debbie beharrte auf dem Umweg. »Was ist falsch daran, wenn ich das Haus sehen will, in dem ich aufgewachsen bin? Vielleicht treffe ich Tom Emerson im Geschäft seines Vaters. Ich würde gerne sein Gesicht sehen, wenn ich ihm sage, dass ich mir gerade ein Brautkleid gekauft habe.«

Charlotte verdrehte die Augen. »Du bist unverbesserlich, Debbie«, schimpfte sie, wandte sich aber in nordöstliche Richtung.

Bis zur Hunter Street gingen sie eine knappe halbe Stunde. Neugierig sahen sie sich in den Straßen um, die ihr Antlitz in den vergangenen zehn Jahren verändert hatten. Mehrere Textilfirmen wirkten verlassen mit ihren eingeschlagenen Scheiben und bröckelnden Mauern. Eine vierstöckige Filiale von Marks & Spencer nahm den kleineren Läden die Sonne. Schon von Weitem sahen sie, dass es das Kolonialwarengeschäft der Emersons nicht mehr gab: Schaufenster und Tür des Ladenlokals waren mit Brettern vernagelt, von dem über dem Eingang baumelnden Emailschild blätterte die Farbe ab.

Debbie blieb stehen und starrte stumm auf das Haus. Charlotte legte den Arm um sie. »Vielleicht sind sie umgezogen oder haben Arbeit bei Woolworth gefunden«, versuchte sie zu trösten.

»Das glaube ich nicht. Toms Vater hing mit Leib und Seele an seinem Laden. Er hat es geliebt, all die schönen Dinge zu sammeln, auszustellen und zu verkaufen. Tom wollte den Laden übernehmen. Den Ehrgeiz, mehr aus seinem Leben zu machen, hatte er jedenfalls nie. Glaub mir, da ist irgendwas …«

»Suchen Sie nach den Emersons?« Eine Frau im Kittel fegte auf der gegenüberliegenden Seite den Bürgersteig. Die fettigen Haare hielt sie links vom Scheitel mit einer Spange. Als sie sprach, sah man, dass sie nur noch einen Zahn im Mund hatte.

»Wissen Sie, wo wir sie finden?«, fragte Debbie. Charlotte hätte sie am liebsten fortgezogen.

»Also, den alten Emerson finden Sie in Bedlam.« Die Frau kicherte.

Debbie sah Charlotte an. »Was meint sie?«

»Das ist eine psychiatrische Klinik in Southwark. Bethlehem Royal Hospital …«

»Genau.« Die Frau drehte den Zeigefinger an ihrer Schläfe. »Der tickt nicht mehr sauber, weil sein Laden keinen müden Penny mehr abwirft. Hat die Nase schön hochgetragen mit seinem feinen Gedöns, aber die Leute kaufen von den paar Kröten, die sie sich erbetteln, keinen Schnickschnack mehr, sondern Brot und Milch.«

»Und sein Sohn? Was ist aus Tom geworden?« Debbie griff nach Charlottes Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte.

»Das hat er schlau gemacht, der Alte. Den Tom hat er vor fünf Jahren in die Armee gesteckt. Der hat sich natürlich mit Händen und Füßen gewehrt, aber am Ende blieb ihm nichts anderes übrig. Dort bekommt er satt zu essen, hat ein Dach über dem Kopf und seine Ruhe. Dass es noch einmal Krieg gibt, ist ausgeschlossen, nicht nach dem letzten. So etwas wird kein zweites Mal passieren«, sagte die Frau und bückte sich mit einem Ächzen, um Blätter und Straßenstaub mit Feger und Kehrblech aufzusammeln.

»Die Emersons gehörten zu den Gutverdienern mit dem Geschäft«, murmelte Debbie. »Das ist nicht mehr das London, das ich kannte.«

Charlotte nickte. »Ich fühle mich fremd hier. Wollen wir überhaupt noch zur Praxis gehen? Es tut weh, finde ich.«

»Nur kurz«, bat Debbie.

Wenig später standen sie vor dem Haus, in dem ihr Vater und später sein Kompagnon Dr. Tyrell die Arztpraxis geführt hatten. In der Wohnung darüber hatte die Familie viele Jahre gewohnt, bevor sie nach Summerlight House gezogen war. Debbie versuchte, das matte Schild zu entziffern, auf dem zwei Namen standen, die sie nicht kannten. Eine Gemeinschaftspraxis. Das Leben in der Hunter Street war weitergegangen. Debbie und Charlotte waren kein Teil mehr davon.

Aber den Schuhladen gab es noch, allerdings nicht mehr unter der Leitung von Miss Evans. Die hatte ihr Wohn- und Geschäftshaus verkauft und war aufs Land gezogen, wie der neue Besitzer ihnen erzählte. Enttäuscht und lustlos suchte sich Debbie ein Paar weiße Brautschuhe mit kleinem Absatz aus.

Den Rückweg gingen sie schweigend, jede hing ihren Gedanken nach. Charlotte tat es leid, dass ihre Schwester ihre gute Laune verloren hatte. Eine Braut sollte glücklich sein an dem Tag, an dem sie ihr Kleid auswählte.

Sie gingen durch Covent Garden. Auf halbem Weg blieb Charlotte stehen und wies auf einen Laden, dessen Holzverschläge in Pink, Rosa und Weiß gestrichen waren und dessen Schaufenster von oben bis unten mit Kisten und Kartons voller Süßigkeiten in allen Regenbogenfarben vollgestellt war. Debbie lief darauf zu und stieß ein entzücktes »Ooooh« aus, bevor sie sich die Hände vor den Mund schlug. »Was für ein Traum!«

Charlotte lachte auf. »Ich frage mich wirklich, wie du bei deiner Sucht nach Süßem deine gute Figur behältst. Wollen wir?«

Auch für sie waren diese Läden, die sich auf den Verkauf von einzelnen Süßigkeiten spezialisiert hatten, etwas Neues und Faszinierendes. Man stellte sich die Tüten mit allem zusammen, was man besonders gerne mochte. Wenn das Debbies Stimmung nicht heben würde!

Eine Viertelstunde später verließen sie den Laden mit Anisbällchen, Karamellbonbons und Toffees, die ihnen der Händler in seinem weißen Kittel mit einer Zange in eine Spitztüte gelegt hatte. In Debbies Gesicht kehrte die Farbe zurück, während sie sich die Köstlichkeiten auf der Zunge zergehen ließ. Aber ihre Nachdenklichkeit blieb.

»Wie selbstverständlich wir das Geld ausgeben. Wir können uns jeden Wunsch erfüllen, und ein Mädchen wie Letitia hofft auf ein paar Pennys, damit sie sich etwas zu essen kaufen kann. Wo sie wohl schläft? Ob sie noch Familie hat?«

»Ohne Victor ginge es auch uns schlechter. Wir hatten großes Glück. Aber trotzdem können wir nicht die ganze Welt retten«, wandte Charlotte ein.

»Nicht die ganze Welt, aber manchen. Ich würde gern mehr über Letitia erfahren. Wollen wir uns ein bisschen mit ihr unterhalten, wenn sie gleich noch da sein sollte? Vielleicht können wir ihr auf andere Art helfen als nur mit fünf Pennys. Was meinst du?«

Charlotte schüttelte lachend den Kopf, aber tief in ihrem Inneren trieben sie die gleichen Gefühle. Vermutlich völlig umsonst, weil das Mädchen mit dem Geld verschwunden sein würde, wenn sie den Weg zurück nahmen.

Nachdem sie die restlichen Einkäufe erledigt und einen Blick in die Galerie geworfen hatten, die vor Kurzem in der Oxfordstreet eröffnet hatte, traten sie mit Papiertüten bepackt den Rückweg an.

Victor hätte geschimpft und gefragt, warum sie nicht eine der Dienstbotinnen oder den Chauffeur Owen zum Einkaufen mitgenommen hatten. Aber obwohl Charlotte mittlerweile seit fast zehn Jahren ein Leben in der englischen Upper Class führte, hielt sie an manchen alten Gewohnheiten fest. Eine Shoppingtour mit einer Freundin oder der Schwester verlor ihren Reiz, wenn ihnen Bedienstete wie Schatten folgten.

Charlottes Wagen stand am Rand einer Seitenstraße. Über viele Jahre hatte sie den roten Ford gefahren, den Victor ihr überlassen hatte. Als der Motor zu dampfen und zu stottern begann und eine Reparatur die Kosten einer Neuanschaffung überstiegen hätte, hatte Victor ihr einen neuen Wagen derselben Marke gekauft, diesmal in Königsblau. Charlotte liebte ihr Automobil, das ihr die Freiheit gab, unabhängig von den öffentlichen Verkehrsmitteln jederzeit von einem Ort zum anderen zu gelangen. Auch Debbie besaß seit Neuestem die Fahrlizenz. Manchmal ließ Charlotte sie ans Steuer, damit sie Übung bekam, bevor sie sich ein eigenes Automobil anschaffte.

An den Kreuzungen regelten Bobbys den Verkehr, Doppeldeckerbusse, Straßenbahnen, Automobile, Motorräder, Fahrradfahrer, Fußgänger und mittendrin Pferdekutschen, mit Milchkannen oder Kohle beladen, die mit dem Tempo der Stadt nicht mithalten konnten.

Als sie Piccadilly Circus erreichten, saßen nur noch wenige der Bettler in ihren Lumpen an der Häuserwand und in der Gasse. Vermutlich hatten sie einen lohnenderen Platz gefunden. Charlotte ließ den Blick schweifen. Keine Spur von dem Bohnenmädchen. Nun ja, sie hatte nichts anderes erwartet.

Debbie verzog den Mund. »Schade«, sagte sie nur, bevor sie sich den Schritten ihrer Schwester anpasste. Charlotte strebte auf ihr Auto zu. Sie sehnte sich danach, endlich daheim auf Summerlight House in einen Sessel am Kamin zu plumpsen und die Beine von sich zu strecken. Debbie würde vermutlich erst einmal in ihrem Zimmer eine Modenschau veranstalten. Diese Letitia mit ihrem merkwürdigen Gewächskasten würden sie schon auf dem Weg zu ihrem Landsitz vergessen haben.

»So warten Sie doch, Madam! Bitte! Ihre Bohnen!«

Charlotte und Debbie wandten sich gleichzeitig um. Die Glasplatte des Bauchladens klapperte, als Letitia auf sie zulief. Die Haare flogen um ihr Gesicht. »Ich war nur kurz im Pub zum Händewaschen. Der Wirt ist freundlich und lässt mich rein. Deswegen stehe ich immer an der gleichen Stelle, obwohl es anderswo vielleicht besser laufen würde mit dem Verkauf. Schauen Sie, hier.« Sie hob drei der Papierbehälter an, aus denen seitlich ein paar Erdkrumen herausfielen.

Charlotte stellte ihre Taschen ab. »Schön, dass du hiergeblieben bist«, sagte sie dabei und spürte gleichzeitig, wie Debbie ihr in die Seite knuffte.

Letitia riss die Augen auf. »Aber das habe ich Ihnen doch versprochen«, erwiderte sie.

Irgendetwas musste sie tun. Auf der einen Seite sie und Debbie in ihren kostbaren Kleidern und mit Einkaufstaschen voller Accessoires, auf der anderen Seite dieses schmutzige Mädchen in Lumpen mit den Bohnenpflänzchen, auf denen ihre Hoffnung ruhte. Zunächst kam Charlotte der Gedanke, dem Mädchen eine Pfundnote in die Hand zu drücken, von der sie und ihre Familie eine Weile leben konnten. Aber was, wenn das Geld aufgebraucht war? Dann stünde Letitia genauso da wie an diesem Tag. »Wo wohnst du?«, fragte sie schließlich.

Letitias Wangen überzogen sich mit einem blassen Rot, bevor sie am Nagel ihres Zeigefingers zu knabbern begann. Als ihr bewusst wurde, was sie tat, verbarg sie beide Hände hinter dem Rücken. »Der Wirt vom Pub«, sie wies mit dem Kinn auf das Gasthaus, dessen holzgetäfelte lackschwarze Front mit den goldenen Lettern Royal Oak auf gut laufende Geschäfte hinwies, »kümmert sich ein bisschen um mich. Ein wirklich gütiger Mann. Er lässt mich im Eingang schlafen und gibt mir warme Decken, wenn ich friere.« In ihre Augen trat ein Ausdruck von Angst.

Charlotte fürchtete, dass es über diesen gütigen Mann noch viel mehr zu erzählen gab, und nicht nur barmherzige Geschichten. »Und deine Familie? Wo leben sie?«

»Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen, aber im vergangenen Jahr war ich zu alt, um noch länger dazubleiben. Ob ich Geschwister habe, weiß ich nicht. Ich komme schon gut allein zurecht«, behauptete Letitia und straffte die Schultern. »Was ist nun mit den Bohnen?«

Wieder spürte Charlotte Debbies Ellbogen in der Seite, aber ihr Drängeln war unnötig. Charlotte wusste, was sie zu tun hatte. »Letitia, schau, wir haben die Hände voller Taschen. Ich möchte die Pflanzgefäße nicht zu unseren Einkäufen stecken. Außerdem möchte ich nicht drei, sondern alle deine Setzlinge.«

Letitia riss die Augen auf. »Jesus, Maria und Josef! Heute ist wirklich mein Glückstag!« Dann stutzte sie. »Aber den Bauchladen gebe ich nicht ab.«

Charlotte lächelte. »Natürlich behältst du ihn. Wie würde es dir gefallen, mit meiner Schwester und mir nach Summerlight House zu fahren? Du könntest die Bohnen selbst ins Gewächshaus bringen und hinterher vielleicht ein schönes heißes Bad nehmen. Was meinst du?«

In Letitias Augen trat ein Funkeln. »Etwa das Summerlight House mit dem berühmten Garten? Manchmal finde ich im Abfall alte Zeitungen, darin heißt es immer wieder, dass der Garten der schönste in Kent sein soll!« Plötzlich wurde sie blass und wich einen Schritt zurück. »Was muss ich dafür tun?«

Es schnitt Charlotte ins Herz, als sie die Panik im Gesicht der jungen Frau sah. Letitia hatte in ihrem Leben offenbar gelernt, dass es Mitgefühl nicht umsonst gab.

Debbie hakte sich bei ihr ein. »Hab keine Angst. Du kannst uns vertrauen. Du wirst Summerlight House lieben. Und ja, der Garten ist umwerfend!« Sie streckte ihr die Spitztüte hin. »Probier die Toffees!«

Charlotte überlegte, dass Letitia heute vielleicht noch gar nichts gegessen hatte. Nach kurzem Zögern griff das junge Mädchen zu. Charlotte sah, dass ihre Finger dabei zitterten und dass sie sich beim hastigen Kauen die Hand vor den Mund hielt, als habe sie Angst, es könne ihr jetzt noch jemand wegnehmen.

Während sich Letitia und Debbie kurz darauf auf der Rückbank des Fords über die Naschereien hermachten und über ihre Vorlieben austauschten, dachte Charlotte daran, dass sie seit zwei Wochen nicht in der Postfiliale in Maidstone gewesen war. Sofort begann ihr Puls zu rasen, wie immer, wenn ihre Gedanken zu Quinn trieben. Die Hochzeitsvorbereitungen und der Besuch in London hatten sie für ein paar Stunden abgelenkt von ihrer Sehnsucht nach ihm. Nun kehrte sie schmerzhaft wieder zurück. Bestimmt war ein Brief für sie eingetroffen, aber sie riss sich zusammen und würde ihn erst am Montag abholen. Sie konnte gut darauf verzichten, Debbies Neugier zu wecken, wenn sie im Auto warten musste, während Charlotte ihre Letter Box leerte.

Kapitel 2

»Da lässt man euch einmal allein einkaufen gehen, und womit kehrt ihr heim? Mit einer abgerissenen Frau und ihrer Bohnenzucht!« Victor schlug die Hände über dem Kopf zusammen, nachdem sie es sich an diesem Abend vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten. Der Labrador Baxter hatte sich zu seinen Füßen eingerollt und die Schnauze auf den Pfoten abgelegt. Hin und wieder bewegten sich seine Ohren, als bekäme er jedes Wort mit. Eliza Rose schlief friedlich in ihrem Kinderzimmer. Die Köchin hatte Punsch zubereitet. Das würzige Weinaroma mischte sich mit dem Geruch nach glimmendem Holz.

Debbie und Charlotte nippten an ihren Gläsern, während Victor sich in seinen Vortrag hineinsteigerte. Charlotte hatte in ihrem Leben gelernt, dass es besser war, erzürnten Männern Zeit zum Reden zu geben, als sie zu unterbrechen.

»Wie denkt ihr euch das? Wollt ihr das arme Ding einmal am luxuriösen Leben schnuppern lassen, bevor ihr sie zurück in die Gosse werft? Das haltet ihr für mildtätig?« Victors Gesichtsfarbe war heute grau wie Stein, seine Züge wirkten wie eingefroren. Ob er krank wurde?

Letitia hatte am frühen Nachmittag staunend vor Summerlight House gestanden und die pastellgelbe Fassade mit den weißen Fensterläden betrachtet, den Rosenranken und dem wilden Wein, der sich an der rechten Seite bis hoch zum Dach zog. Sie hatte ihren Bauchladen auf die Eingangstreppen gestellt und war auf das schmiedeeiserne Tor zugelaufen, hinter dem sich der Garten befand. »Darf ich?«, rief sie im Laufen über die Schulter.

Charlotte hatte sich lachend an Debbie gewandt. »Bringst du die Einkäufe ins Haus? Ich führe Letitia durch den Garten.«

Das Interesse der jungen Frau an allem, was wuchs und blühte, berührte Charlotte. Sie erzählte ihr von den scharlachroten Tulpen, die sie in Persien gefunden hatte und die bereits ihre Stängel aus dem Erdreich reckten. Sie zeigte ihr die verschiedenen Rosenarten, die sie gezüchtet hatte, und im Steingarten die Gewächse, die sie von den Hebriden mitgebracht hatte. Sie führte Letitia um das Haus herum, wo sich die Hintertür der Küche befand und davor der Gemüse- und Kräutergarten mit all den Köstlichkeiten, die die Köchin verarbeitete. An den weiter entfernt liegenden Obstbäumen bildeten sich bereits erste grüne Blätter. Die Blüte würde nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.

»Es ist ein Traum, Mrs Bromberg«, sagte Letitia ergriffen. In der nächsten Sekunde schrie sie auf, als ein weißes Fellbündel um die Ecke schoss. Instinktiv klammerte sie sich an Charlotte. Sie zitterte, als das Tier anfing zu bellen. Dass dabei sein Schwanz wedelte, schien sie nicht als freundschaftliche Geste zu erkennen.

»Keine Angst, Letitia, das ist nur Baxter. Na, komm her, du kleiner Rüpel.« Charlotte streichelte ihn und tätschelte seine Flanke, aber Letitia zitterte noch. Eigentlich gehörte der Hund Charlottes Bruder Robert, aber nach Kalifornien hatte er ihn nicht mitnehmen können, und Debbie liebte den Labrador über alles. Er war nicht mehr so verspielt wie als junger Hund, und manchmal hielt er sich für einen Wachhund, besonders für Charlottes Garten. Während der Öffnungszeiten schlossen sie den Hund im Haus ein, damit er die Gäste nicht verschreckte.

»Am Stadtrand von London gibt es viele Hunde«, erzählte Letitia mit dünner Stimme. »Die rotten sich zusammen, um einen anzufallen. Ich bin ihnen immer aus dem Weg gegangen.«

»Baxter wird dir nichts tun.« Trotzdem schickte Charlotte den Hund mit einem Pfiff und ausgestrecktem Arm zurück ins Haus.

Letitia entspannte sich sofort, betrat den Küchengarten und begutachtete die Anordnung der Reihen und Beete. Mit einem glücklichen Lächeln wandte sie sich um. »Es wird mir eine Ehre sein zu wissen, dass meine Bohnen im Garten von Summerlight House wachsen werden. Das glaubt mir keiner!« Sie lachte auf und sah für wenige Sekunden wie eine unbeschwerte junge Frau aus. Charlottes Sympathie flog ihr zu. Sie spürte, dass Letitia genau wie sie für die Welt der Pflanzen brannte.

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Prolog

Juni 1926

»Wie kannst du so ruhig sein!« Debbie Windley öffnete die Türen von Charlottes Kleiderschrank und schob die Bügel über die Stange, während sie die Garderobe überprüfte. »Und dein mausgraues Kostüm ziehst du besser gleich wieder aus. Du musst dich präsentieren wie die schönste Blume in deinem Garten.« Sie zog ein lindgrünes Kleid in Wickeloptik hervor und hielt es am ausgestreckten Arm vor sich. »Das ist genau das Richtige!«

»Richtige!«, echote Charlottes Tochter Eliza Rose, die bald ihren zweiten Geburtstag feierte. Sie hatte vor einem halben Jahr laufen gelernt und war seitdem kaum noch zu bremsen.

Charlotte saß auf der Kante ihres Ehebetts, klatschte in die Hände und streckte ihrer Tochter die Arme entgegen. »Komm her, mein Herz.«

Sofort spurtete das Mädchen zu ihr und ließ sich hochheben. »Hör nicht auf Tante Debbie«, sagte Charlotte mit einem Grinsen und laut genug, dass Debbie es mitbekam. »Manchmal darf man sich nicht verrückt machen lassen.«

Wie hübsch Eliza Rose war. Die dunklen Locken wuchsen wild und ließen sich kaum bändigen. Wenn Charlotte ihr in die grünbraunen Augen mit den langen Wimpern sah, spürte sie jedes Mal ein Stechen in der Brust. Bislang wunderte sich niemand darüber, dass das Mädchen vom Aussehen weder nach Victor noch nach Charlotte schlug. Allgemein hieß es, sie müsse wohl die Erbanlagen von Victors deutscher Verwandtschaft haben. Eine Erklärung, der Charlotte nichts entgegensetzte, obwohl sie es besser wusste.

»Pah«, machte Debbie, als hätte Charlotte sie direkt angesprochen. »Wer ist denn hier die Gartenverrückte von uns beiden? Wer wartet sein Leben lang auf die Anerkennung als Botanikerin? Heute ist dein großer Tag, Charlotte, du solltest es nicht vermasseln.«

»Das hängt nicht von der Farbe meines Kleides ab«, gab Charlotte zurück. »Auch nicht davon, ob die kleinen Kuchen, die Mrs Duncan zum Tee reichen will, gelungen sind oder nicht. Es …«

Die Zimmertür schwang auf, und Charlottes Mann Victor steckte den Kopf herein. Seine Stirn war leicht gerötet, ein paar Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht. »Du wolltest doch dem Chauffeur Bescheid geben, dass er unsere Automobile in den Schuppen setzt! Sie stehen noch da. Wo sollen die Leute parken?« In seiner Stimme schwang ein deutlicher Anklang von Panik mit.

»Papa.« Eliza Rose strahlte Victor an.

Sofort war Victor bei ihr, sank auf die Knie und küsste ihre Hände.

Charlotte streichelte seine Wange. »Bitte treibt mich nicht in den Wahnsinn. Sag Owen einfach noch einmal Bescheid, dass er die Wagen wegfahren soll. Solche Kleinigkeiten werden nicht darüber entscheiden, ob mir die Linnean Society die Medaille verleiht oder nicht.«

Victor richtete sich auf und küsste sie auf den Mund. »Ich wünsche es dir, Charlotte. Niemand hätte die Medaille mehr verdient als du.«

»Hoffentlich sieht es der Vorstand der Society genauso«, erwiderte Charlotte. »Wusstest du übrigens, dass sich auch Sir Hill angekündigt hat?«

»Der Direktor von Kew Gardens?«

Charlotte nickte. »Ihn scheint mein Werdegang zu interessieren, seit ich Kew Gardens verlassen habe.« Sie spürte ein Frösteln im Nacken. Sobald sie an den berühmten Botanischen Garten am Rande Londons dachte, stiegen die Bilder von ihren alten Träumen in ihr hoch: von dieser Gemeinschaft international arbeitender Experten, von denen sie eine Zeit lang ein Teil hatte sein dürfen, von Expeditionen in die entlegensten Winkel der Welt. Sie hatte einen anderen Weg eingeschlagen, wie es ihr die Vernunft geboten hatte, Forschungsreisen auf eigene Faust unternommen und einen Garten erschaffen, der seinesgleichen in England suchte. Ob ihr Werk Sir Hill und die Gesandtschaft der Society beeindrucken würde? Sicher, eine Auszeichnung wäre fabelhaft, aber tief in ihrem Inneren konnte niemand Charlotte verunsichern. Selbst wenn sich die Mitglieder der Society gelangweilt abwenden würden, wüsste sie, dass sie etwas Einmaliges vollbracht hatte: In ihrem Garten blühten nicht nur einheimische Pflanzen, sondern Gewächse aus weit entfernten Teilen der Welt wie aus Südamerika und Persien. Ihr war es gelungen, die Exoten hier heimisch werden zu lassen. Sie waren neben den Rosen die Prunkstücke inmitten der anderen Schönheiten, die sie in England, Schottland und Irland gesammelt hatte. Sie sog die Luft ein. Nicht an Irland denken, nicht jetzt, sonst würden ihre Hände doch noch anfangen zu zittern.

»Kommt ein Fotograf?«, fragte Victor.

»Ein Fotograf kommt nur, wenn man mir die Medaille überreicht. So weit ist es noch lange nicht«, erwiderte Charlotte.

Debbie hatte in der Zwischenzeit weitere Kleider unter die Lupe genommen, entschied sich aber letztendlich für das lindgrüne. »Schau mal, Victor, das steht ihr am besten, oder?«

Victor schaute abwechselnd vom Kleid zu seiner Frau und zurück. »Ehrlich gesagt finde ich, dass Charlotte alles steht, aber ja, dieses grüne Kleid ist besonders vorteilhaft, Flapper.«

Debbie schoss einen Hexenblick auf ihren Schwager. »Nenn mich nicht Flapper! Es ist ungerecht, das weißt du!«

Victor lachte. »Seit wann hast du etwas gegen Tanz und Vergnügen?«

Flapper war die Bezeichnung für alle jungen Frauen, die das süße Leben liebten. Noch vor ein paar Jahren hatte dieser Spitzname perfekt zu Debbie gepasst. Inzwischen war sie erwachsen geworden, aber der Name war an ihr haften geblieben. Debbie verzog das Gesicht, verzichtete aber zum Glück auf eine weitere Diskussion. Victor nahm Eliza Rose von Charlottes Schoß und wandte sich an Debbie. »Kommst du mit nach unten?« Er sah zu Charlotte und nickte ihr zu. Sie lächelte ihn dankbar an, senkte aber rasch die Lider. Manchmal fiel es ihr schwer, den Blick ihres Mannes zu halten. Dann befürchtete sie, er könnte in ihren Augen von dem Geheimnis lesen, das sie mit sich trug.

Debbie biss sich auf die Lippe und schien abzuwägen, ob sie es wagen konnte, ihrer Schwester allein die Wahl des Kleides zu überlassen. Schließlich folgte sie Victor und zog die Tür hinter sich zu.

Charlotte ließ sich rücklings aufs Bett fallen, die Arme weit von sich gestreckt. Das Kostüm, das sie für den heutigen Anlass gewählt hatte, war absolut nicht mausgrau, sondern in einem edlen Silber-Anthrazit gehalten. An der Hüfte zierte eine Spange den Rock, der Jackenkragen klappte weit auf und ließ die Sicht auf ein geringeltes Hemd frei. Sportlich elegant, befand Charlotte, aber als sie sich aufrichtete, bemerkte sie einen roten Flecken an der Schulter. »O nein«, stieß sie hervor und versuchte, mit dem angefeuchteten Zeigefinger das Malheur zu entfernen, aber sie verschlimmerte es nur noch und verteilte das Rot bis zum Kragen.

Das musste beim Frühstück passiert sein, als sie Eliza Rose mit Stücken von einem Scone, bestrichen mit clotted cream und Kirschmarmelade, gefüttert hatte. Sie hatte es nicht gemerkt. Wie peinlich. Dabei hatte sie geglaubt, mit einunddreißig die Schusseligkeit ihrer jüngeren Jahre hinter sich gelassen zu haben. Als junge Frau war sie Meisterin darin gewesen, ihre Brille zu verlegen, Blusen falsch zu knöpfen oder in den unpassendsten Momenten zu stolpern.

Als von der Einfahrt her Motorenlärm zu ihr drang, sprang Charlotte auf und trat auf den seitlich zum Garten hinausgehenden Balkon. Ein letzter Blick über ihr botanisches Paradies, das jetzt im Sommer und am frühen Nachmittag in den schönsten Farben erstrahlte.

Was bislang ihr allein gehört hatte, was sie mit liebevollen Händen und der Hilfe der Gärtnerin Harriet Moore gehegt und gepflegt hatte, würde sich nun der kritischen Überprüfung durch Experten stellen müssen. Danach würde sie den Garten für die Öffentlichkeit freigeben. Für Charlotte fühlte es sich an, als würde sie der Welt ihr Herz zu Füßen legen.

Aber der Mann, mit dem sie diesen himmlischen Flecken Erde bepflanzt hatte, der ihre Liebe zu den Pflanzen teilte wie kein zweiter und nach dem sie sich Nacht für Nacht sehnte, dieser Mann würde auch heute fehlen. Quinn Mitchell würde erst in ihrem nächsten Brief erfahren, wie die Experten ihre Arbeit bewerteten. Charlotte vertrieb die Gedanken an den Geliebten. Heute war kein Tag für Melancholie.

Die Räume des Gartens waren in verschiedenen Tönen gehalten, nur die Rosen blühten in Weiß und Gelb, Rot und Rosa. Das wirkte aus der Vogelperspektive vom Balkon aus besonders reizvoll. Obwohl die Exoten wie die persischen Tulpen und Oleanderbüsche oder die Steingartenpflanzen von den Hebriden sicherlich die meisten Besucher anziehen würden, war der Rosengarten Charlottes besonderer Liebling. Ihre hoch bewertete Bachelor-Arbeit hatte sie über Rosenzucht geschrieben. Ob der Gesandtschaft der Society ihre eigenen Züchtungen gefallen würden? Sie arbeitete vor allem daran, die Blütezeit zu verlängern und die Stämme gegen Pilzkrankheiten zu stärken.

Stimmen drangen zu ihr, während sie sah, wie ihre Familie und ihre Angestellten die Gäste begrüßten.

Es wird Zeit, dachte Charlotte, schlüpfte aus dem Kostüm und zog sich das lindgrüne Wickelkleid an. Sie griff in die Jackentasche des Kostüms, nahm ihr Medaillon heraus und ließ es in die Seitentasche des Kleides gleiten. Das Schmuckstück hatte sie in allen wichtigen Momenten ihres Lebens begleitet. Es durfte auch an diesem Nachmittag nicht fehlen. Sie betrachtete sich vor dem deckenhohen Spiegel neben dem Schrank, ordnete mit den Fingern ihre Frisur, schob die Brille hoch und ermutigte sich selbst mit einem Lächeln. Dann eilte sie durchs Schlafzimmer, lief die Treppe ins Foyer hinab und begrüßte die Gesandtschaft in der Einfahrt.

Die Namen der Society-Mitglieder hatte Charlotte schon vergessen, als sie durch das mit Clematis und Rosen berankte Eisentor schritten. Die Herren trugen alle dunkle Anzüge und Melonen, die sie lüpften, als sie Charlotte begrüßten. Zwei von ihnen schauten durch Brillen mit kreisrunden Gläsern, einer kniff sich ein Monokel vors Auge, drei andere hatten spitz gedrehte Bärte, die bis über die Wangen hinaus wuchsen. Sir Arthur Hill hatte als Einziger auf eine Kopfbedeckung verzichtet und fiel mit seinem stechenden Blick, dem Schnauzbart und dem braunen Jackett auf, die Linke lässig in der Hosentasche vergraben. Er reichte Charlotte die Hand, während die anderen Männer miteinander murmelten, als sprächen sie eine geheime Sprache. Mit Sir Hill an ihrer Seite folgte Charlotte der dunklen Traube über den Pflasterweg. Die Männer bückten sich hierhin, fassten da nach einem Trieb oder rieben ein Blatt zwischen den Fingern, um das Aroma zu lösen. Der süße Blütenduft des weißen Jasmins, den Charlotte nach den Eisheiligen an die Seitenwand des Hauses gepflanzt und mit Spalieren gestützt hatte, umwehte sie und löste in Charlotte kribbelige Vorfreude auf die Tage mit Quinn aus. Nicht jetzt daran denken, ermahnte sie sich selbst, nicht jetzt. Rasch verdrängte sie die Bilder, die Jasmin in ihr erweckte, und ermunterte stattdessen die Männer, jeden Winkel des Gartens zu erforschen.

Einige machten sich Notizen, während sie unter den Lindenbäumen entlangschritten, deren Äste kunstvoll miteinander verflochten waren. Rechts und links buhlten Zwiebelpflanzen in allen Formen und Farben um Aufmerksamkeit. Die Männer tauschten sich flüsternd aus, als befänden sie sich in einer Kirche. Charlotte gefiel es, mit wie viel Respekt sie ihr Werk begutachteten, aber das hieß noch lange nicht, dass sie es für wert genug hielten, sie mit einer Medaille zu ehren.

Jetzt betraten die Herren den Teil des Gartens, auf den Charlotte besonders stolz war. Mit Mediterraner Wolfsmilch bepflanzte Terrakottatöpfe bildeten den Eingang zum Nussgarten, dessen Boden aus Tausenden Wildblumen und Waldpflanzen in Grün, Gelb, Braun, Weiß und Lila gewebt war. Ein betörendes Arrangement, das aussah wie von der Natur erschaffen und das ein überwältigendes Duftgemisch aus Frische und Süße verbreitete.

Charlotte beobachtete die Männer und sah, dass manche lächelten, andere beugten sich hinab, um die Blüten genauer zu betrachten. Wie ein glücklicher Zufall wuchsen da Glockenhyazinthen mit Flattergras und Anemonen, aber jedes Detail war durchdacht. Ob die Männer dies bemerkten?

Auch wenn sie sich nicht von Debbies Aufregung hatte anstecken lassen, innerlich spürte Charlotte die Anspannung überdeutlich. Die goldene Linnean Medal würde ihren Ruf als Botanikerin über Englands Grenzen hinaus festigen. Abgesehen davon wäre sie die erste Frau, die sie erhielt. Allein, dass es die Linnean Society in Erwägung zog, sie auszuzeichnen, war schon eine außergewöhnliche Anerkennung. Sie griff in ihre Kleidertasche und ertastete das kühle Silber ihres Glücksmedaillons. Darin befand sich, schon leicht vergilbt, die erste Blüte, die sie als Kind auf den Forschungstouren mit ihrem Großvater entdeckt hatte: eine Wasserlobelie.

»Bewundernswert, welches Farbenmeer Sie erschaffen haben«, sagte Sir Hill. »Wie ich sehe, warten bereits die nächsten Pflanzen mit ihren Knospen, sodass im Juli und August nicht weite Flächen Grün die Harmonien unterbrechen werden. Die Aufteilung mit den niedrigen Stauden im Vordergrund und den höheren im Hintergrund gefällt mir. Genau wie der Einfall des Sonnenlichts. Alles wirkt zufällig, aber ein Experte erkennt, wie pointiert Sie die Pflanzen gesetzt haben. Sie haben einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik, Mrs Bromberg.«

»Tatsächlich lege ich großen Wert darauf, von Frühjahr bis Herbst ein farbliches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und das Sonnenlicht je nach Jahreszeit optimal zu nutzen. Ich wähle die Pflanzen nicht nur nach ihrer Wuchshöhe aus, sondern auch nach der Blattform. Das bringt neben den Farben Leben in die Komposition, finde ich.«

Hill verzog anerkennend die Mundwinkel. »Ich wette, dass Sie es in der Welt der Botanik noch weit bringen.« Er nahm eine winzige Dahlienknospe, die erst im Spätsommer erblühen würde, behutsam zwischen zwei Finger. »Alle Achtung. Haben Sie die direkt aus Südamerika?«

Charlotte nickte. In ihrem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Sir Hill schüchterte sie ein. Er war derjenige, der sie aus Kew Gardens ausgeschlossen und ihr geraten hatte, ihr Glück in der Ehe und im Haushalt zu suchen. Und jetzt stellte er es so dar, als hätte er stets an sie geglaubt? Mit verschlossener Miene hob sie den Kopf. »Eine Freundin hat sie mir überlassen. Aber ja, sie stammen direkt aus Mexiko.«

Unauffällig spähte Charlotte zum Eingang und wünschte sich Vita Sackville-West herbei. Im Gespräch mit Sir Hill hätte Charlotte sie gut gebrauchen können. Aber es war unwahrscheinlich, dass ihre Freundin auftauchte. Vita wusste, dass heute die Begutachtung durch die Linnean Society auf dem Plan stand.

Am Eisentor entdeckte sie nicht ihre Freundin, dafür aber ihre Gärtnerin Harriet, die alle Hände voll zu tun hatte, ihren Sohn Toby und Eliza davon abzuhalten, in den Garten zu stürmen. Neben ihr hielt sich – aufrecht wie eine Königin Debbie in einem duftig um ihre Beine fliegenden Frühlingskleid. Sie hatte roséfarbenen Lippenstift aufgetragen und die blonden Haare perfekt um ihr Gesicht gelegt. Halb in ihrem Schatten stand die Köchin Mrs Duncan, ein Tablett voller Gläser mit Eistee balancierend. Charlotte winkte sie ungeduldig heran. Sie sollten bloß kein Theater veranstalten! Alles sollte völlig entspannt wirken. Schließlich war sie nicht mehr die Anfängerin, die auf Lob der Älteren hoffte. Sie war eine Botanikerin mit einer Menge Erfahrung, die sich mit jedem Mann in dieser Branche messen konnte.

Harriet gab es auf, die Kinder festzuhalten. Sie flitzten an den Hecken vorbei in Richtung Nussgarten. Harriet eilte auf die Gruppe zu und reichte Sir Hill die Hand.

»Gesell dich doch bitte zu den Herren dort«, bat Charlotte sie. »Sie werden Fragen haben. Du kennst dich genauso gut aus wie ich.«

»Das mache ich gern.« Harriet strich sich eine Haarsträhne hinter die Ohren, die sich aus dem langen grauen Zopf gelöst hatte. Ein schönes Grau, das an Salz und Pfeffer erinnerte. Aber es ließ sie älter erscheinen, als sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren war. Mit einem gewinnenden Lächeln lief Harriet zu den Mitgliedern der Society.

Das tat in diesem Moment auch Debbie, gefolgt von der Köchin. Mrs Duncan ging gebückt, die Gläser auf dem Tablett vibrierten. »Jetzt kommen Sie schon«, zischte Debbie ihr zu, bevor sie sich strahlend an die Männer wandte. »Meine Herren«, zwitscherte sie wie eine Nachtigall, »darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Ich bringe Ihnen Eistee, wenn Sie mögen.«

Im Nu wandten sich ihr alle Köpfe zu, wie Charlotte beobachten konnte. Schließlich näherten sich ihr die Herren wie Motten dem Licht, umringten sie, ließen amüsante Bemerkungen fallen, griffen nach den Gläsern, und über all dem schwebte Debbies glockenhelles Lachen, wenn sie den Kopf in den Nacken legte. Harriet hielt sich verunsichert am Rand der Gruppe. Charlotte sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte. Small Talk und Koketterie gehörten nicht zu ihren Stärken.

Charlotte warf einen um Verständnis bittenden Blick zu Sir Hill. »Entschuldigen Sie, meine Schwester hat eigene Vorstellungen davon, wie man eine Jury beeindruckt.«

Sir Hill neben ihr lachte auf. »Mit weiblichen Reizen zu punkten war von Anbeginn der Welt nicht die schlechteste Wahl.«

»Das reduziert die Frauen auf ihr Äußeres und ihre Fähigkeit, Männer zu becircen. Aber die Welt ist im Wandel, Sir Hill. Wir Frauen können mehr als hübsch lächeln und den Männern nach dem Mund reden.«

Sir Hill blies die Wangen auf und hob beide Hände. »Bitte verzeihen Sie, Mrs Bromberg, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Im Übrigen dachte ich, ich würde heute Ihren Gatten kennenlernen.«

»Mein Mann hat mit dem Garten nichts zu tun. Er betreibt seine Geschäfte auch ohne mich.« Vermutlich fieberte Victor im Kaminzimmer ihrem Bericht entgegen, aber es war seine eigene Entscheidung gewesen, dass Charlotte ohne ihn den Garten präsentierte. Dabei hatte er sich extra für diesen Tag freigenommen und ließ sich von seinem Assistenten Albert Hanson in seiner Papierfabrik in Dartford vertreten. Dass er wusste, wann sie ihn brauchte und wann er sich zurückziehen musste, war eine der liebenswertesten Eigenschaften ihres Mannes.

Sir Hill legte die Stirn in Falten, als die Gesandtschaft nun geschlossen auf sie zusteuerte. Debbie verabschiedete sich, und Harriet trat nach einem fragenden Blick, den Charlotte mit einem Nicken beantwortete, hinter sie.

Der Monokelträger übernahm die Wortführung. »Verehrte Mrs Bromberg, mit dem, was Sie hier geschaffen haben, gehören Sie zur ersten Riege der englischen Botaniker. Mit Interesse haben wir gesehen, welche Pflanzen Sie kultivieren konnten, die bislang nicht heimisch waren. Das lässt auf weitere spannende Projekte hoffen. Ihr Garten ist eine Augenweide, wird den Bürgern unseres Landes die Schönheit der Pflanzenwelt zeigen und mit Sicherheit das allgemeine Interesse an der Botanik steigern.« Alle nickten und klatschten.

Charlotte strahlte. »Ihre Anerkennung bedeutet mir viel, meine Herren.«

»Wir haben Ihre Berichte in den einschlägigen Fachjournalen gelesen und sehen darin einige gute Ansätze für die wissenschaftliche Arbeit«, fuhr er fort. »Generell aber richten sich Ihre Artikel an ein breites Publikum und dienen eher der Unterhaltung als der Wissenschaft, nicht wahr?«

Charlotte spürte, dass sie blass wurde. »Nun ja, natürlich. Die Magazine, für die ich schreibe, werden auch von Hobbygärtnern gelesen. Aber meine Artikel sind fundiert und exakt recherchiert.«

»Das wissen wir, Mrs Bromberg. Aber die Linnean Society hat sich der Wissenschaft verschrieben. Wir werden den Garten von Summerlight House wohlwollend in unseren Vorträgen erwähnen, aber um Sie mit der Linnean Medal auszuzeichnen, fehlen die Voraussetzungen.«

Charlotte spürte Harriets Hand auf ihrer Schulter. Sir Hill schien sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Zorn kochte in Charlotte hoch. Sollte er am Ende recht behalten und sie war nichts weiter als eine überengagierte Ehefrau mit einem botanischen Hobby? Niemals!

»Welche Voraussetzungen fordern Sie?«, fragte sie mit ruhiger Stimme, um nichts von dem Aufruhr in ihrem Inneren zu zeigen.

Die Männer wechselten Blicke untereinander und tuschelten. Schließlich erhob der Wortführer wieder die Stimme. »Nun, wenn Sie eine Dissertation über Gartengestaltung und die Rolle von Gärten in der Gesellschaft anfertigen und promovieren würden, könnte ich mir vorstellen, dass Ihre wissenschaftliche Arbeit vor dem Hintergrund Ihrer praktischen Erfahrungen von uns entsprechend honoriert werden würde.« Er lächelte schief. »Leider kann ich Ihnen nichts Positiveres sagen. Mir ist jedoch klar, dass eine Hausherrin und Mutter mit einem so aufwendigen Zeitvertreib nicht die Muße findet, eine solche Abhandlung zu schreiben und Doktorwürden zu erlangen.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit«, erwiderte Charlotte und hoffte, dass niemand mitbekam, wie der Ärger in ihr brodelte. »Ich werde Ihren Ratschlag überdenken.«

Sir Hill beugte sich zu ihr. »Machen Sie nicht den Fehler, Ihren Mann außen vor zu lassen. Er hat ein Recht darauf zu erfahren, falls Sie sich dafür entscheiden, an der Universität zu promovieren. Bedenken Sie, wie viel Zeit eine solche Arbeit kosten würde, und keiner kann Ihnen vorab garantieren, dass die Promotion den Erwartungen entspricht. Erst recht nicht, ob diese genügt, um Ihnen die Medaille zu verleihen. Mit Verlaub, liebe Mrs Bromberg: Ich rate ab.«

Charlotte starrte ihn an. »Mit Verlaub, lieber Sir Hill: Ich treffe meine Entscheidungen allein.«

Die Männer knöpften sich die Jacketts zu, wischten sich nicht vorhandene Staubkörner von den Kragen und richteten ihre Hüte.

»Guten Tag, meine Herren. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.« Damit wandte sich Charlotte um und ging ohne Eile voran. Dass in ihrem Inneren in diesem Moment ein Orkan aus Wut und Verzweiflung tobte, würde niemand erfahren. Was wäre sie für ein Vorbild für ihre Tochter, wenn sie sich vor der Gesandtschaft und dem Direktor von Kew Gardens kleinmachen ließe? Sie würde sich weder von einer Expertenjury mit verstaubten Ansichten noch von einem onkelhaft auftretenden Frauenverächter entmutigen lassen, sondern der Welt beweisen, dass sie ihr Leben der Wissenschaft gewidmet hatte. Auf ihre eigene Art.