Wenn dein dunkles Herz mich ruft - Mary C Brooks - E-Book

Wenn dein dunkles Herz mich ruft E-Book

Mary C Brooks

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Beschreibung

"Tyler schwieg und starrte mit leerem Blick nach oben. Der Bernstein war dunkel geworden, er war voller Kummer und vergangenem Leid. Kimberly wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie rückte näher an ihn heran und bettete den Kopf nach kurzem Zögern auf seiner muskulösen Brust, wie sie es schon einmal getan hatte. Sein Herz schlug hart und schnell, als wollte es die Trauer bekämpfen. Vorsichtig löste er sich aus Kimberly Griff und legte den Arm stattdessen um ihre Schulter, um sie näher an sich zu ziehen..." Ein Piratencaptain auf der Suche nach seiner Vergangenheit. Eine Frau zwischen den Welten. Ein Mann mit zwei Herzen...

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Mary C Brooks

Wenn dein dunkles Herz mich ruft

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Wer Wind sät…

Kristall-Licht

Dämonengesicht

Marionetten-Männer

Frankies Geschichte

Tyler

Fremde Worte

Schlangenbiss

Nacht-Stürme

Familie

Anór

Ruhe vor dem Sturm

Tortuga

Crow

Zum Alten Klabautermann

Das Portal

Tylers Geschichte

Wie ein Sturm

Geheime Pläne

Seelensplitter

Der Tod klopft an

Dämonenblut

Die reinen Kinder

Barrons Versprechen

Sehnsucht

Vertrauen

Verraten

Neue Pläne

Gavin

Gefangen

Lapis nisi deleatur…

… genus peribit humanum

Epilog

Glossar

Leseprobe

Impressum neobooks

Kapitel 1

Wenn

dein dunkles Herz mich ruft

- Mary C. Brooks -

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Mary C. Brooks

Dies ist ein Roman. Alle vorkommenden Handlungen und Personen sind frei erfunden.

© Mary C. Brooks, Köln 2013

1. Fassung April 2013

Umschlaggestaltung: Fina Rudolph

Lektorat: Dagmar Broicher, Laura Oehlke

Bereits erschienen:

Wer Wind sät…

Das Meer glitzerte im Licht der karibischen Mittagssonne, als hätte man das Firmament wie ein Tuch über das Wasser gelegt und betrachtete nun die unzähligen Sterne, die nicht mehr verblassen wollten, seit man sie vom Himmel geholt hatte. Wellen rollten mit einer weißen Krone aus Gischt an den Strand und umspülten Kimberlys nackte Füße, griffen nach ihr wie kalte, tote Finger, die sie in die Fluten ziehen wollten. Das Meer war hier anders, hinter seiner Schönheit wirkte es tückisch und bösartig, als lauerte es. Ob das an der Insel lag? Oder an dem, was hier verborgen war?

Über Kimberlys Kopf kreiste eine Möwe, neugierig, was ein Mensch hier zu suchen hatte, doch sie beachtete den Vogel nicht weiter. Sie war viel zu sehr mit dem Smaragd in ihren schlanken Händen beschäftigt – und dem Lichtstrahl, den er auf die Felswand vor ihr warf. Aus den Augenwinkeln sah sie das kleine Boot, mit dem sie hergekommen war, auf den Wellen schaukeln. Wäre es nicht so gut festgetaut gewesen, würde das Meer es mit sich reißen und Kimberly allein auf der Insel zurücklassen. Allein mit einem in einer Höhle verborgenen Kristall und einem dunklen, gefährlichen Geheimnis. Dem Geheimnis, wegen dem sie hergekommen war.

Schweiß lief ihr in die grünen Augen, tropfte von ihren dichten schwarzen Wimpern, ihrem Kinn und ihren Rücken hinab auf den feuchten Sand. Die Sonne stand hoch, brannte heiß auf sie nieder, aber das Mittagslicht war der einzige Zeitpunkt, an dem es funktionierte. Funktionieren sollte. Es dauerte eine Weile, bis Kimberly es schaffte, dass der Lichtstrahl, der sich in dem Edelstein in ihren Händen brach, auf die Vertiefung im Fels traf, ein kaum noch zu erkennendes Muster im rauen Gestein: Eine Schlange, die sich um ein Pentagramm wandte und deren Kopf in der Mitte eines Sterns ruhte.

Zuerst geschah gar nichts, bis auf das Rauschen der Wellen und dem Zirpen einiger Insekten war es still. Sie lauschte, starrte angestrengt auf das Symbol im Stein und bemühte sich, den Lichtstrahl dort zu halten. Ein Grollen schwoll an, dunkel und bedrohlich, es war ein Rumpeln, das tief aus dem Inneren des Gesteins zu kommen schien und ein Stück der massiven Felswand zur Seite gleiten ließ. Vor Kimberly öffnete sich ein schmaler Spalt, dessen Gang in ein Nichts aus Dunkelheit führte. Das Licht der Sonne verlor sich rasch, wurde von der tiefen Finsternis verschluckt.

Den Smaragd ließ Kimberly in die Tasche ihrer Wollhose gleiten, bevor sie eine mitgebrachte Fackel hervorholte, sowie zwei Feuersteine, die sie nun gegeneinander stieß. Ein Funke glomm auf, rieselte auf die Fackel und schien für einen Moment erloschen, bis er sich in das trockene Material verbiss und zu wachsen begann. Orangeblaue Flammen loderten auf. Hoffentlich brannten sie lange genug, bis Kimberly wieder draußen war.

Sie warf einen letzten Blick auf das Meer und auf die Holy Devil, die etwas weiter draußen vor Anker lag. Das Schiff würde warten bis sie zurückgekehrt war. Hoffentlich.

Mit der freien Hand ihren Säbel ziehend, schritt sie in die Dunkelheit und fühlte sich sofort von dem Fels um sie herum eingeengt. Das Fackellicht konnte die Finsternis nur spärlich vertreiben und ließ unheimliche Schatten an den Wänden tanzen. Ihre nackten Füße machten tapsende Geräusche, ließen ihr Herz schneller schlagen. Sie fühlte, dass etwas hier war, etwas Böses. Und jetzt wusste es, dass sie da war.

Es war nicht direkt Furcht, die sie verspürte, es war vielmehr ein wachsendes Unwohlsein. Das Gefühl von Bedrohung und das Wissen, dass sie nicht hier sein durfte. Das, was sie tat, war verboten und gefährlich. Und es war ihre Aufgabe. Ihr Befehl.

Kimberly vertrieb diese Gedanken mit einem leisen Fluch und konzentrierte sich stattdessen darauf, schneller zu laufen. Obwohl es in der Sonne unerträglich heiß war und sich die Höhle eigentlich aufgeheizt haben müsste, war es hier drinnen geradezu kalt und sie fröstelte. Die Fackel flackert und spuckte grauen Qualm aus, aber sie erlosch nicht. Noch nicht. Immer wieder huschten Schatten an ihr vorbei, von denen sie sich beobachtete fühlte. Diese Insel war böse, also warum sollte nicht auch alles, was auf ihr war, ebenfalls böse sein? Vielleicht konnten hier selbst die Schatten gefährlich werden, wer wusste das schon? Kimberly wollte nicht lange genug bleiben, um es herauszufinden. Und noch viel weniger wollte sie daran denken, dass sie einen Teil dieses Bösen mit an Bord nehmen würde.

Ein schwaches Licht glomm am anderen Ende des Tunnels auf und ließ sie für einen Moment inne halten. Sie horchte, ob hier noch jemand war, aber das Licht schien nicht von einem Feuer zu kommen. Dazu war es zu grell, zu weiß. Was auch immer es war, es ging nicht von einem Menschen aus – was nicht gerade ein beruhigender Gedanke war. Ein Impuls in ihrem Inneren zog sie weiter, sagte ihr, dass sie dort finden würde, was sie suchte. Kimberly wurde noch wachsamer. Der tunnelartige Gang endete abrupt, weitete sich in eine Höhle aus, deren Ausmaße sich irgendwo in der Dunkelheit verloren. Unzählige Stalaktiten hingen von der Decke, schmückten diese wie steinerne Anhänger. Kisten voll Gold und Juwelen bedeckten den Boden, aber Kimberlys Blick war auf etwas anderes geheftet. Wegen den Schätzen war sie nicht hier, sosehr ihr Piratenherz auch danach verlangte, wenigstens eine Truhe mitzunehmen. Ihre Aufmerksamkeit galt der Statue mitten in der Höhle, umgeben von Säulen, die die Decke stützten. Es war eine Frau, gehauen aus schwarzem Stein. Ihre dunklen, toten Augen bohrten sich in Kimberlys, als wollte sie sie warnen, und über ihre Wange lief eine einzelne Träne, für immer dort erstarrt. Ihre Hände hielt sie vor ihrem Bauch, geformt wie eine Schale. Und darin lag die Quelle des weißen Lichts. Das, weswegen sie hergekommen war. Ein faustgroßer Kristall, der immer heller strahlte, je näher sie ihm kam. Er war es. Es gab keinen Zweifel.

Der Stein von Anór.

Sie ließ den Säbel zurück in ihre Gürteltasche gleiten, klemmte die Fackel in eine Armbeuge der Statue und streckte beiden Hände nach dem Stein aus. Sie hielt inne, verharrte mit ihren Fingerspitzen nur wenige Millimeter vor der Oberfläche des Kristalls. Langsam und tief atmete sie ein, vertrieb das Zittern aus ihren Muskeln und drängte ihr Herz, wieder ruhiger zu schlagen. Das Gefühl, etwas Falsches zu tun, wurde immer größer. Sie spürte, dass sie etwas Böses erwecken würde, wenn sie die Insel mit dem Stein verließ. Aber der Gedanke, was Captain Barron mit ihr machen würde, wenn sie mit leeren Händen zurückkäme, war beunruhigender als die unheilvolle Ahnung, die sich in ihr regte, wenn sie den Stein ansah.

Ein leises Schnauben entwich ihr.

Feigling, schalt sie sich selbst. Seit wann hast du Angst?

Mit einem Ruck nahm sie den Kristall aus den steinernen Händen und stopfte ihn in ihre Hosentasche, ohne noch einmal in die steinernen, leblosen Augen der Frau zu blicken. Er fühlte sich kalt und schwer an, sie spürte dieses böse Etwas, das von ihm ausging, durch den Stoff hindurch. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und zog eine Gänsehaut über ihre Arme.

Beinahe im gleichen Augenblick erschütterte ein Grollen die Höhle. Hastig griff Kimberly nach der Fackel und drückte sich einen Moment lang gegen die Statue. Alles in ihr schrie nach Flucht, aber sie war wie erstarrt, als sie sah, dass die stützenden Säulen zu schwanken begannen und ein hässliches Reißen die Luft erfüllte. Staub und Schutt rieselte von der Decke, die Stalaktiten knirschten.

Kimberly zögerte nicht länger und rannte los. Die Höhle knurrte erneut, sie war wie ein wildes Tier, das sich umher warf. Der Boden bebte, so heftig, dass Kimberly von den Füßen gerissen wurde und beinahe die Fackel fallen ließ. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung und rollte sich instinktiv herum. Neben ihr krachte einer der Stalaktiten zu Boden und zersprang, scharfe Steinsplitter flogen umher.

„Verdammte Scheiße“, fluchte sie, sprang auf die Füße und rannte weiter. Das Feuer war fast abgebrannt, nur ein kleiner Rest brannte noch oberhalb des feuchten Tuches. Wenn sie den Tunnel nicht bald erreichte, würde sie den Ausgang nicht mehr finden. Falls dieser nicht schon verschüttet war. Dann würde sie hier unten lebendig begraben werden – sofern nicht einer der Steine sie vorher zerquetschte.

Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herz schlug heftig und schmerzhaft. Sie sah das Loch im Fels, den Weg zum Ausgang, und eilte darauf zu. Wieder bebte der Boden so stark, dass Kimberly erneut fiel. Dieses Mal konnte sie die Fackel nicht mehr halten. Von einem Moment auf den anderen senkte sich Dunkelheit über sie und die Schatten fielen mit aller Bosheit über sie her. Die Angst raubte ihr den Atem, setzte sich wie ein Ungeheuer auf ihre Brust, das sie lähmte und gegen das sie nicht gewinnen konnte. Um sie herum stürzte die Höhle weiter ein, aber sie wagte es nicht, sich zu bewegen, obwohl sie wusste, dass sie nirgends sicher war.

Der Stein schimmerte sacht durch ihre Hose und sein Anblick schickte eine Woge von Zorn durch ihr Herz. Wegen diesem winzigen Ding würde sie nicht hier unten sterben, bestimmt nicht. Aber vielleicht konnte sie ihn als Lichtquelle benutzen. Vorsichtig holte sie ihn hervor, doch sie erkannte schnell, dass er ihr nicht helfen konnte. Er glühte, aber er erhellte den Raum nicht mehr, als wollte er verhindern, dass sie ging. Sie überlegte einen Augenblick, ihn hier zu lassen, aber dann wäre alles umsonst gewesen, dann hätte sie ihr Leben für nichts riskiert. Stattdessen ließ sie ihn vorsichtig zurück in ihre Tasche gleiten.

Bei dem Versuch, sich aufzusetzen, griffen ihre Finger in kaltes, glattes Metall. Gold. Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger um die Münzen und die Piratin in ihr verlangte nach mehr.

Ächzend rappelte sie sich hoch, verdrängte die Gier, die sie das Leben kosten würde, wenn sie ihr nachgab, und rannte weiter. Vertraute ihren Instinkten, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Über ihr knirschte und rumpelte es noch immer, der Boden bebte weiterhin, aber sie schaffte es, sich auf den Beinen zu halten. Sie wusste nur, dass der Ausgang ungefähr in der Richtung lag, in die sie lief.

Der Stein in ihrer Tasche schien mit jedem Schritt schwerer zu wiegen, zog sie zurück, als wollte etwas verhindern, dass sie ihn nach draußen brachte.

Sie rannte weiter und plötzlich stießen ihre Hände gegen rauen Stein, die Münzen fielen zu Boden. Das Klimpern ging in dem Getöse unter.

Nein!

Ein Teil von ihr jaulte entsetzt auf. Wo war der Ausgang, wo? Rechts oder links? Der Schrei, der in ihrer Kehle aufstieg, wurde von Staub und Dreck begraben bevor er hervorbrechen konnte. Ein gequältes, keuchendes Husten war alles, was sie zustande brachte.

Unmittelbar über ihr knackte es. Ihr Kopf fuhr herum, ihre Augen suchten die Decke ab, obwohl es sinnlos war, etwas sehen zu wollen. Da war nur staubige Dunkelheit. Aber sie brauchte auch nichts zu sehen, um zu wissen, was über ihr geschah. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Decke – und den Riss, der entstand, der immer größer wurde, sich wie ein Spinnennetz explosionsartig ausbreitete. Immer schneller und schneller zogen sich die feinen Sprünge durch den Fels, es knackte und knirschte überall.

Kimberly fluchte erneut, legte eine Hand an die Wand neben sich und lief los. Entweder war es die richtige Richtung und sie fand den Ausgang jeden Moment, oder … Sie hatte keine Zeit, an das Oder zu denken, durfte nicht zulassen, dass Angst in ihr empor kroch und sie lähmte.

Der scharfe Stein zerkratzte ihre Handfläche, aber sie spürte den Schmerz nicht. Das Grollen erfüllte die ganze Kammer und ließ sogar die Luft zittern. Kimberly hatte Mühe, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten, es war als wollte die Höhle mit aller Macht verhindern, dass sie sie jemals verließ – oder der Stein. Haltlos stolperte sie weiter, hielt den freien Arm über den Kopf, um sich vor herabstürzenden Steinen zu schützen. Doch die kleinen Kiesel, die stetig herabrieselten, waren nur der Vorbote von etwas viel Größerem, Unaufhaltsamen.

Kimberlys Hand griff auf einmal ins Leere und obwohl sie nichts sehnlicher hoffte, kam es viel zu überraschend. Sie stürzte der Länge nach auf den harten, bockenden Boden, wurde von einer heftigen Erschütterung herumgerissen und zog automatisch die Beine an. Sie konnte spüren, wie nicht weit von ihr die Decke endgültig herabstürzte, eine Staubschicht senkte sich auf sie, ließ sie erneut keuchen und husten. Die Dunkelheit vor ihr war auf einmal massiv, undurchdringlich. Die Höhle war verschüttet, all die Schätze waren in ihr begraben worden. Doch der Boden zitterte noch immer, es war noch nicht vorbei.

Kimberly rappelte sich ächzend auf und stolperte blind durch den Tunnel, der ans Tageslicht führte. Die Wände rückten immer näher, zumindest fühlte es sich so an. Die Schatten griffen nach ihr, zogen sie zurück, rissen sie immer wieder von den Beinen.

Wir lassen dich nicht gehen, schienen sie zu wispern. Nie wieder!

Oder waren es doch nur ihre aufgeschürften und geprellten Beine, die sie nicht mehr tragen konnten?

Ihre tastenden Hände stießen unsanft gegen kalten Fels, als der Tunnel eine Biegung machte und schürften sich an den scharfen Kanten weiter auf. Der Kristall in ihrer Tasche schimmerte noch immer. Er war schwer, so schwer. Er zog sie auf den Boden, drückte sie nieder. Oder waren das die Schatten? Oder war alles das Ergebnis ihrer Angst und ihrer Erschöpfung?

Vor ihr war plötzlich etwas anderes als Dunkelheit und Staub und Lärm. Ein runder heller Fleck, der mit jedem Schritt größer wurde und der ihr die Kraft gab, noch schneller zu laufen. Die Sonne.

Die Höhle warf sie mit einem Beben erneut gegen die Wand, ihr Kopf prallte hart gegen eine Kante. Kimberly spürte das Blut, das an ihrer Stirn herablief, warm und klebrig, und wie sich der Staub darin verfing. Doch die Insel konnte sie nicht mehr aufhalten. Jetzt nicht mehr.

Ihre Beinmuskeln spannten sich, suchten Halt auf dem bebenden Boden und drückten sich kräftig ab. Das Sonnenlicht rauschte Kimberly entgegen, wie ein Fisch, der aus dem Wasser sprang, flog sie zurück in die Wirklichkeit. Sand wirbelte auf, dämpfte ihren Sturz nur kaum. Die Möwe über ihr kreischte erschrocken und verschwand irgendwo am Horizont. Kimberly spürte den heißen Sand unter ihrem Rücken, vergrub ihre Finger darin. Wellen umspülten ihre Füße, griffen wieder nach ihr. Sollten sie sie holen. Nur weg hier.

Kimberly blinzelte in den grellen Himmel, wollte die Augen mit der Hand abschirmen, aber dazu fehlte ihr die Kraft. Langsam schlossen sich ihre Augenlider. Das Rauschen des Meeres war das letzte, was sie hörte.

Kristall-Licht

Captain Barron stand noch immer an der Reling der Holy Devi und starrte mit unbewegter Miene auf das Ruderboot, das die sinkende Insel mittlerweile erreicht hatte, um die junge Piratin zurückzubringen. Der salzige Wind blies die schulterlangen, aschblonden Haare aus seinem wettergegerbten Gesicht, zeigte die Narbe, die an seiner linken Schläfe begann und irgendwo in seinem Nacken endete. Ein Andenken an vergangene Zeiten.

Nur ein kleiner Muskel an seinem linken Auge zuckte, während er beobachtete, wie die zwei Piraten, die er losgeschickt hatte, Kimberly in das Ruderboot legten. Das Meer war wild, es griff nach ihnen, wollte sie nicht gehen lassen. Seine Finger waren kalt und nass, zogen an dem kleinen Boot, wollten es mit der Insel hinab in die Tiefe reißen.

Barrons rissige Hände krallten sich fester um die Reling, das Holz knackte unter seinem Griff. Die Wellen umspülten das Ufer immer heftiger, stießen zum Zentrum des kleinen Eilands vor, um es für immer ins nasse Grab des Vergessens zu ziehen.

Ihn ließ nicht kalt, was er dort sah, gewiss nicht. Aber die Crew durfte seine Sorge um das Mädchen und vor allem um den Stein nicht bemerken, durfte keine Schwäche erkennen. So lange er beobachtet wurde, durfte er sich seine Gedanken nicht anmerken lassen, schon gar nicht die, die um das Mädchen kreisten. Die Zeiten waren hart. Die Crew brauchte einen Captain, der nicht zweifelte, nicht zögerte. Sie brauchten keinen rührseligen Captain, sonst würden sie ihm niemals folgen, würden niemals tun, was sie tun mussten. Sie mussten glauben, was er ihnen sagte, alles. Bedingungslos. Das Holz unter seinen Händen knirschte erneut, ein dreckiger Fingernagel splitterte weiter ab.

Die Holy Devil schaukelte weiter sanft auf den Wellen, das Meer versuchte nicht, das Schiff ebenfalls zu verschlingen. Das kleine Beiboot hatte sie mittlerweile erreicht, die Piraten tauten es fest und hievten Kimberly an Bord. Sie war nur halb bei Bewusstsein, sah sich irritiert um. Ihre Augen fanden seine und ihr Blick wurde hart, kalt. Die schwarzen Locken hingen ihr strähnig und verdreckt im Gesicht, aber das zornige Funkeln ihrer grünen Augen konnten sie nicht verdecken. Smaragdaugen.

Barron runzelte die Stirn, er war es noch immer nicht gewohnt, dass sich ihre Wut gegen ihn richtete. In letzter Zeit geschah es öfters, sie dachte zu viel nach, zweifelte, obwohl sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie war erwachsen geworden in all der Zeit, er hatte es nur nicht bemerkt. Ihre ruhige, kalte Wut jagte ihm innerlich einen Schauer über den Rücken. Wenn sie so da stand wie jetzt, nass und zitternd, und ihn einfach nur anstarrte, beunruhigte ihn das mehr als die Prügeleien, die er tagtäglich erlebte. Mit offener Gewalt konnte er umgehen. Mit der Wut einer Frau nicht. Wie wütend würde sie erst werden, wenn sie die Lüge um seinen Bruder aufdeckte? Wenn sie erfuhr, dass er, Captain Barron, gar nicht ihr Onkel war?

Ein Raubtier, dachte Barron. Wie ein hungriges, wildes Raubtier steht sie da und lauert.

„Hast du ihn?“, hörte er sich selbst sagen, dabei wollte eine innere Stimme etwas anderes fragen. Er wollte sie in die Arme schließen, wie er es früher getan hatte, doch die Zeiten waren vorbei. Diese Lüge konnte er nicht mehr zurücknehmen, nicht nach all der Zeit. Es würde niemals wieder so sein, wie es einmal war.

Kimberly presste die Lippen aufeinander, strich sich mit einer heftigen Handbewegung die Haare aus dem Gesicht und verschmierte dabei das Blut, das aus dem Schnitt an ihrer Stirn lief. Sie sah es, ballte die Hände zu Fäusten und senkte den Kopf. Es sah aus wie eine Geste der Ergebenheit, aber Barron wusste es besser. Er kannte sie, kannte sie so gut. Sie versuchte nur, ihre Wut zu verbergen, sich zu kontrollieren.

„Na, Kimy, hast du deine Zunge verschluckt? Oder haben die bösen Schatten sie gefressen?“ Oliver, eines der Crewmitglieder, bedachte sie mit einem spöttischen Grinsen. Ein Goldzahn blitzte inmitten eines schwarzen, faulenden Gebisses auf. Seine schmutzigen, zerkratzten Hände spielten mit dem Entermesser an seiner Hüfte und in seinen schlammbraunen Augen blitzte es verschlagen.

Kimberly starrte ihn an, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. „Du hast ja keine Ahnung“, zischte sie.

„Uhh, jetzt bekomm ich aber Angst.“

„Halt den Mund“, wies Barron ihn zurecht, aber Oliver grinste nur.

„Wenigstens war ich mutig genug, hinzugehen“, gab Kimberly zurück. „Obwohl es mich beinahe das Leben gekostet hat. Du wärst dort gestorben, du dreckiger, kleiner -“

„Und, hat es sich gelohnt?“, unterbrach Barron sie. Er schaffte es, seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen. Über ihnen schrie eine Möwe.

Kimberly schnaubte. „Natürlich.“ Sie holte den Kristall hervor und starrte einen Augenblick lang in sein helles, weißes Licht. „Fang!“

Captain Barron fing den Stein auf, ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Nur aus den Augenwinkeln sah er, dass die junge Piratin unter Deck verschwand, wahrscheinlich in ihrer Kajüte. Irgendwann würde sie dieses Schiff übernehmen, irgendwann war sie an der Reihe.

Tapfere, kleine Kimberly.

Er wüsste nicht, was er ohne sie tun würde. Er konnte sie sich einfach nicht in einem feinen Kleid auf adligen Empfängen vorstellen. Kimberly gehörte hierher, zu ihm. Daran änderten auch all die Lügen nichts. Nur hier konnte er sie beschützen, daran hatte Melinda keine Zweifel gelassen. Melinda… Er hoffte so sehr, dass sie recht hatte. Mit Kim. Mit dem Kristall. Mit allem.

Barron wandte sie ab und stiefelte davon.

Der Kristall leuchte nun nicht mehr, er wurde trüb und dunkel.

Dämonengesicht

Der Wind heulte um das Schiff herum und blies heftig in die Segel. Kimberly spürte die Bewegungen des Schiffes während sie in ihrer Hängematte lag und ihren Gedanken nachhing. Sie liebte das Piratenleben, aber wollte sie wirklich für immer auf diesem Schiff bleiben und solche Aufträge wie heute erledigen? Es war verlockend, ein Heimatschiff zu haben, einen Rückzugsort. Aber die Antwort war Nein. Sie erwartete mehr von ihrem Leben, ein größeres Schiff, eine eigene Mannschaft. Sie wollte nicht länger eine Rarität bleiben, wollte nicht länger die einzige Frau an Bord sein. Sie wusste, dass sie ein nahezu einzigartiges Privileg genoss, dass kein anderer Captain sie dulden würde. Zumindest nicht so. Als Hure vielleicht, aber nicht als Teil der Crew. Wenn Barron nicht ihr Onkel wäre … Wie würde ihr Leben dann aussehen?

Vielleicht hätte sie dann noch Eltern. Vielleicht würde in England leben, teure Kleider tragen und darauf warten, verheiratet zu werden. Vermutlich würde sie es längst sein und ihr zweites oder drittes Kind erwarten. Wollte sie das? Nein, bestimmt nicht. So eine Frau war sie nicht. Und solche Menschen waren auch ihre Eltern nicht gewesen. Zumindest erzählte man ihr das. Melinda und Matt, im Gefecht gegen die Spanier gefallen. Wie ihre Mutter es an Bord der Devil geschafft hatte, wusste sie nicht. Vielleicht, weil sie die Frau des Bruders des Captains gewesen war? Kimberly schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Sie wollte nicht wieder an ihre Eltern denken, sie konnte sich ohnehin nicht an sie erinnern. Es war zu lange her, dass man sie ermordet hatte. Die Crew war ihre Familie, schon immer, mehr brauchte sie nicht.

Sie nahm es Captain Barron nicht wirklich übel, dass er sie auf die Insel geschickt hatte. Sie war die Schnellste von ihnen, die Wendigste. Und vermutlich auch die Cleverste. Die anderen hätten der Versuchung nicht widerstanden, sie hätten die Kammer geplündert ohne an den Stein zu denken, hätten vor Gier ihren Auftrag vergessen.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür der Kajüte riss sie vorerst aus ihren Erinnerungen. „Darf ich reinkommen?“

Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Hey, Gavin. Klar, komm rein.“

„Na, bist du immer noch sauer auf den Captain?“ Er kannte ihr hitziges Gemüt und besuchte sie immer nach einer Auseinandersetzung – mit wem auch immer. So war das wohl, die zwei Küken an Bord mussten zusammenhalten. Auch, wenn sie mit zwanzig Jahren sicherlich keine Kinder mehr waren.

Kimberly seufzte theatralisch. „Ja, aber was will man machen? Wenn ich es jetzt auf einen Streit ankomme lasse, wirft er mich wahrscheinlich einfach über Bord.“

„Ach Blödsinn, so etwas würde Barron nie tun. Er ist ein guter Mann.“

„Er ist Pirat!“, erwiderte Kimberly lachend.

Gavin grinste. „Genau wie wir auch.“

Für einen Moment senkte sie den Kopf, schloss die Augen. Sie spürte eine leichte Übelkeit, ein flaues Gefühl in der Magengegend. „Ich hatte Angst. In der Höhle. Ich hatte wirklich Angst, sie nicht mehr lebend zu verlassen. Das war etwas anderes als sonst. Irgendetwas … ich war nicht allein dort. Da war noch etwas. Etwas Böses.“

„Aber jetzt bist du wieder hier, du bist in Sicherheit. Solange dich kein Pirat über Bord werfen will.“

„Und wenn ich das Böse mitgebracht habe?“ Kimberly lachte nicht über seinen Witz, sondern legte stattdessen die Stirn in Falten.

„Hör zu, Kim. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können es nicht mehr rückgängig machen. Aber was noch kommt, das ist allein unsere Entscheidung, denn wir sind verantwortlich für das, was wir tun und tun werden.“ Er lächelte, aber es sah nicht mehr echt aus.

„Was ist los? Nervt dich deine eigene Philosophie?“

„Vielleicht hast du recht.“

Kimberly legte den Kopf schief. „Was meinst du?“

„Unser freier Wille. Es ist nicht immer unsere Entscheidung. Es gibt jemanden – oder etwas – der die Macht hat, uns zu kontrollieren. Noch ist es nicht soweit, aber ich fürchte, es wird bald soweit sein. Wir müssen Barron helfen, sonst ist er bald nur noch eine Marionette.“

„Wovon redest du? Ich verstehe kein Wort.“

Gavin seufzte und strich sich eine verschwitzte Strähne seines rötlichen Haares aus dem Gesicht. „Es ist eine alte Geschichte. Ein dunkles Märchen. Wenn es wahr ist, schweben wir alle in großer Gefahr.“

„Das Böse …“

Er nickte. „Der Stein. Er ist es. Du hattest recht, da unten war etwas Böses. Und vermutlich hast du es wirklich mit an Bord gebracht.“

Kimberly setzte sich gerader hin, verschränkte die Arme vor der Brust. „Nimmst du mich auf den Arm?“

„Du weißt, dass ich das nur zu gern tue, aber … nein. Dieses Mal nicht.“

Kimberly suchte in seinen Augen nach einer Lüge, einem Schmunzeln, doch da war nichts. Er meinte es tatsächlich ernst. „Woher weißt du das alles?“

„Es gibt Gerüchte an Bord.“ Gavin zuckte mit den Achseln. „Man schnappt in der Kombüse so einiges auf. Und Sam ist besorgt. Er weiß nichts Genaues, nur, dass der Stein aus einem guten Grund in dieser Höhle versteckt war. Es soll so etwas wie ein magisches Gefängnis sein. Sagt man zumindest. Ich glaube, dass ich früher schon einmal etwas Ähnliches gehört habe. Vor meiner Zeit auf der Devil. Eine schaurige Gutenachtgeschichte, die uns Kindern Angst machen sollte.“

„Ein magisches Gefängnis? Machst du dich über mich lustig?“

„Du hast gefragt und ich antworte.“ Gavin verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie seufzte. „Na schön, rede weiter.“

„Ich habe Geschichten gehört, dass die Höhle etwas bewachen soll. Etwas Böses, das man nicht befreien darf. Ich wollte dem Captsin davon erzählen, aber… Na, ich kann mir denken, wie er reagiert hätte.“

Kimberly legte den Kopf schief und dachte nach. „Weißt du, dass ich mich nie gefragt habe, was er damit vorhat? Jetzt mal ehrlich, was will er mit einem Stück Stein? Schön, er ist hell und hübsch, aber ich wusste nicht, dass unser Captain auf Solche Dinge achtet.“

„Man sagt ihm magische Kräfte nach. Frag mich nicht, welche, das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht will er sein Schiff ausrüsten? Einen zweiten fliegenden Holländer vielleicht?“ Er grinste spöttisch.

„Das ist doch vollkommen verrückt“, murmelte Kimberly. Ein plötzliches Schwindelgefühl erfüllte sie, sie streckte automatisch die Hand nach der Kajütenwand aus und die Übelkeit wurde heftiger. Sie war doch noch nie seekrank geworden. „Es wäre mir wesentlich lieber gewesen, wenn du mich einfach ausgelacht hättest.“

„Der Stein von Anór ist der Vorbote des Unglücks. Durch ihn hat das Böse Macht über diejenigen, die ihn besitzen. So sagt man zumindest.“

„Warum habe ich davon nie etwas gehört? Und vor allem, warum sollten wir so etwas an Board holen? Das ist doch … furchtbar“, murmelte Kimberly und presste die Hand gegen die Schläfe, wollte den Schmerz aus ihrem Kopf drücken.

„Du solltest eben öfter in die Kombüse kommen. Aber ja, es ist wirklich furchtbar. Wenn wir den Stein nicht dorthin zurück bringen, wo ihn die Götter bewachen, dann … es wird böse enden. Für uns alle.“

„Jetzt auch noch Götter? Das klingt wahnsinnig.“

„Es ist Wahnsinn“, gab Gavin zurück. „Aber deshalb ist es nicht weniger wahr. Ich hätte nie gedacht, dass der Captain daran glaubt. Ich hätte nie gedacht, dass er so weit gehen würde. Ich weiß nicht einmal, warum er es tut. Ich kann dir nur sagen, was ich aus den Geschichten weiß, was meine Familie mir früher erzählt hat, und das gefällt mir nicht. Es kann alles Seemannsgarn sein. Genauso gut kann es wahr sein. Du hast selbst gesagt, du hast etwas gespürt. Vielleicht hast du recht.“

Kimberly wollte etwas erwidern, doch sie spürte mit einem Mal einen kochenden, brodelnden Hass in sich aufsteigen, der alle anderen Gefühle in den Hintergrund drängte. Sie spürte die Hitze in ihrem Körper empor kriechen, schmeckte den bitteren Geschmack der Wut auf ihrer Zunge.

Da war ein Schmerz in ihrem Inneren, ihrem Herzen, ihrer Seele. Etwas versuchte, sie zu verdrängen, sie aus ihrem Körper zu stoßen. Etwas, das sie mit heißer, feuriger Wut erfüllte, das ihre Sicht mit roten Rändern trübte. Sie keuchte, würgte. Ihr Magen zog sich zusammen, glühende Krallen gruben sich in ihre Eingeweide.

Und dann war es vorbei. Der Schmerz, das Etwas, zog sich zurück, verließ sie wieder, als hätte es sich verbrannt. Sie glaubte, ein Zischen zu hören, ein böses Wispern und Flüstern. Vor ihren Augen wurde es schwarz. Für einen Moment war da nichts als Leere, bevor ihre Sinne langsam wiederkehrten.

„Kim? Kim! Was ist passiert?“ Gavin beugte sich über sie, drückte ihre Hand. „Du bist ja ganz blass.“

Die Welt war noch leicht verschwommen, ihre Seele brauchte einen Moment, sich wieder in ihrem Körper zurechtzufinden, alle Sinne wieder in Besitz zu nehmen. „Ich …“ Ihre Stimme war rau, heiser. „Ich weiß nicht. Es war als … da war jemand. Etwas. In meinem Körper.“

Gavin riss die Augen auf. „Es ist schon da. Das Böse. Es fängt an.“

„Ach nein, Blödsinn. Wahrscheinlich war das die Nachwirkung des Höhleneinsturzes, ich hab mir den Kopf gestoßen.“ Zumindest versuchte sie, sich das einzureden, aber sie wusste, wie sinnlos es war. Sie hatte es gespürt. Das Böse in der Höhle und den nicht greifbaren Fremdkörper in ihr.

„Kim.“ Er drückte ihre Hand fester, schüttelte energisch den Kopf. „Ich hoffe mit allem was ich bin, dass du recht hast. Aber wenn ich mich nicht irre, sind wir alle in Gefahr. Wir müssen den Stein wieder loswerden bevor der Dämon stärker wird.“

„Dämon?“ Kimberly horchte auf. „Du meinst … so etwas wie einen bösen Geist? Ernsthaft?“

Gavin nickte. „Auch das ist Teil der Legende. Frankie hat mir die Geschichte schon öfters erzählt. Er kennt sie von früher. Und Sam weiß auch etwas, aber nicht viel. Ich frage mich, wie viel der Captain weiß. Ob ihm klar ist, auf was er sich da eingelassen hat.“

„Was, zum Teufel, will der Captain mit einem Dämon? Ein Bierchen trinken ja bestimmt nicht!“

„Ich weiß es nicht.“

„Und wie töten wir es? Vorausgesetzt, es existiert überhaupt“, fügte sie rasch hinzu. Sie hatte es gespürt und dennoch war der Gedanke so unglaublich absurd.

Gavin lachte trocken. „Töten? Du kannst einen Dämon nicht töten, Kim. Er ist kein Mensch. Er hat kein Herz!“

„Und was sollen wir dann tun? Wenn der Captain mich wirklich einen verfluchten Dämon hat an Bord holen lassen, was tun wir dann? Kann er uns angreifen?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vermutlich. Ich kenne die alten Geschichten, aber ich weiß nicht, was …“ Gavin stockte, alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Er krümmte sich, presste die Hände erst auf den Bauch, dann an den Kopf, stöhnte, würgte.

„Gavin!“

Seine Hände begannen zu zittern, seine Arme, Beine, alles vibrierte unkontrolliert, seine Zähne schlugen heftig auf einander.

„Gavin, was hast du, was ist los?“ Kimberly packte ihn fest bei den Schultern, wollte ihn festhalten, damit er sich beruhigte, aber er schubste sie weg. Fest, energisch, voller Wut. Ein tiefes Grollen kam aus seiner Brust. Das Zittern hörte mit einem Mal auf, er wurde ruhig, saß einen Moment lang starr da, bevor er den Kopf hob und sie ansah. Aber es waren nicht länger seine Augen. Sie waren rot und riesig, sie loderten voller Hass. Zuerst sah es aus wie eine Schwellung von zu vielen Tränen, zu viel Salz, aber das war es nicht. Es war die kochende Wut, die Kimberly eben in sich gespürt hatte, es war das Wesen, das Böse, der Dämon.

Es stand direkt vor ihr. Und es hatte eine Waffe.

Gavins Hand, die nicht mehr seine war, schloss sich um den Griff, zog den Säbel langsam heraus. Die feurigen Augen wanderten an der Klinge entlang, prüften ihre Schärfe. Er – es – lächelte. Es war ein böses, tückisches, gefährliches Lächeln, eines das sagte: „Ich kann dich töten. Hier und jetzt. Und niemand würde es merken.“

Beinahe zu spät bemerkte Kimberly, dass die unausgesprochene Drohung nicht ihr galt.

Die Klinge fuhr langsam an Gavins Arm entlang, liebkoste ihn beinahe, fuhr immer wieder über sein Handgelenk. Seine Pulsadern.

„Nein!“

Ein rascher, schneller Schnitt. Ein Aufkeuchen. Ein Schrei. Und Blut, so viel Blut.

Es verließ ihn so schnell wie das Rot seine Augen.

Gavins schmächtiger Körper sackte schwer zu Boden und blieb einfach liegen, reglos. Das Blut floss weiter aus seinem Handgelenk, sickerte in das Holz.

„Scheiße.“ Kimberly griff nach einer Bluse unter ihrer Hängematte, riss einen Streifen Stoff ab und band ihn fest um den Schnitt. „Komm schon, Gavin, hilf mir.“ Sie versuchte, ihn hochzuheben und zu tragen, aber dafür reichte ihre Kraft nicht. „Sam!“

Wind und Regen peitschten ihr entgegen, als sie an Deck kam, Wasser rollte über die Planken. „Sam! Captain!“

Die Tür des Kapitänsquartiers am Heck des Schiffes wurde aufgerissen, Captain Barron und der Bader Samuel stürzten heraus und sahen sie fragend an. „Warum schreist du hier so rum?“

„Gavin hat sich verletzt. Wir brauchen Hilfe.“

Die beiden Männer liefen an ihr vorbei in die Kajüte, hoben Gavin hoch und trugen ihn in die Kombüse am Bug des Schiffes. Kimberly machte auf dem kleinen, schiefen Holztisch Platz, damit die Männer Gavin darauf legen konnten. Sam rückte sein Monokel zurecht und griff nach einem mit brauner Flüssigkeit gefülltem Krug. Der provisorische Verband wurde abgewickelt, die Wunde mit selbstgebranntem Rum desinfiziert und mit einem halbwegs sauberen Fetzen Segeltuch neu verbunden. Der Küchenjunge verzog das Gesicht, noch nicht ganz wieder bei Bewusstsein, ließ die Prozedur aber klaglos über sich ergehen. Er war so blass, dass selbst seine Sommersprossen farblos wirkten.

„Wie ist das passiert?“ Captain Barron trat hinter Kimberly und musterte sie mit gerunzelter Stirn.

Sie schwieg einen Moment, suchte nach einer passenden Antwort. Sollte sie lügen? Wenn es stimmte, was Gavin über den Stein von Anór erzählt hatte, war es vielleicht besser, ihm erst einmal nicht die Wahrheit zu sagen und abzuwarten. Oder musste sie ihn gerade deshalb warnen? Vor den Gefahren? Sie hatte doch gesehen, was geschehen war, hatte selbst gespürt, wie das Böse, der Dämon versucht hatte, in sie einzudringen. Sie schauderte unwillkürlich.

„Kimberly?“

„Wir glauben, es hat mit diesem verfluchten Stein zu tun.“

Barron runzelte die Stirn. „Dem Stein von Anór? Wie stellst du dir das vor? Ist er über Deck zu euch geflogen, hat den Säbel angestoßen und so Gavin den Arm aufgeschlitzt?“ Er lächelte, aber es war ein amüsiertes, mitleidiges, Mach-dich-doch-nicht-lächerlich-Lächeln. So hatte er sie oft angesehen, als sie noch klein gewesen war. Nur dass sie dieses Mal hinter der Fassade noch etwas anderes entdeckte: Überraschung.

Kimberly ballte die Hände zu Fäusten, schluckte den Ärger herunter. „Etwas ist hier. Etwas Böses. Etwas, das mit mir diese Insel verlassen hat und nun bedroht es uns. Sei nicht leichtsinnig, Captain.“

Ohne seine Antwort abzuwarten ging sie davon, fort aus dem Raum, der nach Alkohol und Schmerz und Tod stank, fort von dem Mann, der dieses Unheil über sie alle gebracht hatte.

Aber warst nicht du diejenige, die den Stein mitgebracht hat, stichelte eine leise Stimme in ihr, die immer lauter wurde. Wie schön es doch war, ein Gewissen zu haben. Du hast schon in der Höhle gespürt, dass etwas nicht stimmt. Du hättest den Stein dort lassen können. Dann wäre er begraben gewesen, für immer. Es ist auch deine Schuld.

„Halt die Klappe“, murmelte sie und trat nach einer Wasserpfütze auf Deck. Der frisch eingesetzte Regen tat gut, er wusch einen Teil der Schuldgefühle von ihr, der salzige Meereswind fuhr durch ihre Gedanken und klärte sie wie einen wolkenverhangenen Himmel ein wenig auf. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ die kühlen Tropfen über ihr Gesicht laufen. Wie Tränen rannen sie ihre Wangen hinab, durchnässten ihre Kleider, ihre Haut, spülten für einen Moment alle Sorgen, alle schlechten Erinnerungen und Gefühle von ihr. Für diesen Augenblick war sie einfach nur sie und beinahe erreichte ein Lächeln ihr Gesicht.

Beinahe.

Denn in diesem Moment zuckte ein Bild durch ihren Kopf. Und auf dieses eine folgten weitere, immer mehr und mehr, bis sie zu einem Film wurden, der sich vor ihren inneren Augen abspielte.

Gavins Augen glühten, er verzog das Gesicht zu einer hässlichen, schrecklichen Fratze, scharfe Zähne stülpten sich über blutige Lippen. In einer Hand hielt er den Säbel, fuhr damit langsam, spielerisch über seine Kehle und lächelte. Sein anderer Arm hing schlaff an seinem Körper, blutend, zerrissen.

„Du kannst mich nicht besiegen“, knurrte eine Stimme, die nicht seine eigene war, nicht ganz. Seinen Augen flammten auf, wurden heller und roter, sie glühten wie Holz und von einem Moment auf den anderen waren sie schwarz und trüb. Asche.„Niemand kann das.“

Die Bilder verschwanden so schnell wie sie gekommen waren, ließen Kimberly zitternd und keuchend zurück. Ihr Herz schlug viel zu schnell. Sie sackte ihn die Knie, presste die Hände auf die nassen Planken, um etwas zu spüren, um zu fühlen, dass das Schiff um sie herum echt, dass sie hier war. Was geschah mit ihr?

Die Luft schmeckte auf einmal bitter, nach kaltem Hass und Boshaftigkeit.

Sie musste etwas tun. Sie musste herausfinden, was es mit dem Stein auf sich hatte, wo er her kam, welche Geschichte er hatte.

„Arme, Kimy. Hat sie den kleinen Gavin etwa in den Wahnsinn getrieben? Ja, so ist das mit den Frauen, sie bringen uns um den Verstand.“ Oliver grinste sie anzüglich an, starrte auf ihr durchnässtes Hemd und die Konturen, die sich darunter deutlich abzeichneten.

Kimberly warf ihm einen vernichtenden Blick zu und verschränkte die Arme über ihren Brustwarzen, die deutlich unter dem feuchten, weißen Stoff zu sehen waren. „Lass mich in Ruhe.“

„Wie hast du es angestellt? Hast du ihm den Liebesdienst verweigert? Oder konnte er deine Gesellschaft einfach nicht länger ertragen? Weißt du, Kimy, ich kann unseren Küchenjungen verstehen. Aber es gibt leichtere Methoden.“ Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle und bleckte seine schwarzen Zähne zu einem noch breiteren Grinsen.

Kimberly machte einen Satz auf ihn zu, holte aus und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Ein pochender Schmerz zuckte durch ihre Knöchel, als sie sein Kinn traf, und Oliver stolperte einige Schritte zurück, rutschte auf dem schlüpfrigen Deck aus und fiel polternd auf den Rücken. Er drehte den Kopf und spuckte einen blutigen, verfaulten Zahnstumpf aus.

„Dein Glück, dass es nicht mein Goldzahn war, du kleines Miststück!“

Ehe er Zeit hatte, wieder aufzustehen, saß Kimberly auf ihm und drückte ihren Säbel an seinen Hals. „Halt lieber dein stinkendes Maul, Oliver. Sonst erstickst du vielleicht irgendwann an dem Mist, den du von dir gibst.“

„Wie niedlich. Klein Kimy droht mir.“ Seine schlammbraunen Augen blitzten herausfordernd auf.

Sie drückte ein wenig fester zu, ritzte die schmutzige Haut an, bis ein Tropfen Blut hervorquoll. Saurer Männerschweiß stieg ihr in die Nase und sie glaubte, die Läuse durch seinen verfilzten Vollbart kriechen zu sehen. Sie kannte niemanden, der so sehr stank wie Oliver. In ihrem Mund breitete sich wieder dieser bittere Geschmack aus, sie spürte die Hitze in sich hochsteigen und für einen Moment vernebelten sich ihre Gedanken, als wäre da noch etwas anderes, das sie erneut zu verdrängen versuchte. Und wieder zuckte das Etwas vor ihr zurück, Kimberly glaubte, sein Kreischen zu hören als es verschwand.

Oliver starrte sie mit einer Mischung aus Verwunderung, Neugierde und Beunruhigung an, als sie die Augen zusammenkniff und den Kopf schüttelte, um den letzten Rest Schwindel zu verscheuchen.

Langsam löste Kimberly den Druck des Säbels von seinem Hals, richtete sich auf und ging zielstrebig zurück zur Kombüse. Wenn Gavin recht hatte und der Dämon jetzt erst dabei war, seine Kräfte zu sammeln, wie schlimm würde es dann erst noch werden?

Wenn da nicht dieses Gefühl wäre und dieser bittere Geschmack, hätte sie die Geschichte nie, niemals geglaubt, aber jetzt? Entweder wurde sie verrückt, oder es war wahr und sie wusste nicht, was schlimmer war.

Am liebsten wäre sie über Deck gerannt, zur Reling, hätte sich kräftig abgestoßen und wäre geflogen. Nur einen Moment frei sein, sich fallen lassen, und dann in die kalte Umarmung des Meeres eintauchen. Sie wollte weglaufen vor diesem Etwas, das sie nun bedrohte, wollte das scheinbar verfluchte Schiff hinter sich lassen und hasste sich gleichzeitig für den Gedanken. Sie lief nicht weg, sie nicht. Und wie kam sie nur auf die Idee, ihr Schiff, ihr zu Hause, zu verlassen? Sie könnte nirgendwo hin.

Aber all das änderte nichts an ihrem Verlangen, jetzt woanders zu sein, die Holy Devil für eine gewisse Zeit zu verlassen, bis sie herausgefunden hatte, was los war. Für einen Moment fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen von früher, das sich hinter ihrem Captain versteckte, wenn etwas Schlimmes geschah. Aber diese Zeiten waren längst vorbei.

„Kimberly?“ Sam kam aus der Kombüse und hob automatisch die Hand über den Kopf, als der Regen auf ihn nieder prasselte. „Gavin ist schon auf dem Weg der Besserung, die Wunde ist versorgt. Der Captain will mit ihm und dir noch einmal reden.“

Sie nickte, strich sich die nassen Locken aus dem Gesicht und folgte dem Schiffsarzt in den beengten Raum. Gavin saß aufrecht auf dem alten Tisch und rieb über sein verbundenes Handgelenk, aber als sie die Kombüse betrat, sah er auf.

Kimberly blieb nahe der Tür stehen und schenkte ihm ein scheues Lächeln. Sie zögerte, wusste nicht, ob sie hier stehen bleiben oder sich zu den anderen setzen sollte, wusste nicht, ob es hier und jetzt wieder geschehen würde und wer dieses Mal verletzt werden würde.

Feigling, schalt sie sich und setzte sich auf das freie Stück des Tisches, aber ihre Muskeln blieben angespannt.

Sam räusperte sich und zog das Monokel von seinem Auge. „Also, könnt ihr uns jetzt erzählen, was passiert ist?“

Kimberly zuckte mit den Achseln.

„Ich bin nicht sicher.“ Gavin warf ihr einen fragenden Blick zu und sie hob erneut die Achseln. Erzähl.

„Wir haben uns unterhalten, Kim und ich. Irgendwann auch über den Stein von Anór. Ich kann mich nicht mehr genau an den Inhalt erinnern. Es war … seltsam. Zuerst war alles normal und plötzlich war da dieses Gefühl, diese …“

„Wut“, vollende Kimberly den Satz. „Hass. Ein Brennen im Inneren, ein Gedränge in der Seele.“

Gavin sah sie an und nickte langsam. „Du hast es auch gespürt?“

„Nur kurz. Es war, als … als hätte es aufgegeben, als wollte es mich nicht.“

„Bei mir nicht. Es hat nicht aufgegeben, sondern gewonnen. Ich erinnere mich an Übelkeit und Schwindel und Schmerz. Daran, dass etwas mich aus meinem eigenen Körper drängen wollte. Von da an war alles dunkel, ich erinnere mich nicht.“

Sam und Capatin Barron warfen sich einen Blick zu, die Stirn tief gerunzelt. „Und“, begann Sam, „ihr meint, der Stein sei schuld? Der Stein von Anór?“

Gavin hob unschlüssig die Schultern. „Ich kenne die Geschichten.“

Der Bader nickte. „Ja, ja, von mir. Aber ich hätte nie gedacht …“

„Wir können ihn nicht vernichten“, mischte Barron sich ein.

Drei Augenpaare ruckten zu ihm herum, Münder öffneten sich, um zu protestieren.

„Ich weiß, dass wir es wohl tun müssen. Aber wir können nicht. Wenn es möglich wäre, hätten die Mönche es damals schon getan.“ Er seufzte. „Ich hätte nicht gedacht, dass er so gefährlich ist, dass er jetzt schon so viel Macht hat. Ich dachte, wir hätten Zeit.“

„Was willst du überhaupt mit dem Ding? Warum ist er hier, wenn anscheinend alle außer mir wussten, was es damit auf sich hat?“, fauchte Kimberly. „Ich habe nicht mein Leben riskiert, damit du uns alle umbringen kannst.“

„Der Stein ist hier, weil er Macht hat.“

„Und was für Macht? Zauberkräfte etwa?“, spottete Kimberly und lachte hart, aber die Augen der anderen blieben ernst. „Oh wunderbar. Das wussten also auch schon alle.“

„Ich kenne nur die Geschichten, die man sich erzählt“, warf Gavin ein und legte ihr beruhigend die unverletzte Hand auf den Arm. „Aber anscheinend wissen wir nicht genug.“

Sam stimmte ihm zu. „Keiner von uns weiß, was er wirklich kann. Und wir wussten nicht, dass der Dämon durch ihn Macht hat. Dass er uns kontrollieren kann.“

„Macht, Dämon. Ich verstehe kein Wort.“

„Wir erklären es dir später. Zuerst gibt es eine neue Aufgabe.“

Marionetten-Männer

Der kleine Raum war dunkel eingerichtet, von der Decke hingen tote Tiere, Petroleumlampen und bunte Tücher. An den Wänden waren Malereien in einer Farbe, die aussah wie getrocknetes Blut. Vielleicht war es sogar Blut. Ein muffig-süßer Geruch hing in der Luft, als würden einige der Tiere noch immer verwesen, darüber lag der Gestank von billigem Tabak und anderen verbrannten Substanzen. Die Luft war dick und brannte in der Kehle.

Kimberly sah sich auf den Tischen um, die den Raum verstellten, und vollgestellt mit allem möglichen Krempel waren. Krüge, Tücher, Schmuck, Kräutersäckchen, Kerzen, Spiegel. Bloß keine Bücher.

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, flüsterte Kimberly und warf einen Blick in einen kleinen Spiegel mit goldenem Rahmen. Eine müde junge Frau blickte ihr entgegen und sie sah hastig wieder weg.

„Ja, ganz sicher“, entgegnete Gavin und stupste einen tiefhängenden, ausgestopften Vogel an, der ihm im Weg hing.

„Es sieht aber nicht so aus, als ob wir hier ein kostbares Buch finden würden. Als ob wir hier überhaupt ein Buch finden würden.“

„Es muss hier sein. Wenn es nicht hier ist, existiert es nicht mehr.“

„Vielleicht gab es nie eins. Vielleicht ist dieser Auftrag völlig sinnlos. Und wo ist hier überhaupt die Besitzerin?“

„Doch, es gibt eins. Ganz sicher. Und es ist hier. Es muss hier sein.“

„Hallo?“, rief Kimberly. „Ist hier jemand?“

In einer Ecke raschelte und klimperte ein Perlenvorhang aus bunten Glaskugeln und eine ältere, grimmig dreinblickende Frau kam zu ihnen. „Ja?“, brummte sie. Die grauen Haare waren hochgesteckt und in ihrem Mundwinkel hing eine Zigarre.

„Wir suchen ein Buch.“

Die Frau lachte ein trockenes Lachen, das rasch in einen heftigen Hustenanfall überging. „Ein Buch? Was wollen kleene Kinder wie ihr mit ‘nem Buch? Ihr könnt bestimmt nich‘ einmal lesen.“

„Und Sie, können Sie lesen?“

Die Frau entblößte ein schwarzes Gebiss, als sie breit grinste. „Natürlich. Wie sollte ich sonst meine Zaubersprüche aufsagen, um kleene Kröten wie euch zu verhexen?“

„Wir suchen ein Buch über Steine“, entgegnete Kimberly ungerührt und tastete nach dem Säbel an ihrer Hüfte.

„Wer interessiert sich schon für Steine?“ Sie lachte rau. Es klang nach zu viel Rauch. „Alles nur nutzlose, dreckige Dinger. Kann man sich nichts von kaufen.“

Kimberlys Lächeln wurde eine Spur verschlagener, einen Hauch weniger lieblich. „Und was ist mit dem Stein von Anór? Ich habe gehört, der soll kein nutzloses, dreckiges Ding sein. Er sieht sogar recht schön aus. Haben Sie denn ein Buch über ihn?“

Die Frau zuckte zusammen, räusperte sich dann und paffte weiter an ihrer Zigarre. „Dummes Kind. Das is‘ ‘ne Legende. Darüber gibt’s keene Bücher.“

„Sind Sie die Besitzerin hier?“

Wieder das raue, röchelnde Lachen, das mehr einem Husten glich. „Seh‘ ich so aus? Nein, nein, Albert is‘ nich‘ hier.“

In dem Moment hörte man weiter hinten im Laden ein Rumpeln, hinter dem Vorhang, vor dem die Frau stand.

„Rattenprobleme?“, fragte Kimberly und blinzelte unschuldig.

„Bestimmt nich‘. Hier gibt’s keene Ratten, nich‘ bei uns.“

„Dann wird es wohl dieser Albert sein. Darf ich?“ Sie wollte sich an der Frau vorbeiquetschen, aber die stellte sich ihr in den Weg. Körperhitze und Schweißgeruch schlugen Kimberly entgegen.

„Vergiss es, Kleene.“

Kimberly verdrehte die Augen. „Jetzt reicht’s aber.“ Klirrend erschien der Säbel in ihrer Hand und richtete sich auf die Kehle der alten Frau. „Darf ich jetzt? Bitte?“

Die Frau kniff die Augen zusammen, murrte etwas vor sich hin und gab dann den Weg frei. Kimberly drängte an ihr vorbei und steuerte auf die kleine, schief eingehängte Tür im Flur hinter dem Perlenvorhang zu. Quietschend schwang sie auf, als sie mit dem Fuß gegen das splitternde Holz trat.

Albert war ein stämmiger, bärtiger Kerl, der gerade einen Schluck Bier trank, als die beiden Piraten den Raum beraten. Verblüfft riss er die Augen auf, verschluckte sich und spuckte die Flüssigkeit zurück in den Krug. Kimberly verzog das Gesicht. Es stank im ganzen Zimmer nach schalem Bier und Qualm.

„Kimberly!“, rief er erstaunt aus, als er wieder sprechen konnte, und wischte sich mit einem fleckigen Tuch über den Mund.

Sie zog eine Augenbraue in die Höhe und sah aus dem Augenwinkel, wie Gavin ihr einen überraschten Blick zuwarf. Er kannte den Mann auch nicht. „Sollte ich Sie kennen?“

„Meine Güte, Kimberly. Wie groß du geworden bist. Und wie hübsch. Du bist deiner Mutter wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie lange ist das jetzt her? Ich habe ich dich schon gekannt, als du noch ein kleines, schreiendes Baby warst. Als deine Eltern …“

„Sie meinen, als sie noch lebten?“, unterbrach sie ihn kühl. „Als mein Vater noch nicht mit einer Kugel in der Brust begraben worden und meine Mutter noch nicht zu einem Haufen Asche zerfallen war? Wer sind Sie, dass Sie es wagen, von ihnen zu sprechen?“

Gavin kam einen Schritt näher und hob die Hand, um sie zu berühren, zu beruhigen, ließ es dann aber doch bleiben.