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Baden-Baden 1847. Nach dem Willen ihrer Eltern soll die junge Claire Engel Zimmermädchen im mondänen Grandhotel werden, doch sie verfolgt ihren eigenen Traum: Sie will Croupier werden, als erste Frau und im prunkvollen Kasino der Stadt. In der berühmten Spielbank suchen Prominenz und Adel das große Glück, dank ihr ist Baden-Baden Magnet für alles, was in Europa Rang und Namen hat. Hier trifft altes Geld auf neue Regeln. Doch hinter den prachtvollen Fassaden ist nicht alles Gold, was glänzt. Versprechen werden gebrochen, Hoffnungen enttäuscht und die Liebe verraten. Schon bald muss die ehrgeizige Claire sich fragen, was sie für ihren Traum zu opfern bereit ist.
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Seitenzahl: 507
Baden-Baden 1847. Nach dem Willen ihrer Eltern soll die junge Claire Engel Zimmermädchen im mondänen Grandhotel werden, doch sie verfolgt ihren eigenen Traum: Sie will Croupier werden, als erste Frau und im prunkvollen Kasino der Stadt. In der berühmten Spielbank suchen Prominenz und Adel das große Glück, dank ihr ist Baden-Baden Magnet für alles, was in Europa Rang und Namen hat. Hier trifft altes Geld auf neue Regeln. Doch hinter den prachtvollen Fassaden ist nicht alles Gold, was glänzt. Versprechen werden gebrochen, Hoffnungen enttäuscht und die Liebe verraten. Schon bald muss die ehrgeizige Claire sich fragen, was sie für ihren Traum zu opfern bereit ist.
Martina Sahler und Heiko Wolz haben als Duo zahlreiche erfolgreiche Jugendbücher veröffentlicht. Für ihren historischen Roman WEISSE NÄCHTE, WEITES LAND wurde Martina Sahler mit dem HOMER LITERATURPREIS in Silber ausgezeichnet, Heiko Wolz erhielt unter anderem das Literaturstipendium des Freistaats Bayern. DIE ZUCKERBARONIN ist der Auftakt zu ihrer ersten gemeinsamen historischen Romanreihe.
Martina Sahler und Heiko Wolz
KASINO
Alte Klassen, neue Regeln
Roman
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anna Hahn
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign,
Umschlagmotiv: © stock.adobe.com: dlyastokiv | Sakedon | smotrivnebo | SG-design
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-6114-7
luebbe.de
lesejury.de
Verzeichnis der Figuren
(reale Charaktere sind mit * gekennzeichnet)
Im Kasino:
Claire Engel, kommt mit großen Träumen nach Baden-Baden
Jean Jacques Bénazet*, ab 1837 Pächter des Spielkasinos Baden-Baden
Suzanne Bénazet*, seine Gattin aus reicher Familie
Edouard Bénazet*, ihr gemeinsamer Sohn
Antoine Chabert*, vormals Leiter der Spielbank
Karl Lindemann, Assistent der Geschäftsführung
Theo Vlissing, Sicherheitsbeauftragter mit bewegter Vergangenheit
Frederic Culot, oberster Croupier mit zweifelhaftem Ehrgefühl
Yves Heger, ebenfalls Croupier
Estelle Rosenberg, Garderobiere mit losem Mundwerk
Im Grandhotel am Park:
Martin Salbach, Direktor des Hotels
Jules Fournier, von den Gästen sehr geschätzter Concierge
Jasper Finken, Portier mit hervorragendem Gedächtnis
Ludwig, Jaspers Lehrling
Als Gäste in Baden-Baden:
Gräfin Irina von Bergfels, gern gesehener Gast im Grandhotel am Park
Graf Wolfram von Bergfels, Irinas beinahe siebzigjähriger Gatte, bleibt vornehmlich auf Gut Bergfels in Gernsbach
Anna, vierzehnjährige Zofe in Gräfin Irinas Diensten
George Bedford, attraktiver Engländer mit wechselhaftem Gemüt
Lord Jacob Bedford, sein Vater, sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl und residiert während der Saison mit seinem Sohn in einer Privatvilla
Maxim Iwanowitsch Smirnow, russischer Poet
Lorenzo Benedetti, Weinbauer aus der Toskana, der Baden-Baden als neuen Markt erschließen möchte
Sonstige Personen:
Die Eheleute Gustav und AdrienneEngel, Claires Eltern in Sinzheim, mit Claires jüngeren Geschwistern Flora und Justine. Besitzer der Gastwirtschaft Zum Bären
Knut Engel, Claires Großvater, leitet im Hinterzimmer des Bären das Glücksspiel
Hermann Engel, Claires Halbbruder aus erster Ehe des Vaters
Martha Seibold, Claires überaus neugierige Vermieterin in Baden-Baden
Beate Leberecht, Theo Vlissings Schwester und Gattin des Badearztes Dr. Günther Leberecht
Vor der letzten Etappe hatten sie im Hotel Cour du Corbeau in Strasbourg übernachtet. Bei Sonnenaufgang brachen sie auf, um den Rhein zu überqueren. Suzanne seufzte wegen der frühen Stunde, warf ihm vorwurfsvolle Blicke zu, nachdem sie sich ins Polster der Kutsche hatte fallen lassen und ihren voluminösen Rock um ihre Rundungen herum arrangiert hatte. Sie war müde um die Augen, aber adrett wie immer seit dem Tag, an dem er sie vor vierunddreißig Jahren geheiratet hatte. Wenn auch mit einigen Pfunden mehr auf den Hüften als damals. Doch ob schlank oder üppig, er liebte ihren Anblick. Und ihr Urteil bedeutete ihm viel. Daher wollte Jean Jacques Bénazet seiner Frau ihre neue Heimat im silbernen Licht dieses Frühlingstages präsentieren und nicht erst, wenn es beim abendlichen Eintreffen schon schwand.
Baden-Baden sollte sie freundlich empfangen. Als eine Stadt, malerisch inmitten einer aus Waldtälern, Wasserfällen und Burgruinen bestehenden Landschaft liegend, die mehr und mehr Gäste anzog. Viele waren von all der Aufklärung, Vernunft und Industrialisierung übersättigt. Die Menschen sehnten sich nach Romantik.
Er selbst reiste nicht als Naturliebhaber an. Bestimmt nicht. Er wischte sich ein Staubkörnchen vom roten, mit goldfarbenen Schlaufen versehenen Samtmantel, unter dem er ein weißes Hemd mit offenem Kragen trug. Er wusste um seine Ausstrahlung als weltmännischer Geschäftsmann. Und er wusste, dass allein er diesem verträumten Städtchen einen mondänen Anstrich geben konnte. Mit Beginn der neuen Saison würde alles anders werden im Oostal. Zum Beispiel, dass die Zeit der Vergnügungen erst Mitte Mai begann. Sobald die Gelegenheit günstig war, würde er den Start auf den Monatsanfang vorverlegen.
Bei seinen vorangegangenen Besuchen hatte er sich davon überzeugt, dass der bisherige Pächter des Spielkasinos, der griesgrämige Antoine Chabert, sich redlich mühte, ein zahlungskräftiges Publikum anzulocken, dabei aber zu behäbig war. Zu langsam im Denken. Ein Mann ohne Visionen. Und damit das genaue Gegenteil von ihm.
Chabert war jenseits der sechzig und stockkonservativ, und vor Kurzem hatte er seinen Sohn Joseph verloren. Allerdings bewies er eine sichere Hand in der Leitung seiner Häuser in Baden-Baden, Wiesbaden, Ems, Langen-Schwalbach und Schlangenbad. Jacques ging davon aus, dass Chabert ihn und seine Familie heute in Empfang nehmen und seine Anstrengungen zusammenfassen würde, bevor er das Zepter an ihn weiterreichte. Zepter. Das gefiel ihm. Er hätte nichts dagegen, zum König von Baden-Baden aufzusteigen …
Jacques’ Blick glitt an seiner Frau vorbei zu seinem Sohn Edouard mit seinen sechsunddreißig Jahren und den akkurat gescheitelten welligen Haaren, dem ordentlich geknöpften Hemd mit schneeweißem Kragen und einer Anzugjacke darüber, die wie festgenäht an ihm saß. Seit ihrer Abreise aus Paris hatte er sich kein einziges Mal nachlässig gekleidet oder die Füße von sich gestreckt. Als könnten sie es sich zu dritt in der Eilkutsche nicht leisten, sich auch einmal salopp zu geben. Stets auf die Etikette bedacht und ohne Sinn für alles, was dem Leben Schwung gab. So war sein Jüngerer. Was ihm an Fantasie und Spontaneität fehlte, glich er mit scharfem Verstand, geschliffenen Manieren und Organisationsvermögen aus. Dennoch hätte Jacques lieber den älteren und ihm selbst im Wesen ähnlicheren Théodore mit in die deutschen Lande genommen. Der zerbrach sich aber weiter in Paris den Kopf darüber, ob er sich als Publizist oder Jurist einen Namen machen wollte. Geschäftliche Interessen lagen ihm genauso fern wie seiner Schwester Clara, die ebenfalls, gut verheiratet und glücklich mit ihrem ersten Sohn Emile, in Frankreich geblieben war.
Also begleitete Edouard ihn bei diesem Abenteuer. Zwangsläufig. Es musste ihnen gelingen, ihre so unterschiedlichen Talente miteinander zu kombinieren. Zum Besten des Kasinos und der Stadt. Und der Familie Bénazet natürlich.
Die höher steigende Sonne blinzelte durchs Blätterdach der Buchen und Erlen, nachdem sie das Rheintal verlassen hatten. Es versprach ein warmer Tag zu werden, der die Menschen vom Hochsommer träumen ließ. Ein einzelnes Bündel Licht wies auf ein Rudel Rotwild hin, das ins Unterholz davonsprang, als die Eilkutsche in ihrem halsbrecherischen Tempo mit den drei Gepäckwagen im Windschatten vorbeipreschte.
Suzanne verzog leidend das Gesicht. Sie waren seit fünf Tagen unterwegs, das Gerumpel zerrte an den Nerven aller, aber sie waren doch bald am Ziel! Jacques war gespannt, was ihn im Kasino erwartete. Mit Antoine Chabert hatte er besprochen, dass er das Personal zunächst übernehmen würde. Es würde sich zeigen, wer geeignet war und auf wen er in der nächsten Saison lieber verzichtete.
Der Kutscher lenkte das Gefährt in einen dicht stehenden Nadelwald, der nun, da es auf Mittag zuging, willkommenen Schatten spendete. Zufrieden registrierte Jacques, dass sich Suzannes Züge leicht entspannten. »Geht es dir besser, chérie?«
»Besser wäre es mir gegangen, wenn wir in Paris geblieben wären.«
Er kannte ihre schnippische Art bei schlechter Laune. Sie verschlimmerte sich, wenn sich ihr Hunger meldete. Seit dem Frühstück waren sechs Stunden vergangen. Aber sie würden keine Rast mehr einlegen, nur weil ihr der Magen knurrte.
»Also ist meine Antwort: den Umständen entsprechend«, fügte sie noch an und schenkte ihm zumindest ein halbes Lächeln.
Er öffnete ein Fenster, damit sie frische Luft bekamen.Der Duft blühender Obstbäume und Wildkräuter wehte herein. Sie passierten Wiesen und Weinberge, umgeben von den majestätischen Tannen und den Anhöhen des nördlichen Schwarzwaldes. Er steckte seinen Kopf heraus, um nach den anderen drei Kutschen zu sehen, die hinter ihnen herratterten. Die Haare verwehten, was ihn jedoch nicht kümmerte. Die Gefährte waren vollgepackt mit Möbeln, Kisten voller Geschirr und Kleiderkoffern. Jacques beabsichtigte nicht, in seiner neuen Heimat ganz von vorn zu beginnen. Mit erlesenem Geschmack hatten sie in den vergangenen Jahren, in denen er dem Kasino im Palais Royal vorgestanden und Mitpächter zehn weiterer Spielbanken in Paris gewesen war, ihre Garderobe und Einrichtung gewählt. Diesen französischen Chic nahm er mit in die Provinz, und es sollte nur der Anfang sein. Ein Lächeln glitt über seine Züge bei diesem Gedanken. »Was meinst du, Edouard, wie lange brauchen wir, um aus dem hübschen Baden-Baden eine französische Stadt zu machen?« Er gluckste vor Übermut.
Wie immer blieb Edouard ernst. »Zehn bis fünfzehn Jahre sollten wir einkalkulieren.«
Jacques lachte laut auf, der sonore Ton erfüllte die Kutsche. Suzanne schmunzelte. Sie liebte sein Lachen. Als er um ihre Hand angehalten hatte, hatte sie schelmisch geantwortet: Wie könnte ich einen Mann, der sich so leicht erheitern lässt, ziehen lassen? Du bringst das Licht in mein Leben, Jean Jacques.
Er wischte sich mit dem Brusttaschentuch über die Augen, bevor er seinem Sohn erwiderte: »Bis zum nächsten Winter wird alles im Pariser Glanz erstrahlen. Wollen wir wetten?«
Edouard zog einen Mundwinkel hoch. »Das Wetten überlasse ich den Briten. Wir werden sehen, ob die Verwaltung uns mit offenen Armen empfängt, wie du behauptest. Auch wenn wir die mit dem Geld sind, das letzte Wort bei Entscheidungen bleibt in der Politik.«
»Die mit dem Geld sind nicht wir, sondern ich, wenn ich daran erinnern darf.« Suzanne hob die Nase, um gespielt auf Mann und Sohn herabzublicken.
Jacques nahm ihr den Einwurf nicht übel. Sie hatte ja recht. Suzanne entstammte einer wohlhabenden Reedersfamilie, hatte ihm, ihrem geschäftstüchtigen Ehegatten mit den besten Kontakten, jedoch von Anfang an vertraut und ihn über ihr Vermögen verfügen lassen. Er ergriff ihre Hände und küsste ihre Fingerspitzen. »Du bist nicht nur reich, sondern auch unendlich klug. Von deiner Schönheit ganz zu schweigen.«
Sie beugte sich versöhnlich vor, sodass er sie kurz und zärtlich küssen konnte. Er hatte gelernt, ihre manchmal etwas spitze Art als liebenswert zu betrachten. Sie trug sie wie einen Schild vor sich her, und er durfte sich glücklich schätzen, derjenige zu sein, dem sie in den Stunden der Zweisamkeit ihre einfühlsame Seite zeigte. Dass sie es stillschweigend duldete, wenn er in Gegenwart schöner Frauen schwach wurde, rechnete er ihr ebenso hoch an. Wenn er sich eine Mätresse nahm, dann stets diskret, schließlich wollte er Suzanne nicht verletzen. In Paris war das kein Problem gewesen, dort machte sich eher ein Mann verdächtig, der sich neben seiner Ehefrau keine weitere Gespielin ins Bett holte.
In Baden-Baden würde sich zeigen müssen, aus welcher Klientel das Publikum bestand und wie liberal die Gesellschaft war. Jacques hoffte von Herzen, dass er zu einer freizügigen Geisteshaltung beitrug. Nichts war dem Gemüt abträglicher als Engstirnigkeit und starre Regeln.
Dass Suzanne ihm in allem, was er tat, zur Seite stand, war jedoch mehr wert als jedes Techtelmechtel.
Sie fuhren in eine bewaldete Enge ein. Man erreichte die Stadt durch ein von der Natur vorgegebenes Nadelöhr wie eine Kirche durch ihr Portal. Als behüteten die nach allen Seiten aufragenden Berge dieses Kleinod oder bildeten mit ihrem Rund ein antikes Theater. Jacques’ Herz machte einen Sprung. Wie rasch man sich in einen Ort verlieben konnte! Er war erst zum dritten Mal hier, aber ihm war bereits, als käme er nach Hause.
Jetzt passierten sie schlichte Häuser. Baden-Baden war noch nicht gänzlich von den Reichen und Adeligen in Besitz genommen worden. In dem Viertel, das sie gerade durchquerten, wohnten Menschen, die sich ihren Unterhalt als Hausmädchen oder Schuster, als Servierhilfen oder Altkleidersammler, als Gerber, Hanfdreher oder Wurstler verdienten. Hier war noch nicht zu erahnen, dass die kleine Stadt mit seinem Eintreffen auf dem besten Weg war, sich zur Sommermetropole Europas zu entwickeln. Aber er würde sie schon aus ihrem Dornröschenschlaf wecken! Zufrieden lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme über dem Bauch.
»Wie viele Menschen leben in Baden-Baden?«, erkundigte sich Suzanne.
»Tatsächlich nur etwas mehr als fünftausend«, gab er wahrheitsgemäß zu. »Aber darum geht es nicht, Suzanne. Wir brauchen eine Stätte für all diejenigen, denen Louis-Philippe in Frankreich das Spielen verboten hat. Wir brauchen Engländer, denn nur mit den Briten ist ein Bad vornehm. Und wir brauchen Russen, die mit ihrer seelenvollen Poesie die Menschen unterhalten und mit ihren Taschen voller Geld die Spielbank stürmen. Das ist mein Traum, und ich werde daran festhalten.«
»Und wie lange, meinst du, reicht uns das Geld? Du hast den Verantwortlichen horrende Summen versprochen, damit sie dich diesem Chabert vorziehen.« Edouard schaute seinem Vater nicht in die Augen, betrachtete stattdessen seine Fingernägel.
»Du musst mir nicht vorrechnen, wie viel ich bereits ausgegeben habe. Ich bin sehr wohl in der Lage, den Überblick zu behalten.« Jacques seufzte, als sich Sohn und Gattin wieder in Schweigen hüllten. Die Stimmung war gereizt. Er schob das auf die lange Anreise. Aber er hatte noch ein Stück Arbeit vor sich, bis sie seine Entscheidung wirklich guthießen. Eine Entscheidung, zu der er nach dem Verbot des Glücksspiels in Frankreich gezwungen gewesen war, die er jedoch mit jedem Meter, den sie sich ihrem Ziel näherten, mehr begrüßte.
Vielleicht trug die wechselvolle Geschichte Baden-Badens ihren Teil zu seiner Faszination bei. Von den Römern am Fuße heißer Quellen erbaut, von den Truppen Ludwig XIV. niedergebrannt, aus der Asche zu noch größerer Schönheit auferstanden. Nahm man die Mauern des Schlosses als Vergleich, musste der mittelalterliche Ring um die Altstadt mächtig gewesen sein. Vor zwanzig Jahren hatte man ihn eingerissen und mit den Steinen die Gräben davor gefüllt, um neues Land zu erschließen. Seitdem breitete sich die Stadt wie ein junger Vogel, der die umhüllende Schale gesprengt hatte, nach allen Seiten hin aus. Allerorten wurde gebaut, und zu Jacques’ Freude entstanden nicht nur Hütten für das Volk, sondern auch Luxushotels, deren Eleganz sich mit den Häusern in St. Petersburg, London und Paris messen ließe. Und elegante Unterkünfte waren wichtig, um die anzulocken, deren lustigstes Abendvergnügen darin bestand, ihre Gulden und Francs an den Roulettetisch zu tragen.
Natürlich, im Vergleich zu Paris mit den weit mehr als einer halben Million Menschen war Baden-Baden ein Dorf. Dennoch war seine Wahl darauf gefallen. Zu dumm, dass Suzannes erster Eindruck dieses eher ärmliche Viertel war, wo die Hühner auf den Straßen flatterten und der Geruch einer Gerberei die Luft verpestete.
»Baden-Baden ist perfekt für das, was ich vorhabe«, sagte er im Brustton der Überzeugung.
»Ich weiß nicht.« Suzanne starrte aus dem Fenster. Eine Schar Frauen in schlichten schwarzen Arbeitskleidern und mit Hauben auf den Köpfen trug Körbe schmutziger Wäsche hinunter zum Wasser. Sie blieben stehen und begafften die Kutschenparade. Suzanne lehnte sich zurück, um ihren Blicken zu entgehen. »Du und deine Pläne. Hört das denn nie auf? Du bist fast sechzig. Es wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, sich zur Ruhe zu setzen, das sage ich dir.«
»Zur Ruhe setzen sich alte Männer.«
»Oder Männer, die ihren Söhnen Verantwortung übertragen«, warf Edouard provokant ein.
»Ich halte viel von deinen geschäftlichen Talenten«, erwiderte Jacques. »Das weißt du. Lass uns zusammen aufbauen, was mir vorschwebt, dann sehen wir weiter.«
Edouard lachte auf, aber es klang nicht amüsiert. Jacques verstand auch nicht, was an seinen Worten erheiternd sein sollte. Er sah aus dem Fenster, wo die Häuser nun größer und luxuriöser wirkten. Dennoch spürte er Suzannes Blick, mit dem sie ihn musterte. Sie konnte auch ohne Worte aussprechen, was ihr gegen den Strich ging.
Ja, es ließ sich nicht abstreiten, dass er mit seinen neunundfünfzig Jahren nicht mehr der Jüngste war. Aber in ihm brannte dasselbe Feuer wie früher! Er war nicht in die Fußstapfen seines Vaters getreten und Hufschmied in dem verschlafenen Bergnest geworden, in dem er aufgewachsen war. Die meisten seines Jahrgangs waren in den Pyrenäen geblieben, hatten nun ein Leben lang Schafe gehütet, Schuhe geflickt oder als Coiffeur anderer Leute Haare geschnitten. Sein Vater aber hatte erkannt, dass die große Welt in ihm steckte, und ihn zum Studium der Juristerei nach Bordeaux geschickt. Danach war er nach Paris gegangen und hatte schnell festgestellt, wie wenig die Arbeit in einer Kanzlei ihn ausfüllte. Er hatte Suzanne kennengelernt, hatte sich dank des Wohlstands, den sie mit in die Ehe brachte, nach einem anderen Betätigungsfeld umgesehen und war im Spielbankgeschäft gelandet. Paris war neben London, Venedig, Neapel, St. Petersburg und Warschau, wo man an den Höfen, in den Landschlössern und Bädern spielte, der zentrale Ort für alle Glücksritter. An den zehn Spielhäusern in der französischen Hauptstadt hatte er zuletzt Beteiligungen gehalten – bis Louis-Philippe per königlichem Dekret beschlossen hatte, dass das Glücksspiel schlecht für die Moral war. Binnen einer Frist von zwei Jahren mussten alle Kasinos im Land schließen. Ein wahres Wettrennen um eine Lizenz jenseits der Grenze war unter den Betreibern ausgebrochen. Baden-Baden war dabei ins Blickfeld geraten, eine Stadt, günstig gelegen für die Franzosen, Niederländer, Briten. Selbst die Russen fanden halbwegs bequem hierher. Im nahen Iffezheim gab es seit zwei Jahren eine Anlegestelle der Rheinischen Dampfschifffahrt, was sehr praktisch für die Besucher aus aller Welt war und mit dem Ausbau des Schienennetzes der Eisenbahn die Anreise noch einfacher gestalten würde.
Die Stadt hatte dem ehemaligen Großherzog von Baden, Karl Friedrich, viel zu verdanken. Er hatte noch vor dem Erscheinen Napoleons auf der politischen Bühne Europas Veränderungen angestoßen, hatte Klassenschranken eingerissen und manche vormals nur dem Adel gestatteten Vergnügungen dem zahlungskräftigen Bürgertum geöffnet. Er hatte sich vehement für die Verbesserung der Zustände in den Heilbädern eingesetzt. Eine eigens gegründete Kommission überwachte den Betrieb, warf ein Auge auf die Verhältnisse in den Gasthöfen und förderte das gesellige Leben. Nicht zuletzt hatte Karl Friedrich das Hasardspiel den Hinterzimmern einfacher Gasthäuser entrissen und verstaatlicht. Nach allem, was Jacques inzwischen gehört hatte, jedoch nicht, um die eigenen Kassen in Karlsruhe zu füllen, sondern um die Einnahmen aus Pacht und Konzession für den weiteren Aufbau einzusetzen. Etwas, das in Baden-Baden ansatzweise gelungen war.
Neben dem Großherzog hatte ein Unternehmer aus bürgerlichem Stand seinen Anteil am Aufschwung gehabt: Kein geringerer als Johann Friedrich Cotta, Goethes Verleger, hatte das ehemalige Kapuzinerkloster erworben und der Stadt ein derart luxuriöses Hotel wie den Badischen Hof geschenkt. Ein Haus mit einem dreigeschossigen Speisesaal und Räumen für Bälle, Konzerte und Spiel. Zu diesem Schritt musste ihn nicht zuletzt Goethe selbst gebracht haben. Der Dichter hatte stets das Fehlen einer großen Kulturhauptstadt nach Pariser Vorbild in den deutschen Staaten bemängelt. Ganz war Baden-Baden diesem Anspruch noch nicht gerecht geworden, doch Jacques hatte Pläne, die weit über das hinausgingen, was Karl Friedrich und Cotta geleistet hatte. Gut, ihm fehlten begeisterte Mitstreiter, aber sein eigener Elan reichte notfalls für zehn.
»Es wäre uns doch nur langweilig geworden«, sagte er auf Suzannes Einwand zum verpassten Ruhestand und schenkte ihr das Lächeln, unter dem ihre Versteinerung gewöhnlich bröckelte.
Diesmal nicht.
»Dir vielleicht.« Sie klang verbitterter als sonst. »Ich habe mir die Zeit mit meinen Freundinnen zu vertreiben gewusst. Wir haben uns zum Wein getroffen, Ausstellungen besucht, sind an der Seine entlangflaniert, haben die neusten Stücke angesehen …«
»Aber auch Baden-Baden hat ein Theater! Es ist wie die Spielbank im Konversationshaus untergebracht. Und was die Prominenz angeht, braucht sich die Stadt genauso wenig zu verstecken. Felix Mendelssohn Bartholdy ist hier aufgetreten und …«
Edouard unterbrach ihn mit einem Feixen, was selten genug vorkam. Sein Humor deckte sich nicht mit Jacques’. »Das war aber noch vor seinen umjubelten Konzertreisen. Man erzählt sich, ihm sei das Klavierspielen im Konversationshaus untersagt worden. Es hätte die Leute vom Roulette weggelockt.«
»Nachvollziehbar«, sagte Jacques mit einem Schulterzucken. »Man muss solche Dinge trennen. Am Ende ist das Kasino immer der Ort, von dem aus die gesamte Kultur einer Stadt finanziert wird. Selbst wenn Mendelssohn nicht die größten Ehren zuteilwurden, so muss man den Sommerfrischlern doch nicht mangelndes Kulturbewusstsein vorwerfen. Niccolò Paganini an der Geige wurde vor ein paar Jahren umjubelt!« Jacques machte eine Pause und fuhr dann fort: »Wir werden jedenfalls unser Bestes tun, um die Kultur nicht weniger hochzuhalten als den Spielbankbetrieb. Die Bürger und die Sommerfrischler werden es zu schätzen wissen, wenn wir ihnen eine Vielfalt an Theatern und Konzerten bieten, die sich mit Paris und London messen kann.«
Suzanne hob eine Augenbraue. Ja, es war verwegen, das Kulturangebot in diesem Schwarzwaldstädtchen mit den Pariser Bühnen zu vergleichen. Noch. Aber das würde sich ändern. Dafür würde er sorgen. Schließlich hatte er nicht umsonst tief in die Tasche gegriffen, um das Großherzogliche Ministerium zu überzeugen. Neunundzwanzigtausend Gulden hatte Chabert für jede Saison entrichtet. Jacques hatte sich nicht auf ein langwieriges Bietergefecht eingelassen und hunderttausend in den Ring geworfen. Als einmalige Zahlung anlässlich seines Einstands! Weitere fünfundvierzigtausend sicherte er dem Ministerium für jede Saison des auf fünfzehn Jahre ausgelegten Vertrags zu, zusätzlich zur Verpflichtung, in die Stadtentwicklung zu investieren. Dann wäre er Mitte siebzig. Das war ein Alter, sich zur Ruhe zu setzen und die Geschäfte Edouard zu überlassen, wenn der sich bis dahin bewährt hatte.
Um sein Ziel zu erreichen und die Dinge ins Rollen zu bringen, hatte er weiteres Geld in die Hand genommen. Davon wussten seine Frau und sein Sohn jedoch nichts. Sie hätten es nicht verstanden. Er hatte auf eigene Kosten eine illustre Schar Künstler und Künstlerinnen eingeladen. Literaten, Musiker, Feuilletonschreiber. Ihre Anreise, die noble Unterbringung im Grandhotel am Park, das tägliche Handgeld, das er ihnen zur Verfügung stellen wollte, damit sie sich in der Spielbank vergnügten, all das verschlang ein hübsches Sümmchen, würde sich aber letzten Endes bezahlt machen.
»Karl Friedrich, Cotta, Chabert«, sagte er. »Sie haben den Grundstein gelegt. Aber wir werden aus Baden-Baden die Capitale d’été Europas machen. Mit mir als Maître de plaisir. Ich sehe es schon vor mir!« Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Ein genialer Visionär, den weder die skeptische Miene seiner Frau noch die auf kühlen Berechnungen fußenden Argumente des Juniors vom Weg abbrachten.
Suzanne lüpfte wieder den Vorhang, um einen weiteren skeptischen Blick auf die Stadt zu werfen. »Es hat sicher schöne Ecken, dein Baden-Baden, mutet insgesamt aber doch recht provinziell an.«
Natürlich, es war ja auch bis vor wenigen Jahrzehnten ein kleines Ackerbauern- und Handwerkerstädtchen gewesen. Daran würde in absehbarer Zeit nichts mehr erinnern!
Unter dem Blätterdach einer Allee fuhren sie nun endlich auf das Konversationshaus zu. Dieses Bauwerk wie das alte Gebäude Promenadenhaus zu nennen, verbot sich von selbst. Einen wahren Prachtbau hatte Architekt Friedrich Weinbrenner im Auftrag der staatlichen Badeanstalten-Kommission errichtet! Acht korinthische Säulen stützten die Vorhalle mit dem rot-weißen Greifenfries. Ein Walmdach deckte den Mittelbau, durchaus ungewöhnlich und Grund für etliche Kritik, die den Baumeister getroffen hatte. Und doch fügte es sich in den vorherrschenden Gebäudecharakter des Schwarzwalds ein, verlieh dem Ganzen sein unverwechselbares Äußeres. Ja, dieser Bau konnte die Zeit überdauern und das Wahrzeichen der Stadt werden!
Suzanne und Edouard starrten aus dem Fenster.
»Nun?«, fragte er sanft und war ein wenig nervös ob ihrer Urteile. »Was haltet ihr davon?«
»Ein gelungener Prachtbau im klassizistischen Stil, der sich gefällig in das Umfeld einfügt«, meinte Edouard. »Dieses Gebäude wertet das Stadtpanorama deutlich auf.«
Mehr Enthusiasmus war von ihm nicht zu erwarten.
Jacques lächelte erfreut. »Wie schön, dass du mir zustimmst, Edouard. Suzanne?«
Sie schaute mit großen Augen aus dem Fenster, während sie weiter auf seine neue Wirkungsstätte zurollten und schließlich anhielten. Ein livrierter Diener eilte herbei, um ihnen die Tür zu öffnen. Er bot Suzanne seine Hand, zumal sie einige Mühe hatte, mit ihrer Krinoline durch die schmale Tür der Kutsche nach draußen zu gelangen. Jacques presste den Stoff an ihrer Rückseite zusammen, sodass sie hinausschlüpfen konnte, wo sich auf dem Kiesweg ihr Rock wieder bauschte. Jacques und Edouard sprangen hinterher. Auch die Gepäckkutschen kamen zum Stehen, der bärtige Fahrer des ersten Wagens beugte sich seitlich an den Pferden vorbei. »Sollen wir hier warten oder gleich hügelaufwärts zur Villa vorfahren, Monsieur? Wir könnten schon ausladen.«
Jacques machte eine winkende Bewegung. »Nur zu. Wir werden hier ein wenig Zeit brauchen.« Stunden, in denen er erste Pläne zu entwickeln gedachte. An diesem prächtigen Konversationshaus gab es von außen betrachtet nichts auszusetzen. Der Anblick der beeindruckenden Fassade brachte Suzanne und Edouard genau in die richtige Stimmung, um später seine weiteren Visionen gutzuheißen. Zum Beispiel dem halben Dutzend kunstfertig in Paris gegossener Straßenkandelaber für die abendliche Beleuchtung vor dem Gebäude. Wenn es nach ihm ging, sogar bald schon mit Gas, für das Leitungen in der Stadt verlegt werden mussten.
Ihm fiel der nur von wenigen Bäumen bestandene Platz rechts des Hauses auf. Wäre dort nicht der ideale Ort für eine exklusive Trinkhalle, in der man sich mit dem heißen Quellwasser kurieren konnte? Die Ideen schossen ihm wie Blitze durch den Kopf, Unruhe erfasste ihn.
Er sah seiner Frau lächelnd ins Gesicht und erfreute sich an dem Funkeln ihrer Augen, bis sie ihm gespielt wütend auf den Arm klopfte. »Du wusstest, welche Wirkung es auf mich haben würde, nicht wahr?« Sie schaute wieder die Säulen entlang, ein wenig atemlos, wie es ihm schien. »Es ist wundervoll, Jacques, einfach nur wundervoll!«
»Wo bleiben Sie denn, Fräulein Engel! Die Postkutsche ist doch schon vor über einer Stunde angekommen! Jetzt ist die Suppe, die ich vorbereitet habe, natürlich kalt. Denken Sie nicht, nur weil ich Zimmer vermiete, hätte ich Geld wie Heu! Ich kann es mir nicht leisten, den Ofen so lange am Laufen zu halten. Brennholz und Kohle sind teuer, wer da nicht zur rechten Zeit zum Essen da ist, geht leer aus. Wo waren Sie überhaupt?« Martha Seibold steckte den Kopf aus ihrer Haube wie eine Schildkröte, während sie Claire fixierte, die vor der Haustür stand und mit offenem Mund dem Gezeter der Frau zuhörte, der sie nie zuvor begegnet war.
Bevor Claire geklopft hatte, hatte sie den Lederkoffer neben sich gestellt, um sich die Jacke zuzuknöpfen, die sie auf der Fahrt aus Sinzheim hierher geöffnet hatte. Im Inneren des Gefährts war die Luft mit einer Familie mit zwei übergewichtigen Mädchen und einem älteren Herrn als Reisegefährten verbraucht gewesen. Damit sich die Kleinen nichts einfingen, hatte die Mutter auf geschlossene Fenster bestanden, und auch der Mann hatte von einem nicht auskurierten Lungenleiden gefaselt, das gegen die Frischluft sprach. Claire hätte gern etwas Fahrtwind um die Nase gehabt, hatte aber die übrigen Passagiere gegen sich gehabt. Nachdem sie der Kutsche vor der Post am Leopoldsplatz entstiegen war, hatte sie tief durchgeatmet – froh, der Reisegesellschaft entkommen zu sein.
Während ihres Spaziergangs durch die Stadt hatte sie die Jacke offen gelassen. Die Straßen führten steil bergan und bergab, da kam man unter der Frühlingssonne leicht ins Schwitzen. Das Kurhaus hatte sie schon von Weitem gesehen, dort würde ihr Weg sie heute noch hinführen. Bei dem Gedanken schlug ihr Herz schneller.
Claire war nie zuvor in Baden-Baden gewesen. Grundlos reiste keiner in diesen Tagen von einem Ort zum anderen, es sei denn, man war ein Sommerfrischler und vertrieb sich die Langeweile in der Fremde.
Wie hoch der Marktplatz lag, direkt neben der Liebfrauenkirche, deren Turm die Anreisenden von Ferne stets als eines der ersten Gebäude der Stadt erblickten! Claire hatte sich mehrmals in den engen Gassen und auf den Treppen verirrt, sich schließlich in einer Bäckerei eine Brezel gekauft und die Frau hinter der Theke nach dem Weg gefragt. So hatte sie die Herberge der Witwe Seibold im Schatten des mächtigen Glockenturms in einer Sackgasse endlich gefunden. Obwohl das Haus mit der bröckelnden Fassade und den morschen Holzverschlägen alles andere als einladend wirkte, wollte sie sich bei der ersten Begegnung von ihrer besten Seite zeigen und hatte die Perlmuttknöpfe der Reisejacke vorab geschlossen.
Vermutlich hätte sie aber auch in karierten Männerhosen vor Frau Seibold stehen können. Die sorgte sich nur um ihre Suppe. Claire schluckte die Erwiderungen hinunter, die ihr auf der Zunge lagen. Gleich am ersten Tag würde sie nicht mit der Hausbesitzerin streiten. Ihre Eltern hatten ihr geholfen, diese Herberge zu finden. Ein Stammgast aus ihrer Gastwirtschaft hatte von einer Cousine erzählt, die, wie so viele in Baden-Baden, Zimmer vermietete. Manche zogen während der Saison gar ins Parterre und überließen den Fremden die oberen Etagen. Meistens handelte es sich um bescheidene Unterkünfte, dafür waren sie weit günstiger als die Nobelherbergen wie der Badische oder Englische Hof. Inklusive Verköstigung, wenn gewünscht.
Was der Stammgast nicht erwähnt hatte, war, dass seine Cousine keinerlei Taktgefühl besaß. Claire so anzufahren und gleichzeitig auf plumpe Art auszufragen! Eine Frechheit! Am liebsten hätte sie sich umgedreht und nach einer anderen Pension gesucht. Aber ob sie so spontan etwas finden würde, was ihrem Geldbeutel entsprach?
Die Witwe trat einen Schritt zurück und vollführte eine Geste ins Haus. Claire bemühte sich um Höflichkeit, obwohl es in ihr brodelte. »Verzeihen Sie, Madame. Man kann die Suppe vielleicht morgen aufwärmen? Ich habe den Weg nicht direkt gefunden, deswegen bin ich spät.«
Die Vermieterin schlurfte ihr voran in die kleine Küche. Kohlgeruch hing in der Luft. »Setzen Sie sich mal.« Harsch wies sie auf einen Stuhl. Claire ließ sich darauf fallen, während die Seibold ruckelnd eine Schublade öffnete und einen Zettel hervornestelte. Sie legte ihn vor ihr hin und strich glättend mit der Hand darüber, reichte ihr Tintenfass und Feder. »Und nun füllen Sie das fein aus und vergessen bloß nichts! Name, Stand, Beruf, Nationalität, Herkunftsort und der Zweck der Reise müssen nach bestem Wissen und Gewissen angegeben werden! Das geht an die Polizeibehörde und von den Gendarmen an das Badeblatt. Da steht dann drin, wer wo neu untergekommen ist. Das muss alles seine Ordnung haben!«
Claire setzte den Federhalter an und füllte die Leerstellen auf dem Formular aus. Ihre Vermieterin stand so dicht hinter ihr, dass sie ihren Geruch nach Essig und Kernseife wahrnahm.
»Ledig und keinen Beruf?«, zischte die Frau.
»Das eine bleibt vermutlich noch eine Weile bestehen, das andere hoffe ich in Kürze zu verändern«, gab Claire zurück, ohne sich irritieren zu lassen.
»Wenn Sie in zwielichtigen Gewerben tätig sind, kündige ich Ihnen sofort. So schnell können Sie nicht gucken, wie ich Ihnen den Koffer vor die Tür stelle.«
Zwei Minuten mit ihrer Vermieterin, und Claire fühlte sich mit ihren Nerven am Ende. Dabei war es wichtig, am Nachmittag sämtliche Gelassenheit und Stärke auszustrahlen, zu der sie fähig war.
»Keine Sorge, ich machen Ihnen keine Schande.« Sie senkte die Stimme und musterte die Frau betont beschwörend. »Mir wurde Stillschweigen über meinen Erwerb auferlegt. Sobald ich Genaueres weiß, setze ich Sie als Erste in Kenntnis, Madame.«
Die Seibold kniff ein Auge zu und fixierte Claire. »Als ich Ihren Eltern in meinem Brief die Zusage für das Zimmer gab, bin ich davon ausgegangen, dass Sie einer anständigen Arbeit nachgehen, wenn Sie schon ohne männlichen Schutz auf Reisen gehen.«
»Ich werde zuverlässig für die Miete aufkommen.« Etwaige Zweifel gingen die Vermieterin nichts an. »Wenn Sie mir jetzt die Räumlichkeit zeigen würden?«
»Räumlichkeit, Räumlichkeit«, murmelte die Witwe abschätzig vor sich hin, während sie zur Flurtreppe schlurfte. »Die feine Dame fragt nach der Räumlichkeit, ts, ts.« Sie stieg die mit einem abgetretenen Teppich ausgelegten Stufen hinauf, blieb oben stehen und öffnete die Tür zu einer Kammer, in der ein hölzernes Einzelbett mit einer grauen Decke und einem karierten Kissen den größten Teil einnahm. Platz hatten daneben nur ein schmaler Schrank und eine Kommode, auf der eine Waschschüssel und ein Krug standen, dahinter lehnte ein Spiegel an der Wand. Am blank geputzten Fenster hingen gestreifte Gardinen, verdeckten die Aussicht in den mit Unkraut überwucherten Innenhof und einen Bretterverschlag aber nur unvollständig.
»Mehr können Sie für das wenige Geld wirklich nicht verlangen«, kam die Seibold einem Protest zuvor.
Claire hatte sich nicht beschweren wollen. Sie hatte sich schon bei der unfreundlichen Begrüßung vorgenommen, sich so bald wie möglich nach einer anderen Bleibe umzuhören. Gerade war ihr jedoch alles recht, wenn sie nur endlich eine Tür hinter sich schließen und allein sein konnte. »Es ist in Ordnung, Madame, herzlichen Dank.«
Die Vermieterin betrachtete sie, als wolle Claire sie auf den Arm nehmen. Dann legte sie zwei große Schlüssel an einem Eisenring auf die Kommode neben die Waschstelle. »Damit kommen Sie rein. Aber nicht später als einundzwanzig Uhr! Und selbstverständlich keinen Herrenbesuch!« Sie wartete, ob Claire darauf eine Antwort hatte, doch Claire schwieg. »Soll ich Ihnen beim Auspacken des Koffers helfen?«
Fast hätte Claire gelacht. So weit kam es noch! Sie würde sich in Acht nehmen vor dieser Frau, die so angestrengt ihre Nase in ihr Leben zu stecken gedachte. »Danke für das freundliche Angebot, aber das schaffe ich schon.« Sie lächelte ihr zu, nickte und ließ sich auf der Bettkante nieder. Das Gestell knarrte.
Noch ein paar Sekunden blieb Martha Seibold im Türrahmen stehen. Endlich begriff sie, dass sie gehen konnte. »Es reicht, wenn Sie mir morgen den Mietvorschuss für zwei Monate geben«, sagte sie, bevor sie die Tür geräuschvoll schloss und Claire ihre Schritte auf der Treppe hörte.
Gleich für zwei Monate im Voraus! Es würde schmerzen, das Ersparte auszugeben. Sie hatte ihr Geld zusammengehalten, das sie im elterlichen Gasthaus verdient hatte. Am Ende hatten Vater und Mutter noch einen Zuschuss obendrauf gelegt, obwohl sie ihren Traum nicht befürworteten.
Sie trat an die Waschschüssel mit dem Krug, um sich frischzumachen, die Krinoline zu richten und dann in das hellgelbe Kleid mit der Saumstickerei zu schlüpfen, ihre allerfeinste Garderobe. Dazu passten der schmalkrempige hohe Strohhut mit den sonnenfarbenen Bändern und die hellgraue kurze Jacke. Hoffentlich die richtige Kleidung, um einerseits eine adrette frauliche Erscheinung zu sein, andererseits eine Dame, der man Tüchtigkeit, Stärke und Geschäftssinn zutraute. Genau darauf kam es an, wenn sie den Mann traf, den die Menschen den roi de Bade nannten, den König von Baden: Jean Jacques Bénazet.
Claire schritt zügig über das Kopfsteinpflaster der Gassen in Richtung Kurplatz, vorbei an Stadthäusern und Baustellen, auf denen die Arbeiter Stein um Stein in Fuhrwerken und Handwagen herbeischafften und verarbeiteten. Manche Gebäude wirkten, als wollten sie in den Himmel wachsen. Bald darauf wanderte Claires Blick über das Grün des gepflegten Rasens und die Blumenrabatte voller Narzissen zu den acht Säulen des Kurhauses. Genau so hatte es auf den Zeichnungen ausgesehen, die sie in Reiseführern und Zeitschriften bewundert hatte. Aber im Schatten dieses Gebäudes zu stehen und den Kopf in den Nacken zu legen, um es in all seiner Pracht zu erfassen – darauf hatte sie kein Zeitungsbericht, keine Beschreibung vorbereitet. Wie Kunstwerke reckten sich sechs grüne, dreiarmige Gaskandelaber vor dem Kurhaus in die Höhe. Majestätisch musste es aussehen, wenn sie das Bauwerk am Abend wie eine Theaterkulisse in ihr warmes Licht hüllten!
Der hellgelbe Stoff ihres Kleids changierte ein bisschen, änderte seine Farbe je nach Lichteinfall. Sie trug es heute zum ersten Mal. Sie war froh, dass sie in die Anschaffung neuer Krinolinenkleider investiert hatte. Obwohl es in ihrem familiären Umfeld mit einem Gastwirt als Vater kaum jemandem auffiel, hatte sie bereits in jungen Jahren Wert auf ihr Äußeres gelegt. Man mochte dies als oberflächlich abtun, aber für sie gehörte es sich, keine Flicken oder Flecke auf ihrer Garderobe zu haben und sich an der aktuellen Mode zu orientieren.
Linkerhand lag die Lichtentaler Allee, auf der die Menschen schlenderten und plauderten. Claire freute sich auf einen Spaziergang entlang der berühmten Straße, die von Wiesen und exotischen Bäumen umgeben war. Ein Luxuspark inmitten der Stadt! In den Reiseführern bekam dieser Weg Priorität als touristisches Ziel, keiner sollte sich einen Bummel über diese Meile entgehen lassen. Dort picknickten die Leute auf karierten Decken, man sammelte Beeren in den Büschen oder stellte seine Staffelei für eine kleine Übung in Aquarellmalerei auf. Ein Stück Natur in unmittelbarer Nähe des Vergnügungsviertels.
Aber zunächst hatte Claire Wichtigeres zu erledigen. Ihre Zukunft zu regeln, zum Beispiel.
Rechts neben dem Kurhaus erstreckte sich das klassizistische Gebäude der Trinkhalle. Sie sah elegant gekleidete Damen und Herren zwischen den Säulen wandeln, Becher mit heißem Thermalwasser in den Händen. Wer hier entzündete Schleimhäute auskurierte oder Leibschmerzen bekämpfte, trank dreimal am Tag von dem Heilwasser, das aus mehreren Quellen floss. Allerdings wirkte keiner hier wie ein Magenkranker. In repräsentativer Garderobe und mit ihren Bechern erinnerten die Kurenden eher an eine illustre Champagnergesellschaft. Die wenigsten suchten Heilung in der Stadt. Nein, man kam her, um sich in den Geschäften, Ballsälen und Theatern zu amüsieren. Und selbstverständlich im Kasino.
Claire zuckte zusammen, als in diesem Moment in einem muschelförmigen Unterstand das Kurorchester beschwingt ein Stück von Johann Strauss anspielte. Das Walzerfieber machte dieser Tage auch vor Baden-Baden nicht Halt, die schwungvolle Begleitmusik zur Trinkkur.
An den hölzernen Boutiquen auf der Kastanienallee zum Kurhaus und überall auf den Wegen waren Trauben von Menschen unterwegs, Badegäste auf der Suche nach Zerstreuung. Claire passierte elegante Paare, die Damen in bauschigen Röcken mit Fächern in der Hand, die Herren in langen Jacken, mit engen Hosen und Zylindern. Viele spazierten entspannt, manche schienen es eilig zu haben, ihre Gulden ins Kasino zu tragen, das ab den Vormittagsstunden geöffnet hatte. Claire kannte diese Art von Getriebenen. Nicht wenige von ihnen verloren im Spielrausch den Bezug zu ihrer finanziellen Realität. In ihrer Jugend waren das die bedauerlichen Gäste, die ihr Großvater aus dem Hinterzimmer der elterlichen Gaststube verbannt hatte, weil es ihnen nicht mehr guttat, dort ins Spiel zu investieren. Claire war darauf vorbereitet, auch hier solchen Glücksrittern zu begegnen.
Sie hob ihr Kleid an den Seiten, um nicht versehentlich auf den Saum zu treten, und schritt die Stufen des Kurhauses hinauf. Ein bisschen fühlte es sich an, als bestiege sie den Olymp, aber sie schalt sich selbst eine Närrin. Je mehr sie sich von all dem Prunk beeindrucken ließ, desto schüchterner würde sie sich verhalten, und das war sicherlich nicht dienlich. Sie nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie an den Portieren vorbei die Eingangshalle betrat. Die Wächter an den Türen, allesamt in dunkelblauer Uniform mit silbernen Knöpfen und Schirmmütze, musterten sie diskret. Einer schien sie besonders prüfend anzusehen – ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit stechend blauen Augen. Die sauber geschnittenen, glatten Haare, die unter der Kappe hervorlugten und im Nacken auf den Uniformkragen stießen, durchzogen graue Strähnen. Er drehte den Kopf, um ihr hinterherzuschauen, wie sie bei einem Blick über die Schulter bemerkte. War ihre Garderobe doch unpassend? Aber sie unterschied sich in ihrer Eleganz nicht von den anderen Besuchern. Oder war es unangemessen, als Frau das Haus allein zu betreten? Wieder diese Unsicherheit, die sie nicht gebrauchen konnte. Sie schüttelte sie ab und beschloss, der Aufmerksamkeit des Beamten keine weitere Bedeutung beizumessen.
Längst nicht jeder, der meinte, seinen Hungerlohn ins Kasino tragen zu müssen, wurde eingelassen. Man blieb unter sich, wie Claire wusste. Die Reichen, Schönen und Adeligen vergnügten sich gern ungestört von der Anwesenheit derjenigen, mit denen es das Schicksal weniger gut gemeint hatte.
Im Hinterzimmer ihres Großvaters hatten andere Regeln gegolten: Ausgeschlossen wurde nur, wer seine Spielschulden nicht beglich oder einem zerstörerischen Rausch verfallen war. Da hatten sich der Schmied und der Bäcker, der Apotheker, der Zimmermann und manchmal sogar der Pastor zum geselligen Beisammensein getroffen. Hier in Baden-Baden waren es Menschen, deren hauptsächlicher Zeitvertreib im Vergnügen bestand.
Claire betrat einen über und über mit Blumen bemalten und dekorierten Raum, der jedem Besucher den Atem stocken lassen musste. Und es war nur das Foyer! An dessen Ende führte eine breite, mit Teppichen ausgelegte Treppe in die oberen Stockwerke zu weiteren Sälen. Rechts verlief der Weg ins Kasino. Dort schimmerte an den Wänden und vor den Fenstern roter Samt, gigantische Kronleuchter und Kandelaber erhellten den Saal, goldgerahmte Spiegel zwischen lebensgroßen Porträts auf Leinwand, die Freunde und Förderer der Spielbank abbildeten, reflektierten die Lichter. An einem halben Dutzend Roulettetischen standen vereinzelt Menschen in eleganter Garderobe. Offiziell begann die Saison erst morgen, vermutlich handelte es sich um Stammgäste, die vorzeitig angereist waren und sich auf eine bevorzugte Behandlung durch die Kasinoleiter verlassen konnten. Alle starrten konzentriert auf die rollenden Kugeln, welche die Croupiers in die Spielscheiben warfen. Rien ne va plus. Die Mienen der Spielleiter wirkten hart, keine Regung war in ihren Zügen zu erkennen, nur unterkühlte Distanz. Hinter den halb geschlossenen Lidern lag eine gewisse Überheblichkeit, ein Ausdruck der Lust an der Macht, die sie über die am Spieltisch Versammelten besaßen. Ein Kribbeln stieg Claires Rückgrat nach oben.
An ihr Ohr drangen Sätze in verschiedenen Sprachen. Englisch, Schweizerdeutsch, Russisch. Die meisten unterhielten sich auf Französisch. So wollten es die Mode und der gute Geschmack. Ohnehin befand sich Frankreich nicht weit entfernt. Mit ihrer aus Nancy stammenden Mutter war Claire zweisprachig aufgewachsen, entsprechend geschliffen war ihr Französisch. Nur wenn es um Träume und Gefühle ging, vermochte sie sich in der Sprache ihres Vaters besser auszudrücken.
Um Emotionen würde sich das anstehende Gespräch sicher nicht drehen.
Es roch nach Pfeifenrauch und Zigarren und nach dem Wein, den beflissene Kellner auf Silbertabletts anboten. Ein junger Mann, die Frackschöße über den Hocker geworfen, entlockte einem in einer Nische stehenden Piano leise Klänge, Hintergrundmusik für das Klackern der Kugel im Rouletterad und das Murmeln und Plaudern im Saal. Claires Blick glitt umher auf der Suche nach einem Gang, der zu den Büroräumen und dem Direktorenzimmer führte. Sie hätte jemanden fragen können, aber sie befürchtete, man würde sie gleich abweisen, wenn sie damit herausrückte, dass sie bei Jean Jacques Bénazet persönlich vorsprechen wollte, ohne einen Termin zu haben. Keine der Zeitungen und Bücher, die Claire über Baden-Baden und das Wachstum des Spielkasinos gelesen hatte, hatte darauf verzichtet, ihn bei seinem Titel zu nennen, den ihm die Bürger gegeben hatten. Roi de Bade. In den neun Jahren seiner »Regentschaft« hatte er mehr für die Stadt getan als je ein Mann zuvor.
Tagelang hatte sie darüber nachgedacht, wie sie mit ihrem ungewöhnlichen Anliegen an ihn herantreten konnte. Sie hatte sich gegen ein Schreiben entschieden, denn sie war überzeugt, dass ihre Chancen besser stünden, wenn sie den Moment der Überraschung nutzte.
Sie entdeckte einen Gang, der am Kasino vorbei zu abzweigenden Zimmern führte. Der dicke Teppich schluckte ihre Schritte. Kein Mensch begegnete ihr bei diesen Büro- und Wirtschaftsräumen, die Türen waren verschlossen, kein Laut drang heraus. Sie studierte die emaillierten Schilder. Ein Raum war als Umkleide gekennzeichnet, einer mit dem Hinweis Arbeitsmittel, einer als Archiv, an einigen Rahmen hingen Namensschilder, von denen die meisten Claire nichts sagten. Nur Monsieur Edouard Bénazet war ihr ein Begriff, der Sohn des Spielbankiers. Er zog mit seinem Vater zusammen die Fäden, aber nach ihrem Kenntnisstand war es immer noch der Senior, der das Sagen hatte.
Schließlich stand sie vor einer Tür aus massiver Eiche, dem Direktorat.
Claire fühlte ihr Herz gegen die Rippen pochen, ihre Hände wurden feucht. Sie zog ein Tuch aus ihrer Jackentasche und trocknete sie ab. Bloß keine klammen Finger, falls sie der Direktor per Handschlag begrüßte. Ordnend fuhr sie sich durch die Locken, richtete den Hut und drückte das Rückgrat durch. Dann nahm sie allen Mut zusammen und klopfte kräftig gegen das Holz. Sie zählte die Sekunden, bis von drinnen ein »Herein!« erklang.
Die Tür knarrte, als Claire sie öffnete und sich in einem Büro mit Wandregalen voller akkurat beschrifteter Ordner und einem Schreibtisch wiederfand, auf dem Tintenfass und Feder, ein Aktenkorb und ein Stapel weißes Papier in perfekter Symmetrie angeordnet waren. Dahinter blickte sie ein Mann Ende vierzig über den Rand seiner Brille hinweg an. Er trug Weste, Rüschenhemd und Justaucorps und hielt einen Federkiel in den Händen, mit dem er, wie Claire an den Paragrafenzeichen erkannte, die Abschrift eines Vertrages anfertigte. Offenbar der Sekretär im Vorzimmer zum Heiligtum. Links vom Schreibtisch erhob sich eine doppelflügelige Tür mit kunstvollen Schnitzereien, hinter der zwei Stimmen zu hören waren.
»Was kann ich für Sie tun, Madame?«, wandte der Herr sich höflich an sie, während sie noch damit beschäftigt war, alle Eindrücke aufzunehmen. Ein Namensschild auf seinem Pult wies ihn als K. Lindemann, Assistante de direction aus. So viel zu dem Überraschungsmoment. Dass sie nicht einfach ins Direktorat hineinspazieren konnte, hätte sie sich denken können.
»Ich würde gern mit Monsieur Bénazet sprechen. Ist das möglich, Monsieur?«, fragte sie auf Französisch.
»In welcher Angelegenheit, Madame?«
Claire spürte, dass sie blass wurde. Zu dumm, denn dann traten die Sommersprossen um ihre Nase hervor. Sie hasste diese Punkte im Gesicht, obwohl Johannes immer behauptet hatte, sie wären das Schönste an ihr. Über Lindemanns Züge flog ein Lächeln, vielleicht, weil er seinen Worten die Schärfe nehmen wollte. Claire erwiderte es etwas wackelig. »Bitte verzeihen Sie, aber das würde ich ihm lieber selbst sagen.«
Lindemanns Lächeln wich einem leicht pikierten Ausdruck. »Ich kümmere mich um sämtliche Belange des Direktors. Wenn Sie mir keinen Grund für Ihren Besuch nennen können, bedauere ich, dass Monsieur Bénazet sich kaum die Zeit nehmen wird. Er ist ein vielbeschäftigter Mann, seine Termine sind kostbar. Darüber hinaus gibt es keinen Grund, an meiner Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln.«
Die Nervosität füllte Claires Adern mit einem durchdringenden Sirren. Sie hatte den Mann gegen sich aufgebracht! »Es tut mir leid, bestimmt habe ich nicht den geringsten Zweifel an Ihrer Diskretion. Es ist bloß so, dass …«
Da öffnete sich ein Türflügel, zwei Männer traten heraus, begleitet von einem Schwall französischer Gesprächsfetzen. »… sollten wir die Idee von einer Therme vielleicht fallen lassen«, sagte der jüngere, in der Hand einen Zylinder. Die gescheitelte Frisur wich an der Stirn deutlich zurück, der geschwungene Schnurrbart bildete einen attraktiven Kontrast zu seinen kantigen Zügen.
Der ältere trug eine offene Weste über einem weißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Die lockigen Haare standen ihm zu Berge, als hätte er sie sich gerauft. »Bisher ist es mir immer noch gelungen, die Politiker von meinen Ideen zu überzeugen! Ich lasse mir keine Steine in den Weg legen.«
»Dann ärgere dich weiter darüber, für mich ist die Sache vorläufig abgeschlossen.« Der jüngere verneigte sich förmlich. »Und nun entschuldige mich bitte, Vater.« Im Vorbeigehen nickte er Claire knapp zu. »Madame.« Dann verschwand er in den Flur.
Zurück blieb der ältere Mann mit offenem Mund. Jean Jacques Bénazet.
»Woher hat er nur seine Sturheit?«, stieß er hervor und kratzte sich am Hinterkopf. »Lindemann, verfassen Sie eine Einladung an den Rat, damit wir das Thema noch einmal durchgehen können. Es ist wichtig, dass wir hier ein Bad haben, wir haben einer Tradition zu folgen! Immerhin haben bereits die Römer hier Thermen errichtet. Es wäre ein weiterer Anziehungspunkt für Gäste aus dem Ausland. Die Sommerfrischler sollen unser ausgezeichnetes Wasser nicht nur trinken, sie sollen nackt wie die Frösche hineinhüpfen! Einen Heil- und Vergnügungstempel brauchen wir, nicht nur ein paar im Innenhof der Herbergen aufgestellte ärmliche Holzwannen wie im Mittelalter. Pah! Warum versteht das keiner, um alles in der Welt!« Er hatte sich in Rage geredet, warf die Arme in die Luft und stutzte im nächsten Moment. Sein Blick blieb an Claire hängen, die er bis dahin nicht bemerkt zu haben schien. Das änderte sich nun. »Und Sie, Madame? Wer sind Sie? Was führt Sie hierher?« Seine Worte klangen streng, aber er schaute mit sichtlichem Wohlgefallen an ihrer Gestalt hinab. Bénazet war ein Mann, der es gewohnt war, Frauen nach ihren äußerlichen Vorzügen zu beurteilen.
Claire hätte gern einen günstigeren Zeitpunkt abgepasst, doch ihr blieb keine Wahl. Womöglich würde sie bei einem erneuten Versuch nicht so leicht hier hereinkommen. Sie straffte die Schultern. »Mein Name ist Claire Engel. Ich bin heute aus Sinzheim angereist, um bei Ihnen als Croupière zu arbeiten, Monsieur Bénazet. Ich habe alles über diesen Beruf unter der Obhut meines Großvaters gelernt und träume von frühester Jugend an davon, in Ihrem Kasino das Spiel am Roulettetisch zu leiten.«
Die Freude in Bénazets Miene über ihre Erscheinung wich Irritation. Claire hörte ihr Blut rauschen in der Stille, die auf ihre kurze Rede einsetzte. Schließlich legte der Direktor den Kopf zurück und lachte schallend. »Wissen Sie, was ich gerade verstanden habe? Es hat sich angehört, als würden Sie sich als junge Dame um eine Stelle als Croupier bewerben. Verrückt, oder?«
Claire schob den Unterkiefer vor. »Genau das tue ich hiermit. Ich möchte Sie bitten, mir eine Chance zu geben. Ich werde Sie garantiert mit meiner Arbeit zufriedenzustellen, Monsieur. Ich habe …«
»Aber Madame!« Bénazet fasste sich theatralisch an die Stirn, bevor er ihr den Rücken zukehrte. »Den Weg hätten Sie sich sparen können. Gehen Sie mal fein nach Hause zu Ihrem Ehemann und versüßen ihm die Stunden. Das hat die Welt noch nicht erlebt! Eine Frau als Croupier. Himmel, was für irre Zeiten!« Das Lachen nahm er mit in sein Büro, bevor er die Tür mit einem vehementen Knall von innen schloss.
Claire sackte in sich zusammen. So schnell sollte ihr Traum geplatzt sein? Nur weil sie denjenigen, der über ihr Schicksal entschied, auf dem falschen Fuß erwischt hatte? Kurz ließ sie den Kopf hängen und verbiss sich die Tränen. Sie hatte darauf gewettet, dass er sie zumindest richtig anhören und ihr Anliegen abwägen würde. Schließlich war er doch derjenige, der so viel Neues nach Baden-Baden gebracht hatte! Einer Frau eine Chance in einem Männerberuf zu geben müsste in seinem fortschrittlichen Sinne sein! Aber sie hatte den König von Baden wohl in einem zu positiven Licht gesehen. Sie fasste sich und nickte Lindemann zu.
Die Züge des Sekretärs waren unversehens weich geworden. »Wie mutig von Ihnen«, sagte er anerkennend. »Aber nach den, äh, Diskussionen mit seinem Sohn ist er immer besonders angespannt und hat kaum ein Ohr für andere Angelegenheiten. Und die Errichtung einer Therme ist schon lange ein Thema, das die Gemüter überkochen lässt. Das hat nichts mit Ihnen zu tun, Madame.«
Claire trat näher an den Schreibtisch heran, stützte die Hände auf die Kante und starrte den Sekretär an, dank seiner Worte plötzlich von neuem Mut erfüllt. »Dann muss ich noch einmal mit ihm sprechen! Können Sie das für mich einrichten, Monsieur?«
Der Mann hielt ihren Blick, schien abzuwägen. Er befeuchtete einen Finger mit der Zunge und blätterte durch einen Kalender. »Morgen um zehn Uhr dreißig hätte Monsieur Bénazet ein Viertelstündchen, da hat ein Geschäftspartner kurzfristig absagen müssen.«
»Oh, ich danke Ihnen!«
Lindemann hob eine Schulter. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, Madame. Ich kann nur versichern, dass Monsieur le Directeur heute einen besonders unangenehmen Tag hatte und in schlechter Stimmung war.« Er tunkte die Feder ins Tintenfass und sah sie auffordernd an. »Vielleicht ist er morgen besser gelaunt, vielleicht auch nicht. Darf ich Sie eintragen?«
An Jean Jacques Bénazet führte kein Weg vorbei, und wenn sie ihn nicht beim ersten Mal hatte überzeugen können, gelang ihr das möglicherweise beim zweiten Mal. Sie schenkte dem Assistenten ihr schönstes Lächeln und bedankte sich erneut.
Lindemann erhob sich und verneigte sich. Dann trat er um den Schreibtisch herum und öffnete die Bürotür für sie. Claire spürte, dass er ihr Gesicht und ihre Erscheinung genau wie zuvor Bénazet mit Wohlwollen betrachtete. Dass Männer sie so ansahen, war sie gewohnt. Ihrer Ansicht nach konnte es nicht schaden zu gefallen, doch am Ende kam es auf mehr an als auf ein attraktives Äußeres. Auf sehr viel mehr.
Zurück in ihrem Zimmer in der Pension löste Claire die Bänder am Kinn und streifte den Hut ab. Zum Glück war sie der Vermieterin nicht begegnet. Frau Seibold hatte in ihrer Küche hantiert und nicht mitbekommen, dass sie die Haustür aufgesperrt hatte.
Mit geübten Griffen zog sie die Nadeln aus ihrer hochgesteckten Frisur, sodass ihre dichte Mähne bis weit über den Rücken fiel. Wie befreiend! Als hätte sie mit den Klammern die Anspannung von sich genommen. Sie stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und legte ihr Gesicht in die Hände. Nach wenigen Stunden in Baden-Baden fühlte sie sich ausgelaugt und zermürbt. Sie war mit vollem Herzen hergekommen, mit Mut und Vorfreude. Und nun das. So hatte sie sich ihren ersten Tag nicht vorgestellt, doch wahrscheinlich war es naiv gewesen zu glauben, dass es so einfach werden würde. Dennoch würde sie nicht vorzeitig kapitulieren. Noch gab es Grund zur Hoffnung.
Als sie sich später bettfertig machte, wappnete sie sich für eine unruhige Nacht. Die ungewohnte Umgebung, die Begegnung mit den Bénazets, die Ablehnung. Sicher würde all dies in wirren Albträumen aufleben. Aber im Gegenteil, sie schlief so tief und fest wie schon lange nicht mehr.
Am Morgen erwarteten sie in der Küche eine missmutige Vermieterin und ungesüßte Hafergrütze zum Frühstück. Sie fragte nicht nach Zucker, aus der Befürchtung heraus, damit ein Gespräch in Gang zu setzen. So redselig die Pensionswirtin am Vortag gewesen war, so zugeknöpft gab sie sich in der Frühe. Claire störte es nicht. So konnte sie in der nur vom Klappern am Geschirrschrank und dem hereindringenden Gezwitscher von Amseln unterbrochenen Stille gedanklich das Gespräch durchgehen, das sie später mit dem Spielbankdirektor führen würde. Sie brach frühzeitig dazu auf. Unpünktlich zu sein wäre eine Katastrophe. Lindemann würde keinen zweiten Termin arrangieren.
Die Stadt war schon erwacht, aus den Bäckereien strömte der Duft nach frischem Brot, Blumenhändler stellten Gefäße voller Tulpen und Flieder vor ihre Schaufenster, auf den Baustellen hämmerten die Arbeiter. Auf dem Dach eines fast fertigen Privathotels trällerte einer munter ein Volkslied, das über die Straßen wehte und in das andere brummend einstimmten. Winter ade! Scheiden tut weh …
An den Andenkenläden in den Holzverschlägen unter der Kastanienallee lief Claire vorbei, warf nur hier und da einen Blick in die Auslagen, zu den Handschuhen und Tüchern, Kuckucksuhren, Krokotaschen und Spazierstöcken. Je näher sie dem Kurhaus kam, desto mehr flog ihr Atem. Sie musste sich beruhigen, sie durfte keine Unsicherheit zeigen. Einer Croupière sollte man zutrauen, dass sie in jeder Situation die Kontrolle behielt.
Als sie die letzte Boutique hinter sich ließ, stockte sie. Ein Mann in einer modischen dunklen Leinenjacke mit einer gestreiften Weste und weißem Hemd hielt auf sie zu. Er schritt zügig aus, setzte sich den Zylinder auf. Die Bartspitzen wippten, und Claire erkannte Edouard Bénazet, offenbar in Gedanken versunken auf dem Weg in die Stadt. Sie verharrte, rechnete damit, dass er an ihr vorbeistürmen würde, weil er sie nach ihrer kurzen Begegnung nicht in Erinnerung behalten hatte. Aber da glitt schon ein freundliches Erkennen über seine Züge, ein Lächeln, das die Härte aus seinem Gesicht vertrieb und ihn beinahe sympathisch wirken ließ.
»Madame, guten Morgen! Bitte verzeihen Sie meine gestrige Unhöflichkeit. Ich hatte später ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich mich Ihnen gar nicht vorgestellt habe.«
Claire erwiderte sein Lächeln. »Ich weiß, wer Sie sind, Monsieur Bénazet. Ich habe alles über Baden-Baden und das Kasino gelesen. Monsieur Lindemann war so freundlich, mir für heute einen weiteren Termin bei Ihrem Herrn Vater zu geben, um noch einmal vorzusprechen. Mein Name ist Claire Engel«, sie schluckte und senkte kurz den Blick, »und bitte: Mademoiselle.«
»Ah, Mademoiselle Engel, wie schön, Sie kennenzulernen. Ja, Lindemann erwähnte so etwas. Ich habe meinem Vater geraten, für diese Saison noch mehr Personal einzustellen.« Wieder lächelte er. Dann lüpfte er den Hut. »Trauen Sie sich ruhig in die Höhle des Löwen. Er wird Ihnen nicht den Kopf abreißen. Wenn er sich nicht gerade über seinen ungeratenen Sohn ärgert, kann er ein recht liebenswerter Mensch sein.«
Nach dieser Begegnung fühlte sich Claire, als wäre ihr eine bleierne Last von den Schultern gefallen. Das klang doch vielversprechend!
Leichtfüßig eilte sie wie am Tag zuvor die Treppe des Kurhauses hinauf, lächelte den Mann in der blauen Uniform, der sie erneut eindringlich mit seinen hellblauen Augen fixierte, entwaffnend an und betrat fünf Minuten später das Direktionsbüro. Im Gegensatz zum peniblen Vorzimmer bestand dieses aus einem Chaos von Landkarten und Stadtpanoramen, aus architektonischen Zeichnungen, Bücherstapeln, Akten und an die Wand gelehnten Gemälden. Bénazet thronte hinter seinem Schreibtisch und sah auf, als sie das Büro betrat. Mit einem Nicken gab er ihr zu verstehen, dass sie Platz nehmen sollte.
»So schnell geben Sie wohl nicht auf, was? Nun ja, eine so entzückende Erscheinung … Sie haben Glück, unsere Garderobiere könnte Unterstützung gebrauchen.«
»Oh, nein, Sie müssen mich missverstanden haben. Ich suche nicht irgendeine Anstellung. Ich möchte als Croupière bei Ihnen arbeiten.«
Statt wie am Tag zuvor in schallendes Gelächter auszubrechen, musterte er sie ernst.
»Das ist mehr als ungewöhnlich, das wissen Sie, aber ich verstehe den Zauber, den ein Spielkasino ausüben kann. Mich hält selbst seit vielen Jahren die Begeisterung für die Atmosphäre gefangen. Aber zu einem Kasino gehört mehr als der Roulettetische, und es gibt geeignetere Plätze, an denen sich eine junge Frau hervortun kann. Deswegen mein Angebot, dass Sie als Garderobiere bei uns arbeiten dürfen. Madame Rosenberg, die in diesem wichtigen Bereich die Verantwortung trägt, bittet schon länger um Unterstützung, und Ihnen würden die Herren sicher besonders gern ihre Mäntel anvertrauen.«
Garderobiere, du liebe Zeit! Wahrscheinlich fänden ihre Eltern eine solche Anstellung angemessener. Sie forschte in Bénazets Miene, entdeckte aber keinen Hinweis darauf, dass sie ihn in diesem Moment umstimmen konnte. Eher lief sie Gefahr, dass er sein Angebot bei einem weiteren Beharren ihrerseits zurückzog. Nein, es war besser, wenigstens einen Fuß im Kurhaus zu haben. Schließlich musste sie ihre Miete verdienen, wenn sie nicht bald mit hängendem Kopf und verlorenen Träumen ins Elternhaus zurückkehren wollte. Sie gab sich einen Ruck. »Ich danke Ihnen für dieses großzügige Angebot, Monsieur. Ich möchte es sehr gern annehmen.«
Bénazet hieb die rechte Faust in die Handfläche der Linken und sprang auf. »Voilá, willkommen im Spielkasino von Baden-Baden, Mademoiselle! Sie kommen genau richtig! Die Saison startet offiziell mit dem heutigen Tag, obwohl die Gäste ungeduldig und vorfreudig schon vorher um Einlass bitten! Sie werden hoffentlich einen wunderbaren Sommer hier verbringen. Ich begrüße Sie in unserer équipe!« Er fasste sie an den Schultern und küsste zart ihre Wangen. Seine Bartstoppeln kratzten, sein Rasierwasser duftete herb. Es war keine unangenehme Berührung, obwohl für Claires Geschmack eine Spur zu formlos. Der Sohn hätte sie nicht geküsst, da war sie sich sicher.
»Mein Assistent wird alle Formalitäten mit Ihnen klären und Ihnen einen Vertrag fertigmachen.«
Die Sache war anders gelaufen als erwartet. Aber besser, als unverrichteter Dinge den Heimweg anzutreten. Bénazet nahm sich die Zeit, Lindemann Instruktionen zu geben, wie er die Vereinbarung gestalten sollte. Danach führte er Claire durch weitere Büros, stellte sie Mitarbeitern vor, zeigte ihr die Säle. Als sie an seiner Seite durchs Foyer lief, wandte sich dieser merkwürdige Sicherheitsmann in seiner Uniform wieder um und sah direkt zu ihr. Nicht wie ein Mann, dem eine Frau gefiel. Eher fassungslos. Was diese Regung auslöste, war ihr ein Rätsel. Aber nun, da sie Teil der équipe war, würde sich sicher bald eine Gelegenheit zu einem Gespräch ergeben.
Bénazet machte nur eine Handbewegung in Richtung der Uniformierten: »Diese Herren sorgen für unsere Sicherheit. Wir arbeiten sowohl mit offiziellen Beamten als auch mit verdeckten Ermittlern, die sich jeden Abend unter die Gäste mischen. Sie werden noch alle kennenlernen. Halten Sie sich gut mit ihnen, man weiß nie, wann man ihre Hilfe braucht.« Mit einem Lachen brachte er sie zur Garderobe, die in einem Winkel neben den Kassen eingerichtet war. Hinter dem Tresen stand eine Frau mit turmhoch gebürsteten Haaren. Ein wahres Vogelnest unter einem weißen Hütchen! Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid mit Spitze am Stehkragen und an den Ärmeln und hielt sich so aufrecht, als hätte sie sich einen Spazierstock in den Rücken geklemmt. Ein Namensschild wies sie als Madame Rosenberg aus. Sie knickste tief vor dem Direktor und kräuselte die Lippen, als er ihr Claire vorstellte. »Seien Sie freundlich zu unserer neuen Mitarbeiterin, liebste Estelle. Zeigen Sie ihr alles, was sie wissen muss. Und bitte geben Sie den Auftrag für ein weiteres Kleid, wie Sie es tragen, und einen Anstecker mit ihrem Namen.«