Wenn alle Dämme brechen - Katharina Rappmund - E-Book

Wenn alle Dämme brechen E-Book

Katharina Rappmund

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Beschreibung

"Eigentlich wollte ich Piratin werden. Doch es kam anders, und ich wurde Frauenärztin. Was Piratinnen und Ärztinnen gemeinsam haben? Ein großes Messer und jede Menge Mut …" Wie ist das eigentlich, wenn man sein Berufsleben zwischen Frauenbeinen verbringt? Messerscharf, mutig und mit unwiderstehlichem Witz erzählt die Gynäkologin Katharina Rappmund haarsträubende, lustige und anrührende Geschichten aus dem Kreißsaal, dem Paralleluniversum OP, der nächtlichen Notaufnahme, ihrer Frauenarztpraxis und diversen Krankenhaus-Besenkammern. Da werden Frauenärztinnen ungewollt schwanger – von ihren verheirateten Arztkollegen. Männer bitten um Valium, um mit ihren ruhiggestellten Frauen endlich wieder Sex zu haben. Und mancher Spezialist brüstet sich: »Ich hab noch jeder ein Kind gemacht!« Es wird gesaugt, geschnitten, geliebt und geboren. Mitten aus dem Leben, dramatisch, komisch, herrlich absurd!

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Seitenzahl: 320

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“Eigentlich wollte ich Piratin werden. Doch es kam anders, und ich wurde Frauenärztin. Was Piratinnen und Ärztinnen gemeinsam haben? Ein großes Messer und jede Menge Mut …“ 

Wie ist das eigentlich, wenn man sein Berufsleben zwischen Frauenbeinen verbringt? Messerscharf, mutig und mit unwiderstehlichem Witz erzählt die Gynäkologin Katharina Rappmund haarsträubende, lustige und anrührende Geschichten aus dem Kreißsaal, dem Paralleluniversum OP, der nächtlichen Notaufnahme, ihrer Frauenarztpraxis und diversen Krankenhaus-Besenkammern. 

Da werden Frauenärztinnen ungewollt schwanger – von ihren verheirateten Arztkollegen. Männer bitten um Valium, um mit ihren ruhiggestellten Frauen endlich wieder Sex zu haben. Und mancher Spezialist brüstet sich: »Ich hab noch jeder ein Kind gemacht!« Es wird gesaugt, geschnitten, geliebt und geboren. Mitten aus dem Leben, dramatisch, komisch, herrlich absurd!

Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2015 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2012 by Katharina Rappmund

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Eden & Höflich, Berlin.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-727-1

facebook.com/edel.ebooks

Inhalt

AUF INS GEFECHT – EIN VORWORT

VOLL VERSAGT

GANZ LANGSAM UMDREHEN, BITTE

AUF MESSERS SCHNEIDE

FLIEGENDE CHEFSACHEN

DOKTOR SPIELEN IN DAMASKUS

LIEBE IM KRANKENHAUS

CHAOS IM KREISSSAAL

SELBER KINDER KRIEGEN

EINE GANZ UNSCHÖNE SACHE

WER HAT ANGST VORM SCHWARZEN MANN?

KAMPF DEN GEILEN SÄCKEN

DIE LIEBEN FREUNDE UND KOLLEGEN

PRAXISGEFLÜSTER

WIE WERDE ICH EIN KIND LOS IN SECHS WOCHEN?

ÜBERMUT TUT SELTEN GUT

»Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen;

Ihr durchstudiert die groß und kleine Welt,

Um es am Ende gehn zu lassen,

Wie’s Gott gefällt.«

MEPHISTOPHELES IN GOETHES FAUST

AUF INS GEFECHT – EIN VORWORT

Eigentlich wollte ich Piratin werden. Nicht so eine, die mit goldenen Ohrringen und weitem Rock schmachtend auf die Rückkehr ihres schnittigen Freibeuters lauert. Nein, ich wollte selbst mit den Schwertern rasseln, Messer wetzen und Weltmeere befahren. Mit flatterndem Haar unter einem roten Tuch in die Takelage klettern, mich auf fremde Schiffe schwingen und mitten ins Getümmel stürzen. So wie Mary Read, die berühmte englische Freibeuterin des 18. Jahrhunderts, dargestellt wird: mit mehreren Pistolen und einer Axt im Gürtel, wehendem Jackett und einem langen Messer in der Hand. Dabei sah ich mich Seite an Seite mit einem romantischen Weggefährten Modell »roter Korsar« oder noch lieber »Errol Flynn« für meine hehren Ideale kämpfen.

Doch wie so oft im Leben entwickelten sich die Dinge völlig anders als erträumt. In meinem ganzen Leben habe ich keine längere Schiffsreise unternommen, nicht einmal eine Mini-Kreuzfahrt: Ich werde einfach schrecklich seekrank. Einen Mann namens Errol habe ich zwar getroffen, aber der machte dem Namen keine Ehre. Nur ein einziges Detail meiner Jungmädchenträume habe ich verwirklichen können: Den Umgang mit scharfen Messern, den habe ich erlernt. Ich wurde Frauenärztin.

Viele Seemeilen liegen zwischen dem Tag, an dem ich die Segel setzte, und heute. Ein langer Weg, auf dem mich sowohl Patientinnen als auch Kollegen geprägt haben. Doch er war bestimmt nicht weniger aufregend. Was die Abenteuer, die blutigen Schlachten und die großen Gefühle angeht, kann es eine Arztkarriere durchaus mit einem Piratenleben aufnehmen. Jeder einzelne Tag ist voll von unerwarteten Wenden, voll glücklicher, trauriger, aber auch skurriler Episoden. Bestimmt gibt es eine Kollegin oder einen Kollegen, der noch drastischere Dinge, noch Verrückteres erlebt und zu berichten hat. Doch ich möchte nicht eintreten in einen Drama-Wettstreit auf Leben und Tod. Dies ist meine ganz persönliche Geschichte.

Ich wäre gern eine perfekte Ärztin geworden, eine Art Wonderwoman im Weißkittel. Doch was heißt schon perfekt? Neben den medizinischen Problemen gibt es da auch noch die Anweisungen der Verwaltungen, der Krankenkassen und nicht zuletzt der Vorgesetzten, die alle beachtet werden wollen. Es sei denn, man schlägt sich ganz nach Errol-Flynn-Manier auf die Seite der Opfer (in diesem Fall der Patientinnen).

Das erste Mal, dass ich dies tat, war bei Frau Friedrich. Sie hatte Zellveränderungen am Muttermund und kam am Tag vor ihrer Operation total aufgelöst und mit einem Gesichtsausdruck auf meine Station, als ginge sie auf ihre eigene Beerdigung.

»Ich will doch noch ein Kind. Kann ich danach noch Kinder bekommen? Ich will nicht aufwachen und ausgenommen sein wie eine Weihnachtsgans.«

Ich versuchte sie zu beruhigen, aber es war, als spräche ich chinesisch, kaukasisch oder einen seltenen Dialekt Papua-Neuguineas – ich kam einfach nicht zu ihr durch. Niemals würde ich sie davon überzeugen können, diese verdammte Einverständniserklärung zur OP zu unterschreiben.

Da klingelte plötzlich ihr Telefon. Es wurde ein kurzes Gespräch.

»Ich muss gehen, mein Sohn ist krank«, sagte sie und setzte ohne hinzusehen ihre Unterschrift unter die Einwilligung. »Er hat Fieber, und mein Mann hat keine Ahnung, was er tun soll. Der denkt, Wadenwickel wären was zu essen, so wie Krautwickel.«

Ein Krankenhaus ist zwar kein Gefängnis, aber sich einfach so aus dem Staub zu machen ist nicht drin. Schon versicherungstechnisch wäre es sowohl für mich als auch für meine Patientin der reine Selbstmord, würde ihr auf dem Heimweg irgendetwas zustoßen. Aber ich bin ja kein Unmensch. Ich wollte außerdem nicht, dass sie die arme Nachtschwester mit ihrer Panik zur Weißglut trieb. Was würden also meine Kollegen tun? Was die Oberärztin? Und was wäre wohl das Beste für meine Patientin?

»Sie müssen nüchtern bleiben, verstehen Sie? Und Sie müssen vor Mitternacht wieder im Haus sein.«

»Heißt das, ich darf gehen?«

Ihre Augen leuchteten wie die eines Halloween-Kürbis.

»Bis Mitternacht«, sagte ich und nickte ihr zu.

»In Ordnung«, entgegnete sie euphorisch. »Danke!«

Doch wer ließ sich zur verabredeten Zeit nicht blicken? Frau Friedrich. Ich hätte heulen könne aus Angst und aus Wut. Das hatte ich nun davon, dass ich mich auf ihre Seite geschlagen hatte. Dass ich die Vorschriften umgangen und ihren nächtlichen Ausflug gedeckt hatte. Nichts als Scherereien! Da half es auch nicht, dass sie im Morgengrauen mit ein paar Zimtschnecken wieder auf der Matte stand.

»Sein Fieber ist runter!« Strahlend hielt sie eine Papiertüte hoch.

Die Schwestern waren begeistert, aber ich starrte sie entsetzt an.

»Hatten Sie etwa auch eine davon?«

»Nein, nein. Keine Sorge. Ich bin stocknüchtern. Abgesehen von Gutenachtgeschichten und Einschlafliedern ist nichts über meine Lippen gekommen.«

Erst in diesem Moment konnte ich aufatmen. Als sie dann im Krankenhausnachthemd, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, auf den Gang geschoben wurde, war Frau Friedrich so entspannt, als hätte sie gerade einen Joint geraucht. Die Nacht bei ihrem Sohn hatte besser gewirkt als jedes Beruhigungsmittel. Und was ich am Vortag noch für völlig unmöglich gehalten hatte, geschah: auf dem Weg in den OP lächelte sie.

Natürlich läuft nicht immer alles so glimpflich ab. Mal sind die medizinischen Umstände katastrophal, mal fliegt einem die Arzt-Patientin-Beziehung um die Ohren. Als Frauenärztin hat man so manches waghalsige Manöver zu absolvieren. Man soll den Menschen helfen, im besten Falle Leben retten. Man soll sanfte Geburten ermöglichen und ohne rot zu werden über ausgefallene Sexpraktiken reden können. Man soll ein gutes Verhältnis zu seinen Vorgesetzten und Kollegen pflegen, sich aber nicht ständig mit ihnen im Geräteraum vergnügen. Das ist wirklich kein leichter Job. Zudem ist man umgeben von Krankheit und Tod. Es gab Tage, da mochte ich alles hinschmeißen, einfach aufgeben. Momente, in denen mich nur das dankbare Lächeln einer jungen Mutter auf ihrem zuvor noch schmerzverzerrten Gesicht vor der Verzweiflung bewahrte und mich an den Sinn meiner Arbeit erinnerte.

»Was Piratinnen und Ärztinnen gemeinsam haben? – Ein großes Messer und eine Menge Mut.«

Diese Widmung schrieb meine Schwester in ein Buch, das sie mir zur Promotion schenkte. Ein Buch mit dem Titel »Piratinnen«, versteht sich. Es steht in meinem Regal direkt neben den Anatomieatlanten und den Lehrbüchern für Frauenheilkunde. Denn kein Fachartikel hat mich damals mehr motivieren können als diese beiden Sätze.

VOLL VERSAGT

Als ich mich für das Medizinstudium bewarb, war das nicht wirklich Berufung. Biologie oder Kunstgeschichte hätten mich genauso interessiert. Doch mit einem (wenn auch knappen) Eins-Komma-Abi wurde automatisch erwartet, dass man sich für Jura oder zumindest für Medizin einschrieb.

Da stand ich nun, mit dem Zeugnis in der Hand, und wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Das Leben lag vor mir wie ein großer leerer Tisch, den ich nach eigenen Vorstellungen decken konnte. Ich war mir allerdings nicht im Klaren darüber, was ich als Hauptgang wählen würde. Bisher, so schien es mir, hatte ich lediglich eine Vorspeise genossen. Da mich Jura überhaupt nicht interessierte und ich »irgendwas mit Menschen« machen wollte, schrieb ich mich wegen der hohen Nachfrage sicherheitshalber mal für Medizin ein. Ich war jedoch nicht sicher, ob ich das Studium im Herbst auch wirklich aufnehmen würde. Vor allem hatte ich das Gefühl, nach all der Paukerei erst mal den Kopf freibekommen, meinen Horizont erweitern zu müssen. Daher beschloss ich, in ein exotisches Land zu reisen und zu sehen, was das Leben dort so mit sich brachte.

Außerdem drängte es mich, ehrlich gesagt, nicht wirklich in den Beruf der Ärztin. Als Zwölfjährige hatte ich meinen Vater im Krankenhaus besucht, nachdem er sich beim Grillanzünden mit dem Benzinkanister abgefackelt hatte. Ich war bei seinem Anblick zu Tode erschrocken. Sein Gesicht war mit eitrigen Krusten überzogen. Seine rechte Hand war verbunden. Er konnte kaum sprechen, grinste mich hilflos an und stank nach einer Mischung aus Rauch und seinem süßlichen Schmerz-Sirup. Ich konnte es kaum aushalten, ihn so zu sehen – und zugleich verursachte mir sein Anblick Übelkeit. Als er mich bat, mich auf sein Bett zu setzen, drehte ich mich, ohne ein Wort zu sagen, um und verließ fluchtartig das Krankenzimmer. Auf dem Heimweg schwor ich mir, niemals wieder einen Fuß in ein Krankenhaus zu setzen.

Ich war also nicht wirklich erpicht darauf, mich in das Medizinstudium zu stürzen. Meine Abenteuerlust gewann die Oberhand, ich wollte die nächsten Monate etwas von der Welt entdecken.

Meine Wahl fiel auf Afrika. Es war eine dieser eher spontanen Entscheidungen, die aus dem Bauch heraus kommen und die deshalb so eine unglaubliche Überzeugungskraft besitzen. Ich plante, meine Eltern zu überrumpeln, legte mir schlagkräftige Argumente zurecht, warum sie mein Abenteuer finanziell unterstützen sollten, und suchte Adressen von vertrauenswürdigen Reiseorganisatoren heraus. Ich stellte mich auf einen harten Kampf ein, auf wochenlanges, zähes Ringen. Mit ihrer Unterstützung hatte ich nicht gerechnet.

»Ich hab da noch einen alten Studienfreund«, sagte mein Vater mit pastoraler Stimme. »Der ist Missionar irgendwo in Zentralafrika.«

Und nach kurzem Briefkontakt bekam ich eine Einladung nach Kalemie, einem kleinen Ort an der Westküste des Tanganjikasees. Nicht ohne den praktischen Hinweis, mir ausreichend Tampons für ein paar Monate mitzunehmen.

Also machte ich mich auf die Reise. In Nairobi tauschte ich die riesige Boeing, die ich in Deutschland bestiegen hatte, gegen einen Pistenhopper. Nach Kalemie gab es keinen Linienflug, nur diese kleinen privaten Propellermaschinen. Es war ein ziemlich wackeliger Trip. Wir flogen nicht sehr hoch, und ich konnte die runden Hütten der Massai in der Steppe erkennen, die vor mir lagen wie schmutzige Murmeln im Sand. Als wir den Ostafrikanischen Graben überquerten, bekam ich eine Gänsehaut. Die steile Abbruchkante war nur aus unserer Höhe zu erkennen, und es sah aus, als hätte ein wütender Schöpfer seine Spitzhacke mit Macht durch dieses Land getrieben.

Kurze Zeit später landete ich mit meinen Großpackungen Hygieneartikel im Gepäck auf der buckeligen Sandpiste in Kalemie. Die Luft, die mir entgegenschlug, nachdem ich mich aus meinem klimatisierten Kokon geschält hatte, traf mich wie der Schlag mit einer heißen Bratpfanne. Hinten auf einem verbeulten Pick-up wurde ich zu meiner Gastfamilie gefahren, wo ich ein winziges Zimmer bezog, über dessen schmaler Pritsche ein zusammengeknotetes, staubiges Moskitonetz schaukelte. Vom Fenster aus hatte ich einen Blick auf den Hang gegenüber. Ich sah dort die afrikanischen Kinder hinter einer alten Fahrradfelge herlaufen, sie mit dem Stock antreiben, bis sie ins Trudeln geriet und auf die Seite fiel. Ein Spiel, das sie abwechselnd immer und immer wieder spielten. Einer der Jungen schaffte es über Stock und Stein, den ganzen Hügel hinunter und auf meiner Seite ein Stück wieder hinauf. Als das Rad fiel, sah er kurz auf, musterte mich und winkte mir zu. Ich war überrascht und winkte vorsichtig zurück. Ein glückliches, elfenbeinfarbenes Lächeln erschien auf seinem kleinen Gesicht, so herzlich, als sei ich ein lange erwartetes Familienmitglied, das er persönlich willkommen heißen wollte.

Ich lebte mich schnell bei dem Missionar und seiner Familie ein und versuchte, mich nützlich zu machen.

»Hättest du vielleicht Lust, mir ein wenig zur Hand zu gehen?«, fragte mich ein paar Tage später Inga, eine finnische Krankenschwester, die auch in Kalemie arbeitete. Sie hatte eine sonnengegerbte Haut und weißes Haar, sodass sie aussah wie eine alte Indianerin.

»Klar, gern. Nur«, stotterte ich herum, »ich kann nicht garantieren, dass ich wirklich eine Hilfe bin.«

»Kein Problem. Du bist weiß, gesund und gebildet. Dass du Schuhe an den Füßen trägst, reicht allein schon als Vorbild aus. Wenn du einfach ein paar Hygieneartikel austeilst, hilft mir das sehr. Außerdem«, sie zwinkerte mir mit bernsteinfarbenen Augen zu, »bin ich froh, wenn ich Unterstützung beim Reifenwechsel habe.«

Begeistert begleitete ich sie also bei ihren Besuchen in den umliegenden Dörfern. Ich liebte diese Fahrten über die schlechten Pisten, liebte das hohe Gras, das unseren Landrover streifte, das satte Grün und die kleinen, erdigen Häuser. Sie waren aus diesem roten Lehm gebaut, der so lebendig wirkte, als sei aus ihm tatsächlich der erste Mensch geformt worden. In den Orten roch es nach Kohlefeuer und heißem Palmöl. Wir hielten Vorträge darüber, dass Plastikschuhe gegen Wurmbefall schützen, rieten zum Händewaschen und empfahlen, das Wasser abzukochen. Ich nahm die kleinen Kinder, die mir entgegengehalten wurden, auf den Arm und wog sie mit einer Waage, die wir an dem tiefen Ast eines Mangobaumes befestigt hatten. Die Säuglinge waren nicht unterernährt. So konnte ich sie mit zustimmender Miene zurückgeben und erntete heißen Dank. Denn bei all unseren Verbesserungsvorschlägen waren die Frauen stolz, wenn sie nicht nur Mitleid bekamen, sondern auch Lob.

Der schicksalhafte Vorfall ereignete sich beim Besuch in Kibwe, einer Ansammlung verstaubter Hütten rund um eine kreischende Wasserpumpe. Zunächst hatte ich es ganz entspannt genossen, im Jeep die wenigen Kilometer dorthin zu zuckeln, nach dem Aussteigen umringt zu werden und Hände schüttelnd Gutes zu tun. Horden von Kindern im Alter zwischen vier und zehn Jahren, barfuß, mit roten, grünen oder blauen Fetzen am Leib, rannten herbei. Teilweise balancierten sie ihre jüngeren Geschwister auf keck gekippten Hüften, kaum dass sie selbst laufen konnten. Ein altes Weib mit tief liegenden Augen und einer von Trockenheit grau gewordenen Haut drängelte sich vor. Sie grinste mit zahnlosem Mund, in dem ein einzelner, schief stehender Goldzahn von besseren Zeiten kündete.

Neuigkeiten aus der Stadt, Medikamente gegen ihre Leiden, Anteil haben am Leben einer fernen, fremden Welt, all das hofften sie zu ergattern. Wir verteilten, was wir hatten: Malariatabletten, Plastikschuhe, aufmunterndes Lächeln. Ich lernte, den Schwangeren den Blutdruck zu messen, Inga verband eine alte Verbrennung und säuberte verdreckte Wunden.

Da wurde ich plötzlich in eine abseits gelegene Hütte geführt. Begleitet von aufgeregten Gesten, trat ich ein. Ich musste mich bücken, meine Hände berührten den gestampften Boden, als ich mich leicht befremdet in das Dunkel der Hütte vortastete. Ich sah erst mal gar nichts. Meine Augen entwöhnten sich nur langsam vom grellen Sonnenlicht. Dann hörte ich das Wimmern und Scharren und konnte die Umrisse im Halbdunkel nur erahnen. Dort hockte, in der hintersten Ecke, eine Frau. Abgewandt, gesichtslos. Ein bärtiger Mann in fleckigem T-Shirt hielt mir ein Baby hin. Soweit ich das in meiner Verwirrung beurteilen konnte, schien es ein Neugeborenes zu sein, von ungesunder, violettblauer Farbe. Die Äuglein waren geschlossen, der Gesichtsausdruck entspannt. Als er es zu mir emporhob, fielen die Ärmchen schlaff herab. Die Geburt war vor einer Stunde gewesen, teilte der Mann mir in gebrochenem Französisch mit. Seitdem versuche er, das Kind wiederzubeleben. Er zeigte mir, wie er immer wieder seine dünnen Arme auseinandergebreitet und vor der Brust gekreuzt hatte. Auf und zu, auf und zu. Aber das Baby wollte nicht atmen. Seine Haut war klamm und kalt. Als mir klar wurde, dass ich eine Leiche berührte, schnappte ich nach Luft. Es war die erste Leiche, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam, und es war gleichzeitig so überraschend wie erschreckend, dass es sich dabei um ein Baby handelte.

Ich war hierhergekommen mit der Zuversicht und Ignoranz meiner Jugend und der Überzeugung, dass allen Menschen geholfen werden konnte. Das Wimmern belehrte mich eines Besseren. Hier konnte ich niemandem helfen, obgleich ich nichts lieber getan hätte.

Ich wich zurück und hob die Hände. Ich traute mich nicht mehr, das tote Kind zu berühren.

Du bist doch eine Weiße, sagten die Augen des Mannes.

Die Frau im Hintergrund hatte aufgehört zu weinen, als hielte sie den Atem an, als warte sie auf das Wunder, den Schrei ihres Kindes.

Aber ich kann keine Wunder vollbringen, ging es mir panisch durch den Kopf, und dafür schämte ich mich. Ich schämte mich für das falsche Versprechen, das meine Hautfarbe zu geben schien und das ich nicht einlösen konnte.

Wie komme ich hier bloß wieder raus?, dachte ich, machte eine bedauernde Handbewegung ins Dunkel der Hütte hinein, drehte mich um und schlüpfte zurück in den Tag. Die Sonne gab mir heftig eins auf den Schädel. Ich blinzelte verstört in der Helligkeit.

Inga sprach gerade mit dem Dorfältesten.

Ich machte ihr ein Zeichen, sie kam, ging in die Hütte, und blieb sehr lange dort. Ich für meinen Teil flüchtete in den Jeep. Ich konnte nicht helfen und noch weniger trösten. Ich hatte versagt, auf ganzer Linie, und wollte nur noch weg, weit weg.

Auf dem Rückweg sprachen wir kaum. Inga verschonte mich zum Glück mit guten Ratschlägen, die meine Scham nur noch vergrößert hätten, und spekulierte auch nicht über die genaueren Ursachen der gerade erlebten Tragödie. Stumm und irgendwie andächtig ruckelten und zuckelten wir von einem Schlagloch ins nächste. Das graubraune Wasser einer Schlammpfütze spritze an die vom Staub fast blind gewordenen Scheiben und machte den Durchblick völlig unmöglich. So trüb wie die Scheibe zuckten auch meine Gedanken hin und her, im Takt mit dem schaukelnden Gefährt. Und während die Hitze des Tages abkühlte und die Dämmerung rasch herauf zog, wusste ich plötzlich, dass ich meinen Studienplatz antreten würde. Ich würde Medizin studieren und zurückkehren, um den Menschen zu helfen. Und um anderen Kindern womöglich das Leben zu retten.

Ich bekam tatsächlich einen Studienplatz im Herbst. Nicht gerade an meiner Wunsch-Universität, aber das störte mich nicht weiter. Nichts würde mich von meinem Plan abbringen. Ich musste mich nicht mehr fragen, ob Biologie nicht vielleicht doch interessanter oder Kunstgeschichte lockerer sei. Medizin war sinnvoll. Und das war es, worauf es ankam.

GANZ LANGSAM UMDREHEN, BITTE

»Hände hoch!«

So wurde ich an meinem ersten Tag im OP begrüßt. Reflexartig gehorchte ich, obwohl es durchaus unwahrscheinlich war, dass sich zwischen all den Personen, die sich in dem schwimmbadblau gekachelten, fünfzig Quadratmeter großen Raum befanden und in ihrer grünen OP-Kleidung herumstanden wie auf einer Pyjamaparty, der Lauf einer Pistole auf mich richtete.

Aber meine Verwirrung war zu groß, um die Lage sofort und vollständig zu erfassen. Seit zwei Monaten war ich Medizinstudentin und beschäftigte mich mit so abstrakten Dingen wie biochemischen Formeln und lateinischen Fachausdrücken. Auch die Lebensläufe von Galen und Paracelsus waren mir im Kursus »Geschichte der Medizin« nahegebracht worden. Es waren gerade Weihnachtsferien, und ich hatte gedacht, es sei an der Zeit, mein neues Wissen in meiner ersten Famulatur zu beweisen. So hochtrabend werden die drei Schnupperwochen im Krankenhaus genannt, weil ich später einmal Ärztin werden wollte. In allen anderen Berufen hieße es einfach nur Praktikum.

Ich war also seit zwei Tagen Famulantin und hatte in dieser kurzen Zeit bereits feststellen müssen, dass meine erlernten Theorien gänzlich unbrauchbar waren. Wichtig war allein die richtige Art des Händewaschens. Das hatte mir an diesem Morgen Pfleger Ralf zu verstehen gegeben und mich in die Kunst der chirurgischen Händedesinfektion eingewiesen. Nach fünfminütigem Schrubben und Bürsten von Nägeln, Fingern, Händen und Unterarmen musste ich mich noch ausgiebig mit Desinfektionslösung einreiben.

»Das da«, er wies auf das schillernde, chemisch-blaue Desinfektionsmittel, »desinfiziert und pflegt gleichermaßen. Raue Hände werden so zart wie ein Babypopo.« Er lächelte so überzeugend wie das Hausmütterchen im Werbespot, das die Finger in einem Glas Spülmittel badet. »Dieses hier ist ohne Duftstoffe. Für Leute mit einer Parfümallergie.« Seine Stimme klang leicht verächtlich. »Und hier hast du das einfache Ethanol. Das ist für die mit Neurodermitis und so.« Sein Gesicht spiegelte einen Ekel, als hinge ihm selbst die Haut in Fetzen herunter. Ich hatte also die Qual der Wahl. Wofür sollte ich mich entscheiden: Sollte ich mit dem blauen Chemie-Cocktail rote Quaddeln riskieren oder meine Haut doch lieber mit reinem Alkohol austrocknen? Was war das weniger große Übel? Ich drückte beherzt auf den Ethanol-Spender. Dann öffnete Ralf mit einem Fußtritt die automatische Schiebetür. Vorsichtig trat ich ein und blinzelte in die hellen Lichter einer OP-Leuchte.

»Hände hoch und ganz langsam herkommen!«, ertönte es noch einmal, und ich sah hinüber zu der gedrungenen Gestalt, die mich über ihren Mundschutz hinweg wie durch ein Visier anblitzte. Sie bedrohte mich allein mit ihren Worten, doch das reichte, um mich einzuschüchtern. Ich hatte es schließlich nicht auf ein Duell abgesehen. Dabei hätte ich auch nicht die leiseste Chance gehabt, das wurde mir nach einem Blick auf das hochgestellte Tischchen vor ihr klar: Dort lagen fein säuberlich aufgereiht und in griffbereiter Position eine Reihe Skalpelle sowie andere, ziemlich scharf aussehende Instrumente.

»Ich bin Schwester Elfriede«, schnaufte die grashüpfergrüne Wurstgestalt, während sie mir die engen Latexhandschuhe über die Finger stülpte. »Und jetzt ganz langsam umdrehen, bitte!«

Mit diesen Worten wickelte sie mich fest in einen bodenlangen Kittel, der ebenso grün war wie der ihre, und knotete ihn unter meinen Brüsten fest. Ich fühlte mich wieder wie eine Fünfjährige, die noch immer ihre Mutter bitten muss, ihr die Schuhe zu binden.

»Pass bloß auf, dass du dich nicht wieder unsteril machst«, blaffte Elfriede und wies mir einen Platz dicht neben ihr zu. Ihr Mundschutz hatte genau in der Mitte einen beeindruckend akkuraten Falz, aber ihre Haube zeigte unförmige Dellen. Wahrscheinlich, dachte ich nachsichtig, trägt sie darunter eine Hochfrisur.

Ein Operationssaal ist ein merkwürdiges Paralleluniversum. Eine grell erleuchtete, schwül-warme Welt, in der schwere Leiber auf Tragen hin und her geschoben werden, entblößte Körperteile mit klaffenden Wunden der übliche Arbeitsplatz sind und die Verletzung der intakten Körperoberfläche eines Menschen, das Aufschneiden, Ausschaben und Ausweiden der Patienten auf der Tagesordnung steht. Es gibt eigene Regeln und unerklärliche Rituale, eine adrenalingeschwängerte Raumluft und verschwimmende Hierarchien. Dort herrschen weder die Chefärzte noch die Krankenhausdirektoren, hier haben die OP-Schwestern das Sagen. Sie herrschen wie die Königinnen, da sie unbedingte Keimfreiheit garantieren, und ein jeder hat sich ihren Anordnungen zu fügen, die sie im Kampf gegen die Bakterien treffen. Vor allem der Neuling tut gut daran, sich zurückzunehmen, still zu beobachten und sich nur in Zeitlupe zu bewegen. Denn wenn man mit einer unkontrollierten Handbewegung eine Ecke ihres Instrumententisches unsteril macht, muss die OP-Schwester das gesamte Instrumentarium austauschen. Das kostet wertvolle Zeit, Geld und vor allem ihre Nerven. Darum wird sie umgehend dafür sorgen, dass einem diese Operation zur Hölle wird, sodass man ihre Lektion niemals wieder vergisst. OP-Schwestern sollte man sich daher immer zu Freundinnen machen. Was gar nicht so leicht ist. Selbst regelmäßig in den Frühstücksraum geschleuste Toffifee-Packungen oder das Mitbringen von Selbstgebackenem können diese Strukturen nicht mehr als nur an den unteren Rändern aufweichen.

Doch nach meiner zweitägigen Berufserfahrung kannte ich weder die Vorliebe der OP-Herrscherinnen für Süßes aller Art, noch konnte ich es mit ihrer siebenjährigen Spezialausbildung aufnehmen. Daher blieb mir nichts als der stumme Gehorsam.

Als alles vorbereitet und der OP-Tisch gedeckt war mit den schneeweißen Brüsten einer unter Tüchern verborgenen Frau, traten endlich auch die Ärzte hinzu. Ich war ein wenig enttäuscht, wie profan ihr Auftritt war. Keiner von ihnen orderte seine Lieblingsmusik. Weder Hard-Rock-Balladen noch Bachs Wohltemperiertes Klavier würden diese Operation begleiten. Nur das leise Piepsen des Herzmonitors und das rhythmische Rauschen der Beatmungsmaschine bildeten eine Art Hintergrundmusik. Es gab auch keine kurze Ansprache des Operateurs, keine kernigen, aufmunternden Worte, wie sie in den Krankenhausserien häufig in wichtigen Momenten gesprochen werden. Es sah auch niemand von einer Zuschauergalerie aus zu. So etwas gab es hier überhaupt nicht. Wer zusehen wollte, wie ich, der musste sich schon ins Herz des Geschehens begeben. In den Bannkreis von Elfriede.

»Können wir?«, fragte der Oberarzt mit seinem vollen Bariton, und nach einem knappen Nicken des Narkosearztes begannen die Operateure ihre ehrenvolle Tätigkeit.

Erst desinfizierten sie die Brust, deren Spitzen sich gleichmäßig in den Himmel reckten, und dann setzte einer von ihnen das Skalpell an. Es war ein schöner Busen, nicht der einer alten Frau, dafür war er zu gut in Form. Er war nicht zu groß und nicht zu klein und rutschte kaum seitlich der Rippen nach unten. Er hatte Idealmaße. So einen Busen hätte ich auch gern gehabt. Doch nun zeichnete der Operateur mit dem Messer einen bogenförmigen Schnitt in dieses perfekte Dekolleté. Blutstropfen quollen aus der zarten Haut entlang dieser Verletzung hervor und konfrontierten mich mit der schrecklichen Realität. Dies war keine Schönheitsoperation. Die Frau war krank, ging es mir durch den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie Brustkrebs. Ein hinterhältiger Knoten hatte sich in ihrer Model-Brust gebildet, war gewuchert und gewachsen, sodass ihm nur noch durch einen glatten Schnitt Einhalt geboten werden konnte.

Eine Brust besteht neben dem Drüsen- hauptsächlich aus Fettgewebe. Es hat die gelbe Farbe von Montageschaum und quillt in ähnlicher Weise aus allen Ritzen, die das Skalpell eröffnet, hervor. In der Wärme unter den OP-Leuchten wird das Fett dann weich und glibberig, und mir wurde übel, als ich mit ansehen musste, wie der Operateur auch noch die letzten Reste davon vom großen Brustmuskel abschabte. Er kam mir plötzlich überhaupt nicht mehr vor wie ein Halbgott in Weiß. Höchstens noch wie ein derber Metzger, der routiniert seinem Handwerk nachging. Es war demütigend, dachte ich. Sowohl für die Patientin als gewissermaßen auch für mich, die ich stumm danebenstehen und hilflos zusehen musste, wie er ihr, ohne mit der Wimper zu zucken, die wundervolle Brust einfach absäbelte. Ich bebte vor Empörung, als er die zitternde Titte auf ein kleines, silbernes Tablett legte und sie achtlos weiterreichte. Wie auf einer fliegenden Untertasse schwebte sie durch den Raum, von Hand zu Hand, bis Elfriede sie mir direkt vors Gesicht hielt.

»Halt doch mal kurz«, sagte sie.

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was damals für Gefühle auf mich einstürzten. Es hatte viel mit Mitleid, aber auch mit dem Entsetzen zu tun, das der Anblick eines abgetrennten, blutigen Körperteils hervorruft. Und mit dem empfindlichen Schamgefühl einer Neunzehnjährigen. Ob es kalkulierte Bosheit von Elfriede oder einfach nur gängige Routine in diesem Operationssaal war, ich weiß es nicht. Jedenfalls brachte mich diese Situation ziemlich aus der Fassung, und es kam, wie es kommen musste: Ich wurde ohnmächtig.

Das passiert jedem angehenden Mediziner mindestens einmal. An irgendeinem Punkt der Ausbildung fällt man in Ohnmacht. Den einen trifft es früher, den anderen später. Viele erledigen das gleich während des Studiums. Meine Freundin Sophie hat es ganz elegant in den ersten Semestern während des Pathologie-Unterrichts hinter sich gebracht. Wir standen alle um eine Bahre aus Edelstahl herum, auf der die formalingetränkte Leiche lag. Sie war schon benutzt, das heißt bereits eröffnet und teilweise abgetragen worden, was uns einen lehrreichen Blick in ihre Innereien bot. Während der Pathologie-Assistent also auf einen vergrößerten Leberlappen und die gestaute Pfortader hinwies, sah ich, wie Sophie in rhythmische Schwingungen geriet. Als fiele sie in Trance, pendelte ihr Oberkörper immer stärker vor und zurück. Sie schien sich am Rand der Bahre festhalten zu wollen, doch ihre Finger glitten ab. Ich fürchtete schon, sie würde sich in das fein säuberlich abpräparierte Mesenterial-Adernetz in der Bauchhöhle erbrechen, als sie plötzlich nach hinten wegsackte. Zum Glück standen wir dicht an dicht, so wurde sie von den Kommilitonen in der zweiten Reihe aufgefangen und sanft zu Boden gelegt. Wir waren alle froh über diese Abwechslung von der drögen Theorie. Keiner folgte mehr den Ausführungen des Pathologen zum Pfortader-Hochdruck. Hier galt es endlich einmal einzugreifen. Den klinischen Fall lieferte eine von uns, also wurde mit schlauen Ratschlägen nicht gespart. Die einen wollten Sophie in die stabile Seitenlage bringen, die anderen hätten ihr am liebsten sofort einen Beatmungsschlauch in den Hals gesteckt. Erstaunlicherweise hilft bei Ohnmacht zumeist ein ganz einfacher Handgriff: Um wieder Blut in das unterversorgte Hirn der Bewusstlosen zu bringen, reicht es, beide Beine einfach senkrecht in die Höhe zu heben, sodass der Blutstrom von den Füßen in Richtung Kopf verläuft. Wir spielten also Klappmesser mit Sophie, und innerhalb von Sekunden schlug sie die Augen auf.

»Wo bin ich?«, fragte sie.

Ich weiß nicht mehr, wie ich selbst damals gestürzt bin, doch anscheinend nicht kopfüber in das blutige Operationsfeld und auch nicht auf Elfriedes sterilen Instrumententisch. Vielleicht hatte auch sie erste Anzeichen von Schwindel bei mir bemerkt und mich unsanft vom OP-Tisch weggedrängt. Jedenfalls erwachte ich nach einem, wie mir schien, sehr langen, sehr tiefen und sehr traumlosen Schlaf auf dem harten Fliesenboden und wunderte mich, was all diese maskierten Menschen in meinem Schlafzimmer zu suchen hatten. Dann erkannte ich, dass sie OP-Hauben und Mundschutz trugen, und erschrak: Welch lebensrettenden Eingriff hatte ich gerade überstanden? Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass ich nur zwei Sekunden lang ohnmächtig gewesen war und die Operation inzwischen zügig weiterging. Die Narkoseschwester und Pfleger Ralf sorgten sich routiniert und kein bisschen schadenfroh um mich, begleiteten mich in den Frühstücksraum und drückten mir ein belegtes Brötchen und einen Kaffee mit viel Zucker in die Hand.

Da saß ich nun und versuchte, mit meiner Schmach fertigzuwerden. Ich hatte mal wieder den Klassiker geliefert: Ohnmacht bei der ersten OP. Und ich war doch davon überzeugt gewesen, dass mir das nicht passieren würde. Hatte ich nicht souverän sowohl den anatomischen Präparierkurs als auch die erste Leichenöffnung überstanden? Hatte ich nicht mit wissenschaftlichem Interesse weiche Hirnmasse zerteilt und mikroskopisch untersucht, ohne auch nur die geringste Schwäche zu zeigen?

Und dann das.

Ich biss in das Brötchen, dass es knackte. Es bröselte grauenvoll. Ich hatte eigentlich gar keinen Hunger, aber weil alle annahmen, ich sei wegen eines Unterzuckeranfalls umgekippt, kaute ich brav und trank den starken Kaffee in kleinen Schlucken, wie Medizin. Mir gegenüber saß eine Schwester und strickte. Eine andere blätterte konzentriert in einer Zeitschrift, die ausschließlich aus großen, grobkörnigen Fotos und dicken Überschriften zu bestehen schien. Ralf hatte offensichtlich auch niemanden mehr, dem er das Waschen beibringen musste, und studierte eifrig den Dienstplan. Der hing als überdimensionaler Jahreskalender an der Kopfseite des Raumes und trug geheime Codes und Kürzel und wochenweise Urlaubsmarkierungen in sechs verschiedenen Textmarkerfarben. Es war ein kleines Krankenhaus und die Anzahl des OP-Personals überschaubar. Ich fragte mich nur, wie das beispielsweise in den Universitätskliniken gehandhabt wurde. Ob da irgendjemand wirklich den Überblick behielt. Und ich dachte an die Patientin, die zum Glück über die handfesten Einzelheiten ihrer Operation im Unklaren bleiben würde. Ob sie nach dem Aufwachen aus der Narkose beim Anblick ihrer weiß verbundenen Brust, bei diesem Gefühl der Unvollkommenheit und der ungewohnten, fühlbaren Asymmetrie nicht vielleicht selbst in Ohnmacht fallen würde? Erschreckend genug mag ihre Situation gewesen sein.

Während ich mir so meine Gedanken machte und mich ganz allmählich in diesem unwirtlichen Pausenraum entspannte, hörte ich plötzlich ein sehr ungewöhnliches Geräusch. Es passte nicht in diese Welt voll mechanischer Töne, blinkender Lichter und dringender Durchsagen. Es war irgendwie archaisch, tierisch und vollkommen deplaziert. Eine Mischung aus Grunzen und Stöhnen, das klang, als würde jemand ersticken. Es drang hinter einer der drei schäbigen Holztüren hervor, die die Diktatkabinen vom Pausenraum abteilten. Dort stand auf einem schmalen Regal das Aufnahmegerät, in das jeder Operateur nach Beendigung seiner OP den Operationsbericht zu diktieren hatte. Eines der wichtigsten Dokumentationszentren des Krankenhauses also. Und von dort kamen die irritierenden Geräusche. Ich hob lauschend den Kopf. Die beiden Schwestern kicherten.

»Bestimmt wieder der Hans-Jörg.«

»Hatte der gestern Dienst?«

»Blinddarmdurchbruch morgens um viere.«

»Da hat er wohl seinen Dienstschluss verpennt.«

Natürlich, da schnarchte jemand!

Ein durchdringend sonores, gurgelndes Schnarchen, das in dieser klinischen Atmosphäre etwas beunruhigend Unappetitliches hatte. Doch keine der Schwestern schien ihn aufwecken zu wollen. Sie brachten es offensichtlich nicht übers Herz.

Blinddarmdurchbruch morgens um vier, dachte ich bewundernd. Was war das für ein Held. Mein Großvater war noch an den Folgen eines Blinddarmdurchbruchs gestorben. Er war selbst Chirurg gewesen und arbeitete auf dem Feld der Ehre. Er versorgte die Soldaten im Krieg und operierte bis zum Umfallen. Wortwörtlich. Er wollte sich durch ein bisschen Bauchweh nicht davon abhalten lassen, die Kameraden zu retten, und als er selbst zusammenbrach, den Bauch voller Eiter, war ihm nicht mehr zu helfen. Er war erst achtundzwanzig Jahre alt.

Es musste ein wunderbares Gefühl sein, einem Menschen das Leben zu retten. Viel besser, als einer Frau eine ihrer wunderschönen Brüste abzuschneiden, dachte ich.

Wie konnte er, nachdem er solch eine Leistung vollbracht hatte, nicht zufrieden und eins mit der Welt, lächelnd und strahlend aus der Diktatkabine treten? Stattdessen war er erschöpft darin versumpft, der chirurgische Held dieser Nacht. Offenbar schien das regelmäßig vorzukommen. Die OP-Schwestern jedenfalls registrierten es mit routinierter Nachsicht. Auch Ralf zeigte, die verräterischen Töne bewusst ignorierend, Verständnis. Nur mir war noch nicht klar, wie anstrengend berufliches Gutmenschentum in Wirklichkeit ist.

Ein paar Minuten später kamen meine Operateure herein. Der Oberarzt riss sich Haube und Maske vom Gesicht und warf sie in hohem Bogen in den Mülleimer. Er hatte kurzes, graues Haar und einen irgendwie erschrockenen Ausdruck im Gesicht. Wie ein kleiner Junge, den man bei etwas Verbotenem ertappt hatte. Seine Augen waren sehr hell und sehr aufmerksam und boten vielleicht eine Erklärung dafür, warum er als bester Chirurg dieses Krankenhauses galt. Ihnen schien nicht das Geringste zu entgehen. Er habe, so hieß es, den komplizierten Trümmerbruch einer Kollegin, die mit ihrer Enduro auf glatter Fahrbahn ausgerutscht war – Szegediner Gulasch, wie Ralf bemerkte –, anstatt zu amputieren, so stabilisiert, dass die Frau wieder tanzen konnte. Eine Art Lazarus-Legende, die dazu führte, dass jede einzelne Krankenschwester im ganzen Haus ihn nur zu gerne an ihre Beine gelassen hätte. Und das nicht nur im Zusammenhang mit einem Trümmerbruch.

Ich starrte auf seine Hände, die, noch weißlich vom Puder der Latexhandschuhe, nach einem Brötchen griffen. Sie waren sehr kräftig, und ich bemühte mich, nicht daran zu denken, was sie gerade im OP angerichtet hatten. Natürlich, so sagte ich mir, handelten sie nur zum Wohle der Patienten. Was das wiederhergestellte Tanzbein der Kollegin bewies. Er war eben ein begnadeter Feld-, Wald- und Wiesen-Chirurg. Einer, der alles konnte und es darum auch machte. Heutzutage werden Brüste nur noch selten komplett entfernt. Es wird, sofern möglich, die »brusterhaltende« Operation gepflegt. Brustkrebs wird in Brust-Zentren behandelt und dort von Gynäkologen mit einschlägigen Erfahrungen und einer Mindestanzahl an Eingriffen an der weiblichen Brust operiert. Als ich in die Welt der Operationssäle eintrat, war der Begriff »Brustzentrum« noch weitgehend ungebräuchlich. Bestenfalls bezeichnete man damit die Mitte des Brustbeins. Die Stelle, wo bei Thoraxeingriffen die Säge angesetzt wird.

Der Oberarzt kaute genüsslich und bröselte kaum. Im Verspeisen der OP-Brötchen hatte er natürlich ebenfalls mehr Talent und Erfahrung als ich. Sein Gang war schwer und seine Gesten waren ausladend. Ich bewunderte diesen Alleskönner und fürchtete ihn gleichermaßen, wie er so durch den Raum auf den Kühlschrank zu schritt. Er öffnete ihn mit dem ihm eigenen Schwung und holte mehrere Bierflaschen heraus.

»Auch eins?«

Er wandte sich doch tatsächlich an mich! Ich hatte gehofft, er hätte mich gar nicht wahrgenommen. Nicht mich und auch nicht meinen unrühmlichen Abgang. Ich hatte ihn unterschätzt. Er zwinkerte mir freundlich zu und lächelte ein gut gebräuntes, von ansehnlichen Falten durchzogenes Luis-Trenker-Lächeln. Wahrscheinlich würde er zwischen den Jahren auf schwierige Ski-Touren gehen.

Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich noch mehr als Versagerin. Warum konnte ich nicht einfach nach einem der hohen, feminin geschwungenen Gläser greifen und mit einem lockeren Spruch auf den Lippen auf die gelungene OP anstoßen?

»Prost!«

Die Gläser des Operationsteams klirrten. Sogar Elfriede hatte sich dazugesellt und strahlte unter ihrer menopausenroten Hochfrisur. Ich fühlte mich überflüssig und unbehaglich. Genau dieser Moment war es wohl, der meine ambivalente Einstellung gegenüber Allgemeinchirurgen begründete. Immer wieder traf ich auch später auf anbetungswürdige Operateure, die mit freundlicher Jovialität und einem unerschütterlichen Selbstvertrauen die schwierigsten Situationen meisterten. Dabei eine bewundernswerte Risikobereitschaft und einen leichten Hang zur Grenzüberschreitung zeigten. Rasante Skifahrer, sportliche Autofahrer und wendige Motorradfahrerinnen eben. Ich hatte das Gefühl, niemals diesem Gesamtpaket entsprechen zu können.

Da hockte ich in meiner Ecke auf dem harten Plastikstuhl wie eine verschreckte Maus. Womöglich war ich doch nicht für eine Karriere in einem chirurgischen Fach geeignet, ging es mir durch den Kopf. Vielleicht sollte ich lieber Internistin werden, Laborwerte gegeneinander abwägen und Untersuchungsergebnisse abgleichen. Oder ich zog mich gleich ganz hinter das Mikroskop der Mikrobiologie zurück. Wie war ich nur auf diese verrückte Idee verfallen, es sei realistischer, eine gute Ärztin zu werden als eine Piratin?

AUF MESSERS SCHNEIDE

Ich war also reichlich ernüchtert, als ich nach meiner ersten Famulatur feststellte, dass die ersten Semester nichts als graue Theorie lieferten, die im klinischen Alltag eines Krankenhauses nicht von Bedeutung zu sein schienen. Nur widerwillig kehrte ich von den Klinikfluren in die Hörsäle zurück. Es war mir egal, dass ich erst physikalische Prinzipien verstehen musste, um die Stabilität von Prothesen oder die Wirkungen einer Augenoperation einschätzen zu können. Auch fand ich es ermüdend, biochemische Abläufe zu pauken, da mir der Zusammenhang mit den Körperfunktionen noch fehlte. Ich war leicht zu motivieren, aber schnell zu ermüden, wenn etwas nicht meinen Vorstellungen entsprach. Aber aufgeben wollte ich nicht. So schnell jedenfalls nicht. Ich hörte mich um und fand heraus, dass das Medizinstudium in Frankreich völlig anders aufgebaut war. Dass man dort gleich im zweiten Jahr studienbegleitende Praktika absolvierte. Bei uns war das erst nach Ende des Studiums im sogenannten »praktischen Jahr« vorgesehen. Natürlich konnte diese Erkenntnis nur ein Wink des Schicksals sein, der bedeutete: Ich musste nach Frankreich.