Weniger Ego ... mehr Leben - Mia Flora - E-Book

Weniger Ego ... mehr Leben E-Book

Mia Flora

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Beschreibung

Die wahre Natur, die in uns allen steckt, ist oftmals nicht erkennbar, weil unser Ego sie verdeckt und uns stattdessen ein falsches Selbstbild suggeriert. Deshalb ist das Ego oft die Ursache, wenn wir unglücklich sind oder mit uns und dem Leben hadern. Im Herzen wissen alle, wie sich "echtes" Leben anfühlt. Jedes Kind wird mit dem Potenzial dazu geboren – doch im Laufe der Zeit wird diese natürliche Fähigkeit durch von der Umwelt übernommene Glaubenssätze überdeckt. Hand aufs Herz: Jeder Mensch hätte gern das zufriedene Lächeln eines Gandhi oder einer asiatischen Nonne auf den Lippen. Doch der beschwerliche Weg von 30 Jahren Meditation in einer kargen Höhle des Himalaja ist für kaum jemanden gangbar. Das Versprechen dieses Buches: Es bietet eine Abkürzung, einen Schnellkurs vom festgefahrenen, falschen Ego hin zum erfüllten, wirklichen Ich. Die Autorin ist keine Westlerin, die in einem halben Jahr im Internet alles zusammengesucht hat, was in Zeitschriften oder in Mainstream-Medien zum Thema kursiert. Stattdessen hat sie als demütige Schülerin die Informationen von Lehrmeister*innen der westlichen Wissenschaft und östlicher Philosophie zusammengeführt – und pro Kapitel mindestens einen Witz zum Thema gefunden. Am Ende steht das Fazit: Weniger Ego führt zu mehr Lebensglück, zu einem neuen Umgang mit unserem Planeten, unseren Mitlebewesen und nicht zuletzt mit uns selbst. Und nach der Lektüre wissen wir auch, wie all dies tatsächlich im normalen Alltag jeder Leserin und jeden Lesers umsetzbar ist. »Vereinfacht gesagt ist das wie im Märchen vom hässlichen Entlein. Das hässliche Entlein ist so lange unglücklich, wie es ein falsches Selbstbild von sich hat. Erst als es seine wahre Natur erkennt, kann es authentisch als Schwan leben und sein Lebensglück finden. Interessant ist dabei, dass es diese wahre Natur die ganze Zeit in sich trägt, sich ihrer nur bewusst werden muss.« Mia Flora

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SCORPIO

MIA FLORA

WENIGER EGO MEHR LEBEN

SCORPIO

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1. eBook-Ausgabe 2023

© 2023 Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, CH-Zollikerberg

Das Gedicht von Erich Fried: »Was es ist« auf S. 109 f. stammt aus:

Es ist was es ist: Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte;

© 1983, 1996, 2007 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Lektorat: Silke Foos, München

Illustrationen im Innenteil: Mia Flora

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva

Gesetzt aus der Minion Pro und Trend Sans One

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-567-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Für meinen liebsten Steffen, die Kinder, die Welt und die Bienen …

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

1 EINE KURZE GESCHICHTE DES EGO

Erste Etappe: Kind ohne Ego

Zweite Etappe: Ego in Regie

Dritte Etappe: Jenseits des Ego

2 GROSSES EGO – SCHWACHES SELBST

Sind wir alle Narzissten?

Narziss in der Ich-Falle

Garantiert schlechte Karten

Ich weiß nicht, was mir fehlt

Ach, du mein großer Liebling!

Ich will mehr, am besten von allem

Ist Narzissmus heilbar?

Die einfachste Lösung

Narzisstische Berühmtheiten

3 WER BIN ICH, WENN ICH NICHT ICH BIN?

Fünf Schritte zum Ich-Ich

… und noch mal zurück

Kein Ego, kein Hunger?

Einmal Ego – immer Ego?

4 GUTE GRÜNDE FÜR DAS SELBST

Tierisch glücklich ohne Ego-Selbst

Eine »fittere« Vorstellung von uns selbst

Reise zum egolosen Selbst

Was ist das isolierte Selbst?

Jedes Kind kennt es …

5 ALLES FLIESST VON ALLEIN

Ein Kochrezept für Flow?

Kommt das Glück heute oder morgen?

Funktionierst du noch oder lebst du schon?

Wie kommt der Flow ins Spiel?

6 ALLES IST DER MOMENT

Was genau ist Achtsamkeit?

Zurück zum Jetzt

Acht-Wochen-Programm

Im Guten wie im Schlechten

Auf den Geschmack kommen

Was hilft, Achtsamkeit zu üben?

7 DIE MASCHINE IM KOPF

Was ist Rumination?

Im Teufelskreis gefangen?

Tickets zum Aussteigen

Raus aus dem Kopf und rein ins Leben?

8 DAS LEBEN IST EINE BÜHNE

Eine Rolle für immer?

Nimm die Maske ab! Welche Maske?

Der tragische Auftritt

Es gibt viel bessere Rollen

Mach dich locker!

Wer bist du wirklich?

9 IM RAUSCH ZUM NON-EGO

Lachgas, Äther und Opiumesser

Die künstlichen Paradiese

Mit LSD ins Nirgendwo?

Sex, Drugs oder Rock ’n’ Roll?

High ohne Drogen

10 ABSCHIED VOM EGOZENTRISCHEN

Zählt nur der eigene Vorteil?

Handeln wir nur rational?

Liebe in Zeiten des Homo oeconomicus

Dagobert Ducks Dollaraugen

Vom »Ichling« zum »Wir«

Steckt da noch Ego drin?

11 UND EWIG GRÜSST DIE INTUITION

Eine richtige Prinzessin

Wenn Logik nicht reicht

Wie soll ich dich verstehen?

Zauberwort: Integration

Ohne viel zu überlegen

Ratio ohne Ego?

12 DAS OFFENE GEHEIMNIS

Bewusstsein in Boxen

Ein ganzes Bewusstsein für alle?

Urlaub vom Ego

Wer löst das Rätsel?

13 ZURÜCK INS PARADIES

Wo, bitte, geht’s hier zum Garten Eden?

14 EINLADUNG INS LEBEN

Wie sag ich’s meinem Kinde, dass ich ohne Ego bin?

Essen ohne Ego

Stell dir vor, es ist Arbeit und keiner ist im Ego

Liebe ist … wenn es ohne Ego ist

15 IM GROSSEN WIE IM KLEINEN

Ist das Ego noch gut oder kann das weg?

Licht am Ende …

16 IM VERTRAUEN

Danke

Über die Autorin

Über unsere Projekte

Anmerkungen

VORWORT

»Lebe dein Leben,als ging’s um dein Leben.«

Henning von der Osten

Lebe dein Leben, als ging’s um dein Leben! Wenn wir das jeden Tag umsetzen würden, wäre das Ergebnis 100 Prozent Leben, richtig? Die Durchschnittswerte unserer Alltagsrealität erzählen eine andere Geschichte: 11 Jahre des Lebens schaut ein Mensch Fernsehen. 7 Jahre liegt er wach und findet nicht in den Schlaf. 26 Jahre schläft er. Etwa 10 Jahre arbeitet er. Ein halbes Jahr sitzt er auf der Toilette und ein weiteres halbes Jahr steht er im Stau. Statistisch gesehen stirbt er dann im Durchschnittsalter von 75 Jahren – gerade so, als wäre das Leben soeben an ihm vorbeigerauscht. Und viele merken erst in der Stunde des Todes, dass sie eigentlich etwas anderes mit ihrem Leben anfangen wollten. Auf dem Grabstein könnte dann eingemeißelt sein: »Hat vorgehabt zu leben«.

Diese beiden Sätze hat mein Lehrer immer gesagt: »Lebe dein Leben, als ging’s um dein Leben« und »Hat vorgehabt zu leben«. Gleichzeitig hat dieser weise Mann immer darauf hingewiesen, dass man nur glücklich wird, wenn man nicht nur vom Kopf her und aus dem Ego lebt. Damals, ich war noch keine 20, war das für mich unverständlich, ich konnte es nicht so einfach einordnen. Was er sagte, leuchtete mir zwar ein, aber es blieben tausend Fragezeichen in meinem Kopf. Er fügte einen dritten Satz hinzu: »Verstehen ist nur der Trostpreis im Leben.« Ich staunte. Trostpreis? Und was war dann der Lottogewinn?

Sie alle kennen meinen Lehrer nicht. Er ist auch schon lange gestorben. Auf seinem Grabstein steht nicht: »Hat vorgehabt zu leben«. Das können alle bestätigen, die ihn kannten. Ich fange an zu weinen, wenn ich das schreibe. Auf meinem wird es auch nicht stehen. Das können alle bestätigen, die mich kennen. Und dieses Buch hier habe ich geschrieben, damit es auch auf Ihrem Grabstein nicht stehen muss.

Mit 19 Jahren habe ich eine ganze Weile jeden Abend das Requiem von Mozart gehört. Ich wollte jeden Tag so leben, dass er mein letzter hätte sein können. Das gab meinen Tagen Sinn und half mir, sie intensiver zu erleben. Heute brauche ich diese alltägliche künstliche Setzung nicht mehr. Mein Leben ist erfüllt, weil die einzelnen Momente erfüllt sind.

Ich erinnere mich an ein Seminar, in dem irgendwann die ganze Gruppe in einer Stimmung war, als hätten alle Alkohol getrunken. Wir hatten einige Tage gefastet und standen kurz vor dem sogenannten Fastenbrechen. Dazu kochten wir ausgewählte Speisen zusammen. Vielleicht empfand ich alles so intensiv, weil das Fasten meine Antennen sensibilisiert und meine Poren geöffnet hatte. Jedenfalls tauchte ich schon bei den Vorbereitungen geradezu ein in die italienischen Kräuter, die Tomaten und die Kartoffeln, die wir für unsere Minestrone wuschen und schnitten. Die Kräuter rochen sowas von unglaublich gut! Im Nachhinein kommt mir der Satz in den Sinn, den manche Leute sagen, wenn sie Essen besonders lecker finden: Da könnte ich mich reinlegen! Wahrscheinlich war ich so ausgehungert, dass ich die Früchte der Erde förmlich in mich einsaugen und gleich mit den Augen aufessen wollte. Ich legte mich gefühlt wirklich rein in dieses Essen, in alle Momente, in denen ich es ansah, berührte, roch – einfach nur waschen, Blättchen abzupfen und auf einem Holzbrettchen klein schneiden. Es gab sozusagen nur noch die Kräuter und mich, oder eigentlich gab es nur noch die Kräuter. In eine Zitrone zu beißen wäre im Normalfall wahrscheinlich so intensiv gewesen, wie sie jetzt, in diesem hochempfänglichen Zustand, aufzuschneiden und bloß zu riechen. Die Zwiebeln zu schneiden, was ich sonst oft unangenehm fand, war eine fantastische Erfahrung – wie Verschmelzen. Im Nachhinein kann ich gar nicht sagen, ob meine Augen vor Glück tränten oder vor lauter Gerührtheit.

Jedenfalls war ich ganz eins mit dem, was ich gerade machte, und alle anderen um mich herum waren anscheinend genauso erfüllt wie ich, alle waren beseelt und ruhig und ganz bei der Sache. Langweilige Abläufe wie Tisch decken, Karaffen holen und mit sprudelndem Wasser zu befüllen, wurden zu einem schönen Erlebnis. Und irgendwann kam dann der unglaubliche Moment: diese Minestrone zu essen! Ich weiß nicht, was mit meinen Geschmacksknospen in diesem Moment passierte, sie explodierten wahrscheinlich nach der langen Abstinenz, so als würden sie eine Party schmeißen in meinem Mund und die Korken knallen lassen. Noch nie hatte ich mich für Kartoffelstücke so begeistert! Ich wusste gar nicht, dass man sich für eine Kartoffel überhaupt interessieren konnte. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich fast verliebt war in diese Kartoffel. Essen ist der Sex des Alters, sagt man so gemeinhin. Ich und die Kartoffel, wir waren eins, wir waren glücklich, es gab nichts anderes auf der Welt in diesem Moment.

Momente in Selbstvergessenheit, Augenblicke puren, satten Erlebens, wo wir uns ganz »eins zu eins« fühlen mit dem Leben, ganz bei uns sind und gleichzeitig nicht in unserem langweiligen, irgendwie hohlen sonstigen Ich-Gefühl stecken – das war schon alles, das ganze Geheimnis. Selbstvergessenheit war das Zauberwort. Ich begriff damals, dass ich alles, was ich bis dahin über das »Ego« gehört hatte, eigentlich falsch verstanden hatte. Ich hatte gedacht, dass es moralisch besser wäre, kein Ego zu haben, ohne zu wissen, wie ich es loswerden könnte. Jetzt fing ich an zu begreifen, dass es sich einfach besser anfühlte, nicht im Ego zu sein, ohne es loswerden zu müssen. Augenblicke ohne Ego. Augenblicke in Selbstvergessenheit – wie im Rausch gehen wir auf in dem, was gerade präsent ist: im Kontakt mit Menschen, in einer packenden Geschichte, in den Naturgewalten, die uns in Gestalt einer warmen, uns umspülenden Welle am Meer auf einer Urlaubsreise oder in einem sexuellen Erlebnis derart mitreißen, dass wir für Momente nicht mehr wissen, wo oben oder unten ist und keinen Gedanken daran verschwenden, wer wir sind oder wie wir heißen.

Selbst, wenn wir sagen, das sind die Momente, für die es sich zu leben lohnt … selbst, wenn wir sagen, das genau ist das wahre Leben: Wir wissen, dass unser Alltag und der von Menschen um uns her zu einem Großteil aus etwas anderem besteht. In weiten Teilen empfinden wir unser Leben mehr als eine Art »Überleben«. Wir leben nicht im Moment, sondern sind gedanklich mit der Vergangenheit oder Überlegungen für die Zukunft beschäftigt, hadern mit uns selbst, den Umständen oder unseren Nächsten. Wir ärgern uns über das Gestern und machen uns Sorgen um das Morgen. In diesen Bereichen unseres Daseins ist das Ego zu Hause.

Ich lade Sie ein, das Ego als ein Rätsel zu sehen. Sowohl in der östlichen als auch in der westlichen Philosophie und seit geraumer Zeit auch in der Wissenschaft setzen Menschen seit Jahrtausenden ihre Fähigkeiten dazu ein, dieses Rätsel zu lösen. Was ist da in uns, das man mit keinem Computertomografen sichtbar machen kann, das aber trotzdem so stark wirkt, dass Liebesbeziehungen daran zerbrechen und Kriege entfesselt werden?

Das Ego beeinflusst, wie wir leben, wirtschaften, Kunst machen, wie wir streiten, wie wir lieben, träumen, arbeiten. Und auch, was wir wünschen, begehren und glauben. Deswegen habe ich wie in einem Kaleidoskop unterschiedliche Lebensbereiche auf den Einfluss des Ego untersucht. Also wie uns zum Beispiel unser Ego in der Liebe zu Narzissten macht, oder was das Ego mit dem Homo oeconomicus zu tun hat. Und natürlich, wie die Welt mit weniger Ego aussehen könnte. Nachhaltiger, achtsamer und mit einer neuen Verbundenheit zwischen Menschen.

In diesem Buch habe ich den Versuch unternommen, verschiedensten Fährten nachzugehen, um das Geheimnis des Ego zu lüften. Dahinter steht ein großes Anliegen. Ich weiß wie jede Person, die auf unsere Situation in diesem dritten Jahrtausend blickt: Die Menschheit kann nicht glücklich weiterexistieren mit 8 Milliarden egozentrischen Dagobert Ducks auf diesem Planeten.

Ich bin der Überzeugung, dass es eine einfache Formel gibt für das Glück des Einzelnen und für das Leben der Menschheit: das Ego herunterfahren und ein verbundenes Lebensgefühl hochfahren.

1

EINE KURZE GESCHICHTE DES EGO

»Sein zu können, wie man ist,und nicht, wie man sein sollte,ist ein großes Geschenk.«

Wir sind nicht auf der Welt, um rechtzeitig unsere Telefonrechnung zu zahlen und von Montag bis Freitag genervt zur Arbeit zu gehen, um am Feierabend gehetzt die Wäsche in die Maschine zu stopfen und am Wochenende gelangweilt die Großtante zu besuchen. Aber wir verhalten uns so. Im Eifer des Gefechts des Lebens kommen wir irgendwie nicht dazu, uns unserem Ureigenen zu widmen, und das spüren wir auch sehr deutlich.

Das Ego zu überwinden ist daher nicht eine von vielen Forderungen, nach dem Motto: Erst die Wäsche, dann Diät und jetzt auch noch weniger Ego und obendrein mehr Flow! Es geht eher darum, sich immer wieder im Alltag auf das einzuschwingen, was uns wirklich beflügelt und darum, uns zu spüren, zu merken, dass wir am Leben sind und dass sich das gut anfühlt. Auch darum, so glücklich und zufrieden zu sein, dass wir andere so sein lassen können, wie sie sind. Ich gebe jetzt ein großes Versprechen ab: Ein Leben ohne Ego ist schöner, leichtfüßiger, heiterer, intensiver, kreativer und spannender als ein Leben mit Ego.

Egolosigkeit und Flow – das restlose Aufgehen in der momentanen Aktion – sind eine Möglichkeit, die jedem ohne Voraussetzung und in jeder Sekunde zur Verfügung steht. Warum aber ist eigentlich ein Abendessen, ein Spaziergang oder ein Konzertbesuch im Flow schöner? Weil wir im Flow alles, was passiert, annehmen können. Das Gegenteil von Flow sind die festen Vorstellungen in unserem Kopf, die unweigerlich mit der Wirklichkeit kollidieren. Denn das Leben verläuft nie so wie gedacht. Der Kopf sagt: So und so muss es sein, so soll beispielsweise ein gemütliches Abendessen mit der Familie ablaufen. Dann stelle ich mich in die Küche, mache Rührei und Salat, doch das Kind spielt nicht mit und will Pfannkuchen, macht »Ärger«, so empfinde ich es zumindest. Der Abend ist ruiniert. Ich bin enttäuscht, die Täuschung meiner Vorstellungen ist sozusagen aufgeflogen. Da wäre sie also, die große Gelegenheit, diese Täuschung hinter mir zu lassen, aber gerade das kann das Ego nicht.

Das Ego ist immer gebunden an Vorstellungen, und so verhindert es das wahre Leben. In meinem Ego habe ich mir zum Beispiel vorgestellt, wie mein Urlaub sein soll und wie mein Freund im Urlaub sein soll. Wie der Sex mit meinem Freund im Urlaub sein soll. Alles soll toll sein: der Urlaub, der Freund, der Sex. Und dann kann ich nicht mit dem mitfließen, was das Leben mir bietet. Egolosigkeit bedeutet, mit den Dingen mitfließen zu können, das ist der Unterschied. Dann mache ich dem Kind vielleicht Pfannkuchen, erfülle dem Kind seinen lebendigen Wunsch – oder auch nicht, auch das ist okay. Denn Flow bedeutet nicht, immer lieb zu sein und es allen recht zu machen. Aber ich weiß im Flow wenigstens, dass ich von Kindern nicht erwarten kann, dass sie Rühreier lieber mögen als Pfannkuchen mit Nutella.

Wenn man im Flow ist, lebt man einfach. Das Ego lebt nicht, sondern es stellt sich Leben vor, plant und wertet aus – und das führt uns zu dem Grund, warum es das Ego überhaupt gibt. Was genau ist das Ego und wo konkret »sitzt« es in uns? Wenn Sie diese Fragen nicht beantworten können, seien Sie getröstet: Trotz einer großen Anzahl von Forschungsprojekten konnte die Wissenschaft bisher nicht eine einzige Region im Gehirn ausmachen, in der das Ego zu verorten wäre. Bevor Sie also versuchen, dieses Ego loszuwerden, sollten Sie hier im weiteren Verlauf dieses Buches nachvollziehen, wie es in Sie »hineingekommen« ist und wie es sich in Ihrem Leben auswirkt. Letztlich hat Ihr Leben ohne Ego begonnen. Wir alle sind ohne Ego geboren worden; von der Wiege bis zur Bahre leben wir in Bezug auf das Ego grob gesehen in drei Etappen.

ERSTE ETAPPE: KIND OHNE EGO

Ihr Leben begann ohne Ego. Sie kamen auf die Welt und »waren« einfach. Punkt. Sie wussten nicht, wie Sie heißen. Schauen Sie ein Babyfoto von sich an, schauen Sie in diese Babyaugen oder blicken Sie heute in die Augen eines Säuglings. Da ist »niemand zu Hause«, der sagen würde: Ich bin die Susi oder der Fred, ich bin groß oder klein, ich bin dick oder dünn. Am Anfang hatten Sie keine Vorstellung davon, dass Sie eine Person sind. Sie haben jeden einzelnen Moment erlebt, ohne Ihr Erleben einer gleichbleibenden Persönlichkeit zuzuordnen. Jeder einzelne Moment war (vergleichbar mit einer Kugel) »rund«, in sich geschlossen. Erst später haben Sie all diese Kugel-Momente einer Kette zugeordnet, verbunden durch Ihre Person: eine chronologische Reihe von Ereignissen, denen gemeinsam ist, dass sie von Ihnen erlebt wurden. Wie ein Fotoalbum, auf dessen Deckblatt Ihr Name steht: mein dritter Geburtstag, mein erstes Fahrrad, mein erster Schultag usw.

In einem Gedicht von Peter Handke heißt es: »Als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war, alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins. Als das Kind Kind war, hatte es von nichts eine Meinung, hatte keine Gewohnheit, saß oft im Schneidersitz, lief auf dem Strand, hatte einen Wirbel im Haar und machte kein Gesicht beim Fotografieren.«1

Nun gab es nicht den einen Moment, in dem das Ego plötzlich in Sie »hineingefahren« wäre. Beispielsweise wissen Sie heute nicht mehr, wann Sie das Wort »Ich« zum ersten Mal verwendet haben. Vielleicht haben Sie auch von sich als der Person mit Ihrem Namen gesprochen. So wie Susi beim Panschen mit Nudeln und Tomatensauce von sich sagt: »Susi, Nudel, lecker-lecker.« Wo das reine Erleben der einzelnen Momente war, etablierte sich nach und nach in Ihrem Leben eine »Sie« oder ein »Er« mit Ihrem Namen oder eben das »Ich«. Füße im Sand, langsam zum Wasser laufen, ins Meer schauen, ein Steinchen rausfischen und ins Sonnenlicht halten, es flach ins Wasser schnippen, das Geräusch, wenn es über die Oberfläche hüpft – all diese Eindrücke bekommen eine zusätzliche Erlebnisebene. Auf einmal kommen Gedanken dazu: Ich bewege meine Füße im Sand, sehen die gut aus? Ich laufe langsam zum Wasser, aber mein Bruder ist schneller als ich. Ich sehe ein Steinchen, ich will versuchen, es übers Wasser hüpfen zu lassen wie meine Mutter. Es ist mir hineingefallen, das ärgert mich!

Das kleine Wörtchen »Ich« verändert jede Situation fundamental. Plötzlich sind »Ich« und die Welt getrennt; dieses Wort etabliert eine Grenze zwischen der Situation und der Person, die diese Situation erlebt. Vorher war man eins mit der Natur, mit dem Meer, dem Sonnenlicht, jetzt gibt es ein »Ich«, das sich selbst zuschaut und das denkt: Ich tauche meinen Körper in das Meer, ich halte mein Gesicht ins Sonnenlicht. Dieser Wechsel, hin zum Ich-Empfinden, geschieht natürlich nicht abrupt, sondern vollzieht sich als ein Prozess, und zwar so langsam, dass man ihn gar nicht bemerkt, wie man beispielsweise auch nicht bemerkt, dass man wächst. Von außen können Eltern die Transformation ihres Kindes allerdings beobachten, zum Beispiel wenn es beginnt, die Wörter »Ich« und »meins« zu gebrauchen.

In der Sprache manifestiert sich das Konzept des eigenen »Ich«; das Kind legt mit wachsender Ausdrucksfähigkeit seine Selbstvergessenheit ab. Hinzu kommt ab einem bestimmten Alter, dass dieses »Ich«, das heißt die eigene Person, als ein Kontinuum über den einzelnen Moment hinaus angenommen wird. Man lebt nicht mehr nur im Hier und Jetzt, sondern mit dem eigenen Ich »hat« man auf einmal eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wenn Mama gestern zu Susi gesagt hat, dass sie für das Foto ein freundliches Gesicht machen soll, setzt Susi heute angesichts des gezückten Fotoapparats vielleicht ein Lächeln auf, damit Mami ein noch schöneres Foto als gestern machen kann. Wenn ein anderes Mädchen heute zu Susi sagt, dass der Wirbel in ihrem Haar blöd aussieht, will Susi vielleicht morgen mitgehen zu Mamis Friseur, damit der ihre Haare glättet. Susi ist nicht mehr ganz und gar im Moment, sondern sie denkt an das, was gestern war oder morgen sein wird – und vor allem, was andere Leute von ihr denken. Sie ist also immer weniger unbeschwert und trägt in jedem Augenblick zunehmend den Ballast ihrer Gedanken zu ihrer Person mit sich herum: Die Tante hat gesagt, dass ich nicht so dasitzen soll; der Weihnachtsmann bringt nur Süßigkeiten, wenn ich eine brave Susi bin. Ich muss also eine brave Susi sein. Was ist aber eine brave Susi? Gucke ich gerade in die Kamera wie eine brave Susi? Müsste eine brave Susi mehr lachen und weniger Wirbel im Haar haben?

Sie können diese Verwandlung bei jedem Kind beobachten. Sie selbst haben diese Verwandlung durchlaufen, die nächsten Generationen werden sie durchlaufen, ein Kind aus Ihrer Nachbarschaft »verwandelt« sich genauso wie eines auf der anderen Seite des Erdballs. Es sei denn, jemand bleibt auf dem geistigen Stand eines Kindes; je nach Entwicklungsstörung, das heißt bis zu welchem Punkt der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung sich vollzieht, ist das Ego des Betroffenen mehr oder weniger ausgebildet wie bei einem Ein- oder Zwei- oder auch Fünfjährigen. Nehmen wir zum Beispiel ein Kind mit ausgeprägter Trisomie 21 (Downsyndrom). Eingeschränkt in seiner geistigen Entwicklung wird es sich zeitlebens einen kindlich-spielerischen Zugang zu den Dingen bewahren, mehr in den Augenblick eintauchen und mit seiner unverstellten Freude andere Menschen anstecken. Es gibt übrigens nicht wenige gestresste Erwachsene, die Menschen mit Trisomie 21 um ihre Versunkenheit ins Spiel und ihren leichteren Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen beneiden.

Wachsende Erkenntnis und den Verlust des kindlich-paradiesischen Zustands scheint es nur im Doppelpack zu geben. Auf der einen Seite steht die geistige Entwicklung, der Zuwachs an Wissen, an Intelligenz, an Verständnis von Zusammenhängen und Konzepten wie unter anderem dem vom eigenen Ich. Auf der anderen Seite bedeutet genau dies das Ende des unverstellten Zugangs zum Leben. Damit beides gleichzeitig möglich ist – ein direkter Zugang zur eigenen Lebendigkeit und eine hohe geistige Entwicklung –, muss man schrittweise vorgehen.

Die gute Nachricht in diesem Kapitel ist, dass wir alle in unserer Kindheit die Welt ohne Ego erlebt haben. Nacheinander werden Sie jetzt über die Kapitel verteilt schlechte und gute Nachrichten über das Ego lesen. Hier kommt die erste schlechte Nachricht: Das Ego breitet sich schon in zartem Alter in unserem Leben aus …

ZWEITE ETAPPE: EGO IN REGIE

Da sich das Ich-Empfinden unbemerkt etabliert, kommt es einem normal vor, dass man sich irgendwann in der Welt des Ego wiederfindet, in der – wenn überhaupt – nur noch rare Momente der Selbstvergessenheit vorkommen. Der Glanz ist aus den eigenen Augen verschwunden. Er war doch da einmal. Wo ist er geblieben? Die Erinnerung an den Zauber der Kindheit ist noch da, doch so sehr man sich auch darum bemüht, er kommt nicht mehr zurück.

Ego ist also das Selbstkonzept – eine Ich-Perspektive, aus der heraus wir als Erwachsene die Welt gemeinhin wahrnehmen. Später wird genauer erklärt, was das in letzter Konsequenz bedeutet; hier soll ein einfacher Vergleich genügen: In der ersten Etappe schiebt sich nach und nach eine Grenze, sagen wir eine Glasscheibe, zwischen uns selbst und unser unmittelbares Erleben. Man könnte das Bild einer glücklichen Spaziergängerin wählen, die sich zunächst selbstbestimmt an der frischen Luft in einer schönen Landschaft frei bewegt und dann in ein Auto einsteigt, um die Reise ihres Lebens fortzusetzen. Durch die Scheiben des Autos sieht die Welt mit einem Mal anders aus, nicht mehr so strahlend, und sie duftet auch nicht mehr so gut. Aber die Spaziergängerin hat bald schon vergessen, wie es war, ohne Auto unterwegs zu sein; sie hetzt von einem Ort zum anderen und steht auch ziemlich oft im Stau. Trotzdem kommt sie nicht auf die Idee, das Auto stehen zu lassen. Schließlich sitzen alle um sie herum auch in ihren Autos.

Weil alle um uns herum in einer Welt leben, in der das Ego Regie führt, stellen wir diesen Zustand in der Regel nicht infrage. Ich – ich – ich schallt es uns von allen Seiten entgegen wie ein Echo im Gebirge. Wenn wir die Gedanken der Menschen laut stellen könnten, wären an der Kasse im Supermarkt lauter Ich-Sätze zu hören: Ich muss noch … Ich weiß nicht … Ich brauche noch … Hoffentlich kriege ich noch … Wer nicht mitspielt, bleibt auf der Strecke, davon sind alle überzeugt. Denn es gilt der Grundsatz: Jeder denkt an sich, nur ich denk an mich. Dies gehört zum Credo des Kapitalismus: Me, myself and I. Nicht nur Menschen am unteren Ende der Gesellschaft, die ums nackte Überleben kämpfen, sondern vor allem reiche und superreiche Wirtschaftsmanager leben auf diese Weise. Von Kindesbeinen an werden wir in eine Welt des Wettbewerbs eingeführt, in eine Welt des Gegeneinanders. Man muss aufpassen: Nur diejenigen gelten als normal, die dabei mitspielen. Es gilt der Grundsatz der sogenannten »Normalverteilung« (Gauß-Verteilung): Was die meisten machen, ist die Norm, alles andere sind Ausnahmen, die als Abweichungen definiert werden.

Die Werbung funktioniert als omnipräsente Vermittlerin dieser Weltsicht. Sie führt Kindern von klein auf vor, was man anziehen und essen soll, und Maximen wie »Geiz ist geil« und andere fragwürdige Werte werden ununterbrochen in unser Bewusstsein gehämmert. Die Filmindustrie weist in dieselbe Richtung; auf dem Olymp der Reichen, Schönen und Berühmten herrscht großteils Gier nach Ruhm und Selbstbespiegelung.

Wir alle erleben Momente, in denen uns das alles nicht mehr normal vorkommt. Vielleicht nach einer Reise in ein anderes Land, wenn uns bei der Rückkehr die Erkenntnis anspringt: Das ist doch eine verrückte Welt, in der wir hier wie selbstverständlich leben! Vielleicht haben wir notleidende Kinder in Afrika gesehen oder Armenviertel in Südamerika und es ist uns durch diese Erfahrung klargeworden, dass etwas fundamental anders werden muss auf diesem Planeten. Das Gleiche kann geschehen, wenn wir einen Film sehen, ein Buch lesen oder auch nur einen einzigen Satz in einem Interview mit einer wirklich klugen Person hören. Sie kennen das sicher: Plötzlich ist da eine Ahnung, dass es auch noch eine andere Möglichkeit gäbe, diese Existenz zu erleben. Oder Sie verlieben sich und plötzlich ist alles anders. Dann ist es fast unmöglich, im Gefängnis Ihres bisherigen Lebens weiter zu funktionieren.

Es ist in solchen besonderen Momenten, als würden Sie im Dunkeln einen verheißungsvollen Ruf hören: Noch können Sie vielleicht nicht benennen, was das ist, das da ruft, aber Sie sind entschlossen, es herauszufinden. Ja, Ihre Person mit diesem Ego hat bis heute überlebt, sonst würden Sie dieses Buch nicht lesen. Aber Sie spüren, das ist noch nicht alles, da braucht es noch mehr zu einem erfüllten Leben.

DRITTE ETAPPE: JENSEITS DES EGO

Irgendwo in uns sehnt sich etwas nach etwas anderem. Wir suchen es in der Musik, im Alkohol, in Exzessen jeder Art: exzessives Arbeiten, exzessive Stunden vor dem Bildschirm, wochenlanges Eintauchen in Computerspiele, nicht endende Fernsehabende oder -nächte, Serienorgien, Kaufmarathons, Drogen usw. Wir sehnen uns nach Urlaub vom Ich, wollen heraus aus dem Ich-Korsett. Alkohol ist Urlaub vom Ich, Drogen sind Urlaub vom Ich, Musik ist Urlaub vom Ich, Sex ist Urlaub vom Ich. Oft ist uns dies nicht bewusst, es ist nur ein tief in uns schlummernder Traum. Der Wunsch, wieder zurück ins Paradies des Hier und Jetzt zu kommen und die Welt wieder wie ein Kind zu erleben. Es zieht uns beispielsweise in die Natur oder in den Garten: einfach nur Erde umgraben, etwas anpflanzen, gießen und ernten. Für Freundinnen kochen, dabei so pur wie möglich sein, ganz »bei der Sache« sein, nicht nachdenken, das eigene Tun und die Gesellschaft der lieben Menschen genießen. Sport machen. Schnellen Sport. Noch schneller, bis wir nicht mehr denken. Langsamen Sport. Noch langsamer, bis wir die Yogabewegung werden, statt sie nur auszuführen. Auf den höchsten Berg klettern, über dem Abgrund sein, in höchster Konzentration. Abtauchen in die Tiefe des Meeres, Haifische in der Nähe, mit voller Präsenz und in totaler Stille. Sport machen wie ein Tier, arbeiten wie ein Tier, Sex haben wie ein Tier. Musik hören wie ein Tier: auf einem Festival eintauchen in die riesige Herde, sich verlieren im gemeinsamen Erleben und mit Hunderten oder Tausenden klatschen, jubeln und tanzen.

Aber leider, leider sind dies nur Momente. Es bleibt nach dem Alkohol-Urlaub vom Ich mehr Kater als dauerhafte Selbstvergessenheit. Nach dem Fernsehabend oder dem Surfen im Internet stellt sich eine merkwürdige Leere ein. Nach dem Verliebtsein, das uns die Ahnung von etwas anderem brachte, landen wir wieder im Grundgefühl des Mangels, weil unsere Ego-Mechanismen mal wieder alles vermasselt haben.

Nach diesen puren Momenten bleiben also stets mehr Fragen als Antworten: Wer bin ich? Wer bin ich wirklich? Wenn ich mal alles weglasse, was ich gar nicht in meinem Leben brauche, wie wäre mein Leben dann? Wie wäre es, wenn ich mich mal nicht zu dick, zu dünn, zu allein, zu schlaflos, zu gestresst, zu irgendwas fühlen würde, sondern in Frieden mit allem wäre? Wer bin ich jenseits aller Beurteilung, aller Kompliziertheit? Wer bin ich und was würde ich tun, wenn ich nur noch ein Jahr zu leben hätte, oder eine Woche oder nur noch einen einzigen Tag?

2

GROSSES EGO – SCHWACHES SELBST

»Je kleiner ein Sandkörnlein ist,

desto sicherer hält es sich für

den Mittelpunkt der Welt.«

Marie von Ebner-Eschenbach

Fragt man Menschen auf der Straße, was sie unter einem Narzissten2 verstehen, erhält man immer wieder die Antwort: »Das ist jemand, der in sich selbst verliebt ist.« Sie beziehen sich auf Beispiele in ihrem Bekanntenkreis; auf den Manager, der auf Festen jedes Mal seine Selbstinszenierung feiert, auf die Kollegin, die immer schöner sein will als andere, oder die Freundin aus der Schulzeit, die schon auf dem Schulhof für alle unnahbar blieb, aber viele Verehrer hatte und heute auf Instagram eine Unzahl Follower und schöne Urlaubsfotos verbuchen kann. Oder an den Liebhaber, der an einem Tag ätzende Kritik äußert, aber am nächsten Tag mit großer Geste Blumen verschenkt. Sie denken an Menschen, die nur mit sich selbst beschäftigt sind, deshalb andere unterm Strich nicht gut behandeln, aber doch in manche Situationen Glanz und Glamour bringen. Kurz, sie glauben, ein Narzisst ist jemand, der sehr selbstbewusst ist – doch damit sind sie bereits auf ihn hereingefallen.

SIND WIR ALLE NARZISSTEN?

Es gibt noch einen zweiten Typus des Narzissmus, der nicht so leicht zu erkennen ist; dieser Narzisst ist kein glänzender Entertainer, nicht der Casanova, der rechts und links zerbrochene Frauenherzen hinterlässt, und auch keine erfolgreiche Karrierefrau oder die männerfressende Freundin. Es sind solche Menschen, von denen die Allgemeinheit nie denken würde, dass sie zu den Narzissten gehören, denn sie fühlen sich eher ängstlich und sind oft von hoher Empfindsamkeit. Sie vermeiden soziale Kontakte eher und legen ein betont bescheidenes Verhalten an den Tag. Diese nennt man die »verletzlichen« oder auch »verdeckten« Narzissten. Das Erstaunliche ist, dass sie genauso wie die Erstgenannten die vielen Forderungen der Umwelt nach Besonders- und Erfolgreichsein vollkommen verinnerlicht haben, nur mit dem Unterschied, diesen explizit nicht zu entsprechen. Der Forschung zufolge leiden die Betreffenden viel mehr, unter anderem an Ängsten, Depressionen und geringem Selbstwertempfinden.3

Beide Typen des Narzissmus, also der verdeckte wie der offene oder »strahlende« Narzisst, sind von ihrem gesunden Selbstgefühl abgeschnitten. Beide haben deshalb in Wirklichkeit ein zu geringes Selbstwertgefühl. Der strahlende Narzisst spielt ein zu lautes, pompöses Theater. Der verdeckte Narzisst spielt ein eher stilleres, tragisches Stück. Der strahlende Narzisst macht sich selbst und anderen vor, dass er der Tollste ist. Wenn er zu seinem wirklichen inneren Selbstwertgefühl gelangt, fühlt er sich genauso schwach wie der verdeckte Narzisst. Beide müssen also aus einem Mangel heraus sich selbst und anderen ein möglichst positives Bild von sich zeigen. Nach außen offensichtlicher ist der laute, strahlende Narzisst. Sie können also in diesem Kapitel immer im Herzen oder im Hinterkopf bewahren, dass hinter allem der unglückliche, schwache, sich klein fühlende Narzisst sitzt.

In der Psychologie wird Narzissmus heute vorrangig als eine Störung der Selbstwertschätzung verstanden. In der kindlichen Entwicklung rührt dies von mangelnder oder falscher Zuwendung her, vorrangig seitens früher Bezugspersonen. Die daraus resultierende verzerrte Selbstliebe kann sich unterschiedlich ausdrücken. Introvertierte Männer und Frauen haben keinen Zugang zu ihrer lustvollen, unverstellten Selbstliebe. Extravertierte Menschen kompensieren den inneren Mangel durch ein überhöhtes Selbstbild. Beide sind in Liebesbeziehungen schwierig zu genießen, da sie hauptsächlich um sich selbst kreisen. Die narzisstische Blase, in der sie damit leben, ist entweder betont dunkel oder betont strahlend: die unglückliche graue Maus im dunklen Mauseloch versus der Strahlemann im Lichtkegel der großen Bühne. Eine Selbstbespiegelung im engen Kreis der eigenen kleinen dunklen oder groß aufgeblasenen Existenz. Diese Bilder vor Augen ist einleuchtend, dass dem Narzissmus verwandte Begriffe Egozentrik, Egoismus und Selbstsucht sind.

Immer mehr Stimmen aus Psychologie und anderen Wissenschaftszweigen fragen sich, inwiefern unsere gesamte westliche Gesellschaft in gewissem Sinne dem Narzissmus verfallen ist.4 In dem Buch Die Narzissmus-Epidemie hat der Psychologieprofessor Keith Campbell mit seiner Kollegin Jean Twenge im Jahr 2009 diagnostiziert, dass unser Gesellschaftssystem in vielem die Züge einer narzisstischen Gesellschaft trägt.5 Darin wird beispielsweise beschrieben, dass soziale Medien wie Instagram oder Twitter eine narzisstische, Ego-bezogene Weltsicht fördern und dass unser Verhalten der Umwelt gegenüber von einer egozentrischen Grundhaltung geprägt ist.

Immer mehr Menschen glauben, sich besonders gut darstellen zu müssen, auf Facebook oder Instagram zum Beispiel6; sie hoffen, sich mit ihrer Selbstbespiegelung über die sozialen Medien etwas Gutes zu tun. Doch warum tun sie das? Was haben sie davon? Vereinfacht kann man sagen, dass alle, die in den sozialen Medien aktiv sind, in den meisten Fällen unbewusst versuchen, ein positives Bild von sich selbst zu erschaffen. Das ist aber nicht das Bild des wahren Selbst, sondern das eines falschen Selbst, welches für die Welt da draußen poliert wird. Aus gutem Grund zeigt niemand Fotos von sich, morgens, verkatert, im trüben Herbstgrau erlahmt am Frühstückstisch sitzend. Oder Fotos der Freundin, die einen frustriert anschaut, weil sie gerade etwas hinterfragt, was man ihr als feststehende Wahrheit präsentierte. Natürlich zeigt niemand Bilder von dem engen Büro im Außenbezirk, von der unaufgeräumten Wohnung, dem schäbigen Restaurant, in das man geht, weil man sich das teure nicht leisten kann. Das alles zeigt man nicht! Nur das idealisierte Selbst führt man den anderen vor, und dieses falsche Selbst spiegeln die anderen zurück mit ihren Kommentaren, Herzchen und Likes. Bis man das falsche Selbst für das eigentliche Selbst hält.

Narzissmus ist eine Form der Ich-Bezogenheit, anhand derer sich zeigen lässt, dass man eine Vorstellung von sich selbst mit seinem wahren Selbst verwechselt. In diesem Kapitel bekommen Sie zuerst die schlechte Nachricht und gegen Ende die gute. Die schlechte Nachricht lautet: In uns allen steckt der Schmerz des Narziss, egal ob wir strahlende Narzissten sind oder nicht. Deswegen lohnt es sich, den Ursprung der Geschichte genauer unter die Lupe zu nehmen.

NARZISS IN DER ICH-FALLE

Der Narzissmus-Begriff geht auf eine tragische Sage der Antike zurück.7 In den Metamorphosen von Ovid ist Narziss kein Kind der Liebe, sondern der Gewalt: Er ist der Sohn der Nymphe Leiriope, die von dem Flussgott Kephissos vergewaltigt wurde. Die Mutter fragt den Seher Tiresias, ob ihrem Sohn ein langes Leben beschieden sei und erhält die rätselhafte Antwort: »Nur, wenn er sich nicht erkennt.« Narziss ist so schön, dass sich Frauen und Männer in ihn verlieben. Er aber kann ihre Liebe nicht erwidern. Zwei abgewiesene Liebende sind hier von besonderer Bedeutung, zunächst der Mann Ameinias, dessen Liebesbezeugungen von Narziss nicht erhört werden und der sich am Schluss sogar vor der Tür des Narziss mit dem Schwert tötet, das Narziss ihm zuvor geschickt hat. In seinem Tode fleht er um Rache am liebesunfähigen Narziss: Wo Narziss selbst liebt, soll es ihm genauso ergehen wie all den unglücklichen Zurückgewiesenen. Somit ist Narziss zu unerfüllter Liebe verdammt.8 Ein ähnlich tragisches Schicksal wie Ameinias erleidet die Nymphe Echo. Sie ist dazu verflucht, nur Sätze anderer zu wiederholen. Als sie sich in den schönen Narziss verliebt, verläuft ihre Unterhaltung dementsprechend. Narziss ruft in den Wald hinein: »Ist einer allhier? und: Allhier antwortete Echo. Jener staunt, und indem er mit spähendem Blicke sich umsieht, rufet er: Komm! laut auf; Komm! ruft sie dem Rufenden wieder. Rückwärts schauet er; keiner erscheint: Was, rufet er endlich, meidest du mich? Was meidest du mich? antwortet die Stimme.«9 Beide sind so in ihrer Tragik gefangen, dass keine erfüllende Begegnung möglich ist. Echo verzehrt sich nach dem Geliebten, zieht sich in die Wälder zurück und magert vor Liebeskummer ab bis zum Skelett. Am Schluss soll sie zu Felsgestein geworden sein, nur ihre Stimme blieb immer hörbar. Der Fluch des Narziss erfüllt sich an einer spiegelglatten Quelle. Er verliebt sich in sein schönes Spiegelbild. Obwohl er erkennt, dass das spiegelnde Wasser ihn selbst zeigt, kommt er nicht von dem Bild im Wasser los. Er ist von seinem Spiegelbild so eingenommen, dass er nicht mehr isst, nicht mehr schläft, so verschmachtet er bis zum Tod. Die in ihn verliebte Echo wiederholt seine Worte noch in seinem Sterben. Als sie ihn später bestatten will, findet sie anstelle des Leichnams eine Narzisse.

Ähnlich wie in der biblischen Vertreibung aus dem Paradies, wo das Essen vom Baum der Erkenntnis die paradiesischen Zeiten beendet, ist es in dieser Geschichte das Erkennen der eigenen Person, das Narziss zum Verhängnis wird. Wie die Prophezeiung vorhersagte, hätte er, um weiterzuleben, sich selbst nicht erkennen dürfen. Doch was ist eigentlich passiert, als Narziss sich im Wasser erkannte? Was ist so schlimm daran, sich im Spiegel anzuschauen? Es ist ein sehr einfaches Bild: Da kniet jemand am Wasser und ist nicht mehr eins mit sich selbst. Er ist Schauender und Angeschauter gleichzeitig. Er hat sich aufgespalten. Narziss hat sich damit selbst zum Objekt gemacht. Er ist jetzt zweimal da – und der Leidensweg beginnt.

GARANTIERT SCHLECHTE KARTEN

Übertriebene Selbstbespiegelung, Selbstsucht und Selbstbesessenheit entstehen immer dann, wenn wir uns als Objekt betrachten. Das Erstaunliche für viele ist, dass genau das zu leidvollen Momenten führt. Aber warum? Weil wir sozusagen das Leben anhalten – aussteigen, uns anschauen, uns bewerten, uns vergleichen, uns taxieren wie einen Gegenstand im Kaufhaus. Würden wir uns kaufen? Nee, da ist schon der Lack ab, der Po ist zu dick. Das »Ich-Objekt« ist zu alt, zu rund, zu irgendwas – da lohnt sich das Geld vielleicht gar nicht. Wir vergleichen uns mit anderen und empfinden nicht mehr das Wunder des eigenen Lebens. Andere haben es besser getroffen, die haben eine schönere Figur, entspanntere Eltern oder ein größeres Haus. Der Nachbar über mir hat mehr Geld, die Nachbarin unter mir war jetzt gerade in Palermo. Mit mir fährt keiner nach Palermo, mich hat noch nicht mal einer gefragt, ob ich überhaupt nach Palermo fahren möchte, ich komme einfach immer zu kurz!

So einfach entsteht selbst erzeugtes Leid. So kann man sich Leid selbst stricken, einfacher als ein Paar Socken. Im Vergleich wird sich immer jemand finden, der es besser hat. Man geht spazieren, da sieht man ein so schönes Haus. In dem Haus wohnt aber jemand anderes. Das verdirbt einem direkt die Laune. Warum ist das nicht mein Haus? Eigentlich war es ein wunderbarer Spaziergang. Mittendrin steige ich aus dem Strom des Lebens aus, bleibe stehen und vergleiche: Der andere hat ein Haus und ich nicht. Ich habe kein Haus. Dann kann ich auch den Spaziergang nicht genießen. Und auch nicht mein leckeres Essen. Denn: Ich habe kein Haus, ich habe kein Haus, ich habe kein Haus.

Alle machen das – manche mehr, manche weniger – und wir trennen uns durch den narzisstischen Blick von der Welt und von anderen Menschen. Diese Trennung macht uns unglücklich, aber wir können von dieser Selbstbespiegelung nicht lassen, weil wir hoffen, uns über diese Selbstbespiegelung von Schmerzen zu erlösen. Ein Beispiel wäre ein Mann, der selbst nicht lieben kann, aber Frauen in sich verliebt macht, um wenigstens in ihren Augen das zu sehen, was er selbst nicht empfinden kann. Seine Selbstsucht ist ein Ersatz für den seit seiner Kindheit tief empfundenen Mangel, nicht geliebt zu werden. Doch das Leben kennt keinen Ersatz.

ICH WEISS NICHT, WAS MIR FEHLT

Deswegen ist es so wichtig zu verstehen, dass man eine narzisstische Show nicht mit der Wirklichkeit verwechseln darf. Man muss die Doppelgesichtigkeit erkennen, die sich hier zeigt. Fragt man manche Menschen, wie sie sich in ihrem Leben fühlen, vielleicht nach ein paar Gläsern Wein, tritt eine ganz andere Wahrheit zutage. Spätestens nachts um drei Uhr in der Kneipe bricht die Fassade, wenn oft genug angestoßen wurde und ausreichend Gläser geleert sind. Dann spucken manche keine großen Töne mehr und gestehen mit leiser Stimme: »Bei mir zu Hause läuft gar nichts, wie es soll. Meine Frau spricht nicht mehr mit mir.« Der Mann kann zwar nicht genau sagen, was ihm im Herzen fehlt. Er weiß aber, dass es da etwas anderes gibt, etwas Besseres und Erfüllenderes. Als Kind, so denkt er voller Sehnsucht, da war die Welt noch anders, da musste man doch auch nicht immer all diese Sachen machen, die man gar nicht will. Da musste man nicht müssen. »Und überhaupt«, sprudelt es plötzlich aus ihm hervor, »eigentlich ist es doch gar nicht so wichtig, ob jemand schön oder erfolgreich ist«. Er schaut Ihnen in die Augen und fragt mit leiser Stimme: »Sind wir nicht eigentlich alle gleich?« Dann legt er den Arm um Sie und Sie verstehen ihn kaum noch, weil er sich nur noch schwer artikulieren kann: »Ich hab doch alle lieb!« Das Problem ist: Wenn Sie ihm am nächsten Tag wieder nüchtern begegnen und ihn an seine Worte vom Vorabend erinnern, will er nichts mehr davon wissen. Da heizt er wieder seinen Mitarbeitern ein: »Kann das nicht schneller erledigt werden?« Er hat seine Maske wieder aufgesetzt.

Immer mehr Menschen fühlen so wie dieser Mann in der Kneipe. Sie sehnen sich manchmal nach etwas und wissen nicht, was es ist. Sie spüren in schwachen Momenten, dass ihr Glück nicht in der Überlegenheit liegt, die sie fühlen, wenn sie als Chef jemanden zusammengestaucht haben. Auch nicht darin, schöner als andere zu sein, sich das perfektere Zuhause einzurichten, mehr und erfolgreicher zu arbeiten als andere. Und doch greifen sie immer wieder auf diese alten Verhaltensmuster zurück: die eigene Stärke herauskehren, sich im Vergleich zu anderen gut positionieren und eine Rolle spielen, in der sie in den Augen der anderen gut dastehen. Es ist wie eine Sucht, sie können auf diese kleinen Selbstbestätigungen nicht verzichten, denn sie haben das Gefühl, wenn sie die nicht haben, haben sie gar nichts. Deswegen brauchen sie ständig Nachschub.

Aber wie bei jeder Sucht gibt es eine Schattenseite: Sucht will nämlich immer mehr. Irgendwann benutzt ein Narzisst alle Leute seiner Umgebung – Angetraute, Kinder, Angestellte –, um sich auf deren Kosten zu erhöhen. Das heißt, alle um ihn herum sollen sich minderwertiger fühlen als er, und an diesem Unterschied labt er sich. Es gibt viele Bücher, in denen beschrieben wird, wie das funktioniert, und wie man sich von Narzissten befreit. Aber die große Frage ist, wie befreit sich der Narzisst von seinem Ego und von seinem (selbst)schädigenden Verhalten? Denn der am meisten Leidtragende, und das ist für viele nicht sichtbar, ist er selbst.

Versuchen wir mal einen neutralen Blick darauf zu werfen. Wenn man das Verhältnis von Ego und Selbst verstehen will, hat das nichts mit einer moralischen Sicht zu tun, im Sinne von: Das tut man nicht, sich großmachen und andere kleinhalten! Das Tragische am Narzissten ist nämlich, dass in ihm – egal wie groß er sein Ego aufbläht und wie viel ihn und seine Umwelt das kostet – die Sehnsucht nach dem authentischen Selbst bleibt, von dem er sich aber jedes Mal entfernt, wenn er seine Rolle spielt.

ACH, DU MEIN GROSSER LIEBLING!

Wie entsteht diese übertriebene Selbstverliebtheit und ist es wirklich »zu viel« Selbstliebe? Eigentlich ist die Überbetonung der eigenen Wichtigkeit gleichzusetzen mit mangelnder Selbstliebe. Vereinfacht gesagt, Eltern sind lieb zu ihrem Kind, geben ihm einen Kuss und umarmen es, wenn es hingefallen ist, oder sie freuen sich, wenn es ihnen ein Bild zeigt, das es gerade gemalt hat, sie hören ihm liebevoll zu, wenn es eine Geschichte erzählt – sie füttern das Kind mit der Liebe, die es wirklich braucht. Bekommt es dieses stimmige Kontingent an Liebe jedoch nicht, kann es nicht genug Eigenliebe entwickeln. Singt das Kind ein Lied vor, aber niemand hört ihm liebevoll zu und es erlebt keine Wertschätzung, erfährt es offensichtlich nicht das richtige Maß an Zuwendung. Wenn Eltern jedoch übertrieben reagieren und das Kind bei Radiostationen und Fernsehshows unterbringen, weil sie es zu einem Kinderstar machen wollen, erlebt das Kind ebenfalls keine echte Zuwendung. Nicht selten geben Eltern sogar ihr eigenes narzisstisches Defizit direkt an ihre Kinder weiter. Sind sie selbst nicht liebesfähig, können sie die richtige Liebe für ihr Kind auch nicht aufbringen. Jedes dieser Extreme lässt ein Defizit an natürlicher Liebe im Kind zurück. Aus diesem Mangel angemessener Liebe durch die Eltern entsteht auf lange Sicht ein Mangel an Selbstliebe im Kind.

Die Psychologin Polly Young-Eisendrath schreibt dazu: »Zu viele Eltern machen heutzutage – ohne es zu bemerken – den Fehler, ihre Kinder zu idealisieren, anstatt sie zu lieben.«10 Viele Menschen zeigen der Welt ihr Leben lang ein idealisiertes Bild von sich selbst, anstatt sich so zu lieben, wie sie sind. Sie haben es ja nicht anders gelernt. Tragisch ist, dass Eltern meinen, ihren Kindern ein gutes Rüstzeug fürs Leben mitzugeben, wenn sie es idealisieren, denn in unserer Gesellschaft soll man schließlich möglichst erfolgreich und stark sein, ein möglichst toller Hecht. Schwäche dagegen ist gesellschaftlich tabuisiert. Keith Campbell und Jean Twenge bestätigen, dass Eltern ihre Kinder genau diese Überhöhung ihrer Person wie mit der Muttermilch aufsaugen lassen. Sie hofieren von klein auf ihre Kinder wie Prinzen und Prinzessinnen. Sie kaufen ihrem Sohn ein T-Shirt mit der Aufschrift »Future leader of the world« (»Künftiger Herrscher der Welt«) oder »Sorry, girls, I only date models« (»Tut mir leid, Mädels, aber ich verabrede mich nur mit Models«). Schon neugeborene Babys bekommen von ihren Eltern einen Schnuller, auf dem »Prinzessin« oder »Rockstar« steht.11 Babys werden Erwachsene und gehen mit verdrehten Ansprüchen in diese Welt. Im Kindesalter wird ihnen immer wieder nahegebracht, sie seien besser als andere oder müssten dies erreichen – mit schulischen Leistungen, im Sportverein, an einem Instrument, im Schreibwettbewerb, durch Bejubelung und Antreiben bei angeblich besonderer Schönheit oder Intelligenz des Kindes. Daneben steht häufig das Erfüllen jeden Wunsches, weil die Eltern vielleicht ein schlechtes Gewissen haben, dass die Arbeitswelt ihnen viel abverlangt und sie zu wenig Zeit haben, liebevoll mit dem Kind zu streiten und zu kuscheln. Hinzu kommt, dass durch die Tendenz zu nur wenigen Kindern, diese von ihren Eltern das Gefühl vermittelt bekommen, ganz besonders wertvoll zu sein – was ja mit dem Ego der Eltern und ihrer Angst vor Verlust des Kindes oder ihrer Selbstverwirklichung durch das Kind zu tun hat, und damit ihrer eigenen seelischen Bedürftigkeit. Unendlich wertvoll sind ja alle Kinder und das dürfen sie auch wissen – wenn sie gleichzeitig mit dem Erleben aufwachsen: Die anderen sind genauso wertvoll wie ich. Dies entspricht auch dem unverstellten kleinkindlichen Blick auf sich und andere.

Die extravertierten Narzissten schaffen es auch in unserer Welt mit ihrer zur Schau getragenen Selbstsicherheit, Erfolg zu haben. Tatsächlich belegen zahlreiche Untersuchungen, dass die höchsten Positionen in unserem Gesellschaftssystem überdurchschnittlich häufig mit Narzissten dieses Typus besetzt sind.12, 13, 14, 15, 16

Menschen mit einer narzisstischen oder psychopathischen Persönlichkeit sind etwa drei- bis viermal häufiger in Machtpositionen vertreten als in gesellschaftlichen Durchschnittspositionen.17 Namentlich ist dies beispielhaft nachgewiesen für Wirtschaftsstudierende, Führungskräfte, Menschen auf der Bühne der Politik oder des Schauspiels, der Musik oder der »Reality«-TV-Shows.18, 19 In einer Studie über bisherige US-Präsidenten waren die Narzissmus-Werte von Präsidenten im Durchschnitt höher als die des typischen »Reality«-TV-Stars – wobei selbstredend die Werte von TV-Stars schon am oberen Ende der Skala liegen.20, 21 Sedikides und Campbell bezeichnen Narzissten als »Führungskraft-Material« und beschreiben sie als solche, die Organisationen »im Sturm erobern«.22 In der Einschätzung von Führungsqualitäten beurteilen Militärkadetten narzisstische Eigenschaften wie Egoismus und gesteigertes Selbstwertgefühl als positive Attribute für Führungskräfte.23

Der Narzisst als Rockstar, als mächtigster Politiker des Landes, als Herrscher über die Welt, da scheint es keine Luft nach oben mehr zu geben. Es bleibt einzig der Vergleich mit Gott. Eine Führungskraft des Unternehmens »Oracle« beschreibt ihren narzisstischen Vorsitzenden Larry Ellison: »Der Unterschied zwischen Gott und Larry ist, dass Gott nicht glaubt, dass er Larry ist.«24

ICH WILL MEHR, AM BESTEN VON ALLEM