Wenn der Sommer stirbt - C. L. Wilson - E-Book

Wenn der Sommer stirbt E-Book

C. L. Wilson

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Beschreibung

Tödliche Intrigen, verlorene Herzen und ein dunkles Schicksal.

Die Verbindung von Sommerprinzessin Chamsin und dem Winterkönig Wynter Atrialan hat den Krieg zwischen Sommergrund und Winterfels endlich beendet. Doch der Frieden währt nicht lange.
Zu Beginn des Krieges hat Wynter das Eisherz, die Essenz eines dunklen Gottes, in sich aufgenommen, um den Mord seines Bruders zu rächen. Und diese Magie droht nun, ihn zu verschlingen und in einen Todesgott zu verwandeln. Eine Bedrohung, schlimmer als alles, dem Sommer- und Winterländer je gegenüberstanden.
Während Chamsin alles daransetzt, ihren Ehemann zu retten, kommen ihre Feinde ihr gefährlich nahe. Denn viele Einwohner von Winterfels können eine Sommerprinzessin in ihrem Reich einfach nicht akzeptieren ...

»Wilson zieht alle Register in ihrer lang erwarteten Rückkehr zur episch-romantischen Fantasy ... Durch lebendige Details erwacht ihre wunderbar erdachte Welt zum Leben.« PUBLISHERS WEEKLY

Ein episches High-Fantasy-Abenteuer voller Romantik von New York Times Bestsellerautorin C. L. Wilson. Wenn der Sommer stirbt erschien im Original unter dem Titel The Winter King.

Folge Chamsins und Wynters Liebesgeschichte:

Der Winter erwacht
Wenn der Sommer stirbt

Komm erneut mit nach Mystral und folge der Geschichte von Prinzessin Sommer und Prinz Dilys:

Die Wellen singen
Wenn der Sturm tobt

ONE. Wir lieben Young Adult. Auch im eBook.


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Seitenzahl: 516

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Was bisher geschah …

Personen

14. Die Gnade der Berge

15. Helden und Gefahren

16. Sturm zieht auf

17. Das gefrorene Herz des Winters

18. Schnee im Übermaß

19. Belladonna

20. Die Große Jagd

21. Von Helden und Schrecken

22. Liebe, Lügen und Loyalität

23. Vertrauen und verborgene Schätze

24. Die Gabe der Götter

25. Rolands Erbe

26. Seltsame Bettgenossen

27. Carnak

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Alle Titel der Autorin

Impressum

Über dieses Buch

Die Verbindung von Sommerprinzessin Chamsin und dem Winterkönig Wynter Atrialan hat den Krieg zwischen Sommergrund und Winterfels endlich beendet. Doch der Frieden währt nicht lange.

Zu Beginn des Krieges hat Wynter das Eisherz, die Essenz eines dunklen Gottes, in sich aufgenommen, um den Mord seines Bruders zu rächen. Und diese Magie droht nun, ihn zu verschlingen und in einen Todesgott zu verwandeln. Eine Bedrohung, schlimmer als alles, dem Sommer- und Winterländer je gegenüberstanden.

Während Chamsin alles daransetzt, ihren Ehemann zu retten, kommen ihre Feinde ihr gefährlich nahe. Denn viele Einwohner von Winterfels können eine Sommerprinzessin in ihrem Reich einfach nicht akzeptieren …

C. L. WILSON

WENN DER SOMMER STIRBT

Aus dem amerikanischen Englisch von Anita Nirschl

WAS BISHER GESCHAH …

Vor drei Jahren begann ein Krieg zwischen den Reichen Winterfels und Sommergrund, als der Kronerbe von Sommergrund dem Winterkönig die Verlobte und ein Artefakt, das sogenannte Buch der Rätsel, stahl und auf der Flucht dessen Bruder tötete.

Nun ist es Wynter Atrialan, dem Winterkönig, gelungen, Sommergrund einzunehmen. Seiner eisigen Wettermagie konnte das Land nicht widerstehen. Als Wiedergutmachung verlangt er eine der drei Sommerprinzessinnen als Frau.

Wynter ahnt nicht, dass es in Wahrheit vier Prinzessinnen gibt. Chamsin Coruscate ist ebenfalls eine mächtige Wettermagierin, aber sie hat ihre Gabe kaum unter Kontrolle. Das führte zum tragischen Tod ihrer Mutter, als sie noch ein kleines Kind war. Seitdem hasst ihr Vater sie und sieht nun die Gelegenheit, die ungeliebte Tochter loszuwerden. Er zwingt sie, sich als eine ihrer Schwestern auszugeben und Wynter zu heiraten.

Der Betrug ist schnell entdeckt und verfestigt in beiden die Überzeugung, dass es bei dieser Ehe um nichts anderes als Rache und politisches Kalkül geht. Doch völlig unerwartet entdecken Wynter und Chamsin auch Eigenschaften am anderen, die ihnen Respekt abnötigen. Am unerwartetsten ist die Leidenschaft, die sie im Ehebett teilen!

Kann aus Feindschaft womöglich doch Liebe werden?

Keiner der beiden glaubt daran. Vor allem Chamsin verwirrt das Verhalten ihres Ehemanns. Er beschützt und umsorgt sie, wie niemand zuvor es je getan hat. Und doch hat er ihr noch vor der Hochzeit ein Ultimatum gesetzt: Wenn sie ihm nicht innerhalb eines Jahres ein Kind gebiert, wird er sie der Gnade der Berge aussetzen und eine ihrer Schwestern heiraten.

Auch der Hof von Gildenheim, der Stammsitz der Winterkönige, macht es ihr nicht leicht, sich an ihre neue Heimat zu gewöhnen. Man lässt sie spüren, dass sie eine Fremde, eine Außenseiterin ist. Mehr noch: eine Feindin! Und so endet ihr erster Besuch in Konundal, dem Dorf, das Gildenheim am nächsten liegt, beinahe tödlich …

PERSONEN

Wynter Atrialan, König von Winterfels, verfügt über mächtige Wettermagie, Träger des Eisherzens

Chamsin Coruscate, Prinzessin von Sommergrund, Königin von Winterfels, ihre Magie wird von der Sonne gespeist, sie ruft Stürme herbei

Verdan Coruscate, König von Sommergrund, Chamsins Vater

Frühling, Sommer und Herbst Coruscate, Prinzessinnen von Sommergrund, Chamsins Schwestern

Milan Coruscate, Prinz von Sommergrund, Erbe der Rose, Chamsins Bruder

Garrick Atrialan, Prinz von Winterfels, Wynters Bruder, wurde von Milan Coruscate getötet

Elka Villani, Wynters ehemalige Verlobte, floh mit Milan Coruscate

Reika Villani, Elkas Schwester, Hofdame in Gildenheim

Galacia Frey, Hohepriesterin der Göttin Wyrn und Heilkundige, seit Kindertagen mit Wynter befreundet, auch Laci genannt

Valik Arngildr, das Weiße Schwert, Kommandant der Truppen von Winterfels und Stellvertreter des Königs, Wynters ältester Freund, Cousin von Elka und Reika

Tildavera Grünlaub, genannt Tildy, Amme von Chamsin

Belladonna Rosh, genannt Bella, Zofe, die Chamsin nach Winterfels begleitet hat

Krysti, ein Waisenjunge, den Chamsin in ihre Dienste nimmt

Bewohner von Gildenheim: Lordkanzler Barsul Firkin, Lady Melle Firkin, seine Frau, Lord Deervyn Fjall, der Haushofmeister, Vinca Immergrün, die Vorsteherin der Dienerschaft

KAPITEL 14Die Gnade der Berge

Warme Sonnenstrahlen fielen Chamsin ins Gesicht und weckten das vertraute, belebende Kribbeln von Magie in ihren Adern. Sie war noch gänzlich versunken in wohlige Träume. Ihr Zuhause in Sommergrund. Ihr Bruder Milan hatte sich in den Himmelsgarten geschlichen, um spielerische Schwertkämpfe mit ihr auszutragen. Er …

Schlaftrunken drehte sie sich um. Sie wollte noch nicht ins Bewusstsein zurückkehren. Doch der Traum verblasste trotz ihrer angestrengten Bemühungen, ihn festzuhalten.

Chamsin reckte sich – und atmete zischend ein, als Schmerz wie ein Dutzend winziger Nadelstiche in ihren Unterleib fuhr. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Sie starrte auf den Baldachin aus silberblauem Satin über sich und setzte sich auf.

Sie befand sich in ihren Gemächern in Gildenheim, ihrer neuen Heimat, dem Palast ihres Gemahls Wynter Atrialan, des Königs von Winterfels. Sie konnte spüren, dass die Sonne hoch am Himmel stand. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Es war bereits Mittag, und sie lag immer noch im Bett?

Das Flüstern von Stoff und ein kühler Lufthauch veranlassten sie, zur Tür des Schlafzimmers zu blicken. Lady Galacia Frey betrat den Raum.

»Ah, Ihr seid endlich aufgewacht! Gut. Wie fühlt Ihr Euch?«, erkundigte sich die Hohepriesterin der Wyrn kühl.

Cham hob verwundert die Brauen. Wie sie sich fühlte?

»Ihr habt ziemlich viel Blut verloren. Das und die heilenden Kräuter, die ich Euch verabreicht habe, könnten bewirken, dass Ihr Euch noch ein wenig … desorientiert fühlt.«

Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Der Besuch in Konundal. Grausame, krampfartige Schmerzen. Leuchtend rotes Blut, so viel, dass es die Luft mit seinem süßlichen, metallischen Gestank erfüllte. Ihre eigenen heiseren Schreie, als sie sich vor Pein gekrümmt hatte. Das Gefühl, dass ihr Leib innerlich zerriss.

»Ihr hattet sehr viel Glück, Sommerländerin! Wynter war so geistesgegenwärtig, Euch schnellstens in den Palast zurückzubringen, und er hat dafür gesorgt, dass ich bereits alarmiert war und Euch erwartete. Hätte er das nicht getan – und wenn Eure eigene von der Sonne gespeiste Macht nicht so hart dafür gekämpft hätte, Euch zu heilen –, dann wärt Ihr nicht mehr am Leben.«

»Was ist passiert?«

»Ihr wurdet vergiftet«, antwortete Lady Frey mit einem kleinen, eleganten Schulterzucken. »Eine der Schankfrauen der Taverne unten im Dorf hat gestanden, Euch Jungfernröte ins Essen gemischt zu haben, ein Kraut, das hier bei uns heimisch ist. Sie hat ihren Ehemann, ihren Vater und drei ihrer Brüder im Krieg zwischen Sommergrund und Winterfels verloren. Und als sie Eure Bemerkung hörte, Sommergrund habe stärker unter dem Krieg gelitten als Winterfels, verwandelte sich ihr Kummer in Wahnsinn.«

»Sie hat versucht, mich umzubringen?«

»Jungfernröte ist normalerweise nicht tödlich. Es beschleunigt den Pulsschlag und verdünnt das Blut, das dann viel schneller durch die Adern fließt. So verleiht es den Damen, die das Kraut einnehmen, anmutig gerötete Wangen – daher der Name. In größerer Dosis wirkt es als Brechmittel, und die Frau behauptet, sie habe nur gewollt, dass Euch übel wird. Allerdings muss sie weit großzügiger damit umgegangen sein, als sie zugibt. Denn als Ihr bei der Festnahme dieses diebischen Waisenjungen im Gerangel am Bauch getroffen wurdet, muss er mit seinem Tritt ein Blutgefäß in Eurem Schoß verletzt haben – und durch die Jungfernröte in Eurem Kreislauf bekamt Ihr starke Blutungen. Glücklicherweise hat Wynter Euer Blut mit seinem magischen Eisblick abgekühlt und so Euren Herzschlag verlangsamt. Sonst wärt Ihr verblutet, bevor ich die Ursache Eurer Erkrankung bestimmen und Euch ein Gegenmittel hätte verabreichen können.«

»Wo ist Wynter jetzt?«

Lady Frey wandte sich zu einem kleinen Nachttisch, auf dem mehrere kleine Fläschchen standen. »Er kümmert sich um wichtige Staatsangelegenheiten.« Sie entkorkte eine silberblaue Flasche und goss einen dünnen Strahl einer Flüssigkeit in ein Kristallglas, dann fügte sie eine hellgrüne Flüssigkeit aus einer kleinen grünen Phiole und ein Pulver aus einem dritten, verschlossenen Töpfchen hinzu. Sie verrührte das Gebräu mit einem langen, dünnen Silberstab, dann reichte sie es Chamsin. »Hier! Trinkt das. Es ist ein Stärkungsmittel, das Euch helfen wird, wieder zu Kräften zu kommen. Trinkt!«, wiederholte sie, als Chamsin zögerte. Ein Lächeln spielte um Lady Freys blasse Lippen. »Es ist kein Gift, das verspreche ich.«

Cham nahm das Glas und schnupperte verhalten daran. Es roch nach Eisenkraut und nach etwas anderem, das sie nicht erkannte. Zu dem Schluss kommend, dass sie bereits tot wäre, falls Lady Frey ihr tatsächlich übelwollte, setzte sie das Glas an die Lippen und trank. Die Flüssigkeit hatte die leicht eingedickte Konsistenz von warmem Honig und einen scharfen Nachgeschmack, den das zitronige Aroma des Eisenkrauts nicht überdecken konnte. Sie verzog das Gesicht und gab Lady Frey das Glas zurück.

»Gift vielleicht nicht, aber ich denke, das nächste Mal nehme ich einfach nur Brühe oder borgan.« Ihr Magen zog sich bei dem Gedanken an das hiesige Gericht aus unterschiedlichen Fleischsorten, Zwiebeln und Beeren schmerzhaft zusammen.

Die Priesterin lachte leise. »Wynter ist von meinen Tränken auch nicht begeistert. Wenn etwas nicht geschlachtet und gebraten werden kann, will er nichts davon wissen.«

»Hört sich gut an.« Chamsin setzte sich auf und schlug die Bettdecke zurück. Ein Schwindelanfall brachte sie ins Wanken, doch sie kämpfte ihn nieder.

»Wo wollt Ihr denn hin?«

Überrascht sah sie die Priesterin an. »Ich bin wach. Ich stehe auf.«

»Auf gar keinen Fall! Ich verbiete es. Ihr wärt beinahe verblutet. Tatsächlich blutet Ihr noch immer, und das wahrscheinlich noch ein oder zwei Wochen lang, bis Euer Schoß wieder geheilt ist. Ihr habt zwei Tage lang keine Nahrung zu Euch gen…«

»Zwei Tage?!«, rief Cham aus.

Lady Frey verzog ungeduldig das Gesicht, erklärte dann aber: »Es war lebensnotwendig, dass Ihr so reglos wie möglich bliebt, während wir versucht haben, den Blutverlust zu stillen, deshalb habe ich Euch neben dem Gegenmittel auch noch ein Schlafmittel verabreicht. Ihr seid nur deshalb wach, weil die schlimmste Blutung überstanden ist und weil ich es nicht wagte, Euch noch länger ohne Nahrung zu belassen. Ihr bleibt, wo Ihr seid. Ihr verlasst dieses Bett noch mindestens einen weiteren Tag lang nicht.« Sie wandte den Kopf und bellte einen Befehl über die Schulter. »Junge!«

Ein kleiner, weißblonder Kopf lugte zur Tür herein.

»Ist die Zofe der Königin schon aus der Küche zurückgekommen?«

»Nein, Ma’am. Noch nicht.«

Cham starrte das Kind an. Etwas an ihm kam ihr bekannt vor. Der Junge warf einen schüchternen, zögernden Blick in ihre Richtung, und als seine silberblauen Augen ihren begegneten, dämmerte die Erinnerung. Der Junge. Der kleine Taschendieb vom Festplatz in Konundal, dem Dorf am Fuß des Berges von Gildenheim. Wie war noch gleich sein Name?

»Krysti?«

Der Junge schrak zusammen, als wäre soeben ein Gespenst mit lautem »Buh!« aus dem Bett gesprungen, dann machte er hastig eine ungelenke Verbeugung. »Euer Gnaden.«

Jemand hatte ihn von Kopf bis Fuß saubergeschrubbt und seine schäbigen Lumpen durch makellose, gut geschnittene Kleider ersetzt. Sein Gesicht war klein und schmal, mit einem spitzen Kinn, geschwungenen Augenbrauen und silbergrauen Sommersprossen, die wie verstreute Schneeflocken auf seinem Nasenrücken tanzten. Seine Augen standen schräg, und die Ohren, die aus den dichten, hellen Zotteln auf seinem Kopf ragten, liefen leicht spitz zu. Würde sich ein Schneefuchs in einen Jungen verwandeln, dann, dachte Cham, würde er genau wie Krysti aussehen.

»Es überrascht mich, dich hier zu sehen«, sagte sie.

Das Kind zuckte die Achseln und schnitt eine Grimasse. »Ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt. Lord Valik hat mich hergebracht, um mich zu verhören, an dem Tag, an dem Ihr … An dem Tag, an dem Ihr krank wurdet.«

»Aber er hat dich inzwischen gehen lassen. Du bist nicht in Ketten, und ganz offensichtlich hat sich jemand um dich gekümmert.« Sie deutete auf seine sauberen Kleider und das ordentliche Haar.

»Als sie das mit dem Gift herausgefunden hatten, haben sie mich gehen lassen.«

»Und dennoch bist du immer noch hier. Ich bin sicher, du hättest davonlaufen können, wenn du gewollt hättest. Warum hast du es nicht getan?«

»Ihr habt gesagt, dass ich Euch ein Jahr lang meine Dienste schulde. Der König hat befohlen, dass ich bleibe, um meine Schuld abzuleisten.« Krysti ließ den Kopf hängen und starrte intensiv hinunter auf seine Hände. Er hatte die Finger so fest ineinander verschlungen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich hätte den Schleuderbogen nicht stehlen sollen. So haben meine Eltern mich nicht erzogen. Sie waren ehrliche Leute. Ich habe ihn nur genommen, weil ich Hunger hatte! Mit meinen Fallen habe ich nicht viel gefangen, also dachte ich, mit einem Schleuderbogen könnte ich mehr Glück haben.« Er hob den Blick und sah sie aufrichtig an. »Ehrlich.«

»Ich glaube dir. Aber da du nun, wie es scheint, in meinen Diensten stehst, muss ich dich warnen: In Zukunft werde ich Diebstahl nicht dulden. Ist das klar? Du bist ein Page der neuen Königin von Winterfels. Dein Verhalten fällt auf mich zurück.«

Das Kind nickte. »Ja, Ma’am.«

»Ausgezeichnet. Dann, als deine erste Aufgabe, mein junger Page, finde bitte meine Zofe Bella und sag ihr, dass ich wünsche, mich anzukleiden.«

Der Junge verbeugte sich und flitzte davon. Als er fort war, hob Lady Frey kühl eine Augenbraue. »Ich sagte Euch doch, wie knapp Ihr dem Tod entkommen seid, Euer Gnaden. Ich muss darauf bestehen, dass Ihr im Bett bleibt, um Euch zu erholen. Falls nötig, werde ich den König rufen lassen. Er wird dafür sorgen, dass Ihr Euch fügt.«

Chamsin lächelte herausfordernd. »Lady Frey, es gibt zwei Dinge, die Ihr über mich wissen solltet: Erstens bin ich weitaus schwerer umzubringen, als es mir irgendjemand zutrauen würde. Mein Vater hat es jahrelang ohne Erfolg versucht. Ich bin wach und am Leben, was bedeutet, dass ich den Anschlag der trauernden Witwe bereits überstanden habe. Solange ich anstrengende Aktivitäten meide, sollten Sonnenschein und frische Luft mich bis morgen Abend vollständig wiederhergestellt haben. Und zweitens«, Cham beugte sich vor, und ihr Lächeln verschwand, »kann niemand – weder mein Vater noch mein Gemahl noch der Sonnengott persönlich – mich zu etwas zwingen, was ich nicht aus eigenem freien Willen tun will.«

Lady Freys Miene blieb unverändert. »Ihr seid noch sehr jung für so eine kühne Behauptung. Das Leben neigt dazu, solche Herausforderungen anzunehmen und sie uns um die Ohren zu schlagen.«

»Was veranlasst Euch dazu, zu glauben, dass es das nicht bereits unzählige Male getan hat?«

Zu Chams Überraschung bekam die kalte Maske der Priesterin einen Sprung. Sie lächelte. »Ah, jetzt verstehe ich, warum Wynter von Euch so gefesselt ist! Ihr seid eine leibhaftige Valkyre. Er kann sich vermutlich nicht entscheiden, ob er Euch beschützen, bekämpfen oder auf den Rücken werfen und besteigen soll. Wyrn steh ihm bei!«

Cham versuchte, sich ihre Erschütterung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte Wynter gefesselt? Meinte die Frau das ernst?

»Was für einen prächtigen Erben Ihr zeugen werdet! Wynter hat gut gewählt.« Immer noch lächelnd begann Lady Frey, ihre Utensilien in ein kleines, mit Fell ausgekleidetes Köfferchen zu packen.

»Er hat mich überhaupt nicht gewählt.« Sie verspürte das dringende Bedürfnis, Lady Frey ihr Lächeln vom Gesicht zu wischen. »Er wollte eine meiner Schwestern, und mein Va … der Sommerkönig hat ihn durch eine List dazu gebracht, stattdessen mich zu heiraten.«

»Hat er das wirklich?«, lachte Lady Frey leise und schüttelte den Kopf.

»Ihr findet das amüsant? Wynter tat das jedenfalls nicht, das kann ich Euch versichern.«

»Das ist es nicht, was ich amüsant finde … Nun ja, schon, aber nicht so, wie Ihr denkt.«

»Erklärt Euch!«

»Ihr sagt, dass niemand – nicht einmal die Götter – Euch dazu zwingen könnte, etwas zu akzeptieren, das nicht Eurer eigenen Wahl entspricht. Wynter ist da nicht anders. Oder erkennt Ihr Eure eigenen Eigenschaften in anderen nicht?«

»Ich …« Cham runzelte die Stirn. »Er hat einen Vertrag unterzeichnet! Er konnte ihn nicht mehr brechen, sobald unsere Ehe vollzogen war.«

»Mein liebes Mädchen! Wynter Atrialan hat sich weder um unsere Gesetze noch um die Bitten und Drohungen seines Rates, jahrhundertealte Tabus oder sein eigenes, beinahe sicheres Verderben geschert, als er das Eisherz in sich aufnahm, die verbotene, die unheilvollste Magie von Winterfels. Mit seiner Hilfe nahm er drei Jahre lang tödliche Rache an ganz Sommergrund, Rache für die Verbrechen Eures Bruders. Er war bereit, jeden Sommerländer vom Angesicht dieser Erde zu tilgen. Glaubt Ihr allen Ernstes, etwas so Unbedeutendes wie ein Stück Papier und eine Hochzeitszeremonie hätten ihn von irgendetwas abhalten können, wenn er Euch nicht zur Braut hätte haben wollen?«

Die Priesterin schnaubte und schüttelte den Kopf. »Wynter hätte Euch den Kopf abgeschlagen. Er hätte Eure drei Schwestern als Mätressen genommen und jeden niedergemetzelt, der sonst noch an dem Täuschungsmanöver beteiligt war. Und er hätte Eure Hauptstadt Vera Sola auf der Stelle zu Eis gefrieren lassen – nachdem er Eurem Vater bei lebendigem Leibe die Eingeweide herausgerissen und sie den Schneewölfen zum Fraß vorgeworfen hätte, natürlich.«

Chams Kehle fühlte sich seltsam eng an. Sie schluckte. »Das hätte er nicht getan. Die Ehre hätte ihn dazu verpflichtet, sich an die Vereinbarung zu halten.«

Lady Freys Augen füllten sich mit einer Mischung aus Mitleid, Verärgerung und Sympathie. »Ehre hätte keine Rolle dabei gespielt. Er trägt das Eisherz in sich! Er hat diese Macht drei ganze Jahre lang ausgekostet.« Als sie Chams wachsames Gesicht musterte, begriff sie. »Ihr wisst nicht, was das bedeutet, nicht wahr? Er hat es Euch nicht gesagt.«

»Mir was gesagt?«

Lady Frey schloss den Deckel ihres Köfferchens und setzte sich auf den Rand von Chamsins Bett. »Das Eisherz ist eine furchterregende Macht. Wer es in sich aufnimmt, erfriert von innen heraus. Mitgefühl und Ehre sind bald nur noch vage Erinnerungen, leicht zu vergessen, ebenso leicht zu verleugnen. Wynters Herz – seine Menschlichkeit – erfriert. Er stirbt. Wie ich ihm bereits sagte, erstaunt es mich, dass er überhaupt so lange durchgehalten hat. Ein schwächerer Mann wäre schon längst erlegen.« Ihre Miene wurde nachdenklich. »Wenn ich so darüber nachdenke, ist das zu einem großen Teil Valiks Verdienst. Wyn liebt ihn wie einen Bruder.«

Cham massierte sich die Schläfen und versuchte, sich ganz auf das zu konzentrieren, was die Priesterin sagte. »Wynter stirbt, sagt Ihr? Seine Menschlichkeit erfriert? Aber wie konnte Valik ihm da helfen?«

»Durch Liebe, mein Kind. Das ist es, worauf es ankommt. Wyn verliert seine Fähigkeit zu lieben – irgendetwas zu fühlen. Und sobald jedes warme Gefühl verschwunden ist, hört der Mann, den wir als Wynter kennen, auf, zu existieren. Stattdessen wird ein Ungeheuer von unvorstellbarer Macht in seinem Körper wohnen – eine dunkle Gottheit, die einst ein Mensch war: Rorjak, der Eiskönig.«

»Der böse Gemahl der Göttin Wyrn? Der, den ihr Bruder Thorgyll der Sage nach mit seinen Speeren getötet hat?«

»Ja.«

Chamsin sackte zurück in die Kissen. Sie hatte die Legende von Thorgyll und seinen mächtigen Eisspeeren gelesen: Er hatte die Liebe der Göttin gegen Macht eingetauscht. »Warum erzählt Ihr mir das? Ich bin eine Erbin des Sommerthrons. Habt Ihr keine Angst, dass ich dieses Wissen benutzen könnte, um Winterfels zu zerstören?«

Lady Frey lachte, aber es war kein fröhlicher Laut. »Nur ein Wahnsinniger jenseits aller Vernunft könnte so etwas auch nur in Betracht ziehen.« Sie beugte sich vor, die Augen trostlos. »Hört mich an, Sommerländerin, ich warne Euch eindringlich: Falls der Eiskönig wiedergeboren wird, wird es für kein menschliches Wesen jemals wieder einen Sieg geben. Die Rache, die Wynter an Eurem Land geübt hat, ist nichts im Vergleich zu dem, was Rorjak tun wird. Er wird die ganze Welt in endlosen Winter stürzen. Die Macht Eurer Familie, die von der Sonne herrührt, wird schwinden. Die Frostriesen und ihre wolfsähnlichen, bestialischen Schoßhunde, die Garm, werden an Rorjaks Seite regieren, und die Menschheit wird nichts anderes mehr sein als Fleisch für ihre Tafel. Das ist der Tag, für den die Frostriesen leben: Carnak, das Ende der Welt.«

Obwohl das Gift ihren Körper längst verlassen hatte, zog sich Chams Magen unangenehm zusammen. »Wenn diese Magie so schrecklich ist – warum um alles in der Welt lasst Ihr sie unbewacht, sodass jeder sie benutzen kann?«

»Unbewacht? Das Eisherz ist der am sorgsamsten verborgene und am tödlichsten verteidigte Schatz von Winterfels. Es ist die Essenz des Gottkönigs Rorjak, des sterblich geborenen Mannes, den Wyrn so sehr liebte, dass sie ihm Unsterblichkeit verlieh. Wegen dieses Geschenks kann seine göttliche Essenz nie zerstört werden, auch wenn sein Körper es wurde. Nachdem also Thorgyll ihn mit Wyrns Speeren getötet hatte, nahm er diese Essenz und verbarg sie an einem Ort, den er für sicher erachtete. Tausende Jahre lang war er es auch. Viele haben versucht, das Eisherz in sich aufzunehmen, aber nur sehr wenigen gelang es überhaupt, lebend den Ort seiner Verwahrung zu erreichen. Wynter ist einer der wenigen. Ich hätte es wissen sollen! Dieser Mann, der im Alter von nicht mal sechzehn Jahren eigenhändig einen Frostriesen erschlug, ist schließlich selbst bereits eine Legende.«

»Wenn das Eisherz ihn vernichtet, wie können wir das verhindern?«

»Gebärt ihm ein Kind. Es war die Liebe zu seinem Bruder – der Kummer über seinen Tod –, die Wynter dazu getrieben hat, diesen Weg zu gehen. Die Liebe zu seinem Kind ist es, wovon er sich Rettung erhofft.«

»Liebe kann das Eisherz zum Schmelzen bringen?«

»Sie ist das Einzige, das das vermag.«

»Deshalb sagte er, dass er mich töten und eine meiner Schwestern zur Frau nehmen würde, wenn ich ihm binnen Jahresfrist kein Kind schenke.«

Die Augenbrauen der Priesterin schnellten in die Höhe. »Er hat gesagt, dass er Euch tötet, wenn Ihr ihm kein Kind schenkt?«

»Mehrmals. Nur hat er versucht, es nach Winterfelsart zu beschönigen, indem er sagte, dass er mich der Gnade der Berge aussetzen würde.«

Mit finsterer Miene verdrehte Lady Frey die Augen himmelwärts. »Was sind Männer doch für Narren! Wyrn behüte mich vor ihnen.« Mit eindringlichem Blick beugte sie sich vor. »Hört mich an, Chamsin. Wynter bleibt kein Jahr mehr. Der Griff des Eisherzens ist sehr stark, und wenn er sich nicht davon befreien kann, wird er nicht mehr lange überleben. Was die Gnade der Berge betrifft, nehme ich an, dass er Euch in Bezug auf dessen wahre Bedeutung bewusst in die Irre geführt hat. Zweifellos dachte er, Furcht wäre die beste Möglichkeit, Euch gefügig zu machen. Was für ein gewaltiger Hornochse von einem Mann! Er versteht von Frauen mit dem Herzen eines Kriegers ebenso wenig wie von Frauen mit dem Herzen einer Schlange.« Sie gab ein Geräusch von sich, das dem Knurren eines Wolfes sehr ähnlich war.

Trotz ihrer anfänglichen Abneigung gegenüber Lady Frey mit ihrer kühlen Distanziertheit und ihren Augen wie Eisdolche wurde Chamsin nun bewusst, dass sie diese Frau durchaus gern haben könnte.

Die Priesterin musterte Chamsin derweil mit stummer Überlegung. »Vielleicht solltet Ihr heute tatsächlich das Bett verlassen«, meinte sie schließlich. »Ich weiß, dass Ihr das ohnehin tun werdet, sobald ich aus dem Zimmer gehe, und so kann ich Euch wenigstens noch ein paar Stunden im Auge behalten.« Sie erhob sich und rief, ohne den Kopf zu drehen: »Komm rein, Sommerländerin! Sieh zu, dass deine Herrin so viel isst, wie sie kann, und dann hilf ihr beim Ankleiden. Pack sie warm ein. Krysti, lauf zu den Ställen und sag Bron, er soll eine Sänfte vorbereiten.« An Chamsin gewandt fügte sie hinzu: »Und Ihr versprecht mir, in der Sänfte zu bleiben und mir sofort zu sagen, wenn Ihr Euch auch nur das kleinste bisschen unwohl fühlt. Versprecht es, oder aus der Sache wird nichts!«

»Versprochen.« Das Wort platzte aus ihr heraus, bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte. Sie blinzelte erstaunt und stieß ein trockenes Lachen aus. »Was habe ich da eigentlich gerade versprochen? Wohin bringt Ihr mich?«

Lady Frey richtete sich zu voller Größe auf. Sie wirkte eisig, wunderschön und hoheitsvoll. »Zu den Hängen von Berg Gherd, um Zeuge der Gnade der Berge zu werden.«

*

Da sowohl Valik als auch Wynter fort waren, gab es niemanden, der Lady Frey widersprechen konnte. Lord Firkin versuchte es, gab unter dem eisigen Blick der Priesterin jedoch schnell klein bei. Noch in derselben Stunde ritt die kleine Gruppe los: sechs bewaffnete Wachen, Lady Frey auf einer schimmernd weißen Schönheit von einem Pferd, Krysti, dick eingemummt auf einem zottigen hellbraunen Bergpony, und Chamsin in einer mit Vorhängen versehenen Sänfte, die von zwei großen Zugpferden getragen wurde.

Die Sänfte war als Fortbewegungsmittel nicht ganz so magenunfreundlich, wie es die Kutsche gewesen war, mit der sie nach Gildenheim gekommen war. Außerdem linderte es Chamsins Reisekrankheit etwas, die Vorhänge offen zu lassen. Die frische, kalte Luft auf ihrem Gesicht zu spüren und zu sehen, wohin sie ritten, hielt die schlimmste Übelkeit in Zaum.

Der Ausflug auf die Anhöhen des Berges Gherd erwies sich als zweistündiger Marsch über raues Terrain, der mit der nervenzerreißenden Überquerung einer bröckelnden Steinbrücke endete, die sich über einen tiefen Abgrund spannte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke, vielleicht eine halbe Meile vom eisbedeckten Gipfel entfernt, schmiegte sich eine kleine runde Hütte an den Hang. Rauch stieg kräuselnd aus dem Kamin empor, und als sie näher kamen, traten ihnen zwei Wachen in lederner Rüstung entgegen, um sie zu begrüßen.

»Wo sind sie?«, fragte Lady Frey. »Und wann sind sie los?«

»Zweite Erhebung, etwa vor einer Stunde«, kam die kryptische Antwort.

»Meinen Dank.« Die Priesterin wendete ihren Schimmel nach links auf einen felsigen Pfad, der sich den Hang entlangwand. Der Rest der Gruppe folgte ihr einer hinter dem anderen.

Der Weg führte abwärts, und die Luft wurde etwas wärmer, als sie mehrere hundert Fuß weit abstiegen. Nüchterne, von Schnee und Flechten bedeckte Felsen wichen Teppichen aus bodendeckendem Wacholder. Der felsige Pfad gabelte sich. Eine der Abzweigungen führte noch weiter abwärts zu den tiefer liegenden Anhöhen, doch der folgten sie nicht. Stattdessen wählten sie die Abzweigung, die parallel zum Hang weiterführte. Wenige Minuten später wurden die Pferde langsamer, dann kamen sie zum Stillstand. Chamsin streckte den Kopf aus der Sänfte, um nachzusehen, was vor sich ging, doch alles, was sie sehen konnte, waren die Hinterteile der Pferde ihrer Wachen. Das Geräusch sich nähernder Reiter hallte von den felsigen Hängen wider. Sie wusste, wer es war, noch bevor sie das weiß leuchtende Fell von Hodri, Wynters Pferd, und das grimmige Gesicht und die blitzenden Augen ihres Gemahls erblickte. Schon allein seine Nähe jagte ihr einen warmen, elektrisierenden Schauer durch die Adern.

Die Reaktion schien nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Wynter warf nur einen einzigen Blick auf sie und bellte: »Schließ die Vorhänge, Weib! Und zieh diese Felle enger um dich, bevor du dir noch den Tod holst!« Er riss sein Pferd herum. »Verdammt noch mal, Laci! Was in Wyrns Namen hast du dir dabei gedacht? Vor zwei Tagen war sie noch dem Tode nahe, und heute karrst du sie durch die Berge? Bist du verrückt, oder versuchst du nur, das zu Ende zu bringen, was diese törichte Schankfrau angefangen hat?«

Laci? Cham streckte erneut den Kopf zwischen den Vorhängen der Sänfte hervor, um die Konfrontation zwischen Wynter und Lady Frey zu beobachten. Er schien sich nicht im Geringsten vor ihr zu fürchten, sondern schleuderte ihr für die ›völlige geistige Umnachtung‹, die Königin hierher zu bringen, stattdessen sogar Beleidigungen entgegen.

Seine Wut schien Lady Frey weder zu überraschen noch zu beeindrucken. »Ich habe sie hergebracht, damit sie Zeugin der Gnade der Berge wird!«, schnauzte sie zurück. »Da sie die Geschädigte ist, hat sie jedes Recht dazu, und das weißt du auch. Außerdem hat irgendein Narr bei ihr den Eindruck erweckt, die Gnade der Berge käme einem sicheren Todesurteil gleich – und ihr gesagt, dass das ihr Schicksal wäre, sollte sie nicht binnen Jahresfrist dein Kind gebären!«

Einen Augenblick lang wirkte Wynter überrumpelt – und ausnehmend schuldbewusst –, doch dann verhärtete sich sein Kiefer. »Sie hat ihre eigenen Schlüsse gezogen«, knurrte er. »Ich habe ihr keine Lügen erzählt.«

»Du Idiot! Holzkopf! Pah! Ich sollte dich einfach deinem Schicksal überlassen! Hätte ich dich auch nur ein kleines bisschen weniger gern, dann würde ich genau das tun.« Wütend funkelte die Priesterin ihn an. Ihre gewohnte Aura eisiger Distanziertheit lag völlig in Scherben.

Cham lächelte. Oh ja, sie könnte Lady Frey sehr leicht gern haben!

»Außerdem«, fuhr die Priesterin fort, »war sie wach. Hätte ich sie sich selbst überlassen, dann würde sie im ganzen Palast herumlaufen. So konnte ich sie erfolgreich dazu bringen, noch ein paar Stunden in dieser Sänfte zu liegen.«

Chams Lächeln verwandelte sich in ein Stirnrunzeln. Andererseits – vielleicht doch nicht so leicht. Sie mochte es gar nicht, manipuliert zu werden.

Wynter wandte den Kopf und ertappte Cham dabei, dass sie ihn ansah. Seine Nasenflügel bebten. »Na schön!«, blaffte er. »Zeig es ihr. Aber dann geht es schnurstracks zurück nach Gildenheim, und sie bleibt für den Rest des Abends und den ganzen morgigen Tag im Bett, ohne sich zu beschweren.«

»Einverstanden«, antwortete Lady Frey, bevor Cham den Mund öffnen konnte. »Und wenn ich sie wieder betäuben muss.« Sie warf Chamsin einen Blick so eisigen Versprechens zu, dass diese finster das Gesicht verzog und wieder zurück in die Kissen der Sänfte sank.

Wynter und seine Reiter wendeten die Pferde und ritten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Übrigen folgten ihnen. Mehrere Minuten später verbreiterte sich der Pfad zu einem kleinen Plateau, das in den Berghang geschlagen war. Hier war der Schnee niedergetrampelt.

Die Pferde, die die Sänfte trugen, blieben stehen. Wynter schob die Vorhänge zur Seite und hob Chamsin heraus, setzte sie aber nicht ab. »Du solltest nicht herumlaufen«, knurrte er, als sie protestierte. »Du solltest überhaupt nicht hier sein, also sei still, oder ich stopfe dich zurück in diese Sänfte und lasse die Pferde zurück nach Gildenheim galoppieren.«

Sie zog eine finstere Miene, um ihre Missbilligung über seine selbstherrliche Art zum Ausdruck zu bringen, doch gleich darauf versuchte sie, es sich nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, dass eine scharfe Windböe sie dazu brachte, sich schutzsuchend enger an ihn zu schmiegen. Der Boden war von Huf- und Stiefelabdrücken übersät. An der gegenüberliegenden Seite des Plateaus hatte man einige große Eisenringe in den Berg getrieben. Ein Haufen aus Ketten und zwei leere Handschellen lagen neben den mittleren Ringen im Schnee.

Die Schankfrau war nirgends zu entdecken.

»Hier ist niemand«, stellte Chamsin fest.

»Die Berge waren gnädig«, brummte Wynter.

Mit funkelnden Augen versetzte sie ihm einen Stoß gegen den stählernen Brustpanzer. »Genug jetzt mit diesem kryptischen Unsinn! Sag es geradeheraus: Was ist mit der Frau aus der Taverne geschehen? Wo ist sie hin? Ist sie tot? Hast du sie überhaupt hierher gebracht?«

Er presste die Lippen zusammen und marschierte zur gegenüberliegenden Seite des Plateaus. Als sie sich dem Rand näherten, konnte Chamsin einen weiteren Pfad erkennen, der den Berg hinunterführte. Frische Fußspuren hatten den Schnee niedergedrückt. Wynter deutete nach unten, wo ein halbes Dutzend dick eingepackter Leute auf Pferden den Abhang hinunterstiegen. »Dort ist sie.«

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Chamsin die Gruppe. »Am Leben?«

»Wider besseres Wissen.« Grimmige Unzufriedenheit grollte in seiner Stimme. »Ich hätte sie in Stücke gehauen, als man sie in den Palast brachte und mir sagte, was sie getan hatte, aber Laci, Valik und Barsul haben mich davon abgehalten.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das Wintervolk ist die Gnade der Berge. Wir leben in einer unwirtlichen Welt, in der unser Überleben oft voneinander abhängt. In den Clans ist kein Platz für Leute, denen man nicht vertrauen kann, aber wir sind keine Unmenschen oder Barbaren. Die Frau hat zugegeben, Jungfernröte in dein Essen gemischt zu haben. Aber selbst Laci war der Meinung, dass es Dutzende wirksamere Gifte gibt, mit denen sie deinen Tod hätte sicherstellen können, wenn sie wirklich im Sinn gehabt hätte, dich zu ermorden. Diese Leute dort unten sind Bewohner von Konundal, die bereit waren, den Berg zu erklimmen und ihr Gnade zu gewähren. Sie wird aus dieser Gegend fortgebracht werden. Falls sie je zurückkehrt oder ein anderes schweres Verbrechen begeht, wird sie auf den Gletschern ausgesetzt und dem Tode überlassen.«

Chamsin sah der kleinen Gruppe zu, wie sie sich langsam ihren Weg den Berg hinunter bahnte. »Und wenn sie mich getötet hätte – wenn auch nur aus Versehen?«

Wynters Kiefer verhärtete sich. »Dann hätte keine Gnade sie retten können. Du bist meine Gemahlin, du stehst unter meinem Schutz. Wer dir schadet, schadet mir.«

»Und wenn ich dir nicht das Kind schenke, das du forderst? Würdest du mich wirklich an diesen Berg ketten und mich dem Tod ins Auge sehen lassen?«

»Ich bin der König von Winterfels, und du bist meine Gemahlin. Ich kann mir keine andere Frau nehmen, solange du lebst. Die Gnade der Berge ist ein symbolischer Tod. Genauso, wie diese Frau jetzt für uns gestorben ist, würdest du es sein.«

Sie lachte ungläubig. »Symbolisch oder tatsächlich? Glaubst du wirklich, deine Landsleute würden diesen Berg erklimmen, um mir, der Tochter des Sommerkönigs, Gnade zu gewähren?«

Er hielt ihrem Blick unerschütterlich stand. »Das, Chamsin, hängt ganz allein von dir ab. Gib uns Grund, zu glauben, dass du Gnade wert bist, dann habe ich keinen Zweifel daran, dass du sie finden wirst.«

KAPITEL 15Helden und Gefahren

Wynters Worte gingen Chamsin während des gesamten Rückwegs nach Gildenheim nicht mehr aus dem Kopf. Ihr ursprünglicher Plan war gewesen, sich einzuleben und mit den Bewohnern anzufreunden. Sie hatte vorgehabt, alle Informationen, die sie ihnen entlocken konnte, dazu zu benutzen, dem drohenden Tod zu entkommen. Jetzt, so erkannte sie, hatte sie noch mehr Grund, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Genau diese Leute waren es, die die Macht besaßen, sie zu befreien, falls sie tatsächlich angekettet auf den Hängen des Berges Gherd enden würde.

Als sie den Palast erreichten, hob Wynter sie aus der Sänfte und trug sie in ihr Schlafgemach. Mit einem warnenden »Bleib hier!« legte er sie auf der weichen, fellbedeckten Matratze ab, dann war er fort. Das prickelnde Gefühl sinnlicher Erregung ging mit ihm, aber sie war zu stolz, ihn zurückzurufen.

Die Versuchung, aus dem Bett aufzustehen, war groß, aber er war so weise gewesen, ihr das Versprechen abzunehmen, dass sie es nicht tun würde. Welche Freude es ihr auch bereitete, dass er ihrem Wort vertraute – sie wurde durch seine Bereitschaft, genau das gegen sie zu verwenden, wieder zunichtegemacht. Aber sie hatte ihr Versprechen gegeben. Also blieb sie bis auf gelegentliche Abstecher ins Badezimmer die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag im Bett, sog das Licht der Sonne auf und ließ ihren Körper heilen.

Sie hätte vor Langeweile sicher den Verstand verloren, wäre Krysti nicht gewesen. Er leistete ihr den ganzen zweiten Tag über Gesellschaft und erwies sich als sehr angenehmer Unterhalter. Von irgendwoher erbettelte er sich einen Satz Spielkarten, brachte ihr ein Spiel namens ›Asse raus‹ bei, und sie spielten zwei Stunden lang. Zu Beginn warnte er sie, dass er sie nicht gewinnen lassen würde, und das tat er auch nicht. Er schlug sie während der ersten Stunde bei jeder Partie, doch sie musterte ihn nur mit schmalen Augen, schob entschlossen den Unterkiefer vor und forderte eine Revanche. Gegen Ende der zweiten Stunde gewann sie ihre erste Partie.

»Du bist ein guter Gegner«, gestand sie mit widerstrebender Bewunderung, »aber allmählich bekomme ich den Dreh raus. Erwarte nicht, dass du morgen wieder so oft gewinnst.«

Bei der finsteren Miene, die sie nicht ganz verbergen konnte, musste er lächeln. »Ihr verliert nicht gern.«

»Stimmt«, gab sie zu. »Das habe ich noch nie. In der Hinsicht bin ich wie Roland.«

»Roland?«

Entgeistert starrte sie ihn an. Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung hatte, von wem sie sprach. »Roland Soldeus«, half sie ihm auf die Sprünge. »Der Held von Sommergrund? Der König aus alter Zeit, der die Invasion einer fünfzigtausend Mann starken Streitmacht mit nur dreitausend Kriegern zurückgeschlagen hat?« Immer noch kein Erkennen. Sie zögerte einen Moment, als sie an ihren Versuch dachte, den Kindern der Burgbediensteten etwas über die Geschichte Sommergrunds beizubringen, und die Abweisung, mit der sie darauf reagiert hatten. Doch dann schob sie die schmerzhafte Erinnerung von sich. Krysti hatte ihr ein Jahr lang seine Dienste versprochen. Er konnte ihr schlecht den Rücken kehren.

»Roland war einer meiner Vorfahren. Nun ja«, korrigierte sie, »eigentlich war sein Bruder mein Vorfahre. Ich habe ein Buch über seine berühmtesten Schlachten dort drüben auf dem Tisch. Hol es mir, dann lese ich dir von dem größten Helden vor, der je gelebt hat.«

Krysti kletterte auf die andere Seite des Bettes und brachte ihr den zerlesenen Band mit den in den Buchrücken geprägten Silberlettern. Cham schlug es auf und begann, vorzulesen.

Im Nu war sie von der Sage von Roland dem Siegreichen so gefesselt wie eh und je. Mit leuchtenden Augen, das Kinn in die Hände gestützt, lag Krysti neben ihr auf dem Bett und sog die Abenteuer des legendären Kriegers von Sommergrund mit ebenso eifriger Begeisterung in sich auf wie sie. Und als sie die Geschichte von Rolands letzter und bedeutendster Schlacht vorlas, schnürte es ihr wie jedes Mal die Kehle zu, als sie die Stelle erreichte, wo sein Horn einen einsamen, bewegenden Ruf über das Tal der Toten und Sterbenden ertönen ließ. Roland versammelte seine verbliebenen Mannen zu einem letzten, verzweifelten Angriff gegen die vordringenden Feinde.

»›Mit wehend’ Fahnen ritten sie,Die letzten hundert Krieger.Der Sonne leuchtend’ Auge schienAuf ihre Rüstung nieder.Wer ritt an ihrer Spitze dort,In gold’nem Harnisch’ Glanz,Die Stirn von Sonnenlicht gekröntAls wie ein Strahlenkranz?Roland war’s, der Siegreiche,Der wack’re und furchtlose.Roland war’s, der wahre Erb’Von Sommergrund und Rose.Oh sagt, wird je ein Mann gebor’n,So ruhmesreich wie jene,Die größten Söhne Sommergrunds,Geführt von ihrem König?‹«

Krysti hatte die Hände zu Fäusten geballt, und sein kleines Gesicht war gerötet und angespannt. »Haben sie es geschafft? Haben sie sie besiegt?«

Cham lächelte ihn an, wie ihre Amme Tildy es so oft bei ihr getan hatte. »Nur Geduld, Krysti! Lass mich zu Ende lesen, dann wirst du es erfahren.« Sie beugte den Kopf wieder über das Buch und las an der Stelle weiter, wo sie aufgehört hatte. Der letzte Angriff von Roland und seinen hundert Mannen nahm mehr als fünfzehn Seiten des Buches in Anspruch. Bis ins kleinste Detail wurde beschrieben, wie tapfer jene großen Krieger gekämpft hatten, wie die mächtigen Helden gefallen waren, wie Wolken aufzogen und graue Düsternis über das Schlachtfeld legten, als trauere der Himmel selbst über ihr Hinscheiden. Schließlich blieben nur noch Roland und ein Dutzend seiner Männer auf einem Feld zurück, das von Blut getränkt und von toten Feinden übersät war. Um sie herum marschierten die letzten Zehntausend der feindlichen Armee auf und umzingelten den König und seine Männer. Die Niederlage war gewiss, doch nicht einmal dann wollte Roland aufgeben. Er hob Flammensturm, sein mächtiges Schwert, hoch in die Luft und rief die volle Macht seiner Sommergabe.

Über ihm teilten sich die Wolken. Jene, die von den umliegenden Hügeln aus die Schlacht beobachteten, berichteten, sie hätten einen Strahl goldenen Sonnenlichts auf die Stelle niederfallen sehen, an der Roland stand, als antworte die Sonne selbst auf seinen Ruf und überschütte ihn mit ihrer Kraft. Die letzten zwölf Sommergrundkrieger fielen rings um ihn herum auf die Knie. Sie beugten das Haupt und legten ihre behandschuhten Hände auf ihn. Roland der Siegreiche stieß einen letzten Kriegsschrei aus, mit einer Stimme, die über die Ebene dröhnte wie der Donner Gottes: »Avires Coruscate Rosa!« Lang lebe die strahlende Rose!

Eine gewaltige, tödliche Macht barst aus ihm hervor. Niemand hatte so etwas je zuvor gesehen. Er strahlte gleißend hell, so hell, dass die Beobachter auf den umliegenden Hügeln aufschrien und ihre Augen abschirmten. Flammend goldenes Licht breitete sich ringförmig aus. Das Licht fegte in einem Umkreis von zwei Meilen über die Ebene und machte die feindliche Armee dem Erdboden gleich. Es brannte alles nieder, was ihm in den Weg kam, als wäre die Sonne zur Erde gestürzt und explodiert. Immer weiter breiteten sich die brüllenden Flammenringe aus, bis die Beobachter auf den Hügeln selbst glaubten, sie würden von ihrer lodernden Wut verzehrt. Doch gerade, bevor das tödliche Strahlen sie erreichte, verebbte es wie eine Welle im Sand. Die Ringe liefen zurück in die Mitte des Feldes, zu Roland, und trafen sich mit einem mächtigen Donnerschlag. Eine Säule aus Licht und Rauch schoss in den Himmel empor, und krachende, goldene Blitze zerrissen das Firmament.

Dann war es vorüber. Die Ebene war kahl und leer, bis auf einen kleinen Ring aus Leichen: Rolands verbliebene zwölf Sommergrundkrieger lagen da wie die Blütenblätter eines Gänseblümchens, ihre Rüstungen glänzend, ihre Haut vom Blut und Schmutz der Schlacht rein, ihre Gesichter friedvoll und unberührt, als habe der Tod sie geläutert. In ihrer Mitte erhob sich aus einem unberührten Fleck saftig grünen Sommergrundgrases Rolands mächtiges Schwert Flammensturm. Sein Griff zeigte zur Sonne, und der große Rubin an seinem Knauf glänzte hell wie ein Stern und leuchtete strahlender als jeder Diamant auf Erden. Dieses Schwert und dieser überirdische Stein waren alles, was von Roland, dem größten König von Sommergrund, übrig blieb.

Chamsin klappte das Buch zu. Krysti hatte Tränen in den Augen. Die Geschichte bewegte ihn ebenso, wie sie Chamsin stets bewegt hatte. Sogar jetzt waren ihre Augen feucht, und ihre Kehle fühlte sich schmerzhaft eng an.

»Er war ein großer Held«, flüsterte der Junge.

Sie nickte. »Er war ein Held der Helden, ein König der Könige. Nie wieder gab es seinesgleichen. Er hat Sommergrund zu Größe geführt und über Generationen hinweg für seine Sicherheit gesorgt. Vor den Mauern von Vera Sola gibt es eine Statue von ihm. Er ist der Erste der Steinkrieger, die die Tore der Stadt bewachen. Die Statue seines Bruders Donal, von dem meine Ahnenlinie abstammt, steht ihm gegenüber.«

»Wo ist Rolands Schwert jetzt?«

»Flammensturm verschwand kurz nach seinem Tod und ward nie wieder gesehen. So mancher Ritter von Sommergrund hat sich aufgemacht, es zu finden, aber keinem ist es je gelungen.«

Ein kurzes Schweigen entstand. Dann räusperte sich Krysti. »Unser König ist auch ein Held! Wynter ist eine Legende in Winterfels. Knapp zwei Monate vor seinem sechzehnten Geburtstag hat er eigenhändig einen Frostriesen erschlagen.«

»Davon habe ich schon gehört. Soweit ich weiß, ist das eine ziemliche Heldentat.«

»So etwas hat es niemals zuvor gegeben! Frostriesen sind fast zwanzig Fuß groß!« Krysti rappelte sich auf die Füße und streckte die Hände hoch über seinen Kopf, um zu demonstrieren, wie riesig die furchterregenden Ungeheuer aus den Bergen waren. »Und ihre Fäuste sind groß wie Felsbrocken. Sie haben gewaltige Schwerter mit rasiermesserscharfen gezackten Klingen, die normale Schwerter einfach zerschmettern und Männer in voller Rüstung mit einem einzigen Hieb in zwei Hälften spalten.« Er verzog die Lippen zu einer zähnefletschenden Grimasse und hieb und stach herzhaft um sich.

Entzückt über die Begeisterung des Kindes musste Chamsin sich ein Lächeln verkneifen. »Und Wynter hat sich einer dieser schrecklichen Kreaturen im Zweikampf gestellt?«

»Oh ja! Er war gerade erst zum Ritter geschlagen worden. Um das zu feiern, war seine Familie mit ihm Eisfischen am See Ibree gegangen, wo sie von einem Frostriesen überrascht wurden. Er hat Wynter mit einem Hieb besinnungslos geschlagen, dann seine Mutter und seinen Vater umgebracht, und gerade, als er seinen Bruder, den kleinen Prinzen erschlagen wollte, ist Wynter wieder aufgewacht. Obwohl er wusste, dass er das höchstwahrscheinlich nicht überleben würde, hat er sich vor seinen Bruder geworfen, nur mit seinem Schwert bewaffnet.« Krysti machte einen Satz nach vorne und nahm Verteidigungsstellung ein, ein imaginäres Schwert in den Händen. Wild schwang die Waffe herum, begleitet von deftigen Kampfgeräuschen, als Krysti, der Riesentöter, seinen Feind bekämpfte. Mitten im Schwung hielt er inne und fügte hinzu: »Gunterfys wurde in den Feuern von Berg Freika geschmiedet und von den Priesterinnen der Wyrn gesegnet, wusstet Ihr das? Man sagt, dieses Schwert kann niemals brechen.«

»Nein, das wusste ich nicht.« Sie fragte sich, wie viel davon wahr und wie viel Legende war. »Aber das ist nur angemessen! Ein mächtiger Held sollte auch ein besonderes Schwert besitzen. Haben Wynter und der Frostriese stundenlang miteinander gekämpft? Hat ihr Kampf bis in die Nacht gedauert?«

Krysti sah sie tadelnd an. »Nur in den Legenden. Die meisten Männer könnten nicht länger als ein paar Minuten gegen einen Frostriesen überleben. So groß wie die sind, haben sie alle Vorteile auf ihrer Seite. Sie könnten einem mit einem einzigen Hieb die Knochen zu Staub zermahlen.«

»Ah, natürlich! Entschuldige.« Chamsin nickte angemessen zerknirscht. »Fahr mit deiner Geschichte fort.«

»Es war ein erbitterter Kampf. Er hat fast zehn Minuten gedauert! König Wynter – na ja, damals war er noch Prinz Wynter – wusste, dass er sich nicht von den Fäusten oder dem Schwert des Frostriesen treffen lassen durfte. Er hat seine kleinere Größe ausgenutzt, ist immer wieder blitzschnell auf das Ungeheuer zugesprungen und hat ihm hunderte kleine Wunden verpasst – um den Frostriesen zu schwächen, wisst Ihr?« Die Matratze wippte und wogte, als er zustieß, parierte und auf seinen unsichtbaren Gegner einhackte. »Aber das hat ihn nur wütend gemacht. Die Kreatur hat seine riesige Faust geschwungen, und Wynter ist quer über die Lichtung gesegelt. Er hatte kaum Zeit, sich wieder auf ein Knie aufzurappeln, bevor das Ungeheuer bei ihm war, das schreckliche Schwert hoch erhoben, um ihm den Todesstoß zu versetzen.«

Obwohl Chamsin wusste, dass Wynter den Angriff überlebt hatte, schlug sie erschrocken die Hände vor den Mund. »Und was ist dann passiert?«

»Es gab nichts, was er tun konnte, um den Hieb aufzuhalten. Also hob er sein Schwert mit beiden Händen und benutzte es wie einen Schild, um ihn abzublocken.« Auf Knien führte Krysti es vor. »Das Schwert des Riesen sauste nieder. Jeder andere Mann mit einer anderen Waffe wäre an Ort und Stelle entzweigespalten worden, aber Wynter und sein Schwert hielten stand. Die Klinge des Ungeheuers zersplitterte. Während der Frostriese taumelte, sprang Wynter auf und versetzte ihm mit aller Kraft einen schrecklichen Hieb. Der Frostriese stürzte, und Prinz Wynter sprang auf seine Brust und stieß ihm das Schwert mitten ins Herz.« Mit einem triumphierenden Aufschrei trieb Krysti seine imaginäre Klinge in ihr Ziel. Sein wilder Gesichtsausdruck legte sich, und er richtete sich auf. »Wynter begrub seine Eltern dort am Fuß des Berges, wo sie gestorben waren. Dann nahm er seinen kleinen Bruder auf den Rücken und trug ihn den ganzen Weg bis nach Hause. Als sie Gildenheim erreichten, war Wynter König, und sein Schwert hatte einen neuen Namen: Gunterfys, Riesentöter.«

»Das ist in der Tat eine heldenhafte Geschichte«, lächelte Cham gerührt. »Sie sollte niedergeschrieben und über Generationen hinweg weitergegeben werden, damit niemand sie je vergisst.«

»Ich glaube, das wird sie auch.«

Krysti blieb noch über die Abendessenszeit hinaus bei ihr, bis die Nacht den Himmel tintenschwarz färbte und er kaum noch die Augen offenhalten konnte. Schließlich scheuchte ihre sommerländische Zofe Bella ihn hinaus und ging mit ihm zu den Dienstbotenquartieren.

Als Chamsin die Lichter löschte und es sich im Bett bequem machte, dachte sie an Wynter und den Tag, an dem sich sein berüchtigtes Schwert seinen Namen verdient hatte. Krystis Nacherzählung der Ereignisse war so lebhaft gewesen. Sie hatte mit Wynter und dem kleinen Prinzen mitgelitten, dessen nächster Atemzug einzig von der Kraft und dem Mut seines Bruders abhing.

Während der vergangenen drei Jahre hatte kein Sommerländer Wynters Namen ausgesprochen, ohne ihn mit einem Fluch zu belegen. Er war der Winterkönig, der Teufel des Nordens, der Feind.

Aber jetzt, nachdem sie Wynters Geschichte gehört hatte, nachdem sie gesehen hatte, wie die Bewunderung aus Krystis Augen leuchtete und in ihrem eigenen Herzen widerhallte, erkannte sie, dass Wynter für seine Landsleute ein Held war, auf seine Weise ebenso edel und entschlossen wie Roland.

Er war nicht vollkommen. Ganz im Gegenteil. Er hatte Sommergrund einen schrecklichen Preis für Milans Vergehen zahlen lassen. Aber zum ersten Mal dachte sie darüber nach, wie Wynter sich gefühlt haben musste, als er erfuhr, dass die Frau, die er liebte, mit Milan durchgebrannt war. Dass sein Bruder, das einzige Mitglied seiner Familie, das er vor dem Angriff des Frostriesen hatte retten können, beim Versuch, sie aufzuhalten, ermordet worden war.

Kummer konnte selbst gute Menschen in den Wahnsinn treiben. Man denke nur an den lebenslangen Hass ihres Vaters! Man denke nur an die Frau aus Konundal, die Chamsin wegen einer unbedachten Äußerung vergiftet hatte.

Wynters Rache war blutig und vernichtend gewesen, aber nachdem sie die Geschichte über seine Familie und den Frostriesen gehört hatte, fiel es ihr viel schwerer, ihn dafür zu hassen. Die Sonne wusste, dass ihr eigenes Temperament ebenso leicht entflammbar und tödlich war.

Wenn ein Wintermann ihren geliebten Bruder ermordet hätte – würde sie dann nicht auch nach fürchterlicher Rache trachten?

*

Am nächsten Morgen war Chamsin putzmunter und trotz der Einwände von Lady Frey auf den Beinen. »Ich bin wieder gesund! Die Sonne hat dafür gesorgt. Seht Ihr?« Sie lief im Zimmer im Kreis herum, bis ihr schwindlig wurde. »Ich war bereits gestern genesen, bin jedoch im Bett geblieben, wie Ihr es wolltet. Aber nicht heute.«

»Keine Pferde!«, lenkte die Priesterin ein. »Und kein Herumgerenne! Bleibt in der Burg.«

»Einverstanden!« Cham schnappte sich Krystis Hand und sauste zur Tür. Das war das Letzte, was man von ihnen sah, bis sie mit Staub, Schmutz und Spinnweben bedeckt wieder auftauchten, um ein schnelles Mittagsmahl hinunterzuschlingen. Danach verschwanden sie wieder und kehrten bis zum Abendessen nicht zurück. Am nächsten Tag war es dasselbe.

Chamsin frischte ihre Kenntnis all der Bereiche der Burg wieder auf, die Vinca Immergrün, Gildenheims Vorsteherin der Dienerschaft, ihr bereits gezeigt hatte, und sie machte sich dann auf, den Rest zu entdecken. Zusammen mit Krysti erkundete sie jeden Zoll Gildenheims: von den feuchten, pechschwarzen Kerkern bis zu einem privaten Turm in der Nähe des Berggipfels, der nur über eine lange, gewundene, in den Fels gehauene Treppe zu erreichen war. Sie entdeckten sie, als Krysti – der eine unendliche Anzahl interessanter Talenten besaß – das Schloss einer Holztür in einem der Wachtürme auf den Festungsmauern knackte.

»Ich bin kein professioneller Dieb!«, schwor er, als er die Dietriche hervorholte. »Aber man weiß ja nie, wann es mal nützlich sein könnte, eine Tür aufsperren zu können. Das kann einem sogar das Leben retten, wenn die Nacht kalt ist und man keinen warmen Platz zum Schlafen hat.«

»Ich werde es niemandem verraten«, versprach sie. Dann grinste sie und deutete auf die Dietriche. »Wenn du mir beibringst, wie man damit umgeht.«

Er lachte. »Einverstanden.«

Wenige Augenblicke später gab das Schloss mit einem leisen Klicken nach. Krysti hob den Riegel an und öffnete die Tür. Dahinter lag nichts als eine dunkle, gewundene Treppe – und was für Abenteurer würden eine geheime Treppe finden und nicht nachsehen, wohin sie führte? Sie schlüpften durch die Tür, erklommen die Stufen und fanden den privaten Turm, der hoch oben über den Mauern des Palastes thronte. Ein weiteres, schnell geknacktes Schloss ließ sie ein.

Im Innern des Turmes befand sich ein gemütliches, rundes Turmzimmer. Die Einrichtung war spärlich, aber kostbar. Ein Bett, ein Schreibtisch, eine steinerne Feuerstelle mit zwei vollen Kohleneimern daneben, zwei geräumige Polstersessel davor und ein großer hölzerner Schrank. Abgesehen von der Wand, die an den Berg grenzte und in die ein kleines Badezimmer eingelassen war, waren die Wände rund und von hohen Bogenfenstern durchbrochen, die über die Burg, das Tal und gewaltige, endlos scheinende, schneebedeckte Gipfel hinausblickten.

Der Raum saß wie ein Adlerhorst hoch über der Welt. Gildenheim breitete sich unter ihnen aus, ein schimmerndes Juwel aus schneebedecktem, eisversilbertem Granit. Chamsin erspähte eine einsame, in einen Umhang gehüllte Gestalt, die über die obere Terrasse der westlichen Gärten wanderte. Ein Vogel flatterte von einem der immergrünen Bäume herab und landete auf dem ausgestreckten Arm der Gestalt. Wenige Minuten später schwang sich der Vogel wieder in die Luft und flog davon. Ein Jagdfalke vielleicht? Oder möglicherweise ein Briefvogel, der Nachricht aus anderen Teilen des Königreiches brachte.

Sie drehte einen der Sessel vor der Feuerstelle zum Fenster. Innerlich plante sie bereits, sich diesen abgeschiedenen Ort zu eigen zu machen. Ein Fleckchen, wo sie den Blicken des Hofes entfliehen und sich entspannen konnte.

»Ich frage mich, wem dieses Zimmer wohl gehört?«, sagte Krysti, während er sich hinkniete, um die Schlösser der Schreibtischschubladen zu knacken.

Chamsin ließ sich in den großen, bequemen Sessel sinken, nahm einen tiefen, glücklichen Atemzug … und erstarrte. Sie besaß zwar nicht die wolfsähnliche Gabe ihres Gemahls, selbst den schwächsten Geruche mit unheimlicher Genauigkeit wahrzunehmen und zu erkennen, aber das war auch nicht nötig. Denn der alte Ledersessel war durchtränkt von einem Geruch, den sie bereits besser kannte als ihren eigenen.

»Wynter«, platzte es aus ihr heraus.

Krysti fuhr hoch. Der Bund Dietriche baumelte aus seinem Mund. »W-w-w…« Er schluckte. »Dem König?«

Cham sprang auf die Beine. Die Holzbeine des Sessels schabten über den Steinboden, als sie ihn hastig wieder in seine ursprüngliche Position zurückschob. »Wir sollten gehen.«

»Gute Idee.«

Polternd stürmten sie zur Tür und hasteten wortlos die steile, gewundene Treppe hinunter. Erst als sie sich wieder sicher außerhalb des Turmes auf den Befestigungsmauern befanden, sahen sie einander an und brachen in hilfloses Gelächter aus.

Sie lachten immer noch, als sie wenige Minuten später Lordkanzler Barsul Firkin in die Arme liefen. Während der Regierungszeit von Wynters Vater hatte er als Weißes Schwert, als Kommandant der Truppen und Stellvertreter des Königs, gedient.

Er musterte die beiden mit skeptischem Blick. »Also, wenn das nicht verdächtig nach Unfug aussieht! Was habt Ihr unternommen, Euer Gnaden?«

»Wir haben uns nur ein wenig in der Burg umgesehen«, antwortete Cham. Der Lordkanzler blickte so ungläubig drein, dass sie erneut lachen musste. »Nein, wirklich! Das ist alles.«

Er runzelte die Stirn. »Steckt Eure Nase nicht in Orte, an denen sie nichts zu suchen hat.«

»Und welche Orte wären das?«, fragte Cham mit großen, unschuldigen Augen. »Nur damit wir wissen, dass wir dort nicht hindürfen.«

Seine Augen wurden schmal. »Jeder Ort, für den Ihr durch eine versperrte Tür gehen müsstet, für den Anfang.«

Hatte er sie auf der Treppe zu Wynters Adlerhorst gesehen? Sie wagte es nicht, Krysti anzusehen, sonst würde Lord Firkin ihnen die Wahrheit vom Gesicht ablesen.

»Das schließt das Atrium im fünften Stock des Hauptpalastes mit ein, habt Ihr gehört?«, fügte Lord Firkin streng hinzu.

Chamsin und Krysti wechselten einen verstohlenen Blick. Mit der Erforschung des fünften Stocks waren sie noch lange nicht fertig. Eine geheime Treppe hatte sie abgelenkt.

»Oh nein, das werdet Ihr nicht!«, deutete der Lordkanzler den Blick richtig. Streng hob er den Finger. »Denkt nicht mal daran! Der König hat verboten, dass irgendjemand das Atrium betritt, und im Gegensatz zu anderen privaten Orten« – sein Blick schnellte den Berg hoch – »wäre das ein Vergehen, das er nicht verzeihen würde.«

Also hatte er sie gesehen.

Krysti, dem armen Jungen, schlotterten regelrecht die Knie. Cham nahm seine Hand und drückte sie beruhigend. »Danke, Lord Firkin, wir werden es uns merken. Komm, Krysti, lass uns die Waffenkammer besuchen. Da sind wir noch nicht gewesen.« Mit einem schnellen Winken zog sie den Jungen mit sich die steinernen Stufen der Brustwehr hinunter.

*

Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln, das zwischen Zuneigung und Verwunderung schwankte, sah Lord Firkin den beiden nach. Als sie um die nächste Ecke verschwunden waren, drehte er sich um und ging die Brustwehr entlang zu dem Turmzimmer an der Vorderseite des Palastes, wo Wynter, Valik und drei Generäle von Winterfels auf ihn warteten.

»Nun?«, drängte Wynter, als der Lordkanzler die Tür hinter sich schloss.

»Sie erkunden nur die Burg.«

»Ach, so nennt man Spionieren also heutzutage?«, brummte Valik.

Lord Firkin warf ihm einen scharfen Blick zu. »Sie ist bloß ein Mädchen.«

»Sie ist die Tochter des Sommerkönigs. Glaubt Ihr ernsthaft, dass sie sich nicht alles einprägt, was sie hört und sieht, um es bei der ersten Gelegenheit ihrem Vater – oder noch schlimmer, ihrem Bruder – zu senden?«

»Genug!«, versetzte Wynter. »Der Sommerkönig mag sie zwar gezeugt haben, aber er ist kein Vater für sie. Habt ihr schon vergessen, in welchem Zustand sie war, als ich sie geheiratet habe?«

»Das habe ich nicht vergessen«, wandte Valik ein. »Aber bedenke, Wyn: Welche bessere Möglichkeit gäbe es, dein Mitgefühl zu erlangen?«

Wynter stieß sich vom Tisch ab und richtete sich zu voller Größe auf.

»Valik hat recht, mein König«, unterbrach einer seiner Generäle. »Sie mag zwar Eure Gemahlin sein, dennoch bleibt sie die Tochter des Sommerkönigs und die Schwester des mordenden Brauträubers Milan Coruscate! Wir dürfen nicht unachtsam werden.«

»Auch wenn ich Eure Sorge zu schätzen weiß, lasst mich Euch versichern, dass ich weder ein Idiot noch ein liebeskranker Narr bin. Meine Frau steht unter ständiger Überwachung, seit wir Sommergrund verlassen haben, und das wird auch so bleiben. Nicht, weil ich glaube, sie könnte für ihren Vater arbeiten. Jegliche Vermutungen in dieser Hinsicht sind fehlgeleitet; der Hass zwischen ihnen war zu echt. Aber ich darf nicht vergessen, dass es jemand aus Sommergrund war, der vorgeschlagen hat, dass ich eine der Prinzessinnen zur Frau nehmen soll. Und ich darf die Aktivitäten ihres Bruders in Calberna nicht außer Acht lassen.«

Er starrte hinunter auf die Landkarte, die vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lag, und auf den verstreuten Stapel Briefe daneben. »Falls unsere Informationen zutreffen, wird die calbernische Armada in drei Monaten bereit sein, in See zu stechen. Das bedeutet, dass wir nächsten Frühling eine Armee an unseren Stränden haben werden. Ich bin mir bewusst, dass Chamsin ihre ›Erkundungstouren‹ dazu benutzen könnte, Informationen für ihren Bruder und seine neuen Verbündeten zu sammeln. Aber sie ist meine Königin, nicht meine Geisel. Sie wird nicht eingesperrt! Falls ihr Herumwandern außer Kontrolle gerät, werde ich dem ein Ende setzen. Für den Augenblick kommt es mir entgegen, sie umherstreifen zu lassen.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die ausgebreiteten Landkarten vor ihm, auf der die gegenwärtigen Positionen und Truppenstärken aller Bataillone von Winterfels eingezeichnet waren.

Calbernianer auf dem Seeweg stellten eine Herausforderung dar. Sowohl Winterfels als auch Sommergrund besaßen tausende Meilen Küstenlinie – viel zu viele, um sie allesamt zu überwachen, geschweige denn zu verteidigen. Durch das winterliche Packeis sollten sie bis zum Frühling sicher sein, aber sobald das Tauwetter im Norden einsetzte und einen schiffbaren Seeweg um die arktischen Regionen freimachte, konnten die Invasoren überall entlang der Küste von Winterfels landen.

»Öffnet alle nördlichen Wachtürme erneut und repariert diese vier hier, die durch die Stürme des letzten Jahres beschädigt wurden. Ich will ein paar Späher auf jedem Turm, die alle fünfundvierzig Tage abgelöst werden. Und benachrichtigt Oberhauptmann Leirik in Vera Sola! Ich will, dass mindestens hier an diesen Orten Türme errichtet und bemannt werden.« Er tippte auf ein Dutzend Stellen entlang der Küstenlinien von Sommergrund. »Sagt ihm, er soll schnell zu Werke gehen! Er soll die Einheimischen einberufen, beim Bau zu helfen.« Wynter blickte hoch. »Worauf wartet Ihr noch?«

Lord Firkin und die Generäle verließen hintereinander den Raum. Nur Valik blieb zurück.

Wyn schüttelte den Kopf. »Lass es!«, befahl er in der Hoffnung, den Vortrag seines Freundes über die Gefahr, die Chamsin für sie alle darstellte, abwenden zu können.

»Alles, was ich sage, Wyn, ist: Sei vorsichtig! Zeuge deinen Erben, so schnell du kannst, aber bleib auf der Hut! Du kannst deinen Gefühlen für sie nicht vertrauen, das weißt du. Sie ist eine mächtige Wettermagierin, und wer weiß, welche anderen dunklen Künste sie noch beherrscht.«

»Zum letzten Mal, Valik: Ich stehe nicht unter einem Zauber!«

»Wirklich nicht? Ich habe gesehen, wie du dich in ihrer Gegenwart verhältst, wie du die Augen nicht von ihr lassen kannst. Und ich bin nicht der Einzige, dem das auffällt. Reika sagt …«

»Genug!« Wyn kniff sich in die Nasenwurzel und kämpfte ein scharfes Aufwallen seiner Wut nieder. Sein Freund begab sich ins Reich des Lächerlichen! »Ich habe deine Sorge zur Kenntnis genommen, Valik. Und jetzt, bitte – du hast Arbeit zu erledigen, und ich ebenso.« Er deutete zur Tür.

Valik stieß einen frustrierten Seufzer aus und verabschiedete sich.

Als er fort war, ging Wynter zu einem der nach Süden gerichteten Turmfenster und starrte hinunter in den Burghof.

Eine kleine Gestalt, leicht an ihrem dunklen Haar und den leuchtenden Sommerländerfarben ihrer Röcke zu erkennen, die unter dem hellen Umhang hervorlugten, trat aus der Tür, eine kleinere weißblonde Gestalt an ihrer Seite. Er beobachtete sie, wie sie den Burghof überquerten und in dem schiefergedeckten Gebäude der Waffenschmiede verschwanden.

»Hat Valik recht, Gemahlin?«, flüsterte er. »Würdest du mich an deinen Bruder verraten?« Alles in ihm sträubte sich. Er wollte es nicht glauben; es durfte einfach nicht wahr sein! Sie konnte ihm doch unmöglich im Ehebett solche Leidenschaft schenken und gleichzeitig Ränke gegen ihn schmieden!

Doch er war schon einmal von einer Frau betrogen worden. Er konnte nicht riskieren, dass das erneut geschah. Dazu stand zu viel auf dem Spiel.

Wynter wandte sich vom Fenster ab. Laci hatte ihn aus Chamsins Bett verbannt, um ihrem Schoß Zeit zu geben, sich von der Wirkung des Gifts zu erholen. Er würde diese Zeit nutzen, um sich gänzlich von ihr zu distanzieren. Vielleicht würde er klarer sehen, wenn sein Auge nicht mehr von Verlangen getrübt war.

KAPITEL 16