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Mamma Carlotta freut sich, als ihre Enkelin Carolin eine Ausbildung als Hotelkauffrau beginnt. Das neue Hotel in Wenningstedt, »Frangiflutti«, ist aber auch eine besonders feine Adresse. Als ein Kellner des Hotelrestaurants spurlos verschwindet, übernimmt Kriminalhauptkommissar Erik Wolf den Fall. Dabei stößt er auf eine unglaubliche Geschichte. Seine Schwiegermutter entdeckt derweil eine Spur, die nach Italien führt. Dabei geht es um Wein, einen großen Betrug, eine Million, und um die Staatsanwältin ... Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta! Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust – die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre. »Man muss sie einfach mögen, die italienische Miss Marple von Sylt.« Brigitte
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ISBN 978-3-492-99036-3
© Piper Verlag GmbH, München 2018
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Covermotiv: koya979/Shutterstock (Rettungsring); SURZ/Bigstock (Möwe im Hintergrund); EpicStockMedia/Shutterstock (Welle); Ryan McVay/GettyImages (Surfbrett); Eric Isselee/Shutterstock; kunertuscom/Bigstock (Möwe im Vordergrund)
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Carlotta Capella duckte ...
Hauptkommissar Erik Wolf ...
Mamma Carlotta hatte ...
Erik öffnete den ...
Eine halbe Stunde ...
Erik machte sich ...
Sie müssen mir ...
Erik zog sich ...
Mamma Carlotta beeilte ...
Thies Dageför war ...
Bello, der kleine, ...
Erik sah auf ...
Carolin fand, dass ...
Der diensthabende Rezeptionist ...
Frau Kemmertöns, die ...
Es war dunkel. ...
Mamma Carlotta nahm ...
Valerio Fallaci war ...
Annanitas Modestübchen in ...
Erik strich lange ...
Nun bereute Mamma ...
Erik und Sören ...
Der helle, frische ...
Sören hatte alles ...
Mamma Carlotta nahm ...
Gut, dass der ...
Der Salat war ...
Erik sah auf ...
Der Abend war ...
Sören hatte sich ...
Frau Kemmertöns war ...
Erik saß am ...
Mamma Carlotta drückte ...
Herr Kemmertöns stand ...
Mamma Carlotta pochte ...
Die Staatsanwältin hatte ...
Frau Kemmertöns richtete ...
Der nächste Morgen ...
Mamma Carlotta wurde ...
Die Geschäftsführerin des ...
Carlotta warf sich ...
Erik und Sören ...
Mamma Carlotta war ...
Erik stöhnte auf. ...
Mamma Carlotta war ...
Thomas Fiedler war ...
Ihr Koffer war ...
Sie fanden einen ...
Carlotta Capella folgte ...
Sören war an ...
Mamma Carlotta fragte ...
Sören empfing seinen ...
In der Mitte ...
Erik hatte noch ...
Mamma Carlotta fühlte ...
Tove Griess war ...
Mamma Carlotta wusste ...
Erik stand in ...
Der Mann war ...
Bevor Erik die ...
Die Staatsanwältin bereitete ...
Erik warf das ...
Tilla Speck hatte ...
Carolin sah ihrem ...
Mamma Carlotta starrte ...
Alessia begann im ...
Mamma Carlotta blieb ...
Sören war auf ...
Gelegentlich kam es ...
Sveas Augen veränderten ...
Niemand folgte ihr, ...
Erik lief, als ...
Die Tür fiel ...
Herr Riefling hatte ...
Mit einem Mal ...
Erik wurde erschrocken ...
Mamma Carlotta starrte ...
Erik starrte auf ...
Mamma Carlotta redete, ...
Erik stellte den ...
Felix warf sich ...
Erik wusste, dass ...
Mamma Carlotta beschloss, ...
Sie fuhren schweigend ...
Alessia telefonierte nach ...
Erik steckte sein ...
Carlotta sah Alessia, ...
Herr Riefling drängte ...
Der Zug fuhr ...
Thies Dageför wurde ...
Sie benutzten denselben ...
Der Tag ging ...
Kommissar Vetterich gehörte ...
Anfänglich war ja ...
Mamma Carlotta warf ...
Alessia Fallaci war ...
Der Tag, an ...
Dass seine Schwiegermutter ...
Noch bevor der ...
Bevor das Dessert ...
Mamma Carlotta betrachtete ...
Rezeptanhang
Danksagung
Carlotta Capella duckte sich hinter einer großen Palme, griff nach einer Zeitung, faltete sie auseinander und versteckte sich dahinter. Wenn sie sich unauffällig verhielt, würde niemand auf sie aufmerksam werden. Diskretion war zwar nicht gerade ihre Stärke, aber in diesem Fall musste sie wenigstens so tun, als kümmerte sie sich nur um das, was sie etwas anging. Niemand sollte merken, worauf es ihr wirklich ankam.
Sie lugte über den Rand des Zeitungsblatts auf die Menschen in ihrer Nähe. Zwei Männer in Business-Anzügen, mit gelangweilten Gesichtern und wichtig aussehenden Aktentaschen neben sich, zwei weitere mit einem Laptop auf dem Schoß und eine Dame in ihrem Alter, die auf jemanden zu warten schien. Sie blickte immer wieder zu den Aufzügen und dann auf ihre Armbanduhr. Unter anderen Umständen hätte Mamma Carlotta sie angesprochen, hätte im Nu herausgefunden, mit wem die Dame verabredet war, und ihr geraten, sich an das junge Mädchen an der Rezeption zu wenden, das sicherlich gern für sie in dem Hotelzimmer anrufen und nachfragen würde, wann der Gast in die Lobby kommen wolle, der die Dame warten ließ. Bis dieser endlich erschienen wäre, hätte Carlotta einen kurzen Überblick über ihr Leben gegeben, hätte von ihrem Heimatdorf in Umbrien erzählt, von ihren sieben Kindern, ihrem verstorbenen Mann und der Familie ihrer Tochter auf Sylt. Aber sie hielt sich zurück. Schon nach dem ersten Satz wäre es ja mit der Unauffälligkeit vorbei gewesen. Carlotta Capella konnte unmöglich leise reden, konnte nicht auf große Gesten verzichten, lachte gern laut heraus und verhielt sich mit Vorliebe so, dass alle Anwesenden sich nach ihr umdrehten. Und das wäre in diesem Fall natürlich genau das Falsche gewesen.
Also beließ sie es dabei, am Zeitungsrand vorbeizuschauen, die Rezeption im Auge zu behalten und dort das junge Mädchen in der Uniform des Hotels Frangiflutti zu beobachten. Wie eifrig sie ihre Arbeit verrichtete! Welche Mühe sie sich gab, alles richtig zu machen! Sogar die Augen des Chefrezeptionisten ruhten wohlwollend auf ihr, wenn sie einen neuen Gast mit großer Freundlichkeit begrüßte und dafür sorgte, dass sein Gepäck ins Zimmer gebracht wurde. Erst vor ein paar Tagen hatte sie in dem neuen Hotel von Wenningstedt angefangen, und schon präsentierte sie sich, als stünde sie bereits seit Jahren an dieser Hotelrezeption. Der Stolz weitete Mamma Carlotta das Herz. Sie öffnete zwei Knöpfe ihrer Strickjacke, als brauchte es mehr Platz, als könnte es aus ihrem Brustkorb springen. Für dieses wunderbare Gefühl, von dem nur Menschen etwas wissen, die sich selbst in einem Kind wiedererkennen, lohnte es sich, etwas zu tun, was ihr Ärger einbringen würde, wenn sie dabei erwischt wurde.
Lange hatte Carolin gezögert. Sollte sie Lehrerin werden und ein Studium auf dem Festland beginnen oder sich fürs Hotelfach entscheiden? Erik hatte seine Tochter von dem Studium überzeugen wollen, aber Mamma Carlotta war froh gewesen, als die Entscheidung für die Ausbildung in einem Hotel gefallen war. So blieb ihre Enkelin fürs Erste auf Sylt, in der Obhut der Familie, und musste sich nicht den vielen Gefahren einer Großstadt aussetzen, in der sie niemanden kannte und sich womöglich einsam fühlen würde. Carolin war ja anders als ihre italienischen Verwandten. Die machten dort, wo sie fremd waren, so lange auf sich aufmerksam, bis sie bekannt waren wie bunte Hunde, was meistens nicht lange dauerte. Carolins verstorbene Mutter war so gewesen, ihr Bruder Felix war so, und sie selbst, die Nonna, natürlich auch. Aber Carolin kam ja ganz nach Erik, war ruhig, besonnen, gewissenhaft und leise. Sie hatte es schwerer, Anschluss zu finden und sich in fremder Umgebung einzuleben. In Gedanken nannte Mamma Carlotta das Friesisch-Herbe von Schwiegersohn und Enkelin manchmal sogar steif und humorlos, aber das hätte sie niemals laut ausgesprochen.
Gerührt betrachtete sie Carolin. Wie groß sie geworden war! Gestern noch ein Kind und heute eine junge Dame. Seit sie ihr Abitur bestanden und den Führerschein gemacht hatte, war sie mit einem Mal erwachsen geworden. Sogar das hochtoupierte Haarnest hatte sie aufgegeben, das sich während des Abiballs noch auf ihrem Kopf getürmt hatte, und die Haarspiralen vor ihren Augen gab es auch nicht mehr. Carolin achtete mittlerweile auf eine seriöse Wirkung und verzichtete nun auch auf das, was ihr Vater Kriegsbemalung nannte. Der Hotelbesitzer hatte während des Bewerbungsgesprächs ohne jedes Zartgefühl darauf hingewiesen, dass er an seiner Rezeption niemanden zu sehen wünsche, der in einer Parfümerie als lebende Werbefläche für auffällige Kosmetika noch gerade so durchging. Das hatte gereicht, während zuvor keine einzige familiäre Ermahnung gefruchtet, sondern nur dazu geführt hatte, dass der Lidstrich noch dicker wurde, der Lippenstift von knallrot zu dunkellila und der Teint zu einem kränklichen Puderweiß wechselte. Eriks Hinweis, Carolin habe Ähnlichkeit mit der Wasserleiche, die kürzlich aus dem Lister Hafen gezogen worden war, hatte leider auch nicht zum gewünschten Ergebnis geführt.
Mamma Carlotta duckte sich tiefer, als ihre Enkelin in ihre Richtung sah. Nachdem sie ein einziges Mal während des Frühstücks vernehmbar darüber nachgedacht hatte, wie schön es wäre, Carolin einmal in ihrem neuen Wirkungsfeld zu erleben, um stolz auf sie sein zu können, war sie gewarnt worden. »Wehe, jemand von der Familie taucht in der Lobby des Frangiflutti auf! Das wäre ja so was von peinlich.«
Aber konnte man einer Nonna verbieten, an einem neuen Lebensabschnitt ihrer Enkelin teilzuhaben? Nein! Mamma Carlotta wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie Carolin zurechtkam, und sich nicht auf ihre viel zu knappen Berichte verlassen müssen.
Bestens kam sie zurecht, das war unschwer zu erkennen. Mamma Carlotta war sehr beruhigt, dass ihre Enkeltochter weder durch besondere Schüchternheit noch durch Einsilbigkeit auffiel, wie ihre Nonna befürchtet hatte. Ja, Carolin hatte sich für die richtige Ausbildung entschieden! Mamma Carlotta war sich nun ganz sicher. Sie konnte wieder nach Hause gehen, voller Stolz auf ihre Enkelin und angefüllt mit den schönen Erinnerungen an die Zeit, als sie ein Baby gewesen war.
Sie erhob sich vorsichtig, ließ sich aber gleich wieder zurücksinken, als sie merkte, dass Carolins Blick durch die Lobby wanderte. Besser noch ein paar Minuten warten, bis Carolin abgelenkt war. Dann würde Carlotta zum Strand gehen, dort in den Himmel blicken und Lucia sagen, dass aus ihrer Tochter eine angehende Hotelkauffrau geworden war, auf die sie sehr stolz sein konnte. Vielleicht würde sie dort Fietje Tiensch, dem Strandwärter von Wenningstedt, begegnen und könnte ihm von ihrer Enkeltochter erzählen, die mit einem Mal erwachsen geworden war und auf dem besten Weg, im Hotelfach Karriere zu machen. Anschließend würde sie natürlich noch in Käptens Kajüte einkehren und dort ebenfalls zum Besten geben, was sie zurzeit am meisten bewegte: der Stolz einer Großmutter. In der Imbissstube würde sie auch zur Diskussion stellen, ob eine Enkelin das Recht hatte, ihrer Oma einen wichtigen und noch dazu brandneuen Teil ihres Lebens vorzuenthalten, indem sie ihr verbot, sich dort blicken zu lassen, wo sich dieses neue Leben abspielte. Carolin wusste doch, dass es für ihre Nonna nichts Schlimmeres gab, als von Neuigkeiten in der Familie ausgeschlossen zu werden. Was ihren Nachkommen wichtig war, hatte auch für Mamma Carlotta allergrößte Bedeutung. Und dass man ihr ständig unterstellte, Einfluss nehmen zu wollen ... Mamma Carlotta wollte gerade in Gedanken diesen Verdacht empört zurückweisen, da kamen ihr die Worte ihres verstorbenen Mannes in den Sinn. »Misch dich nicht in alles ein, Carlotta. Die Kinder müssen auf ihre Art glücklich werden.«
Hatte sie etwa jemals etwas anderes im Sinn gehabt? Selbstverständlich wollte sie nur, dass die Kinder glücklich wurden. Notfalls auch auf ihre eigene Art, wenn es gar nicht anders ging. »Ich möchte lediglich an ihrem Leben teilhaben. Als Zaungast!«
Dino war damals schon sehr krank gewesen und hatte nicht mehr oft gelacht. In diesem Augenblick jedoch war das Lächeln kurz zurückgekehrt. »Zaungast? Du bist immer mittendrin im Spiel, und im Nu rennst du als Mittelstürmer aufs Tor los.«
Sie erinnerte sich noch, dass sie diesen Vergleich sehr unpassend gefunden hatte und froh gewesen war, lang und breit darüber lamentieren zu können, dass Dino das Leben mit einem Fußballspiel verglich. Erst recht, dass er sich seine Frau in einem Trikot, mit einem Ball vor den Füßen und im Sturm aufs Tor vorstellen konnte. Darüber hatte sie so lange geredet, bis der eigentliche Gesprächsgegenstand vergessen und Dino eingeschlafen war. Von einem Problem mit vielen Worten abzulenken, gehörte zu Carlottas Spezialitäten, das war damals schon so gewesen und heute nicht anders.
Carolin nahm gerade ein Telefongespräch an. Carlotta hörte ihre Stimme, die nicht leise und unbeholfen klang, sondern kräftig und selbstbewusst. »Hotel Frangiflutti, buon giorno. Sie sprechen mit Carolina. Was kann ich für Sie tun?«
Mamma Carlotta traten Tränen der Rührung in die Augen. Ihre kleine Bambina! Gestern noch hatte sie Carolin die Schuhe geschnürt und die Nase geputzt, und heute repräsentierte sie erfolgreich ein großes Hotel! Ein italienisches Hotel wohlgemerkt, mit einem Namen, der italienisch war, in der Übersetzung aber sehr gut nach Sylt passte. Wellenbrecher! Hier sollten die Gäste am Telefon mit ein paar italienischen Ausdrücken empfangen werden, das erwartete der Hotelbesitzer, dem es um eine besondere Note ging. Carolin hatte den Ausbildungsplatz auch deswegen bekommen, weil sie die Tochter einer italienischen Mutter war und Grundkenntnisse in der italienischen Sprache besaß. Vor allem aber, davon ließ Mamma Carlotta sich nicht abbringen, weil sie jemand war, der die Fähigkeiten für einen Job im Hotelgewerbe mitbrachte und es dort zu etwas bringen würde.
An dieser Überzeugung änderte auch der ratlose Gesichtsausdruck nichts, den Carolin nun aufsetzte. Dass ihre Enkelin eine Frage nicht beantworten konnte und den Hörer an ihren Chef weiterreichte, war völlig normal. Schließlich hatte sie ihre Ausbildung erst vor ein paar Tagen begonnen.
Aber dass aus der Unsicherheit in ihrer Miene nun schlagartig blanker Zorn wurde, ließ sich nicht einfach beiseiteschieben. Wütend starrte Carolin zur Eingangstür. Mamma Carlotta fuhr herum. Was war da los?
Ein sechzehnjähriger Junge betrat das Hotel, der nicht hierher passte. Er trug durchlöcherte Jeans, ein T-Shirt, das aussah, als hätte er darin gerade ein Fußballtraining absolviert, und eine Gitarre auf dem Rücken. Seine langen dunklen Locken waren im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, in seinen Ohren blitzten mehrere Stecker und Ringe, in seinem Gesicht ein spitzbübisches Lächeln. Das wurde noch breiter, als er Carolins wütendes Gesicht sah.
»Können Sie mir sagen, wie das Kulturprogramm von Wenningstedt aussieht? Gibt’s heute Abend ein Konzert, eine Lesung oder ...«
Zum Glück telefonierte Carolins Chef immer noch, so hörte er hoffentlich nicht, dass die neue Auszubildende eine Frage mit den Worten unterbrach: »Zieh Leine, und zwar ein bisschen dalli, du Schietbüdel!«
Felix’ Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »So springt man hier mit den Gästen um?«
»Du bist kein Hotelgast. Also verschwinde!«
Mamma Carlotta sah sich heimlich nach einem Fluchtweg um. Sie hatte sich zwar vorgenommen, sich wie eine vornehme Dame zu verhalten, die es sich leisten konnte, im Frangiflutti zu logieren, und dafür extra das dunkle Kleid angezogen, das sie vorsichtshalber in den Koffer gepackt hatte. Man wusste ja nie, ob es während ihres Aufenthalts auf Sylt eine Beerdigung geben würde, zu der sie passend gekleidet sein musste. Dieses Kleid hatte zum Glück einen weiten Rock, der große Schritte zuließ. Gut, dass sie sich nicht für das schwarze Kostüm mit dem unbequemen Rock entschieden hatte. In diesem Kleid würde ihr die Flucht gelingen. Hinter der Palme hervor und dann nichts wie weg! Ehe sie von ihrer Enkelin ebenfalls Schietbüdel genannt wurde! Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber dass es sich nicht um ein Kompliment handelte, konnte sie sich denken.
Carolin würde sich, wenn sie zum Abendessen heimkam, schrecklich über ihren Bruder aufregen, der sich unterstanden hatte, sie an ihrem Ausbildungsplatz in Verlegenheit zu bringen. Da durfte nicht auch noch ihre Großmutter in der Nähe der Rezeption erwischt werden. Mamma Carlotta versuchte sich verzweifelt einzureden, dass es weit weniger unpassend sei, sich hinter einer Palme zu verbergen, wenn man sich still verhielt und lediglich Beobachter bei der Arbeit der Enkeltochter war, als wie Felix in das neue Leben seiner Schwester zu platzen und sie sogar unter Druck zu setzen. Aber die Angst, von Carolin ertappt zu werden, wurde nicht geringer. Sie musste hier weg! Sobald Carolin ihr den Rücken zudrehte, würde sie so schnell wie möglich zum Ausgang huschen und verschwinden. Und am Abend würde dann nur Felix im Kreuzfeuer von Carolins Empörung stehen, und sie selbst konnte ihren Enkel sogar dafür tadeln, dass er seiner Schwester und ihrer neuen Arbeit nicht mit dem nötigen Respekt begegnete.
Mit zornbebenden Händen und sprühenden Augen händigte Carolin ihrem Bruder einen Veranstaltungsplan aus und zischte ihm etwas zu, was die anderen Gäste in der Lobby hoffentlich nicht verstehen konnten. Mamma Carlotta glaubte, »Verpiss dich!« vernommen zu haben, und blickte sich erschrocken um, doch zum Glück entdeckte sie kein entrüstetes Gesicht unter den Hotelgästen.
Sie duckte sich tiefer, als Felix an ihr vorbei Richtung Ausgang schlenderte, feixend, aufreizend langsam. Erst als er wieder auf der Straße stand, erhob sie sich vorsichtig, ließ Carolin nicht aus den Augen, die von ihrem Vorgesetzten angesprochen wurde und abgelenkt war ... doch bevor sie zum Ausgang huschen konnte, ertönte eine Stimme.
»Carlotta? Incredibile! E’ davvero?«
Hauptkommissar Erik Wolf schlug die Akte zu, stand auf und reckte sich. Dann zog er den Bund seiner Jeans an die richtige Stelle, dorthin, wo er im Sitzen gekniffen und gedrückt hätte, und versuchte, sein Hemd weiter hineinzustopfen, was aber nicht gelang, weil die Jeans zu eng war. Wieder mal dachte er sehnsüchtig an seine alten Breitcordhosen, deren Bund er so weit vom Körper abziehen konnte, dass noch eine geballte Faust in die Hosen passte, und an seine Pullunder, vor allem an die, die seine verstorbene Frau selbst gestrickt hatte. Das waren noch gemütliche Zeiten gewesen! Aber nun war er mit einer Frau zusammen, die es nicht unbedingt gemütlich, aber ganz sicher schick haben wollte. Für Svea waren Passform und Design nicht nur wichtig, sondern sogar unentbehrlich. Sie hatte dafür gesorgt, dass die Cordhosen und Pullunder verbannt wurden und stattdessen knappe Kleidung angeschafft worden war, die sie gut sitzend und Erik unbequem nannte. Jeans, deren Verschluss drückte, und Hemden, deren Knopfleisten verrieten, wenn seine Schwiegermutter mal wieder besonders gut gekocht hatte. Svea glaubte, seine alte, bequeme Ausstattung sei in der Kleidersammlung gelandet. Wie gut, dass sie keine Ahnung hatte! Alles, was Erik lieb und wert, jedoch nicht gerade modisch war, hatte er im Wäschekeller untergebracht. Und gelegentlich, wenn er ganz sicher sein konnte, dass Svea nicht zu Besuch kam, holte er die älteste und weiteste seiner Cordhosen heraus, lümmelte sich aufs Sofa und erfreute sich daran, dass es nirgendwo kniff.
Sein Assistent, Kommissar Sören Kretschmer, betrat sein Büro. Er stutzte, als er seinen Chef sah. »Sie machen schon Feierabend?« Mit dem Blick eines Oberlehrers, der einen Schüler maßregeln will, sah er auf seine Armbanduhr. »Es ist erst vier.«
»Na und? Es gibt genug Überstunden, die ich abfeiern kann.« Erik zeigte auf den Hefter, den Sören in Händen hielt. »Oder gibt’s was Wichtiges?«
»Nur Statistiken.« Sören fuhr sich durch sein schütteres blondes Haar, gähnte, setzte sich auf eine Ecke von Eriks Schreibtisch und sah seinem Chef dabei zu, wie er umständlich nach Autoschlüssel und Portemonnaie kramte und vergeblich versuchte, beides in der Jeans unterzubringen.
Sören grinste. »Wer so enge Klamotten trägt, braucht wohl ein Handtäschchen.«
»À la Horst Schlämmer? Nein danke.« Erik stand da, in der einen Hand die Schlüssel, in der anderen seinen Geldbeutel. »Wie machen Sie das? In meinen Cordhosen konnte ich den halben Hausstand unterbringen.«
Sören stand auf und griff in seine linke Gesäßtasche. »Mein Fahrradschlüssel ist klein, der passt da rein.« Dann klopfte er auf seine rechte. »Da sitzt ein Zwanzigeuroschein. Das muss reichen. Bei so engen Klamotten brauchen Sie eine Jacke mit Innentaschen.«
Erik warf einen Blick aus dem Fenster. »Bei dem Wetter?«
Sörens Grinsen wurde breiter. »So ist das eben, wenn einem Mode über alles geht.«
Natürlich wusste er genau, dass es nicht Erik war, dem Mode etwas bedeutete, sondern seiner Freundin, die Sören noch immer seine neue Freundin nannte. Tatsächlich waren Erik und Svea schon seit gut drei Monaten zusammen. Und genauso lange plagte sich sein Chef mit unbequemer Kleidung herum und erzählte vor Dienstbeginn gern von seiner neuen Schlafzimmerausstattung, die er ebenfalls Svea zu verdanken hatte und die ihm auch nicht in allen Teilen gefiel.
Sören kam auf sein dienstliches Anliegen zurück. »Die Taschendiebstähle auf Sylt sind zurückgegangen, Einbrüche ebenfalls. Obwohl so viele Häuser leer stehen. Diese ganzen Zweitwohnungen ...«
Erik winkte ab. Er wollte jetzt keine Diskussion darüber führen, dass es auf Sylt zu viele Häuser gab, die nur ein- oder zweimal im Jahr bewohnt wurden. Das führte zu nichts und kostete nur Zeit. »Ich fahre ins Frangiflutti. Das Essen für den Geburtstag meiner Schwiegermutter aussuchen.« Mit Mühe brachte er sein Portemonnaie in der linken Gesäßtasche der Jeans unter, den Autoschlüssel behielt er in der Hand. »Und Sie sollten jetzt auch Feierabend machen. Sie schieben genauso viele Überstunden vor sich her wie ich.«
»Okay!« Sören verschwand in seinem Büro. Schon wenige Augenblicke später erschien er wieder neben Erik und klimperte mit dem Fahrradschlüssel. »Das wird eine tolle Überraschung für Ihre Schwiegermutter.« Sein rundes Gesicht, das Erik immer an einen überreifen Boskop erinnerte, strahlte. Als Sören erfahren hatte, dass er selbst zu den Gästen gehören würde, die im Frangiflutti den sechzigsten Geburtstag Carlotta Capellas feiern würden, strahlte er jedes Mal, wenn davon die Rede war, wie ein rotbackiger Apfel. Beinahe täglich machte er sich lang und breit Gedanken darüber, was er der Schwiegermutter seines Chefs schenken könnte, wenn es so weit war.
Erik ging vor ihm her zum Auto. Sörens teures Rennrad war in der Nähe an einem Fahrradständer festgekettet. »Carolin kann zum Glück schweigen wie ein Grab. Bei Felix wäre ich mir da nicht so sicher. Dem kann man ein Geheimnis nicht anvertrauen. Aber Carolin werde ich verraten, was ich vorhabe. Sobald ich mal mit ihr allein bin. Vielleicht treffe ich sie gleich im Hotel, dann darf sie mir hoffentlich bei der Entscheidung für das richtige Menü helfen.« Erik öffnete die Fahrertür und zögerte mit dem Einsteigen. Sein Wagen stand in der Sonne, die Hitze, die sich darin gestaut hatte, schlug ihm entgegen. Mürrisch ließ er sich hinter dem Steuer nieder und startete den Motor zügig, damit er die Fenster herunter- und Luft hereinlassen konnte. Sören fuhr bereits vom Parkplatz und winkte, als er in den Kirchenweg einbog. Verdammt sportlich sah er aus. So ein Rennrad machte einen Mann glatt ein paar Jahre jünger. Seufzend fuhr Erik an. Sport war einfach nichts für ihn. Gelegentlich ein Spaziergang zum Meer, eine Wanderung an der Wasserkante entlang bis nach Westerland, das musste reichen. Eine Figur wie Sören würde er nie bekommen, auch nicht, wenn er täglich ins Polizeirevier radeln würde.
Als er durch Wenningstedt fuhr, warf er einen Blick nach rechts, zum Grenzweg, als könnte er Svea zufällig beim Betreten des Hauses sehen, in dem sie wohnte. Aber natürlich hielt sie sich um diese Zeit in ihrem Büro auf. Er würde sie bitten, am Abend zum Essen zu kommen, obwohl er natürlich wusste, wie ungern sie sich bei ihm an den Tisch setzte, wenn seine Schwiegermutter zu Besuch war. Ebenso wusste er, dass Mamma Carlotta seine Freundin nicht besonders gern zu Gast hatte. Sie passten einfach nicht zusammen – eine Veganerin mit einer sehr speziellen Einstellung zu Tieren und Tierprodukten und eine Frau, die in Umbrien selbst die Hühner schlachtete, sie anschließend eigenhändig ausnahm und gelegentlich dem Metzger des Dorfs, wenn sein Geselle krank geworden war, dabei half, ein unwilliges Schwein ins Schlachthaus zu zerren. Trotzdem musste es ihm gelingen, die Frauen, die beide wichtig für ihn waren, so oft wie möglich gemeinsam an einen Tisch zu bringen. Wenn sie sich auch niemals richtig gernhaben würden, so sollten sie wenigstens aneinander gewöhnt sein.
Er bog in die Seestraße ein und setzte kurz darauf den rechten Blinker. In der Straße Im Grund hatte vor ein paar Wochen das neue Hotel Frangiflutti eröffnet, das von einem Italiener geführt wurde. Mamma Carlotta war natürlich hingerissen gewesen, dass ihre Enkelin ausgerechnet bei einem Landsmann ihre Ausbildung machen wollte, und würde sicherlich über kurz oder lang einen Grund finden, sich dem Besitzer vorzustellen.
Erik seufzte leise, während er nach einem Parkplatz Ausschau hielt. Hoffentlich fanden sich keine Gemeinsamkeiten zwischen seiner Schwiegermutter und diesem Valerio Fallaci. Wenn sich herausstellen sollte, dass der Hotelier einen entfernten Verwandten hatte, der im selben Jahr wie ein ebenso entfernter Verwandter Mamma Carlottas in Rom als Aushilfskellner gearbeitet hatte oder dort jemanden kennengelernt haben könnte, den auch Mamma Carlotta vom Hörensagen kannte, würde sie sich gebärden, als wären damit verwandtschaftliche Beziehungen zwischen ihr und den Fallacis entstanden. Da würde es nicht viel nützen, dass Carolin sich ausgebeten hatte, keinen ihrer Angehörigen jemals im Frangiflutti zu Gesicht zu bekommen, der keinen guten Grund hatte, sich dort aufzuhalten. So wie er.
Erik hatte gerade einen Parkplatz gefunden, da sah er seinen Sohn aus dem Eingang des Hotels kommen. Er runzelte die Stirn. Hatte Felix etwa seine Schwester in Verlegenheit gebracht? Zu Hause konfrontierte er sie gern mit Fragen, die an einer Hotelrezeption von Gästen gestellt wurden, und lachte dann schadenfroh, wenn Carolin sie nicht beantworten konnte. Sollte er etwas Ähnliches vor den Gästen und Carolins Chef versucht haben, um seine Schwester zu ärgern, konnte es beim Abendessen ungemütlich werden. Carolin würde sich schrecklich aufregen, er selbst würde sich auf ihre Seite schlagen müssen und Mamma Carlotta natürlich versuchen, durch aberwitzige Argumentationen mal dem einen, mal dem anderen beizustehen – je nachdem, wer sich gerade in der schwächeren Position befand und ihre Unterstützung brauchte. Und Svea? Sie würde danebensitzen und sich fragen, wie sie sich jemals in diese Familie integrieren sollte.
Er betrachtete das neue Hotel, bevor er ausstieg. Ein niedriges Gebäude, weil in dieser Gegend die Häuser nicht mehr als drei Stockwerke aufweisen durften. Das Penthaus, in dem der Hotelbesitzer wohnte, hatte sicherlich einer Sondergenehmigung bedurft.
Als er ausstieg und auf den Eingang zuschritt, sah er, dass das Hotel noch immer nicht ganz fertig war. Das Vorderhaus erstrahlte bereits in voller Pracht, der Anbau im hinteren Bereich des Grundstücks war jedoch noch eingerüstet, die Fenster hatten keine Gardinen, die Balkongitter fehlten gänzlich. Da keine Arbeiter zu sehen waren, vermutete Erik, dass der Bau stillgelegt worden war. Der italienische Besitzer hatte vielleicht geglaubt, auf Sylt irgendwelche Bauvorschriften umgehen zu können, wie es in Italien möglich war, wenn man einen Beamten in der Baubehörde gut kannte oder bereit war, ihm ein neues Auto zu finanzieren. Erik nickte zufrieden. Wenn seine Vermutung richtig war, dann wusste dieser Valerio Fallaci jetzt jedenfalls, dass man auf seiner Insel mit Korruption nicht weiterkam.
Die gläserne Tür öffnete sich automatisch, Erik betrat eine geräumige, helle Lobby, die mit großen Kübelpflanzen und zierlichen Rattanmöbeln ausgestattet war.
Carolin war die Erste, die er sah. Und was ihm sofort auffiel, war ihr entgeisterter Gesichtsausdruck. Oder sah sie sogar wütend aus? Jedenfalls war sie von diesem negativen Gefühl nicht weit entfernt, das erkannte ihr Vater auf der Stelle. Und im nächsten Augenblick wurde ihm auch schon klar, was Carolins angeborenes Phlegma in Wallung gebracht hatte. Eine Stimme wirbelte durch den Raum, prallte an die Wände und sorgte für mehrere Echos. Unterstützt wurde sie durch eine andere Stimme, die genauso ekstatisch tirilierte. In Erik kam sofort der schreckliche Verdacht auf, dass er es im nächsten Augenblick mit zwei Italienerinnen zu tun bekommen würde. Diese Aussicht war so albtraumartig, dass er die Frage, was seine Schwiegermutter in der Lobby des Frangiflutti zu suchen hatte, sofort wieder vergaß. Und sämtliche Probleme, die durch ihre Anwesenheit heraufbeschworen wurden, ebenfalls. Aber sie überfielen ihn trotzdem, noch bevor er von Mamma Carlotta entdeckt wurde. Wie sollte er jetzt seinen Plan in die Tat umsetzen, ohne verraten zu müssen, womit er seine Schwiegermutter überraschen wollte?
Mamma Carlotta hatte total vergessen, dass sie sich unauffällig verhalten wollte. Ihre guten Vorsätze waren schlagartig dahin, und an ihre Enkelin dachte sie überhaupt nicht mehr. Das hatte immerhin den Vorteil, dass ihr der zornige Blick Carolins komplett entging.
»Alessia! Bist du es wirklich?«
Das war für eine Weile der letzte deutsche Satz, den sie von sich gab. Carlotta Capella fühlte sich nicht nur in ihre Heimat zurückversetzt, sondern auch in ihre Jugend. Sie vergaß, dass sie auf Sylt war, und verhielt sich so, wie sie sich auch in Panidomino verhalten hätte, wie sie sich überall auf der Welt gebärdete, wenn sie jemanden traf, den sie seit vierzig Jahren nicht gesehen hatte. Sie war vollkommen aus dem Häuschen, was auf ihre Umgebung, die durchweg friesisch war, äußerst befremdlich wirkte. Zwar hatte das Hotel einen italienischen Namen, seine Besitzer stammten aus Italien, und die Angestellten waren gehalten, gelegentlich ein paar italienische Ausdrücke in ihre wörtliche Rede zu streuen, um einen Hauch von Dolce Vita zu verbreiten, aber Italien war eben doch weit weg, und das Temperament seiner Bewohner wich deutlich ab von dem der Sylter. Selbst jene Gäste in der Lobby, die aus südlicheren Bundesländern angereist waren, sahen ziemlich entgeistert aus. Doch das nahm Carlotta nur am Rande zur Kenntnis, ebenso wie die Schamröte, die ihrer Enkelin ins Gesicht geschossen war. Nein, Carlotta Capella war in Ekstase. Und die Frau, die sich mit ausgebreiteten Armen auf sie stürzte, ebenfalls.
»Carlotta!«
»Alessia!«
Alessia, mit der sie zusammen zur Schule gegangen war! Alessia, die ihr gezeigt hatte, wie man Rock ’n’ Roll tanzte! Alessia, mit der sie auf der Schultoilette ihre erste und einzige Zigarette geraucht hatte! Alessia und Carlotta, die beide früh geheiratet und sich dann aus den Augen verloren hatten.
Und nun sahen sie sich wieder, umarmten sich, ließen sich schnell wieder los, um sich ansehen zu können, standen voreinander und wunderten sich lauthals, dass sie sich nach so langer Zeit noch aneinander erinnerten.
»Du bist völlig unverändert.«
»Ich hätte dich sofort erkannt.«
Und das auf Sylt! In ihrer Heimat waren sie sich nie wieder über den Weg gelaufen, aber hier, im hohen Norden Deutschlands, war das Wunder geschehen.
»Meraviglioso!«
»Sensazionale!«
»Was machst du hier?«
»Wie kommst du nach Sylt?«
Carlotta schaffte es, in drei Sätzen ihren Aufenthalt auf der Insel zu erklären, Alessia brauchte nur zwei, um sie darüber zu informieren, dass sie die Frau des Hotelbesitzers war.
»Das müssen wir uns so bald wie möglich in aller Ausführlichkeit erzählen.«
Da auch zwei von Wiedersehensfreude tief bewegte Italienerinnen gelegentlich Luft holen mussten, und da so was durch Zufall in derselben Sekunde geschehen konnte, schaffte der Chef der Rezeption es irgendwann, eine Bemerkung anzubringen, der in die spektakuläre Begegnung schnitt wie ein scharfes Messer in einen Daumen.
Für Alessia schien es ähnlich schmerzhaft zu sein, von dem Wiedersehen mit ihrer alten Freundin ablassen zu müssen. »Was sagen Sie? Olivero ist nicht zum Dienst erschienen?«
»Gestern auch nicht.«
Alessia gab Carlotta mit einem Handzeichen zu verstehen, dass es zwar unverzeihlich war, sie in ihrer Wiedersehensfreude zu stören, aber diese Angelegenheit am besten sofort geregelt wurde, damit sie sich möglichst schnell in irgendeine Ecke der Lobby setzen und sich ihr Leben erzählen konnten.
»Obwohl er sich vorgestern gesund gemeldet hat. Auf dem Rückweg von der Nordseeklinik ist er vorbeigekommen und hat sogar zwei Stunden gearbeitet, weil so viel los war. Gestern wollte er ganz normal mit der Frühschicht beginnen.«
»Aber er ist nicht erschienen?«
Der Chef der Rezeption sah so schuldbewusst aus, als hätte er selbst den Dienst versäumt. »Richtig.«
Aus dem Büro hinter der Rezeption trat ein Mann, den Carlotta sofort als Chef des Hauses erkannte. Zwar hatte sie ihn noch nie gesehen, denn als Alessia ihn kennenlernte, hatte sie schon für zwei kleine Kinder und dazu für eine kranke Schwiegermutter zu sorgen. Und als Alessia heiratete, hatte sie im Wochenbett gelegen und zu ihrem größten Bedauern nicht vor der Kirche auf das Brautpaar warten und es bejubeln können. Doch die Art, wie Valerio Fallaci auftrat, zeigte ihr, dass er der Herr des Hauses war. Ein gut aussehender Mann mit gebräunter Haut, dunklen Augen und grauen Schläfen, einem Lächeln, das seine weißen Zähne zur Geltung kommen ließ, und einem gewissen Maß an Überheblichkeit, von dem im Allgemeinen angenommen wurde, dass es aus besonderen Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen entstanden war.
Alessia wandte sich an ihren Mann. »Hast du was von Olivero gehört?«
Valerio Fallaci sah aus, als wäre ihm nicht einmal der Name geläufig. »Der Kellner? Der vor ein paar Tagen in die Prügelei vor dem Bahnhof geraten ist?«
Alessia nickte. »Das war Mittwoch. Er war in der Nordseeklinik zur Beobachtung. Die Ärzte vermuteten eine Gehirnerschütterung.«
»Aber er hatte keine«, ergänzte der Chef der Rezeption.
»Die Ärzte könnten etwas übersehen haben.« Alessia sah jetzt sehr besorgt aus.
Valerio Fallaci schien zu den Männern zu gehören, die sich Schwierigkeiten gern vom Hals hielten. »Der wird sich schon melden!«, sagte er und ging in sein Büro zurück. »Die Ärzte in der Nordseeklinik wissen, was sie tun.«
Alessia folgte ihm bis zur Tür. Carlotta hörte, wie sie sagte: »Oder sollen wir die Polizei verständigen?«
Den Wortlaut der Entgegnung verstand Carlotta zwar nicht, aber sie hörte sich so an, als wäre Valerio Fallaci damit nicht einverstanden.
Seufzend schloss Alessia die Tür und kam zu Carlotta zurück. Dieser war mittlerweile der Blickkontakt mit ihrer Enkelin aufgezwungen worden, und so hatte sie nonverbal erfahren, was Carolin von ihrer Anwesenheit im Frangiflutti hielt. Gar nichts! Carolin war wütend, dass ihre Nonna an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht war, nachdem schon ihr Bruder sie in Verlegenheit gebracht hatte, und augenscheinlich nicht bereit, diesen Tatbestand anders zu beurteilen, nur weil sich herausgestellt hatte, dass die Nonna eine alte Freundin von Alessia Fallaci war.
Als sich nun die Eingangstür öffnete und ein Mann in der Lobby erschien, den sie gut kannte, reichte es ihr endgültig, auch das entging Mamma Carlotta nicht. Die Wut erzeugte sogar ein Temperament in Carolin, das darauf schließen ließ, dass ihre italienischen Vorfahren auch bei ihr ein paar Erbteile hinterlassen hatten, von denen bisher niemand etwas mitbekommen hatte. Sie schoss hinter der Theke der Rezeption hervor und rauschte ihrem Vater entgegen, als hätte sie den Auftrag erhalten, einen Obdachlosen aus der Lobby zu entfernen, damit die Vornehmheit dort keinen Schaden erlitt.
»Du auch?«, zischte sie ihn an, leise zwar, aber Carlotta verstand es trotzdem. »Was bildet ihr euch eigentlich ein? Erst Felix, dann die Nonna und nun auch noch du! Was hättet ihr auf euch genommen, wenn ich eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin begonnen hätte? Eine Wurzelbehandlung? Nur um zu sehen, ob ich alles richtig mache?«
Erik öffnete den Mund, um sich zu verteidigen und seine Anwesenheit zu erklären, aber jemand anders verhinderte es.
»Enrico?«
Es gab Situationen, die überforderten ihn vollkommen. Das waren vor allem die, in denen Geistesgegenwart und schnelle Reaktionen gefragt waren, rasante Lösungen gefunden werden mussten und sich der Denkapparat in Sekundenschnelle in die entgegengesetzte Richtung zu orientieren hatte. Dazu war er in diesem Augenblick nicht fähig. Genau genommen war er dazu niemals in der Lage. Dabei hätte er den schrillen Vorwurf seiner Tochter gut und gern zurückweisen und die Empörung über ihren Bruder und ihre Großmutter ohne Weiteres teilen können. Dann hätte er aber auch die Wahrheit über den Grund seines Besuchs im Hotel nennen müssen, und das wollte er in Gegenwart seiner Schwiegermutter auf keinen Fall. Dann wäre ja seine schöne Überraschung kaputt gewesen! Zu dumm, dass er noch nicht dazu gekommen war, Carolin einzuweihen. Dann hätte sie natürlich gleich gewusst, dass er nicht ihretwegen im Frangiflutti erschienen war, sondern um das Vorgespräch, das er bereits vor Tagen mit dem Restaurantleiter geführt hatte, mit dem Küchenchef fortzusetzen. Er wollte doch nichts anderes, als das Geburtstagsmenü festzulegen.
Zum Glück war Carolin an langsame Reaktionen von ihm gewöhnt, sodass sie sich nicht wunderte, als er vergeblich nach Worten suchte. Dass seine Schwiegermutter auf ihn zugeflattert kam, bot, wenn man sich einmal mit ihrer Anwesenheit abgefunden hatte, auch Vorteile: Erik hatte Zeit, sich zu überlegen, wie er reagieren sollte.
Mamma Carlotta zerrte eine etwa gleichaltrige Frau hinter sich her, die Erik noch nie gesehen hatte. Eine auffallend schöne Frau, deren Attraktivität durch ihr Alter keinen Schaden genommen hatte. Im Gegenteil! Dass sie aus Italien stammte, erkannte er sofort. Wie viele Italienerinnen oberhalb der fünfzig war sie mollig und vollbusig, aber das stand ihr gut. In ihren feinen Gesichtszügen gab es kaum Falten, die vollen Wangen waren rund und glatt. Den herzförmigen Mund hatte sie dezent geschminkt, die großen Augen waren durch einen Wimpernkranz betont worden, den sogar Erik, der nichts von dekorativer Kosmetik verstand, als künstlich erkannte. Sie trug eine Strickkombination in leuchtendem Rot, als wollte sie zwar korrekt, aber nicht unbedingt formell gekleidet sein.
»Das ist Alessia Fallaci«, jubelte Mamma Carlotta ihm entgegen, und Erik reichte der Dame artig die Hand, während er registrierte, dass seine Tochter sich wieder hinter die Rezeption zurückzog und ihrem Chef dort etwas zutuschelte, mit dem sie wohl das Verhalten ihrer Familie entschuldigte.
Nun erfuhr Erik, dass Alessia Fallaci die Frau des Hotelbesitzers war und dass Carlotta in ihr eine alte Freundin aus Panidomino wiedergefunden hatte.
»So ein Zufall!« Erik staunte nicht schlecht.
»Das ist mein Schwiegersohn«, präsentierte sie ihn stolz. »Un commissario!« Es sollten einige Lobhudeleien folgen, das sah Erik seiner Schwiegermutter an der Nasenspitze an, aber ihr war eine Frage wichtiger geworden: »Was machst du hier, Enrico?«
Er hatte noch immer nicht entschieden, wie er reagieren wollte, und rettete sich in eine Gegenfrage: »Und du? Was tust du hier?«
»Du siehst doch, ich habe Alessia getroffen.« Dass diese Antwort nicht der vollen Wahrheit entsprach, erkannte Erik sofort, schluckte aber eine Bemerkung herunter.
Mamma Carlotta beugte sich an sein Ohr und raunte: »Wenn du dir ansehen willst, wie Carolin an der Rezeption zurechtkommt, Enrico ...« Sie rückte von ihm ab und sah ihn an, als wollte sie ihm einen Bungee-Sprung oder eine Rafting-Tour ausreden. »Deine Tochter mag das nicht.«
Das wusste Erik. »Deswegen bin ich nicht hier ...«
Er hatte gerade eingesehen, dass er wohl mit der Wahrheit herausrücken musste, da kam Valerio Fallaci aus seinem Büro. »Hauptkommissar Wolf?« Er sah seine Frau ärgerlich an. »Du hast die Polizei gerufen?«
»No.« Alessia Fallaci hob abwehrend die Hände.
Daraufhin erhielt der völlig unschuldige Chef der Rezeption einen bitterbösen Blick, den er sich verständlicherweise nicht erklären konnte, und Valerio Fallaci flüsterte Erik ins Ohr: »Meine Frau neigt zum Dramatisieren. Vermutlich hat Olivero zwei Tage Genesungsurlaub angehängt, weil er noch ein bisschen schwach auf den Beinen war.« Er lachte so wirkungskalkuliert, dass Erik unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. »Er ist ... wie nennen das die Norddeutschen? Schiet zupass!« Wieder lachte er, als wollte er Erik zwingen, ihn unterhaltsam zu finden und in das Lachen einzustimmen. »Wenn jemand schiet zupass ist, dann bleibt er zwei Tage im Bett. Sobald er wieder hier auftaucht, werde ich ihm klarmachen, dass er nächstes Mal gefälligst anrufen und sich entschuldigen soll.«
Erik fiel auf, dass Fallaci sehr gut Deutsch sprach, mit einem angenehmen Akzent und der Eigenschaft der Italiener, ein Wort nicht mit einem Konsonanten zu beenden, sondern noch die Schwingung eines Vokals anzufügen.
Die Einmischung des Hoteliers hatte lange genug gedauert, dass Erik zu seiner Chance kam. Wenn er sie nutzte, würde Carolin ihn hoffentlich nicht mehr so finster anblicken und seine Schwiegermutter nichts von der Überraschung erfahren, die er sich für ihren Geburtstag ausgedacht hatte. »Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Mitarbeiter«, bat er Valerio Fallaci und wies zu der Bürotür. »Vielleicht können wir dort in Ruhe reden?«
Eine halbe Stunde später war Mamma Carlotta über die wichtigsten Lebensstationen von Alessia Fallaci informiert und hatte im Schnellverfahren darlegen können, wie ihr eigenes Leben verlaufen war. Natürlich reichte das nicht, um eine alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen, doch Alessia war für ein wichtiges Gespräch mit der Hausdame verabredet und hatte keine Zeit, weiter mit Carlotta zu plaudern. Aber das würden sie so bald wie möglich nachholen. Als Carlotta auf die Straße trat, freute sie sich über eine Einladung ins Hotelrestaurant, wo die Vergangenheit zum Leben erweckt werden sollte. Ein paar Namen von Lehrern und Mitschülern hatte jede von ihnen der anderen bereits entgegengeworfen, die mal mit einem Lachen aufgefangen und mal mit einem Stirnrunzeln und fragenden Augen zurückgewiesen worden waren. Jede von ihnen hatte andere Erinnerungen, das war ihnen schnell klar geworden, zusätzlich zu den vielen gemeinsamen. Ein besonderer Reiz nach so vielen Jahren! Alessia hatte sogar in Aussicht gestellt, Carlotta zu verraten, ob der Sohn des Bürgermeisters mit Chiara, einer Schülerin der Abschlussklasse, auf der Schultoilette tatsächlich etwas getan hatte, für das es damals noch keinen Namen gab. Angeblich hatte Chiara ihr Gewissen schon zwei Wochen später bei Alessia erleichtert, und jetzt, da sie glücklich mit einem Avocato in Mailand verheiratet war, konnte man es riskieren, dass Schweigegelübde zu brechen. Mamma Carlotta freute sich darauf, die Wahrheit über etwas zu erfahren, was sie längst vergessen hatte und was für sie ohne jede Bedeutung war. Es kam nur darauf an, an etwas anzuschließen, was einmal eine Gemeinsamkeit gewesen war, und damit zu einer neuen Gemeinsamkeit zu finden. Herrliche Aussichten!
Als sie den Weg zum Meer einschlug, ging es ihr so wie den meisten, die gelassen auf die Vergangenheit zurückblicken und mit dem bisherigen Verlauf ihres Lebens zufrieden sein konnten: Sie ließ sich gern auf Erinnerungen ein – so banal sie auch waren –, würde mit großer Freude einen Besuch in ihrer Jugend machen, war aber froh, eine Rückfahrkarte im Herzen zu haben und die Strecke, die sie in vielen Jahren zurückgelegt hatte, noch einmal im Eiltempo zu gehen, ohne an einer Abzweigung einen wehmütigen Blick zurückzuwerfen oder zu bereuen, keinen anderen Weg eingeschlagen zu haben. Die Wärme der Zufriedenheit, die sie ausfüllte, tat ihr gut. Dass sie keine Entscheidung bedauerte und jeden Schicksalsschlag mit der Kraft bewältigt hatte, die aus einem stabilen Lebensglück erwachsen war, sorgte für unbeschwerte Schritte, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Nase im Wind und die Brust voll guter Seeluft.
Es ging ihr gut! Das wurde ihr gerade in diesem Augenblick wieder bewusst. Carolins Ärger über ihre Nonna war nichts, was an dieser Erkenntnis etwas änderte. Sie würde ihre Enkelin schon davon überzeugen, dass ihr Besuch im Frangiflutti gar nichts mit ihr, sondern nur etwas mit ihrer Freundin Alessia zu tun hatte. Sie würde so tun, als hätte sie keine andere Absicht gehabt, als Alessia einen Besuch abzustatten, ohne es allerdings in dieser Deutlichkeit auszusprechen. Ein paar Andeutungen einwerfen, Nachfragen überhören, das Wort »vielleicht« mehrmals einbauen und am Ende die Stimme zu einem Fragezeichen anheben. Dann konnte ihr hinterher niemand eine konkrete Aussage vorhalten. Sie würde immer behaupten können, alles ganz anders gemeint zu haben. So was war keine richtige Lüge, eine derart banale Verschleierung der Wahrheit fiel allerhöchstens in den Bereich der Notlügen, die erlaubt waren. Sie würde darauf achten, alles, was sie zu Carolin sagte, so zu formulieren, dass es möglichst dicht an der reinen Wahrheit war.
Sie lächelte in die Wolken, hinter denen sich die Sonne gerade verbarg, und in den Wind, der in einer knatternden Fahne Gestalt annahm, während sie zum Ende der Straße ging, wo sie auf die Seestraße stieß. Wer im Leben glücklich werden wollte, musste gelegentlich die Wahrheit kneten, in eine andere Form bringen oder sie notfalls sogar verbiegen. Solange das Ergebnis immer noch Wahrheit genannt werden konnte, war das einer der vielen Wege zum Glück.
Nun ging sie direkt auf das Meer zu, der Wind trieb sie vor sich her. Sie genoss seine Kraft in ihrem Rücken, froh, seine Kälte nicht auf der Haut zu spüren. Gut, dass sie eine Strickjacke mitgenommen hatte, die sie im August in ihrer Heimat niemals benötigte. Auf Sylt verzichtete sie selten darauf, selbst im Hochsommer nicht.
Am Ende der Seestraße stand das Strandwärterhäuschen, das einmal himmelblau gewesen war, mittlerweile aber einen weißen Anstrich erhalten hatte. Das kleine Fenster, hinter dem der Strandwärter saß, um die Gästekarten zu kontrollieren, war geschlossen. Entweder hatte Fietje keinen Dienst, oder er sah am Strand nach dem Rechten, unten, am Fuß der hohen Holztreppe, die zum Wasser hinabführte. Möglich aber auch, dass er in Käptens Kajüte hockte, um sich dort bei einem Glas Jever von seinem anstrengenden Dienst zu erholen. Die Hochsaison näherte sich zwar dem Ende – in den meisten Bundesländern waren die Sommerferien vorbei –, aber solange das Wetter gut war, hielten sich viele Feriengäste am Strand auf. Und gut war das Wetter auf Sylt immer dann, wenn es nicht regnete, stürmte oder schneite. Sylttouristen verlangten nicht nach einem wolkenlosen Himmel und stundenlangem Sonnenbad, sie zogen den Kindern Pullover über, schickten sie in Gummistiefeln zur Wasserkante, damit sie dort Burgen bauten und Kanäle anlegten, und sprachen später vom genau richtigen Syltwetter.
Die Flut hatte ihren höchsten Stand erreicht. Die Brandung schäumte auf den Sand und zog sich zischend zurück. Das Wasser war dunkel, schimmerte mal blau, mal grün, als gäbe es unter der Oberfläche etwas, was darüber entschied, aus welcher Farbe die Wellen sich lösen sollten, um dann grau auf den Sand zu laufen und ihre weißen Gischtkronen abzuwerfen.
Carlotta suchte sich eine der Wolken aus, die besonders tief hing, und starrte sie so lange an, bis sie in ihrer stetigen Veränderung etwas erkannte, was wie Lucia war, weich und leicht, hell, sprunghaft und unerwartet. So hatten es auch die Kinder nach ihrem Tod gemacht. In einer Wolke hatten sie ihre Mutter gesucht und jedes Mal gefunden. Wahrscheinlich machten sie es heute immer noch so, sprachen nur nicht mehr darüber. Mit den Augen erzählte Mamma Carlotta ihrer Tochter von Carolin, von ihrer Wandlung vom Kind zur jungen Frau. Erst als die Wolke sich dehnte und zerfranste, murmelte sie einen Abschied und wandte sich ab. Während sie die Seedüne entlanglief, löste sich die Wolke auf, ein paar dünne Sonnenstrahlen kamen hervor. Und als Carlotta rechts in den Hochkamp einbog, war das Loch in der Wolkendecke groß genug, dass sich die Sonne in ihrer ganzen Pracht zeigen konnte. Sie stand nun klar am Himmel, als wäre es ihre Aufgabe gewesen, die Wolken zu vertreiben. Mamma Carlotta staunte immer wieder darüber, wie schnell sich der Himmel über Sylt veränderte, die Wolken sich auflösten und hell oder dunkel wurden. Der Wind kam ihr nun entgegen, strich ihr die Locken aus dem Gesicht und blähte ihr Kleid auf. In Umbrien war es warm um diese Zeit, auf Sylt blieb es immer kalt. Carlotta Capella hatte oft das Gefühl, auf Sylt dem Himmel näher zu sein und das Wetter in seinem Ursprung zu erleben, das später in Italien verbraucht ankam und dort keine Kraft mehr für einen frischen Wind und rasende Wolken hatte.
Die Tür von Käptens Kajüte stand weit offen. Die Biene Maja, die drinnen besungen wurde, weckte im gesamten Hochkamp Erinnerungen an eine Fernsehfigur, deren größte Fans mittlerweile aufs Rentenalter zugingen. Vor dem Eingang hatte Tove zwei wackelige Tische mit Plastikstühlen aufgestellt. Die karierten Tischdecken aus Papier wurden von einem Aschenbecher auf der Tischplatte festgehalten. Wenn einer der Raucher auf die Idee kam, ihn vom Tisch zu nehmen, flog die Decke davon, und Tove gebärdete sich dann, als hätte der Schuldige ihn um ein kostbares Leinentuch seiner Großmutter gebracht.
Diesmal jedoch war nichts dergleichen zu befürchten. Die beiden Müllwerker, die dort ihre Pause verbrachten, stützten zusätzlich die Ellbogen auf den Tisch und redeten leise miteinander. Als Mamma Carlotta an ihnen vorbeiging, hörte sie, dass von einem Stinkstiefel die Rede war, wobei es sich vermutlich um den Chef der beiden handelte.
In der Imbissstube sah es so aus, wie sie es am liebsten hatte. Kein Gast weit und breit! Tove Griess stand breit und brummig hinter der Theke und starrte böse seine Bratwürste an, als wären sie schuld, dass sie noch nicht verkauft worden waren, und Fietje Tiensch, den Mamma Carlotta nicht zu den Gästen, sondern zum lebenden Inventar zählte, saß am schmalen Ende der Theke und sah in sein Jever. Selbstverständlich schweigend! Mamma Carlotta konnte sich nicht erinnern, die beiden jemals im angeregten Gespräch angetroffen zu haben. Außer der Bestellung eines weiteren Biers und dem Angebot, eine verbrannte Wurst für den halben Preis zu bekommen, fiel in der Imbissstube selten ein Wort zwischen den beiden. Mittlerweile aber wusste Mamma Carlotta, wie sie diese Wortkargheit einzuschätzen hatte. Anfangs war sie oft erschrocken gewesen, wenn sie in dieses Stillschweigen geplatzt war, und hatte sich Sorgen gemacht. Ein Todesfall? Eine Steuernachzahlung? Der Besuch des Gewerbeaufsichtsamts? Nun wusste sie, dass das Schweigen zwischen dem Wirt und seinem einzigen Stammgast nichts war, was Anlass zur Sorge gab. So gefiel es den beiden, das war alles! Für eine Italienerin unvorstellbar!
»Buon giorno! Come sta?«
Toves grobes Gesicht mit der vorgewölbten Stirn, den buschigen Brauen und den kleinen Augen zog sich in die Breite, was so etwas wie ein Lächeln bedeutete, und Fietje Tiensch schob seine Bommelmütze, die er ständig auf dem Kopf trug, im Sommer genauso wie im Winter, in den Nacken, kraulte seinen dünnen Bart und grinste. Im Gegensatz zu Tove war er klein und zierlich, hatte ein schmales, sensibles Gesicht und helle Augen, in denen zu lesen war, dass er aus einem Leben herausgerutscht war, in dem es Bildung, beruflichen Erfolg und privates Glück hatte geben sollen.
»Moin, Signora!«
Das war für Tove schon zu viel der Freundlichkeit. »Können Sie nicht deutsch mit uns reden, wenn Sie hier auftauchen? Ich bin keine Pizzeria, sondern ein gutbürgerliches deutsches Restaurant.«
»Un ristorante?« Mamma Carlotta bedachte das finstere Ambiente der Imbissstube mit einem vielsagenden Blick, dann schob sie sich auf den Hocker vor der Theke, den sie mittlerweile ihren Stammplatz nannte. Als sie eine gemütliche Körperhaltung gefunden hatte, lachte sie die beiden Männer so lange an, bis Tove es nicht mehr aushielt und sich zum Kaffeeautomaten umdrehte und Fietje seine Bommelmütze wieder in die Stirn schob und fortfuhr, auf dem Grund seines Glases nach dem Sinn des Lebens zu suchen.
Während Tove einen Cappuccino zubereitete, nach dem sie gar nicht verlangt hatte, erzählte Mamma Carlotta: »Ich komme gerade aus dem neuen Hotel. Dem Frangiflutti! Kennen Sie das?«
Dass sie keine Antwort erhielt, war Mamma Carlotta nur recht. So konnte sie ohne Unterbrechungen erzählen, dass ihre Enkelin eine Ausbildung zur Hotelkauffrau absolvierte und sie selbst im Frangiflutti eine alte Schulfreundin getroffen hat. »Ist das nicht ein ... piccolo miracolo? Ein kleines Wunder? Nach so vielen Jahren! Und nicht in Umbria sehen wir uns wieder, sondern auf Sylt!«
Sie sah von einem zum anderen, lockte mit den Augen eine Reaktion herbei, die ihrer Sensation in etwa gerecht wurde, erntete aber nichts als ein Brummen von Tove und immerhin ein freundliches Nicken von Fietje.
Mamma Carlotta schluckte ihre Enttäuschung herunter. Eigentlich kannte sie das ja. Was in ihrer Heimat dazu führte, dass alle Nachbarinnen zusammengerufen und die Töpfe mit dem Mittagessen auf dem Herd vergessen wurden, hatte in Käptens Kajüte nicht einmal einen erstaunten Ausruf oder eine interessierte Nachfrage zur Folge. Wie immer stieß sie hier nur auf schläfriges Schweigen. Und wenn einer der beiden staunte, dann lediglich darüber, dass sie sich mit viel emotionalem und körperlichem Aufwand über etwas ereiferte, was weder Tove noch Fietje besonders spektakulär fanden.
Aber das hatte auch einen Vorteil. Denn einer der vielen Gründe, warum sie gern in Käptens Kajüte einkehrte, obwohl der Wirt und der Strandwärter muffelige Zeitgenossen waren, der Cappuccino nicht gut und der Espresso eine Katastrophe, das holzvertäfelte und schlammgrün geflieste Ambiente abscheulich und der hygienische Standard bedenklich war, lautete: Hier konnte sie reden, ohne unterbrochen zu werden. Schon nach einer Viertelstunde wussten Tove und Fietje alles über Alessia Fallaci, über Carolins Begabung fürs Hotelgewerbe, über das außerordentliche Feingefühl des Architekten, der das Hotel umgebaut hatte, und die Attraktivität des Hoteliers. »Er sieht aus wie Vittorio de Sica.« Sie rollte mit den Augen. »Den habe ich mal im Kino gesehen. Grande!«
Hierzu hatte Fietje Tiensch endlich etwas zu sagen. Nicht zu Vittorio de Sica, aber zu Valerio Fallaci. »Halten Sie sich fern von dem Kerl, Signora! Der ist skrupellos! Ich würde mich nicht wundern, wenn der sogar mit der Mafia unter einer Decke steckt.«
Mamma Carlotta sah ihn entgeistert an. »Wie kommen Sie darauf?«
Tove machte eine wegwerfende Handbewegung, die ihm ein wenig verrutschte, sodass er an die Umrandung des Grills geriet. Das machte aus seiner stets wütenden Grundstimmung hellen Zorn. »Fietje hat ja keine Ahnung«, schimpfte er, während er die Hand unter kaltes Wasser hielt.
»Ich weiß genug von diesem Kerl«, beharrte Fietje Tiensch. »Und du auch. War das nicht ein Kumpel von dir, der von Fallaci ruiniert worden ist?«
Tove tat so, als müsste er lange nachdenken. »Du meinst Holger?«
»Wen denn sonst?«
»An seiner Pleite war er selbst schuld.«
»Und Thies Dageför?«
Mamma Carlotta mischte sich ein. »Thies ... come? Ist das ein Name?«
Tove zog die Schüssel mit dem Kartoffelsalat heran und rührte ihn durch, damit er wie frisch zubereitet aussah. »Was denn sonst?«
»Holger jedenfalls hat alles verloren. Und wer war schuld? Valerio Fallaci!«
»Das ist überhaupt nicht raus!«, blaffte Tove seinen Stammgast an.
Mamma Carlotta war aufs Höchste alarmiert. Alessia war mit einem Hochstapler verheiratet? Der Sache musste sie unbedingt auf den Grund gehen.
Aber mehr war aus Fietje leider nicht rauszubekommen. Er sah sogar so aus, als bereute er bereits das wenige, was er verraten hatte, was daran liegen mochte, dass der Wirt ihn ansah, als wollte er ihm nie wieder ein gutes Jever zapfen.
Wütend zeigte Tove auf den Cappuccino, der noch immer unberührt auf der Theke stand, und blaffte Mamma Carlotta an: »Nun trinken Sie endlich!«
Erik machte sich Notizen, dann steckte er Block und Kuli weg. »Die Polizei ist nicht zuständig, wenn ein Arbeitnehmer vergisst, sich krankzumelden.« Er machte einen langen Hals, um in die Lobby blicken zu können. Seine Schwiegermutter hatte das Frangiflutti verlassen, seine Überraschung war in Sicherheit.
»Olivero lebt allein«, kam da eine Stimme von der Tür. Alessia Fallaci war eingetreten, ohne dass Erik es bemerkt hatte. »Vielleicht geht es ihm so schlecht, dass er nicht ans Telefon kommt.«
»Nonsenso«, brummte ihr Mann. »Heutzutage hat jeder sein Handy in der Nähe.«
»Und wenn er einen Schlaganfall hatte? Oder einen Herzinfarkt? Wenn er bewusstlos am Boden liegt und nicht telefonieren kann?«
»Sie meinen also, die Ärzte in der Nordseeklinik könnten etwas übersehen haben?«, fragte Erik.
Alessia Fallaci zögerte. Erik merkte, dass sie drauf und dran war, einen Verdacht zu erfinden, damit er sich dieser Angelegenheit annahm. Das ärgerte ihn einerseits, stimmte ihn aber gleichzeitig milde. Eigentlich war es ihr nicht vorzuwerfen, dass sie sich um einen Angestellten sorgte. Trotzdem sagte er: »Jeder Erwachsene hat das Recht, seinen Aufenthaltsort zu ändern, ohne einen anderen darüber zu verständigen. Die Polizei wird erst tätig, wenn eine Gefahr für Leib und Leben besteht. Bei Kindern ist das natürlich anders, bei Menschen mit geistigen Störungen oder solchen, die Betreuung benötigen, ebenfalls. Dann wird verfahren wie bei Minderjährigen. Oder könnten Sie sich vorstellen, dass Ihr Mitarbeiter in Gefahr ist? Trägt er sich mit Selbstmordabsichten? Hat er jemals etwas Derartiges geäußert?«
Wieder sah er Alessia Fallaci an der Nasenspitze an, dass sie versucht war, etwas zu behaupten, was sie nicht wusste. »Dieser Unfall vor dem Hauptbahnhof ... Olivero war in eine Schlägerei geraten. Falscher Zeitpunkt, falscher Ort. Er hatte nichts damit zu tun.«
»Er ist verletzt worden?«
Valerio Fallaci übernahm das Antworten. »Er war in der Nordseeklinik, Verdacht auf Gehirnerschütterung. Aber alles war so weit okay. Ein paar Prellungen und blaue Flecken. Als er aus der Klinik kam, hat er sofort hier ausgeholfen. Das Mittagsgeschäft brummte gerade.«
»Das war vermutlich ein Fehler«, ereiferte sich seine Frau. »Er hat sich übernommen, hat sich zu viel zugemutet.«
Erik erhob sich. »Also gut, ich fahre hin und sehe nach dem Rechten.« Alessia Fallaci würde ja doch keine Ruhe geben. Und wenn sie später seiner Schwiegermutter erzählte, dass der Kriminalhauptkommissar nicht besonders zuvorkommend gewesen sei, würde Carlotta ihm die Hölle heiß machen. Da war es wirklich einfacher, wenn er den Kellner aus dem Bett trieb und ihm klarmachte, dass seine Anstellung in Gefahr war. Danach würde Mamma Carlotta nur Gutes über ihren Schwiegersohn zu hören bekommen und Erik zu Hause Ruhe und Frieden genießen können.
Das Haus, in dem der Kellner wohnte, lag an der Hauptstraße, ein lang gestrecktes Gebäude mit mehreren Eingängen, im Erdgeschoss diverse Einzelhandelsgeschäfte, darüber zwei Etagen mit Wohnungen, von denen jede einen Balkon mit einem weißen Balkongitter besaß. Erik stellte den Wagen auf dem Parkplatz davor ab und suchte die Hausnummer, die Alessia Fallaci ihm aufgeschrieben hatte. Es war das Haus mit einem Fahrradverleih. Den Namen, den er suchte, fand er ganz oben auf dem Klingelschild. Aber auf sein Läuten reagierte niemand. Er versuchte es bei den Nachbarn, aber auch dort gab es keine Reaktion. Vermutlich handelte es sich überwiegend um Ferienwohnungen, die zurzeit nicht bewohnt waren, oder ihre Bewohner hielten sich am Strand auf.
Erik ging um das Haus herum und stellte fest, dass die Rückfassade genauso aussah wie die vordere. Die gleiche Fensterfront, die gleichen Balkons. Eine lange Rampe führte vor das Untergeschoss und am anderen Ende wieder hinauf, vermutlich für Zuliefererfahrzeuge, die die Geschäfte versorgten. Auf dem niedrigsten Punkt, gegenüber dem Kellereingang, gab es einen Einlass, in dem Fahr- und Motorräder geparkt waren.
Erik ging wieder nach vorn und entschloss sich, dem Fahrradverleiher einen Besuch abzustatten. Aber der Mann hinter dem Verkaufstresen zuckte ratlos die Schultern. »Keine Ahnung, wer in diesem Haus wohnt. Ich arbeite hier nur. Um die Leute kümmere ich mich nicht.«
Erik wäre gerne wieder gegangen, mit dem guten Gefühl, getan zu haben, was er versprochen hatte, und nichts dafürzukönnen, dass er keinen Erfolg gehabt hatte. Aber zu einer Frage rang er sich dann doch noch durch. »Ist der Geschäftsinhaber zu sprechen?«
Ein älterer Mann kam aus einem hinteren Raum, der vermutlich sein Büro war, bevor er gerufen wurde. Anscheinend hatte er das Gespräch mit angehört und wollte seinem Verkäufer helfen, den lästigen Bittsteller abzuwimmeln. »Der Nachbar in der oberen Wohnung unterm Dacht? Den habe ich länger nicht gesehen.«
Erik zog seinen Dienstausweis hervor, um dem Erinnerungsvermögen des Mannes auf die Sprünge zu helfen. »Es liegt eine Vermisstenanzeige vor.«
Tatsächlich änderte sich von einem Augenblick auf den anderen alles. »Ach so! Sie sind von der Polizei! Dann kann ich Ihnen helfen.« Er strahlte wie ein kleiner Junge, der dem Lehrer einen Gefallen tun kann, und streckte Erik seine Hand hin. »Mein Name ist Kleinau, Klaas Kleinau.« Er eilte in den hinteren Raum zurück. Als er wiederkam, war sein Gesicht ernst, weil ihm wohl zwischenzeitlich klar geworden war, dass es keinen Grund zur Freude gab, wenn die Polizei einer Vermisstenanzeige nachging.
»Das ist sein Schlüssel. Den hat er mal bei mir im Laden hinterlegt. Wir hatten kürzlich einen Wasserschaden im Haus. Die Sache wäre glimpflich abgelaufen, wenn wir in seine Wohnung gekommen wären. Seitdem bewahre ich den Zweitschlüssel hier auf. Falls mal wieder was sein sollte ...« Nun wechselte seine Miene zu tiefer Besorgnis. »Ist ihm was zugestoßen?«
»Das wollen wir nicht hoffen«, gab Erik zurück und nahm den Schlüssel in Empfang.
Der Ladenbesitzer wies nach hinten. »Sie können durch mein Büro gehen. Dort gibt es eine Tür ins Treppenhaus.«
Erik bedankte sich und stand kurz darauf vor einer Treppe, die nach oben führte. Zögernd setzte er einen Fuß darauf, dann entschloss er sich anders, zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seines Mitarbeiters.
Sören hatte seine Handynummer im Display erkannt und meldete sich mit bösen Vorahnungen. »Ist was passiert?«
»Möglicherweise.« Erik war es nicht angenehm, Sören gestehen zu müssen, dass er zu etwas überredet worden war, was er unter anderen Umständen abgewimmelt hätte. »Ich weiß, es kann eine ganz harmlose Erklärung geben. Aber Sie kennen ja meine Schwiegermutter ...«
»Was hat die denn damit zu tun?« Sören wurde eigentlich immer sanft wie ein Lamm, wenn es um die Frau ging, die ihm, wenn sie auf Sylt war, beinahe täglich Antipasti, Primo, Secondo und Dolce vorsetzte und extra für ihn Feigenmarmelade aus Panidomino mitbrachte. Aber diesmal war es anders. Anscheinend hatte er sich schon in seinem Feierabend eingerichtet und konnte sich nicht damit abfinden, dass die Flasche Bier, die er in den Kühlschrank gelegt hatte, geschlossen bleiben sollte.
»Wer weiß, was ich zu sehen bekomme, wenn ich die Tür öffne«, sagte Erik. »Besser, ich bin nicht allein.«
Das war eine sehr überflüssige Bemerkung. Ein Polizeibeamter durfte niemals allein ermitteln. Aber während Erik zu der Wohnung des Kellners fuhr, war ihm sein Plan wie eine private Angelegenheit erschienen, eine Gefälligkeit für die Freundin seiner Schwiegermutter. Und natürlich eine Möglichkeit, sich zu entziehen, nachdem er in der Lobby des Frangiflutti zwischen Carolins Entrüstung und Mamma Carlottas Neugier geraten war und nicht wusste, was er tun sollte. Jetzt erst wurde ihm klar, dass er womöglich einem Verbrechen auf die Spur kommen würde. »Es ist nicht weit für Sie«, tröstete er Sören, der an der Westerheide wohnte. »Auf die Braderuper Straße, durch den Kreisverkehr vor Feinkost Meyer und dann in die Hauptstraße. Die Ladenzeile auf der linken Seite. Die mit dem Parkplatz davor. Das sind für Sie höchstens fünf Minuten.«
»Der Kellner ist erwachsen und mündig, nehme ich an?« Sören wollte sich einfach nicht damit abfinden, dass aus seinem Feierabend nichts wurde. »Wenn jemand für ein paar Tage nicht zu erreichen ist, kann man nicht einfach in seine Wohnung eindringen. Auch die Polizei nicht. Das sollten Sie doch wissen, Chef!«
»Andererseits gab es diese Prügelei vor dem Hauptbahnhof ...« Erik war froh, dass er darauf verweisen konnte.
»Ist überhaupt offiziell eine Vermisstenanzeige aufgenommen worden?«
»Nein, aber ...« Erik trat vor das Haus, weil seine Stimme durchs Treppenhaus hallte und er in Sorge war, dass hinter sämtlichen Türen zu verstehen war, was er mit Sören besprach. Mit einem Fuß hielt er die Haustür auf. Er war froh, dass seine Worte nun in Motorengeräuschen und Möwengeschrei untergingen. »Eigentlich bin ich privat hier, Sie haben ja recht. Also brauchen Sie auch nicht zu kommen. Sorry, Sören ...«