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Erweiterte Neuausgabe des Standardwerks zur Hochsensibilität
Etwa 20 Prozent aller Menschen nehmen wesentlich intensiver wahr als andere. Die besondere Gabe der Hochsensibilität wird jedoch von vielen Betroffenen als Belastung empfunden. Auch das Umfeld reagiert oft mit Unverständnis: Musst du immer so empfindlich sein?
Rolf Sellins erfolgreicher Praxisratgeber hilft Hochsensiblen zu verstehen, warum sie »anders« sind. Er verrät, wie sie mit Stolpersteinen im Privaten wie im Beruf umgehen und das eigene Potenzial nutzen. Damit gibt er Antworten auf die sich immer stellende Frage: Wie geht man mit seiner hohen Sensibilität um? Dabei geht er über die Beschreibung des Phänomens hinaus und zeigt Möglichkeiten und Methoden für einen konstruktiven Umgang mit der Wahrnehmung auf. Denn Wahrnehmung ist die größte Begabung der Hochsensiblen. Besinnungsfragen, Experimente, Selbsttests und praxiserprobte Methoden helfen dabei, diese Begabung zu fördern.
Die Neuausgabe enthält neben einzelnen Aktualisierungen ein neues Kapitel mit weiteren erprobten Methoden zur Wahrnehmungssteuerung in drei für Hochsensible typischen Problemsituationen.
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Seitenzahl: 247
Wenn Sie sich in nachfolgendem Text wiederfinden, ist dieses Buch für Sie.
Gerlinde machte sich wieder einmal Vorwürfe, dass sie nicht so unbeschwert war wie ihre Kolleginnen. Die stellten nichts in Frage, rechneten bei ihren Projekten nicht mit Pannen, die eintreten könnten und auf die sie Gerlindes Meinung nach gar nicht richtig vorbereitet waren. Mit ihren Fragen würde sich Gerlinde nicht unbedingt beliebt machen, also ließ sie es. Außerdem hätte sie auch noch gewusst, wie sie den Kolleginnen dann helfen könnte, aber eigentlich war das Angelegenheit der Vorgesetzten und nicht ihre Aufgabe. Und jetzt warf sich Gerlinde auch noch vor, dass sie sich mal wieder den Kopf von anderen zerbrach.
Die Kolleginnen waren längst in der Mittagspause. Zuerst hatte sie mit Erleichterung auf die Ruhe reagiert, doch jetzt bedrängten sie andere Reize: das Rauschen der Klimaanlage, ein leises Pfeifen in den Heizkörpern, das Anfahren des Aufzugs, die Gebläse von Laptops, tickende Uhren … Obwohl sie eigentlich noch ein wenig mehr Zeit gebraucht hätte, die Arbeit sauber abzuschließen, fühlte sie sich gedrängt, es ihren Kolleginnen gleichzutun, und brachte die Arbeit irgendwie zu Ende. Sie machte oberflächlich Ordnung auf dem Tisch, obwohl sie das nicht mochte, weil es dann noch schwerer war, etwas zu finden, doch welchen Eindruck hätte ihr Schreibtisch sonst gemacht?
Auf dem Weg war sie halb noch am Arbeitsplatz, halb schon in der Kantine. Sollte sie überhaupt essen gehen oder lieber einen Spaziergang machen? Aber nachher hieß es wieder, sie wäre eigenbrötlerisch. Als sie bei den Kollegen aus dem Marketing vorbeikam, bezog sie deren Lachen auf sich. Vielleicht sollte sie erst einmal in den Spiegel schauen, ob irgendetwas an ihr nicht in Ordnung war? Sie blickte an sich selbst herunter, ob sie etwas Auffälliges entdecken könnte. Dem Hausmeister, der ihr mit einer Leiter entgegenkam, versuchte sie zuerst zu der einen Seite auszuweichen, dann zur anderen. Durch eine geschickte Drehung der Leiter verhinderte er noch rechtzeitig einen Zusammenstoß.
In der Kantine schlugen die ganzen Eindrücke über Gerlinde zusammen; das gleißende Licht, rivalisierende Essensgerüche, die nicht zusammenpassten, das Stimmengewirr in Konkurrenz zum Geklapper von Besteck, das metallische Kratzen einer Suppenkelle, das sie zusammenfahren und ihre Zähne schmerzen ließ.
Da kam Herr Stechel auf sie zu und nötigte ihr wieder ein dienstliches Gespräch auf, mitten vor der Essensausgabe. Sie ließ alles über sich ergehen, konnte sich kaum konzentrieren in dieser Umgebung. Je mehr ihr alles zu viel wurde, desto häufiger sagte sie Ja und Amen. Zugleich wusste sie, dass sie das später wieder einmal bereuen würde.
Endlich war sie ihn los. Wo sollte sie sich nur anstellen? Ohne zu wissen, was es hier gab, wählte sie die kürzeste Schlange als das geringste Übel. Kaum hatte sich jemand hinter sie gestellt, spürte sie auch schon dessen Ungeduld. Von vorn wurde sie gebremst, von hinten bedrängt, und sie stand dazwischen. Sie reagierte mit einem Schweißausbruch. Und dann plagte sie auch noch die Angst, sie selbst könnte einen schlechten Geruch verströmen, der den anderen den Appetit verderben würde. Sie hielt die Spannung nicht mehr aus. Welchen Eindruck würde es machen, wenn sie jetzt aus der Schlange ausscherte? Hielt man sie dann für unentschieden? Oder für zu sensibel? Für zu wenig belastbar? Wenn das so weiterging, würde sie gleich einen Druck auf die Blase spüren, der sie zwingen würde, die Toilette aufzusuchen. Der Gedanke daran reichte, und schon spürte sie den Drang. Am besten, sie entzog sich rechtzeitig, solange sie noch kein Tablett trug, und verzichtete ganz auf das warme Essen. Am Kuchenstand kam man gleich dran. Obwohl sie abnehmen wollte, aß sie etwas Süßes. Das war am einfachsten. Jetzt hieß es nur noch, einen ruhigen Platz irgendwo am Rand zu finden, auch wenn es ihr nicht leichtfiel, in dem ganzen Durcheinander der Kantine das Tablett so weit zu balancieren, denn sie fühlte sich am Ende ihrer Kräfte. Da winkte ihr auch schon Frau Welz und machte den Platz neben sich frei. Wie sollte sie da ablehnen? Also lächelte Gerlinde und strebte dem für sie vorgesehenen Platz zu. Sie wusste schon, was sie jetzt erwartete. Frau Welz würde wieder einmal ihre ganzen Probleme vor ihr ausbreiten. Eine Seite in ihr fühlte sich dadurch geehrt, denn Frau Welz teilte schließlich nicht mit jedem ihre Probleme. Auch gefiel ihr die Tiefe in den Gesprächen, wenn es um so wichtige Lebensthemen wie die Ehe ging. Und Gerlinde fielen ja auch immer gute Lösungen für die Probleme anderer ein, auch wenn Frau Welz noch jeden ihrer Vorschläge ausgeschlagen hatte.
Heute wollte Gerlinde auch einmal etwas Privates loswerden. Als sie von sich zu sprechen begann, hatte Frau Welz plötzlich etwas Dringliches zu erledigen und musste schnell aufbrechen.
Wenn Sie sich in nachfolgendem Text wiederfinden möchten, ist dieses Buch auch für Sie.
Bevor sie in die Mittagspause ging, nahm sich Gerlinde die Zeit, die sie brauchte, um ihre Arbeit in Ruhe abzuschließen. Sie ordnete den Schreibtisch, verschaffte sich den Überblick über das, was zu erledigen war, ordnete die Aufgaben nach Dringlichkeit und Wichtigkeit. Wenn etwas Unerwartetes und vielleicht Brandeiliges auf sie zukam, dann würde sie sich auch dem gewachsen fühlen. Sie hatte akzeptiert, dass sie manchmal für ihre Arbeit etwas länger brauchte, und wusste ihre Umsicht und Verantwortlichkeit ebenso zu schätzen wie ihr Chef.
Sie sammelte sich kurz, bevor sie sich auf den Weg in die Kantine machte. Der Begriff »sich sammeln« machte sie schmunzeln. Sie hatte tatsächlich das Gefühl, als würde sie ihre Aufmerksamkeit und damit ihre Energie aus allen möglichen Winkeln der Arbeitsabläufe zurückpfeifen und wieder auf sich selbst konzentrieren. Sie nahm nun ihren Körper wieder intensiver wahr und ihre Atmung, die zugleich ruhiger und tiefer wurde. Dadurch fühlte sie sich auch insgesamt stärker. Die Spannungen im Kopfbereich, zu denen es hin und wieder noch kam, ließen deutlich nach. Ab und zu konzentrierte sie noch viel zu viel Energie im Kopf, obwohl sie wusste, wie sie leichter und entspannter arbeiten konnte.
Auf dem Weg zur Kantine vernahm sie das muntere Plaudern der Marketing-Kollegen. Sie registrierte es und grüßte freundlich. Die Kollegen grüßten zurück. Nein, so reagierte man nicht auf jemanden, der Gegenstand des Gesprächs war. Aus welchem Grund sollte sie auch der Mittelpunkt ihres Gesprächs sein? Wenn sie bei sich war, interessierte sie das im Übrigen wenig.
Früher hatten alle möglichen Stimmungen anderer Menschen automatisch auf sie abgefärbt. Gerlinde beschloss, die Heiterkeit der Kollegen jetzt ganz bewusst zu übernehmen, ohne den Anlass ihrer guten Laune zu kennen. Mit dieser Stimmung betrat sie die Kantine. Sie freute sich darüber, wie das Licht durch das Seitenfenster auf die Pflanzen fiel. Ihre Blätter warfen eigenartig geformte Schatten auf den Boden, die sie an Werke von Matisse erinnerten. Weil sie bei sich war und ihre Aufmerksamkeit selbst lenkte, registrierte sie nur die Geräuschkulisse in der Kantine, ohne dass die Lautstärke und das Durcheinander der Stimmen sie tangierten. Da stürzte mal wieder Kollege Stechel auf sie zu und wollte ihr ein dienstliches Gespräch aufdrängen. Heute wirkte es so, als würde er kurz vor ihr abbremsen. Ehe er losreden konnte, kam sie ihm zuvor und kündigte ihm an, ihn gegen 14 Uhr wegen einer Frage anzurufen. Dann könne er alles Weitere mit ihr besprechen. Mit einem freundlichen Lächeln ließ sie ihn hinter sich.
Vor der Essensausgabe nahm sie sich Zeit herauszufinden, welches Gericht ihr schmecken würde. Das war zugleich ein gutes Training dafür, ihre Bedürfnisse besser wahrzunehmen und für sich zu sorgen. Außerdem konnte sie eine Entscheidungsmethode ausprobieren. Wie würde sich ihr Körper fühlen nach dem Verzehr von weichen Spaghettis mit einer rotbraunen Soße und blassen Klößchen, nach dem Genuss von bayerischem Schweinsbraten mit Kartoffeln und Kraut oder nach dem Gemüseeintopf Gärtnerin? Sie prüfte noch einmal und entschied sich für den Gemüseeintopf, der ein stimmiges Gefühl im Bauch hervorrief, auch wenn sie dafür Schlange stehen musste. In der Reihe grenzte sie sich nach hinten ab, nach vorn ließ sie sich genügend Abstand, auch wenn die Kollegin von hinten stärker zu drängen versuchte. Das Schlangestehen erinnerte sie an ihre Aufenthalte in London, an das Warten auf die Doppeldeckerbusse. Und schon hielt sie das Tablett mit dem gewünschten Gemüseeintopf in ihren Händen.
Nachdem sie Frau Welz kürzlich die Telefonnummer eines Ehe-Therapeuten in die Hand gedrückt hatte, winkte diese nun nicht mehr, um sie an ihren Tisch zu lotsen. In wessen Gesellschaft würde sie heute gern essen? Oder brauchte sie die Nachbarschaft von Kollegen, die auch mit sich selbst beschäftigt waren? Doch allein sein, das konnte sie immer noch. Wie wäre es, einmal mit Herrn Steiner und Frau Küfner ins Gespräch zu kommen? Die waren ihr sympathisch. Gerlinde grüßte und fragte, ob der Platz neben ihnen frei wäre.
Das fiktive Beispiel von Gerlinde zeigt: Dass jemand hochsensibel ist, sagt nichts darüber aus, ob diese Person zufrieden oder unzufrieden ist, glücklich oder unglücklich, erschöpft oder energiegeladen. Es gibt Hochsensible, die unter ihrer Sensibilität leiden, während andere ihre Veranlagung konstruktiv zu nutzen wissen.
Möchten Sie lernen, wie sich Hochsensibilität von einem Manko in ein Plus verwandeln lässt? Dann seien Sie herzlich willkommen.
Als ich vor einigen Jahren an einem sonnigen Septembernachmittag in Santa Barbara/Kalifornien eine Buchhandlung betrat, ahnte ich noch nicht, dass dieser Moment mein Leben nachhaltig verändern würde. Ich stieß auf ein Buch mit dem Titel The Highly Sensitive Person. Das könnte interessant sein, dachte ich beim ersten Blick auf den Umschlag. Als ich den Untertitel las – »How to thrive when the world overwhelms you« (Wie soll man gedeihen, wenn die Welt einen überwältigt) –, begann mein Herz stärker zu klopfen: Das kannte ich als Lebensgefühl seit meiner Kindheit. Ich kaufte dieses und auch die anderen Bücher der Autorin Elaine N. Aron. Dann las ich und las. Da beschrieb jemand mich und meine Situation.
Es blieb nicht bei dem guten Gefühl, mich erkannt und verstanden zu fühlen. Mehr noch: Meine bisherige Arbeit hatte endlich ihr Zentrum gefunden, das mir selbst bis dahin verborgen geblieben war. Denn um mich selbst zu verstehen und um heil zu überleben, hatte ich eine Reihe von psychotherapeutischen Ausbildungen gemacht, mir alle möglichen Techniken und Methoden angeeignet oder selbst entwickelt und sie in Seminaren und Einzelsitzungen für andere, denen es ähnlich ging, angeboten. Dazu gehörten die Steuerung der eigenen Wahrnehmung und die bewusste Verarbeitung von Reizen bis hin zur Reduzierung von Schmerzen. Es ging um Selbstzentrierung, Methoden der Abgrenzung oder der bewussten Durchlässigkeit und den inneren Abstand sich selbst oder anderen gegenüber. Dann kamen Techniken zum Stressabbau bis hin zur Veränderung der eigenen Denkgewohnheiten und Gefühlsmuster ... Es ging mir dabei also um einen konstruktiven Umgang mit der hohen Sensibilität, auch wenn mir dieser Begriff bis dahin gefehlt hatte. Jetzt konnte ich meine Arbeit noch konzentrierter zusammenfassen für die anderen Hochsensiblen, denen es ebenso ging wie mir. Sie hatten einen Namen und waren damit leichter erreichbar.
Hochsensibilität – wie lässt es sich mit dieser Veranlagung gut leben?
Ich beschränke mich in diesem Buch nicht auf die Beschreibung des Wesens von Hochsensiblen und die Darstellung der vielfältigen Probleme, die mit dieser Anlage verbunden sein können. Mir genügt es auch nicht, Ihnen das kurzzeitige Gefühl eines hohen Selbstwerts zu vermitteln. Wichtiger noch ist folgende Frage: Wie kommt es dazu, dass manche Hochsensible glücklich, innerlich reich und äußerlich erfolgreich mit ihrer Begabung leben, während sie anderen eher wie eine Last erscheint? Was ist mit den weniger glücklichen Hochsensiblen passiert, die unter ihrer Anlage leiden? Was genau läuft in ihnen ab? Wie nehmen sie wahr? Wie verarbeiten sie die Reize? Wie verhalten sie sich? Auf welche Weise erschaffen sie ihre Situation? Und wie kann man anders wahrnehmen, denken, fühlen, kommunizieren und mit seiner Energie umgehen, sodass sich die Gabe der hohen Sensibilität als Segen auswirkt? Denn das ist möglich. Auch für Sie.
Lernen, sich abzugrenzen
Bei meinen Klienten und in meiner eigenen Vergangenheit bin ich immer wieder auf verfehlte Anpassungsversuche gestoßen, auf die müßigen Versuche, doch »nicht so sensibel zu sein«. Es sind genau diese vergeblichen Bemühungen, nicht so zu sein, wie man ist, und nicht so wahrzunehmen, wie man wahrnimmt, die erst zu den so häufig beklagten Problemen mit unserer Begabung führen. Geopfert wird dabei die Selbstwahrnehmung, die erst mit Verzögerung und dann drängend zurückkehrt. Wer sich nicht rechtzeitig wahrnimmt, kann auch nicht gut für sich sorgen. Er ist nicht bei sich selbst, nimmt seine eigene Position im Leben nicht ein. Verbunden damit sind gewöhnlich Energieverluste im Kontakt mit der Außenwelt und Abgrenzungsprobleme. Wer bewusst wahrnimmt, zentriert ist und sich abgrenzen kann, hat auch mehr Energie.
Was sind überhaupt Grenzen? Selbst nach der Lektüre mancher Bücher zum Thema Abgrenzung könnte man den Eindruck bekommen, dass Grenzen etwas Willkürliches seien. Mir ist wichtig zu zeigen, dass die Grenzen eines Menschen eine ganz körperlich-sinnliche und konkrete Grundlage haben. Dass sich aus fehlender Abgrenzung Konflikte ergeben, muss kaum erwähnt werden. Erst wenn Hochsensible gelernt haben, sich abzugrenzen, und ihre Konfliktfähigkeit – häufig ein weiteres Defizit – entwickelt haben, können sie ihre besondere Begabung für Freundschaften und Partnerschaft wirksam zur Geltung bringen. Konkrete Übungen zum Wahrnehmen und Setzen Ihrer eigenen Grenzen finden Sie in diesem Buch.
Die spezielle Art der Wahrnehmung der Hochsensiblen hat weitere Folgen: Wer so viele Reize aufnimmt, hat viel zu viele Informationen zu verarbeiten. Hochsensible denken tatsächlich anders. Oft können sie das besondere Potenzial, das darin steckt, erst nutzen, wenn sie ihr Denken selbst zum Gegenstand ihrer Wahrnehmung und ihres bewussten Denkens machen. All das hat zu tun mit der besonderen Reizaufnahme von uns Hochsensiblen. Darum stehen die Wahrnehmung und der bewusste Umgang mit ihr im Zentrum meiner Arbeit.
Da die Situation von hochsensiblen Männern, hochsensiblen Frauen und hochsensiblen Kindern durchaus sehr unterschiedlich sein kann, finden Sie in diesem Buch Abschnitte, die speziell auf ihre jeweiligen Besonderheiten und Anforderungen eingehen.
Was Sie gewinnen können
Inzwischen ist in der Literatur zum Thema die Situation der Hochsensiblen oft genug beschrieben, oft beklagt und manchmal sogar beschönigt worden. Es ist an der Zeit, Wege aufzuzeigen, wie wir selbst aktiv und konstruktiv mit der hohen Sensibilität umgehen können, damit sie zum Segen wird für uns und für andere. Die Besinnungsfragen, Experimente und Übungen dieses Buches ermöglichen einen selbstbewussten und lösungsorientierten Umgang mit der Begabung der hohen Sensibilität. So werden Sie Ihre eigene Situation nicht nur besser verstehen, sondern gewinnen auch Motivation für einen anderen Umgang mit sich selbst. Sie entdecken Wege zur Entfaltung Ihrer Begabung. Wer seine Wahrnehmung selbst steuernd und dosierend in die Hand nimmt, der verändert sein ganzes Leben.
Alle Fehler, die man als Hochsensibler machen kann, kenne ich aus eigener Erfahrung. Und wenn ich nach der Wirksamkeit meiner Arbeit gefragt werde, dann muss ich nicht von den Erfolgen meiner Klienten und Seminarteilnehmer berichten, sondern verweise auf meine eigene Person. Ich kenne das Vorher und Nachher. Von meinen Erkenntnissen über die mentalen und energetischen Vorgänge bei der Wahrnehmung und Reizverarbeitung bei uns »Highly Sensitive Persons« und von meiner Arbeit mit anderen Betroffenen gebe ich in diesem Buch einen konzentrierten Eindruck. Möge es Sie begleiten auf Ihrem Weg zu einem unbeschwerteren und kraftvolleren Leben, in dem Sie Ihre Hochsensibilität nicht mehr als Manko erleben, sondern als Plus.
Hochsensible sind meist offener für psychologische Themen als andere Menschen. Sie wollen sich und die Welt verstehen. Sie sind bereit, hinter die Kulissen zu schauen und sich und die Welt infrage zu stellen. Viele Hochsensible erkennen, dass sie aufgrund ihrer Wahrnehmung eigentlich gar keine andere Wahl haben als die zwischen dem Leiden an sich selbst und der Welt einerseits und auf der anderen Seite dem Weg hin zu mehr Bewusstheit und der Entwicklung von Bewusstsein.
Der Beitrag der Hochsensiblen
Die meisten Hochsensiblen sind von dem tiefen Wunsch beseelt, die Welt menschlicher zu gestalten, und sie sind bereit, das Ihre dafür zu bewirken. Und genau darin kann ihr Beitrag für die Gesellschaft liegen. Denn sie sind es, die es als Erste merken, wenn etwas ungerecht ist oder nicht stimmig. Sie erkennen als Erste, was fehlt. Und oft sind sie die Vorreiter, die zuerst die Auswirkungen zu spüren bekommen, wenn die Menschlichkeit zu kurz kommt.
Hochsensible müssen einen größeren mentalen Aufwand treiben und brauchen ein gewisses Know-how, wenn sie sich seelisch gesund erhalten, sich privat und beruflich entfalten wollen. Sie müssen sich ständig klären und mehr innere Arbeit leisten, um sich nicht zu verstricken in innere und äußere Konflikte und Anforderungen, denen sie ausgesetzt sind. Doch in dieser inneren Arbeit liegt zugleich auch ein großer Gewinn. Denn genau das schätzt man als Hochsensibler: die Entwicklung von Bewusstheit. – Und dann verfügt man plötzlich über einen wunderbaren Schatz: über großen inneren Reichtum. Für die Gesellschaft ist das ein wertvoller und wichtiger Beitrag für mehr Menschlichkeit. Niemand könnte ihn besser leisten als die Hochsensiblen!
Wenn ein Hochsensibler durch den Wald geht, nimmt er mehr Eindrücke auf als seine weniger sensiblen Begleiter. Zwischen dem Wahrgenommenen und anderen Dingen und Erscheinungen kann er auch mehr Zusammenhänge erkennen. Wenn er ins Konzert geht oder in ein Museum, dann müsste er eigentlich mehr zahlen als andere Besucher, weil er durch seine Wahrnehmungsfähigkeit einfach mehr erleben und genießen kann, vorausgesetzt dass die Eindrücke ihn nicht schon überfordern, wie es mir früher zuweilen geschah. Auch wenn das Leben keine besonderen äußeren Ereignisse aufweist, kann das Erleben eines Hochsensiblen intensiv und dicht sein. (Darum brauchen wir eigentlich auch keine besonderen Kicks oder Sensationen, es sei denn, wir gehören einem ganz besonderen Typ von Hochsensiblen an, auf den wir auf S. 32 noch gesondert eingehen.)
Mehr Reize aufnehmen als andere – und das intensiver. Das gilt auch für die Schattenseiten des Lebens. Hochsensible Menschen können überflutet werden von all dem Elend in der Welt, von der Not und der Ungerechtigkeit, von Schmerz und Leid. Sie können durch dieses Mitleiden das Leid noch weiter vermehren, so davon überwältigt und geschwächt werden, dass sie selbst dadurch handlungsunfähig werden. Und umso tiefer kann der Schmerz sie dann treffen.
Hohe Sensibilität heißt übrigens nicht unbedingt, tiefer zu fühlen als andere. Neben Hochsensiblen, die sehr stark empfinden, gibt es auch Hochsensible, die weniger tiefe Gefühle entwickeln. Und dennoch leiden auch sie unter dem Zuviel an Reizen, das sie aufnehmen, denn sie müssen die vielen Reize ja auch verkraften und die Informationen verarbeiten.
Überhaupt gibt es ganz unterschiedliche Kombinationen der hohen Sensibilität mit anderen Begabungen und Eigenschaften, wie etwa der Hochbegabung.
Hohe Sensibilität bedeutet zunächst nur, dass ein Mensch mehr Reize aufnimmt als andere und das intensiver. Es sagt nichts darüber aus, ob jemand stark oder schwach ist, introvertiert oder extrovertiert, über welche anderen Begabungen er sonst noch verfügt oder wie intelligent ein Mensch ist, auch wenn deutliche Zusammenhänge zwischen hoher Intelligenz und hoher Sensibilität bestehen. Es gibt alle Arten von Hochsensiblen. Darüber hinaus bleibt offen, wie ein Mensch mit seiner hohen Sensibilität umgeht, ob er sie konstruktiv zu nutzen versteht oder ob er unter ihr leidet.
Die Reizaufnahme – ein entscheidendes Kriterium
So wie man einen Kuchen ganz unterschiedlich anschneiden und aufteilen kann, so kann man die Menschen auch nach unterschiedlichen Gesichtspunkten unterteilen, z.B. nach Blutgruppen, Augenfarbe oder Körpergröße. Da wir in einer Zeit leben, in der die Menschen immer mehr Reizen und Informationen ausgesetzt sind, macht es Sinn, Menschen unter dem Kriterium der Reizaufnahme zu betrachten. Menschen, die sensibler und intensiver wahrnehmen, haben mehr Last mit der Reizüberflutung als Menschen, die weniger Reize aufnehmen. Sie werden an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen und sind herausgefordert, mit ihrer besonderen Art, Reize aufzunehmen und zu verarbeiten, konstruktiv umzugehen, wenn sie nicht darunter leiden oder gar zusammenbrechen und scheitern wollen.
Von der Wissenschaft lange übersehen
Woran es genau liegt, dass es uns Hochsensible gibt, die anders, mehr, tiefer und feiner wahrnehmen als andere, ist noch nicht genügend erforscht. Ist die Ursache ein feiner ausgeprägtes Nervensystem? Könnte es daran liegen, dass Hochsensible mehr Rezeptoren im Gehirn ausbilden? Produzieren sie aus irgendwelchen
Der amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron gebührt das Verdienst, die hohe Sensibilität aus fachlicher Sicht zur passenden Zeit »entdeckt« und den Begriff Highly Sensitive Person geprägt zu haben. Im Rahmen einer Therapie, die sie bei einer Kollegin machte, stieß sie auf die Bemerkung ihrer Therapeutin: »Sie sind ja auch eine hochsensible Person.« Sie stutzte bei dieser Formulierung. Das Thema der hohen Sensibilität hatte in ihrem Studium keine Rolle gespielt, und auch ihre Nachforschungen zeigten, dass sie – so erstaunlich es klingt – Neuland betreten hatte. 1996 veröffentlichte Elaine N. Aron ihr erstes Buch zum Thema »The Highly Sensitive Person« mit dem genialen Untertitel, mit dem sie das Lebensgefühl der Hochsensiblen auf den Punkt bringt: »How to thrive when the world overwhelmes you« – »Wie soll man gedeihen, wenn die Welt einen überwältigt«. Weitere Titel folgten.
Gründen mehr Botenstoffe? Und wenn ja, welche? Haben sie mehr Spiegelzellen, sodass sie sich dadurch leichter in die Situation anderer hineinversetzen können? Gibt es eine Ursache für diese Begabung oder müssen mehrere Ursachen zusammenkommen? All das sind Fragen an die Wissenschaft. Wir dürfen auf Forschungsergebnisse gespannt sein!
In den letzten Jahren ist der renommierte amerikanische Entwicklungspsychologe Jerome Kagan zusammen mit einer Forschergruppe der Frage nachgegangen, ob persönliche Wesenszüge, die man bereits beim Kleinkind wahrnehmen kann, stabil sind oder ob sie durch Umweltfaktoren im Laufe des Lebens stark beeinflusst werden. Kagan konnte wissenschaftlich nachweisen, dass das Temperament, mit dem man geboren ist, sich wie ein roter Faden auch durch das weitere Leben zieht.
Theoretisch kann es je nach Sichtweise und Fragestellung Hunderte von unterschiedlichen Temperamenten geben, Kagan hat seine Studien ausgerechnet am Beispiel der Beeindruckbarkeit und Reaktion auf Reize durchgeführt. Dabei fand er heraus, dass etwa 20 Prozent der Probanden, die er kontinuierlich als Babys, als Kleinkinder und später als Teenager und junge Erwachsene testete, besonders empfindlich reagierten. Er nennt diese Gruppe »high reactors«, die deutlich von der Gruppe der »low reactors« abgegrenzt werden kann, zu der rund 40 Prozent der Untersuchten gehören.
Auch wenn Kagan in seiner Veröffentlichung The Temperamental Thread den Begriff Hochsensibilität nicht verwendet, hat er mit seiner Langzeitstudie den Erkenntnissen von Elaine N. Aron eine indirekte wissenschaftliche Bestätigung gegeben. Die Verbreitung der Hochreaktiven deckt sich nahezu mit ihren Angaben, dass 15 bis 20 Prozent aller Menschen zur Gruppe der Hochsensiblen gehören. »Hochreaktivität« ist laut Kagan – ebenso wie von Aron bei der Hochsensibilität angenommen – erblich. Die Hochreaktiven zeigten bei hirnorganischen Untersuchungen übrigens Auffälligkeiten in der Amygdala und im Präfrontalen Kortex.
Bisher hat die Wissenschaft sich jedoch noch nicht in ausreichendem Maße mit diesem Phänomen beschäftigt. Das statistische Vorgehen in Verbindung mit der Grundannahme, dass alle Menschen gleich wären, könnte der Erforschung der hohen Sensibilität im Wege gestanden haben. Die Wissenschaft ist offenbar mehr interessiert an Ergebnissen, die für jeden gelten – angeblich für jeden. Ein Beispiel: Arzneimittelstudien werden üblicherweise an Männern einer bestimmten Altersgruppe durchgeführt. Die Ergebnisse werden dann auch auf ältere Männer und auf Frauen und Kinder übertragen, auch wenn Frauen und Kinder hormonell ganz anders ausgestattet sind. Und wenn es dann auch noch die Gruppe der Hochsensiblen gibt, wird es sogar noch komplizierter: Hochsensible wissen aus eigener Erfahrung, dass meist schon sehr viel geringere Dosen eines Medikaments als verordnet auf sie die volle Wirkung haben.
Von der Psychologie lange übersehen
Nicht einmal die Psychologie hat dem Phänomen, dass es Menschen gibt, die anders wahrnehmen als andere, die gebührende Beachtung geschenkt. Wen wundert es, dass Psychotherapeuten ihnen oft nicht helfen konnten?
Eine Ausnahme ist Ernst Kretschmer (1888 – 1964), Professor für Psychiatrie und Neurologie, bekannt für seine Konstitutionstypenlehre, in der er zwischen Körperbautypen und den Möglichkeiten, an bestimmten Psychosen zu erkranken, Zusammenhänge aufzeigt. In seinem Werk Medizinische Psychologie stellte er bereits in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Wesenszüge von Hochsensiblen dar. Er bezeichnet sie als »sensitive Reaktionstypen«. Er bemerkt auf der einen Seite ihre »außerordentliche Gemütsweichheit, Schwäche und zarte Verwundbarkeit, auf der anderen Seite aber einen gewissen Einschlag von selbstbewusstem Ehrgeiz und Eigensinn. Sie zeigen ein stark verinnerlichtes Gemütsleben, das seine nachhaltigen gespannten Affekte tief in sich verschließt, eine verfeinerte Selbstbeobachtung und Selbstkritik, eine skrupulöse Ethik und die Fähigkeit zu echtem altruistischen Empfinden. Ernsthafte Menschen von schüchternem, bescheidenem Auftreten«, so beschreibt er sie und nennt auch »Stolz und Strebsamkeit« als Eigenschaften. Seine Entdeckung führte zu Schlussfolgerungen, die heute als antiquiert erscheinen müssen, und sie kam offenbar zu früh: Die Qualitäten, die ein Hochsensibler in die Waagschale werfen kann, waren damals auch im Berufsleben noch gefragt und galten etwas: Umsicht, Verantwortungsgefühl und Gewissenhaftigkeit, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft.
Viele Hochsensible berichten davon, dass in Psychotherapien nur an den Folgen ihrer andersgearteten Reizaufnahme herumkuriert wurde, z.B. an ihrer Schüchternheit, an Ängsten und Depressionen, an ihrer geringeren Stressresistenz und an chronifizierten Krankheitssymptomen. Ihre Art der Wahrnehmung wurde meist nicht einmal thematisiert. Dass Therapeuten mit ihren für Hochsensible oft nicht geeigneten Therapien selbst noch mehr Depression und Resignation bewirkt haben, wurde meist nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Wichtiger als der bisherige Stand der Psychologie ist die Tatsache, dass wir Hochsensiblen uns selbst als hochsensibel erleben: Wenn ich unsere Wesenszüge in einem Vortrag beschreibe, atmen viele Hochsensible unter den Zuhörern hörbar auf. Sie fühlen sich erkannt und verstanden. Sie erfahren, dass sie nicht allein sind: Es gibt noch mehr Menschen, die sich und die Welt so erleben. Wir sind also gar nicht verkorkst. Es hat uns zuvor nur noch niemand mitgeteilt, wie man mit der hohen Sensibilität umgehen kann, ohne daran zu leiden.
Hohe Sensibilität ist eine Begabung. Das sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob ein Begabter diese Anlage auch als Gabe erkannt hat und ob er sie konstruktiv nutzen kann.
Wer sensibler wahrnimmt als andere, der kann potenziell auch mehr Freude, Lebensglück und inneren Reichtum erfahren. Darüber hinaus kann sich hohe Sensibilität auch förderlich auswirken auf den äußeren Erfolg eines Menschen. In allen Lebensbereichen kann die hohe Sensibilität von Vorteil sein, für den Hochsensiblen selbst und für seine Mitmenschen: Da ist die Abteilungsleiterin, die genau wahrnimmt, in welchem Maße sie welchen Mitarbeiter belasten kann, der Verkäufer, der genau spürt, was der Kunde wünscht, der Ingenieur, der ahnt, in welche Richtung eine technische Entwicklung sich bewegt, der Techniker, der ein besonderes Händchen hat beim Aufspüren von Störungsursachen, die Galeristin, die das Entwicklungspotenzial von Künstlern wahrnimmt und die aussichtsreichsten schon früh an ihre Galerie bindet, der hochsensible Leistungssportler, der genau weiß, wie weit er sich belasten darf und ab wann sein Training ihm schaden könnte, die Mutter, die genau einschätzen kann, in welchem Maße sie ihrem Kind helfen darf und ab wann ihre Hilfe das Kind schwächen und unselbständig halten würde.
Doch auch solche Hochsensiblen gibt es: diejenigen, die ihre eigenen Bedürfnisse übersehen, weil sie die der anderen so überdeutlich spüren, die nicht für sich sorgen und deshalb immer zu kurz kommen und dann unzufrieden sind, die, die allen Konflikten ausweichen und nicht in der Lage sind, ihre eigene Position rechtzeitig zu erkennen und zu vertreten, und die dann doch nur im Streit mit anderen leben. Solche, die an ihrem eigenen Anspruch an ihre Arbeit scheitern, weil sie nicht nur das Geforderte leisten wollen, sondern sich weit mehr abverlangen, die sich die Probleme anderer auflasten und gar nicht mehr dazu kommen, ihre eigenen wahrzunehmen, die immer nur das Störende bemerken und an all den vielen anderen Möglichkeiten des Lebens vorbeigehen.
In der Literatur wird bisher das einseitige Bild der sanften und edlen Highly Sensitive Persons gepflegt. Unsere Schattenseiten fallen unter den Tisch. Mit Beschönigungen und halben Wahrheiten ist jedoch niemandem gedient. Am wenigsten den Betroffenen. Wir Hochsensiblen haben eigentlich nur eine Wahl: Wir können es dabei belassen, unsere Wahrnehmung mehr oder weniger zu erleiden, oder wir können uns dafür entscheiden, zu lernen, bewusst und konstruktiv mit unserer Begabung umzugehen.
Hohe Sensibilität: Eine Begabung fürs Leben
Auch wenn wir uns immer noch als vereinzelt und als Außenseiter erleben, hohe Sensibilität ist stärker verbreitet, als wir denken: 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gehören dazu.
Hochsensible sind also durchaus nicht selten. Dass sie kaum bemerkt werden und sie sich gewöhnlich als vereinzelt erleben, mag damit zu tun haben, dass die meisten Hochsensiblen gelernt haben, sich anzupassen und ihr Wesen zu verleugnen. Hochsensible ecken immer dann an, wenn ihre Sensibilität stört, z.B. wenn sie überreizt reagieren, weil sie ganz offensichtlich überfordert sind. Ein Hochsensibler, der anderen hilfsbereit und einfühlsam nützt, ist durchaus willkommen, er fällt jedoch aufgrund seines eher zurückhaltenden und bescheidenen Wesens kaum auf.
Man könnte vielleicht denken, dass die hohe Sensibilität eine Folge der westlichen Zivilisation wäre, doch Hochsensible gibt und gab es in allen Völkern und Kulturen. Unterschiedlich können jedoch die Bewertung und der Umgang mit dieser Eigenschaft sein. So gibt es Kulturen, in denen Hochsensible besonders geschätzt sind, und andere, in denen der Druck, sich anzupassen, besonders hoch ist. In Zeiten, in denen z.B. von der Jugend gefordert wurde, »zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde« zu sein, hat sie wohl die geringste Achtung erfahren.
Die Anlage der hohen Sensibilität bleibt nicht nur auf die Menschen beschränkt, man findet sie ebenso im Tierreich. Es dient dem Überleben einer Herde, wenn einige Exemplare hochsensibel sind. Sie sind es, die Gefahr als Erste wahrnehmen und die anderen warnen. Selbst bei vereinzelt lebenden Tierarten bietet ein Anteil von Hochsensiblen einen Überlebensvorteil. Die Hochsensiblen lassen sich nicht in Kämpfen um Nahrungsquellen aufreiben, sondern ziehen sich zurück und suchen ihr Heil im Ausweichen. Der Überlebensvorteil der Hochsensiblen liegt gerade in dem, was für viele Hochsensible zur Last geworden ist: in ihrer differenzierten und über den Tellerrand weit hinausgreifenden Wahrnehmung.
Vererbung: Zusammenwirken von Genen und Umwelteinflüssen
Elaine N. Aron geht von der Erblichkeit der hohen Sensibilität aus. Als zusätzlichen Faktor bei der Ausprägung der hohen Sensibilität nennt sie den Rückhalt, den der kleine Mensch bei seiner Entdeckung der Welt erhält. Ermöglicht ihm die Anwesenheit der Eltern ein Gefühl der Sicherheit bei seinen ersten eigenen Schritten? Oder findet er keinen verlässlichen Rückhalt? Wird das Kind zurückgehalten, wenn es ein wenig Selbständigkeit wagen will? Wird dem Kind vielleicht sogar Angst gemacht?
Greift dieses Konzept vielleicht etwas zu kurz? Gewiss, mit den Genen wird die Anlage vererbt, die Gabe der hohen Sensibilität. Doch es gibt noch eine andere Art der Vererbung. Und sie entscheidet mit darüber, ob hohe Sensibilität zum Problem wird oder ob sie sich zum Vorteil für den Begabten auswirkt. Hochsensible Eltern geben auch ihre eigene Einstellung zur hohen Sensibilität und ihre Probleme, die sie mit ihr haben, weiter. Können sie diesen Wesenszug an sich annehmen oder lehnen sie ihn ab? Bekämpfen sie die hohe Sensibilität in ihrem Kind? Oder packen sie z.B. ihr Kind in Watte, weil sie diese Begabung in sich selbst unterdrücken mussten? Und wie ist es mit ihrem Umgang mit der Wahrnehmung, mit ihren eigenen Grenzen? Wie leben sie selbst ihre Begabung?
Wie hoch ist der Anteil der biologischen Vererbung wirklich? Und wie hoch der Anteil der Sozialisation? Diese Frage wird nie stichhaltig beantwortet werden können. Auch ist sie zu vordergründig gestellt. Längst hat die Epigenetik erkannt, dass es um ein Zusammenwirken von Genen und äußeren Faktoren geht. Es sind Umwelteinflüsse, die unterschiedliche Gene aktivieren oder deaktivieren können!
Welche Aussagen treffen auf Sie zu?
Ein Einkaufsbummel in der Stadt scheint für mich anstrengender zu sein als für andere.Gewaltszenen im Kino oder Fernsehen scheinen mich tiefer zu beeindrucken als andere.Soziale Ungerechtigkeit beeindruckt mich so stark, als wäre ich selbst direkt betroffen.Ich bin deutlich schreckhafter als andere.Komme ich neu in einen Laden, fühle ich mich schnell von all den Eindrücken überwältigt und brauche gewöhnlich etwas länger als andere, um mich zu orientieren.Ich reagiere deutlich empfindlicher auf Geräusche als andere Menschen.Laute Geräusche bereiten mir fast ein körperliches Unbehagen.Reisen scheint mich mehr anzustrengen als andere.Der Kontakt mit anderen Menschen laugt mich manchmal aus.Oft gehen mir selbst kleine Dinge nach, die andere oder ich gesagt haben.Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich auch das hören, was andere nicht sagen.Oft geht mir etwas nach, das ich unterlassen oder nicht gut genug gemacht habe.Ich spüre sehr genau, wie es anderen geht.Ich fühle mich häufig missverstanden, weil ich offenbar mehr und andereDinge wahrnehme als andere. Manchmal fühle ich mich aus diesem Grund auch sehr allein.Großen Menschenansammlungen weiche ich am liebsten aus.Als Kind war ich tief erschrocken, wenn der Lehrer mit einem Mitschüler schimpfte. Ich fühlte mich so, als hätte er mit mir geschimpft, obwohl ich gar nicht beteiligt oder gemeint war.Wenn Konflikte und Streit in der Luft hängen, spüre ich das beinahe körperlich – sogar wenn ich von der Spannung eigentlich selbst gar nicht betroffen bin.Die Stimmungen anderer Menschen beeindrucken mich unnötig stark. Wenn zu viel Unruhe herrscht, reagiere ich gereizt, fahrig, mit Stress oder körperlichen/emotionalen Symptomen.Ich brauche viel Rückzug und Zeit für mich.Harmonie ist mir wichtig, sonst leide ich unter der AtmosphäreKonfliktsituationen weiche ich am liebsten aus. Wenn ich mich eigentlich behaupten sollte, reagiere ich eher mit Rückzug, obwohl ich mich dann wiederum darüber ärgere.Es gelingt mir eher, für die Rechte anderer oder die Ansprüche der Allgemeinheit einzutreten als für meine eigenen Interessen.Ich bin ein guter Zuhörer und kann mich gut einfühlen und andere wieder aufbauen, wenn sie Probleme haben.Die Auflösung des Selbsteinschätzungstests
Wenn Sie mehr als die Hälfte der 23 Aussagen mit einem Ja beantworten konnten, dann dürften auch Sie hochsensibel sein. (Es sei denn, Sie befinden sich momentan in einer ganz außerordentlichen Belastungssituation. Dann könnten auch andere Menschen so wie Hochsensible reagieren.) Machen Sie die Probe und stellen Sie sich folgende Fragen: »Wie war es in der Vergangenheit? Wie war es in der Kindheit?« Gehen Sie die Aussagen damit erneut durch. Erhalten Sie dasselbe oder ein ähnliches Ergebnis mit mehr als 12 Ja-Antworten, ist das eine Bestätigung des Testergebnisses. Sie können auch den folgenden Test speziell für hochsensible Kinder noch einmal für sich auswerten.
Welche Aussagen treffen auf Ihr Kind zu?
Das Kind reagiert stark und abwehrend auf große Lautstärke oder Lärm.Das Kind gleicht Spannungen gern aus und sorgt für eine harmonischeAtmosphäre.Es fühlt sich ein, wenn andere traurig oder krank sind. Es nimmt dann ganz von selbst Rücksicht auf andere.Das Kind liebt eher ruhige Spiele. (Wenn es zornig wird, kann es auch einmal laut werden.)Das Kind spürt deutlich Spannungen zwischen den Eltern, auch wenn sie nicht ausgesprochen und vor den Kindern verborgen werden.Zu viele Eindrücke verängstigen oder ermüden das Kind schnell. Es braucht dann Rückzug.Das Kind spürt selbst kleine Details, die verändert wurden.Während andere Kinder Spaß an schnellen und wilden Karussellfahrten haben, schreckt das Kind davor zurück.Es spielt auch gern einmal allein. Es erlebt sein Spiel intensiv und geht darin auf.Das Kind hält sich vor neuen Dingen oder Unternehmungen etwas zurück. Es beobachtet lange aus sicherem Abstand, bevor es sich dann vielleicht darauf einlässt.Das Kind ist interessiert und zugleich etwas zurückhaltend, wenn es anderen Kindern oder Erwachsenen vorgestellt wird.Das Kind mag Wettspiele nicht besonders, es tut sich in ihnen nicht hervor. Es geht ihm offenbar nicht darum, zu gewinnen oder zu dominieren.Das Kind stellt schon früh hohe Ansprüche an sich selbst. Wenn es feststellt, dass die Ergebnisse seiner Bemühungen nicht so vollkommen wie seine Vorstellungen sind, leidet es darunter. Das sind Momente, in denen es zornig und laut werden kann.Es ist im Vergleich zu anderen Kindern eher leise und ruhig, auch wenn es Ausnahmen geben kann, z.B. wenn es überreizt oder zornig ist.Das Kind liebt Ausgleich und Gerechtigkeit. Es teilt gern Schokolade und Kekse. Es achtet darauf, dass alle etwas bekommen. Wenn anderen Unrecht geschieht, fühlt es sich selbst davon betroffen. Dann kann es vielleicht sogar mutig für größere Kinder eintreten.Das Kind hat oft nur einen oder zwei Spielkameraden, mit denen es intensiven Kontakt pflegt, bei größeren Gruppen verhält es sich eher reserviert oder sogar abweisend.Die Auflösung des Tests
Wenn Sie mehr als die Hälfte – also 8 – der Aussagen bestätigen konnten, dann dürfte Ihr Kind hochsensibel sein. Bedenken Sie jedoch, dass ein Ergebnis von momentanen Situationen, von Ihrem eigenen Verhältnis zum Kind und dergleichen beeinflusst werden kann. – Das Alter des Kindes wurde bei diesem allgemein gehaltenen Test im Übrigen nicht berücksichtigt.
Empfindlichkeit: Eine erworbene hohe Sensibilität
Hohe Sensibilität ist eine Begabung und Wesensart, bei deren Entstehung Gene und soziale Faktoren zusammenwirken. Sie manifestiert sich schon in der Kindheit. Häufig sind es die Lebensumstände des Kindes, die sie weiter ausprägen. Es gibt jedoch auch eine Sensitivität, die erst im Laufe des Lebens entsteht und sich weiterentwickelt. Diese erworbene Sensibilität nenne ich hier Empfindlichkeit. Traumatische Ereignisse können dafür ebenso ursächlich sein wie körperliche Krankheiten und die Vulnerabilität durch toxische Belastungen, z.B. durch Schwermetalle oder Holzschutzmittel.
Ein Mensch mit einer Störfeldbelastung, z.B. einem unerkannten Eiterherd, lebt gewissermaßen ständig an der Grenze seiner äußersten Belastbarkeit. Sein Immunsystem befindet sich in einem dauernden Abwehrkampf, das Nervensystem reagiert in äußerster Alarmbereitschaft auf jede weitere Herausforderung. Jeder zusätzliche Reiz kann dann wie eine Überforderung wirken. Oft ist es erst diese Reizbarkeit, die dazu führt, sich auf die Suche nach solchen verborgenen Ursachen zu machen. Ebenso können Störungen der Schilddrüsenfunktion sich so auswirken, dass man ähnlich wie ein Hochsensibler reagiert und sich rasch überreizt fühlt. Typisch können dafür auch Schwankungen zwischen Phlegma und Überreizung sein.
SILKE, die Mitarbeiterin einer Familienbildungsstätte, bei der ich Vorträge über das Thema halte, erzählte mir von einer Zeit, in der man sie auch für hochsensibel hätte halten können: »Ich kannte mich selbst nicht mehr. Bei der kleinsten Störung geriet ich in einen Zustand, in dem ich zu allem fähig gewesen wäre, auch gegenüber meinem Mann und den Kindern. Im nächsten Moment litt ich wieder darunter, dass ich so hässlich zu ihnen war, und verurteilte mich. Ich hielt mich selbst nicht mehr aus. Jedes kleinste Geräusch schien in meinem Kopf zu dröhnen, die Autos schienen durch mich geradezu hindurchzufahren ... Meine beste Freundin schickte mich zu einem Zahnarzt, der für alternative Methoden offen war. Und dann wurden die Herde und Störfelder saniert, die Gifte ausgeleitet. Jetzt bin ich wieder ich selbst!«
Wer unter einer Empfindlichkeit leidet, die plötzlich aufgetreten ist, sollte sich unbedingt einer medizinischen Untersuchung unterziehen und sich dabei nicht scheuen, auch alternative Testmethoden in Anspruch zu nehmen. Es könnte sogar sein, dass es sich um Unverträglichkeiten und Störungen handelt, die durch medizinische Maßnahmen hervorgerufen wurden – z.B. durch Amalgamfüllungen.
Erworbene Empfindlichkeit kann auch die Folge einer Traumatisierung sein. Nach einem Überfall, einer Vergewaltigung, einem Einbruch ist die Welt für diesen Menschen nicht mehr dieselbe. Es ist leicht nachvollziehbar, dass er danach ganz anders wahrnimmt als zuvor. Er lebt nach diesem Ereignis in einer bedrohlichen Welt, in der das, was er erlitten hat, sich jederzeit wiederholen kann. Seine Aufmerksamkeit ist folglich nach außen gerichtet, um sich vor erneuter Verletzung zu schützen. Sein Nervensystem befindet sich in einer Art dauerndem Alarmzustand.
Der Unterschied zwischen hoher Sensibilität und Empfindlichkeit besteht v.a. darin, dass sich die Empfindlichkeit erst im Laufe des Lebens einstellt. Es handelt sich nicht um eine Begabung oder einen Wesenszug des Menschen, sondern um eine erworbene Reaktionsweise. Ebenso sind die Vorzüge der feineren und umfassenderen Wahrnehmung bei der erworbenen Empfindlichkeit durchaus nicht zu erkennen. Die Empfindlichkeit dient ausschließlich der Abwehr und dem Schutz. Ein zusätzlicher Hinweis, dass es sich nicht um die Anlage der hohen Sensibilität handelt, kann in dem Umstand bestehen, dass die Empfindlichkeit auch auf ganz bestimmte Lebensbereiche und Situationen beschränkt bleiben kann. Angeborene hohe Sensibilität und erworbene Empfindlichkeit können auch zusammen auftreten, sich gegenseitig steigern, die Reizbarkeit und das Leiden daran verstärken.
Vielleicht haben Sie sich in den Tests als hochsensibel wiedererkannt. Vielleicht auch nur zum Teil. So geht es Michael, einem meiner Freunde. Er ist eine Zeit lang ganz hochsensibel, und dann plötzlich empfindet er wieder ganz anders. Von einem Moment zum anderen scheint er innerlich umzuschalten von sensibel und zurückhaltend auf unternehmungslustig. Dann braucht er Abwechslung und das, was seine ebenfalls hochsensible Frau den »Kick« nennt. (Manchmal schaut sie dann besorgt, und manchmal freut sie sich auch darüber, denn langweilig ist das Leben mit Michael nicht.) Wenn Sie auch beide Seiten in sich spüren, könnten Sie ebenso wie Michael zu einer Sonderform der Hochsensiblen gehören.
Generell steht jeder Hochsensible vor der Aufgabe, sich selbst ständig auszusteuern zwischen Überstimulation mit zu vielen Reizen und Unterstimulierung mit zu wenig Reizen. Die Spanne zwischen Überstimulation und Unterstimulierung ist bei Hochsensiblen meist geringer als bei weniger sensiblen Menschen. Bei einer Minderheit unter ihnen ist diese Spanne jedoch sehr starken Schwankungen ausgesetzt. Es handelt sich um die Hochsensiblen, die zugleich High Sensation Seekers sind. Bei ihnen wechseln Zeiten, in denen sie nur wenige Reize vertragen und sich typisch hochsensibel verhalten, mit Phasen, in denen ihnen die Reize nicht stark genug sein können und in denen sie große Herausforderungen suchen und Risiken eingehen, Kampf und Wettbewerb lieben, was für Hochsensible sonst völlig untypisch ist.
Hochsensible, die zugleich zur Gruppe der High Sensation Seekers gehören, verstehen sich oft selbst nicht, und ihre Mitmenschen sind ebenso irritiert über ihre Widersprüchlichkeit. Sie entsprechen nicht der landläufigen Vorstellung, nach der man entweder so ist oder so. Oft wenden sie diese Art von Logik auf sich selbst an und unterdrücken eine ihrer beiden Seiten, vielleicht zu unterschiedlichen Zeiten mal die eine und mal die andere. Sie sind jedoch beides: hochsensibel und zugleich risikofreudig.
Die Anlage der hohen Sensibilität wird genetisch vererbt. Ebenso wird die Anlage der High Sensation Seekers durch Gene weitergegeben. Vererbt wird dabei die Begabung der Risikofreude und Kampfbereitschaft, der Spaß an Herausforderungen und am Wettbewerb, der Kitzel dabei, alles auf eine Karte zu setzen. Diese unterschiedlichen Begabungen werden unabhängig voneinander vererbt. So ist es möglich, dass beide so entgegengesetzten Wesenszüge in einem Menschen zusammenkommen, auch wenn sie so wenig zusammenzupassen scheinen.
Typisch für Hochsensible, die zugleich High Sensation Seekers sind, ist das plötzliche Umkippen von »hochsensibel« auf »hochriskant«. Leichter leben lässt es sich damit, wenn es den Betroffenen gelungen ist, beiden Begabungen unterschiedliche Lebensbereiche zuzuordnen, in denen sie ihrem Wesen gemäß dominieren dürfen.
Welche Aussagen treffen auf Sie zu?
Manchmal brauche ich den Kick. Es überkommt mich geradezu, dann muss ich aus allem Gewohnten ausbrechen.Manchmal kenne ich mich scheinbar selbst nicht mehr. Eben war ich noch geradezu zimperlich, und dann sinne ich plötzlich darauf, einen Konflikt zu inszenieren.Entweder bin ich ganz brav und handzahm oder ich provoziere.Ich fühle mich wie zwei entgegengesetzte Seelen in einer Person. Mal lehne ich die eine ab und dann wiederum die andere.Manchmal erschrecke ich nachträglich über Situationen, die ich zuvor gemeistert hatte, als ich anders drauf war.Ich führe eine Art Doppelleben. Nach außen bin ich der coole Typ. Dann erlebe ich mich wieder innerlich als Sensibelchen.Falls Sie sich in diesen Fragen wiedererkennen, könnten Sie zu dieser Gruppe gehören. Entscheidend ist, ob Sie sich als so widersprüchlich erleben. Hohe Sensibilität in Verbindung mit der Anlage zum High Sensation Seeker ist jedoch vom Hochsensiblen, der »nur« hochsensibel ist, gar nicht so leicht zu unterscheiden. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Die meisten Hochsensiblen sind generell von einem inneren Konflikt zwischen einer überfordernden Seite und einer unterfordernden Seite geprägt. Wir wissen deshalb oft selbst nicht, was wir uns zutrauen können und was nicht. Dieser innere Konflikt kann in seinen Auswirkungen so erscheinen wie die Kombination von hochsensibel und hoch risikofreudig. Immer dann, wenn wir Hochsensiblen wieder einmal über unsere Grenzen gegangen sind, verhalten wir uns anders, oft unserem eigenen Wesen genau entgegengesetzt. Wer sonst zurückhaltend ist, wird dann z.B. offensiv. Wer sonst auf Unauffälligkeit und Sicherheit ausgerichtet ist, geht dann Risiken ein. Wer sonst auf Harmonie setzt, wird dann aggressiv und kann andere angreifen. (Mehr darüber im Kapitel über Grenzen.) Ein weiterer Umstand, der die Unterscheidung erschwert: In Situationen äußerster Belastung verhalten sich die meisten Hochsensiblen äußerst beherzt und sicher – zu ihrer eigenen Überraschung.
Vom Umgang mit der Kombination hochsensibel/ hoch risikofreudig
Am sichersten ist es, den eigenen High Sensation Seeker im Sport auszuleben. Anna, eine hochsensible Seminarteilnehmerin, übte zur Überraschung aller anderen Teilnehmer eine Extremsportart aus. Als Bobfahrerin erlebt sie ihren Kick und stellt ihren inneren High Sensation Seeker damit zufrieden. Ihr Beruf, Juristin in einem Wirtschaftsverband, passt mehr zu Annas hochsensiblen Seite.
Andere finden einen Beruf oder die passenden beruflichen Bedingungen, um ihre innere Widersprüchlichkeit auszuleben. Bernd, ein hochsensibler Freund von mir, aufmerksamer und kunstsinniger Gesprächspartner und einfühlsamer Vater, lief erst zur beruflichen Hochform auf, als er eine internationale Karriere begann, die es erforderlich macht, fast in jeder Woche Verhandlungen an wechselnden Orten auf anderen Kontinenten zu führen. Das Jetten ist für Bernd stressfrei und tut ihm sichtlich gut. Seine hohe Sensibilität hilft ihm in den Verhandlungen mit Geschäftspartnern.
Auch das gibt es: den hochsensiblen High Sensation Seeker, der im Beruf wenig belastbar ist und im Urlaub seine Risikofreude bis ins Extrem auslebt, dann krank zurückkommt und sich erst einmal auskurieren muss. – Die hochsensible Seite hat ihn wieder!
MANUELA, eine hochsensible Klientin, konnte mit erstaunlichen Brüchen in ihrer Lebensgeschichte aufwarten. Phasen in ihrer schwäbischen Kleinstadt mit wenig herausfordernden Berufstätigkeiten oder Arbeitslosigkeit wechselten mit Zeiten großer existenzieller Risikofreude mit Jobs in wechselnden Berufen in mehreren fremden Ländern, in die Manuela fast spontan aufzubrechen pflegte. Körperliche Symptome zwangen sie zur Heimkehr.
Die Frage ist, ob Hochsensible, die zugleich High Sensation Seekers sind, tatsächlich die Bereitschaft haben, diese beiden Seiten in sich wahrzunehmen, zu respektieren und zu leben. Bei Männern kann z.B. die Tendenz bestehen, die hochsensible Seite ganz zu übersehen und zu unterdrücken. Krankheiten und Leiden stellen dann oft die einzigen Möglichkeiten für die hochsensible Seite dar, sich Beachtung zu verschaffen.
Die hohe Sensibilität ist eine Begabung zur Meisterung des Lebens. Durch erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit hat man mehr Überblick, man ist wachsamer als andere, kann sich drohenden Gefahren früher entziehen und ist dadurch im Vorteil. Ein Leiden an der hohen Sensibilität ist von der Natur aus nicht vorgegeben. Wie kommt es, dass manche Hochsensible ihre Begabung als Belastung erleben, während andere Hochsensible die Vorzüge ihrer Begabung nutzen und genießen?
Erst wer erkannt hat, welche Begleitumstände aus einem hochsensiblen Kind einen unglücklichen Menschen machen, und wer verstanden hat, welchen Beitrag man als Hochsensibler zu solch einer unerfreulichen Entwicklung selbst leistet, kann sich die weitergehenden Fragen stellen: Wie lässt sich das vermeiden? Wie kann man gegensteuern? Wie lässt sich das auch später noch korrigieren? Wie kann man mit dieser Begabung so umgehen, dass sie zu mehr Glück und äußerem Erfolg beiträgt?
Da ist ein hochsensibles Kind. Es verfügt über die Begabung, mehr Reize aufzunehmen, feiner, differenzierter und intensiver wahrzunehmen als andere. Mit dieser Begabung besitzt es einen Schatz, mit dem es freilich noch lernen muss umzugehen, damit die Gabe zu einer Fähigkeit wird. Damit kann der Hochsensible dann später einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten, sein Leben und auch das Leben anderer bereichern. Eigentlich wäre alles ganz einfach. Doch dann heißt es so oft: »Sei doch nicht so empfindlich!« oder »Was du nur wieder hast, siehst, spürst ...!«, »Immer machst du Probleme!« – Diese oder ähnliche Aussprüche haben viele Hochsensible in ihrem Leben zur Genüge gehört.
»SEI DOCH NICHT SO SENSIBEL!«– Auch als Erwachsener kamen mir solche Sprüche noch lange entgegen, z.B. auf Familientreffen, und ich habe mich dann oft gefragt, ob ich da hingehöre. Heute kann ich anders damit umgehen. Ich nehme eben auch wahr, wem ich auf welcher Ebene begegnen kann und wie offen ich zu wem sein kann, ohne meinem Gegenüber die Gelegenheit zu geben, mich zu verletzen. Ich passe jetzt auf mich auf. Meine hohe Sensibilität hilft mir dabei.
»Sei doch nicht so sensibel!« – Dieser Ausspruch ist verletzend für ein hochsensibles Kind. So, als hätte man einem Menschen mit blauen Augen gesagt, er solle doch bitteschön keine blauen Augen haben, weil das nicht in Ordnung wäre. Oder als würde man einem Menschen mit heller oder dunkler Haut erklären, er wäre mit dieser Hautfarbe weniger wert als andere. Mehr noch: Es ist ein Angriff auf den Kern des eigenen Wesens. Viele hochsensible Kinder kommen zu dem Schluss, dass ihre eigene Wahrnehmung wohl etwas Schlechtes sein müsse. Sie führt offensichtlich nur dazu, dass man mit ihr aneckt und stört. Der Kampf gegen die eigene Wahrnehmung beginnt! Es ist ein Kampf gegen sich selbst. Unsere Augenfarbe oder die Farbe unserer Haut können wir nicht verändern oder verstecken, doch die hohe Sensibilität kann man durchaus unterdrücken. Man kann über sie hinweggehen und sich anpassen an das, was bei den anderen gut ankommt, um dazuzugehören, um angenommen und geliebt zu werden.
Hochsensible Menschen nehmen auch mehr auf von dem, was andere sagen, denken und was von ihnen erwartet wird. Sie spüren die Einstellung der anderen intensiver, ihre Urteile, Abwertungen und Ablehnungen. Es bleibt ihnen auch nicht verborgen, was stattdessen erwünscht ist und wie man gut bei den anderen ankommt. Die Begabung des feinen Gespürs kann uns leicht zu wahren Meistern der Anpassung machen. Hochsensible berichten häufig davon, dass sie als Kinder gewissermaßen die Farbe ihres Gegenübers annahmen, dass sie sich einfühlen konnten, sich ein-denken konnten in den anderen, dass sie sogar die Welt mit dessen Augen wahrnahmen. Und all das erschien ihnen ganz selbstverständlich. Sie gingen sich selbst im Kontakt ganz einfach verloren.
Die erste Stufe: Das Übergehen der Wahrnehmung des eigenen Körpers
Zuerst lernt ein hochsensibles Kind seinen Körper nicht mehr wahrzunehmen, wenn dieser Körper mit seinen Empfindungen immer nur stört. Es nimmt jede Reaktion der Eltern sehr fein wahr, jede Irritation, jedes Unbehagen und jeden Rückzug aus dem Kontakt, jeden Zweifel und jeden Anflug von Ablehnung. Sensibles Wahrnehmen kann den Verlust von Annahme und Resonanz bedeuten. Die bestärkende Resonanz ist jedoch wichtig – und wichtiger als alle Worte –, weil sie dem Kind das Empfinden vermittelt, dazuzugehören, es »richtig« zu machen, erwünscht zu sein. Fehlende oder unklare Resonanz lässt das Kind allein zurück, ohne Rückhalt und sogar mit dem Gefühl, nicht »richtig« zu sein: wertlos.
Das Kind lernt also, dass es nicht in Ordnung ist, seinen Körper und seine Empfindsamkeit zu beachten. Für die Liebe seiner Eltern, für Sicherheit und Zugehörigkeit opfert es bald die Wahrnehmung seines Körpers. In der Folge wird der eigene Körper als wertlos angesehen, als lästiges Anhängsel von Geist und Seele oder als Maschine, der man jede Leistung abverlangen kann, deren Widerstand es zu überwinden oder zu brechen gilt.
Und noch stärker wird der Druck auf das hochsensible Kind, wenn es in Kontakt kommt mit anderen Kindern. Den Ton auf den Spielplätzen geben die älteren, stärkeren und »coolen« Kinder an. Nach ihnen muss man sich richten, wenn man dazugehören und mitspielen möchte. Das hochsensible Kind kann genau spüren, wie man sich verhalten muss. Es ist verführerisch, genauso aufzutreten, dass man auf dem Spielplatz bestehen kann. Denn auch das kann es wahrnehmen: wie es sich anfühlt für Kinder, die ausgegrenzt oder gemobbt werden – wenn es nicht selbst längst zu den Außenseitern gehört.
Der Körper wird übergangen. Er kann sich nun nicht mehr konstruktiv bemerkbar machen, auf Ungleichgewichte, auf Bedürfnisse hinweisen oder auf sich anbahnende Krankheiten, auf Überlastungen und auf die eigenen Grenzen. Als Sensor für das eigene Wohlbefinden geht er vielen Hochsensiblen verloren. Die einzige Chance des Körpers, überhaupt wahrgenommen zu werden, besteht dann darin, mit Störungen auf sich aufmerksam zu machen. Dann, wenn es meist schon zu spät ist für kleine Korrekturen. Als Störquelle mit Symptomen und Schmerzen, die sich nicht so einfach ignorieren lassen, kann er nicht mehr übergangen werden. Viele langwierige Krankheitsgeschichten nehmen genau dort ihren Ausgang.
Die zweite Stufe: Das Übergehen der eigenen Beobachtungen
Das hochsensible Kind nimmt differenzierter wahr. Darum ist es Doppelbotschaften und verborgenen Informationen stärker ausgesetzt. Es kann gewissermaßen hinter die Kulissen schauen, mit dem Gesagten zugleich auch das nicht Gesagte hören, das nur zu häufig dem Gesagten widerspricht. Kinder sind mit dieser Doppelbödigkeit gewöhnlich überfordert. Selbst Erwachsene haben Schwierigkeiten mit dem »Sowohl als auch« der menschlichen Wirklichkeit. Paradoxe Situationen sind in unserem westlichen Denken mit seiner »aristotelischen Logik« nicht vorgesehen, nach der eine Sache entweder so ist oder so. Widersprüchlichkeit ist nicht vorgesehen.
Das hochsensible Kind wird jedoch dieser Widersprüchlichkeit von Menschen und Situationen gewahr. Nicht nur, dass es von Erwachsenen selten Erklärungshilfe bekommt oder Verständnis findet. Schlimmer ist, dass die eigenen Beobachtungen
Alle Fallgeschichten in diesem Buch beruhen auf realen Begebenheiten. Um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, wurden persönliche Details verändert.
Copyright © 2011 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Elisabeth Petersen, München
Umschlagmotiv: plainpicture/LP, James Godman
eISBN 978-3-641-06004-6
www.koesel.de
www.randomhouse.de
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