Wenn du zu viel fühlst - Jutta Nebel - E-Book

Wenn du zu viel fühlst E-Book

Jutta Nebel

4,3

Beschreibung

Sind Sie besonders empfänglich für Reize? Nehmen Sie Geräusche, Gerüche, Stimmungen oder subtile Veränderungen in Ihrer Umwelt sehr viel intensiver wahr als die meisten ihrer Mitmenschen? Dann sind Sie wahrscheinlich hochsensibel! Diese Eigenschaft bringt Vorteile und Begabungen mit sich, lässt die Betroffenen in ihrem Alltag aber auch oft anecken, als sonderbar oder weniger leistungsfähig erscheinen. In sehr persönlichen Erzählungen schildert die Autorin - selbst Hochsensible - wie sie mit schwierigen, stressbeladenen Situationen umgeht und auf welche Weise sie Kraft und Mut für ihren Alltag bekommt. Im überarbeiteten Praxisteil stellt sie zudem dar, wie Hochsensibilität entsteht, welche Zusammenhänge zu psychosomatischen sowie psychischen Erkrankungen bestehen, gibt konkrete Tipps für den Alltag und hilfreiche Erkenntnisse zur Lebenseineinstellung mit auf den Weg.

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Jutta Nebel

Wenn du zu viel fühlst

Wie Hochsensibleden Alltag meistern

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2013 Schirner Verlag, Darmstadt

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8434-6142-9

1. E-Book-Auflage 2014

Umschlaggestaltung: Murat Karaçay, Schirner

Redaktion: Heike Wietelmann, Schirner

Zeichnungen: Jutta Nebel

E-Book-Erstellung: HSB T&M, Altenmünster

www.schirner.com

Inhalt

Vorwort

Was dahintersteckt

Emily traut sich nicht

Der Wind

Skarabäus

Steinglück!

Nicht gepasst

Erkenntnis

Wassermeditation

Zauberstab

Leben

Nils – oder die innere Führung

Raum und Zeit

Vertrauen

Die Schönheit des Alltags

Die Reise zum Ich oder: Du trägst die Heilung in dir!

Ein neuer Versuch

Es ist Ende März

Praxisteil

Hochsensibilität – Was ist das?

Woher aber kommt diese Empfindsamkeit, was steckt dahinter?

Wenn Hochsensibilität krank macht

Depressionen, Ängste, Psychosomatische Erkrankungen oder: Warum bin ich so anders?

Hingabe und Freude als Hilfe und Heiler

Allgemeine Tipps

Zur Ernährung:

Stress im Alltag:

Das Spiel mit den Emotionen

Meditation mit dem Inneren Kind

»Nachrüstung« (Filter oder Regulator)

Hochsensibilität und Homöopathie

Nachwort

Literaturempfehlungen

Vorwort

Ursprünglich war dieses Buch einmal als kleine Geschichtensammlung gedacht, als eine kleine Zusammenstellung von Lebensgeschichten, wenn nicht gar Überlebensgeschichten! Ich muss gestehen, die meisten meiner kleinen und großen Heldinnen haben eine Gemeinsamkeit, nämlich mich. Auch wenn sie unterschiedliche Namen tragen, sind sie von der gleichen Absicht getrieben: mit dem Leben zurechtzukommen! Ich habe all diese Geschichten irgendwie und irgendwann einmal aufgeschrieben, auf fliegenden Blättern, die ich lange danach in alten Ordnern wiederfand, unter der Schreibtischunterlage, als Lesezeichen in Büchern. Einige davon hatte ich auch auf dem Computer gespeichert, hatte kleine Tagebücher angefangen, immer nur ein paar Seiten beschrieben, die Büchlein dann aber zweckentfremdet als Vokabelheft, Terminkalender oder Notizblock.

Doch eines Tages überkam mich das Bedürfnis, all diese Geschichten zusammenzustellen. Und das kam so: Ich war zufällig auf einen meiner kleinen Berichte gestoßen und hatte ihn – da ich mich gerade in einer bedrückenden Lebenssituation befand – als sehr tröstlich empfunden. Mir war in diesem Moment zunächst gar nicht bewusst, dass diese kleine Erzählung von mir stammte.

Der eigentliche Anstoß war aber folgender: Ich war auf der Suche nach einem Buch, das mir in meiner vertrackten Situation weiterhelfen sollte. Ich kam mal wieder absolut nicht mit dem Leben zurecht. Also zog ich los. Ich besuchte eine größere Buchhandlung, in der ich bisher meist fündig geworden war, wenn es um Schamanismus und Spiritualität ging, und fragte nach Lebensberatung, möglichst nicht so ein großer Wälzer, etwas in kleinen Happen.

Aber an diesem Tag fand ich nichts für mich! Keines der Bücher schien etwas mit mir zu tun zu haben, mit meinen Nöten, meinen Gefühlen, meinen Problemen. Das brachte mich dazu, im Internet beziehungsweise in schon von mir heruntergeladenen Texten zu stöbern. Nichts. Und dann, auf einmal, entdeckte ich meine eigenen Geschichten wieder – und fand Trost darin! Also entschied ich mich, all meine Aufzeichnungen, derer ich habhaft werden konnte, zusammenzustellen.

Zuerst einmal wurde daraus eine Zusammenfassung. Für Außenstehende schienen die Geschichten ohne jeglichen Zusammenhang zu sein, denn niemand, außer mir, wusste, dass sie sich immer wieder um ein und dieselbe Person drehen, die massive Schwierigkeiten mit den großen und kleinen Belangen des Alltags hat. Aber dabei blieb es dann auch erst einmal – die Geschichten waren immerhin zusammengestellt und ordentlich abgespeichert, aber irgendetwas fehlte.

War es der Sinn?

Die Zeit verging und die Geschichten hätten mit der Zeit auch noch Geschwister bekommen können, denn mein Leben ging ja weiter, wurde auch nicht einfacher und wollte gelebt und verstanden werden.

Ich las Unmengen an Büchern über Spiritualität, Heilkunde, Psychologie, Schamanismus, Steinheilkunde und dergleichen. Warum stieß ich niemals auf Geschichten wie meine?

Am besten erkannte ich mich und fühlte ich mich heimisch bei den Schamanen. Denn diese leben ihre Naturverbundenheit so selbstverständlich, wie ich es immer getan habe.

Warum hatte ich es so schwer, warum war ich so empfindlich, warum fühlte ich mich so merkwürdig, so fremd, wie von einem anderen Planeten?

Warum war ich so schnell erschöpft, überreizt, konnte so viel weniger leisten als all die Menschen, die ich kannte? Warum konnte ich nicht so ausgelassen feiern wie andere, nicht loslassen und genießen?

Was war falsch an mir? War ich etwa krank?

Ich begann, mich mit Homöopathie zu befassen, las mich immer tiefer in die Materie hinein und begab mich in homöopathische Behandlung. Auf einmal meinte ich zu spüren, wie es sein könnte, wenn ich »normal« wäre, Energie hätte, Kraft. Ich erlebte zeitweise deutliche Verbesserungen, aber auch wieder Abstürze.

Als ich es wieder einmal vor Überreizung nicht aushielt und meine Therapeutin nicht erreichbar war, gab ich im Internet zwei Suchbegriffe ein: »Homöopathie« und »hochsensibel«. Eine der ersten Seiten, die daraufhin angegeben wurden, lautete:

www.hochsensible.de

Leider existiert diese Seite heute nicht mehr.

Dort las ich zum ersten Mal etwas darüber, was mit mir los ist. Kurz und knapp wurden dort Menschen wie ich, also Hochsensible, beschrieben. Menschen, die sehr häufig von den sie umgebenden Reizen überflutet werden, deren Wahrnehmung ungefiltert bis ins Gehirn vordringt und dort in fast unerträglicher Weise nervliche Erregung produziert.

Ich erfuhr, dass hochsensible Menschen besonders feinfühlig und empfindsam sind, weil sie aufgrund einer physiologischen Disposition* ihres Nervensystems eine erhöhte Empfänglichkeit für Reize haben. Dies beziehe sich sowohl auf äußere Reize (Geräusche oder Gerüche) als auch auf innere (Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle). Diese erhöhte Aufnahmebereitschaft für Reize führe dazu, dass sie mehr Informationen aufnehmen könnten als ihre nicht hochsensiblen Mitmenschen, sodass sie Dinge registrieren, die anderen entgehen, und diese dann als wertvolle Hinweise und Informationen an ihre Mitmenschen weitergeben könnten.

Diese »Vorzüge« kenne ich sehr gut und habe sie auch in meinen Geschichten beschrieben. Es ist ein umfassendes Verstehen von Situationen, die Fähigkeit, spontan Verknüpfungen zu bilden und dadurch, oft ohne es genau zu wissen, die Dinge hinter den Dingen zu sehen. Es bedeutet auch, durch Hören von Musik, das Betrachten eines Bildes oder das Anschauen eines Filmes in intensive Gefühle versetzt zu werden. Ich erlebe manchmal regelrechte Gänsehautkaskaden, wenn ich bestimmte Musikstücke höre oder anrührende Erlebnisse habe. Ich kann wie auf einer Klaviatur von Gefühlen spielen, wenn ich bestimmte Musikstücke höre. Manchmal mache ich das sogar forciert, um stecken gebliebene Emotionen zu lösen oder auszulösen! Wenn ich eine Reihe von beliebigen Bildern betrachte, kann es passieren, dass meine Laune schlagartig umschlägt – mag das, was auf dem Bild gezeigt wird, noch so belanglos sein. Vielleicht ist es auch schon die bloße Farbkombination, die das bewirkt! Gerüche, wie zum Beispiel der von frisch angerührtem Beton, öffnen das Tor zu meiner Kindheit, in der viele schöne Erlebnisse mit eben diesem Geruch verbunden waren. Andererseits verursacht bei mir allein schon der Geruch von Benzin Reisekrankheit, auch noch heute, obwohl die damit verbundenen unangenehmen Erfahrungen weit zurückliegen. So etwas mag auch bei Nicht-Hochsensiblen vorkommen; der hochsensible Mensch erhält in einer Situation jedoch viel mehr Eindrücke und kann dadurch, dass sich diese im Unterbewusstsein zu einem umfassenden Bild formen, Zusammenhänge besser erkennen, tief greifender verstehen, wirklich durchschauen, was sich hinter der jeweiligen Situation verbirgt.

In unserer modernen, durch Hektik und Medienüberflutung geprägten Welt kann sich eine hohe Sensibilität aber auch als Nachteil auswirken. Was viele Menschen nicht stört, wie z. B. laute Musik oder starke Gerüche, kann für hochsensible Menschen stark stimulierend und damit Stress auslösend sein. In einem solchen Zustand wird ein Mensch überwältigt von der Masse der Information, die er aufgenommen hat und verarbeiten muss. Da die erhöhte Reizempfänglichkeit stärker belastet als die durchschnittliche, ist es wichtig, sich rechtzeitig Auszeiten zu nehmen, in denen man sich regenerieren kann.

Auch diese Züge und Eigenarten sind mir, wie schon erwähnt, nur allzu vertraut. Ich erkannte mich rundherum in diesem Text über Hochsensible wieder und begann, ein kleines bisschen Hoffnung zu spüren. Ich bin also gar nicht so verkehrt? Bin nicht falsch, nicht merkwürdig, nicht fremd? Es gibt noch mehr Leute, denen es geht wie mir?

Plötzlich ergab alles einen Sinn – auch meine Geschichtensammlung!

Die in diesem Buch zusammengefassten Erzählungen sind alles Geschichten einer hochsensiblen Person (HSP, Highly Sensitive Person)! Mein Wunsch ist, dass Menschen, die ähnlich wie ich auf der Suche nach sich selbst sind, und die vielleicht aus denselben Gründen wie ich an sich und ihrem Leben fast verzweifeln, sich in diesen Geschichten selbst finden und erkennen dürfen. Zu wissen, man ist nicht zwangsläufig krank, nur anders, und vor allem nicht allein in diesem Zustand und mit dieser Begabung, birgt eine riesig große Erleichterung!

Zur besseren Lesbarkeit benutze ich stellenweise folgende Abkürzungen:

HSP – Hochsensible Person (Highly Sensitive Person)

HS – Hochsensible

Ich beginne mit einer Geschichte, die weit in meine Kindheit zurückreicht. Ich lade Sie ein, diese zu lesen und zu sehen, ob sie Resonanz bei Ihnen erzeugt – wer weiß, ob Sie die angefügten Erklärungen dann überhaupt noch brauchen …

* Diese These, dass Hochsensibilität quasi angeboren ist, vertrete ich mittlerweile nicht mehr.

Was dahintersteckt

Sie war nie ein wildes Kind, niemals! Eher angepasst, brav, unauffällig, aber düster, weinerlich, traurig! Ihre Mutter sagte immer: Lach doch mal, was denken denn sonst die Leute? Sie liebte ihr Mohrle, ihre schwarze Katze, die, als sie sieben wurde, ihren Geburtstagskuchen am Rand annagte, als alle schliefen. Mohrle war es gewohnt, die Obstkuchenränder zu naschen, und sie bekam sie beim Kuchenessen auch immer von der Familie zugesteckt. Diesmal bediente sich Mohrle selbst – ganz anders als Elli. Mohrle war sehr viel mutiger als ihr kleines Frauchen. Elli sagte nie klar »Ja« oder »Nein«. Sie hoffte immer, dass die anderen wussten, was sie wollte und was nicht.

Elli wurde es übel, wenn Onkel Günter, den sie liebte, weil er so schöne Locken hatte und sie ihn stundenlang kämmen durfte, wenn also Onkel Günter mit seinem VW-Käfer ankam, um sie alle zu einem Ausflug abzuholen.

Der Käfer stank nach Benzin und ihr wurde schlecht, obwohl sie vorne saß. Es half nichts, dass sie sagte (oder zumindest glaubte, es gesagt zu haben), dass sie nicht mitfahren wollte. Von da an wurde ihr in jedem Auto übel, egal, wer es fuhr. Denn sie wollte nie mitfahren, aber es fragte ja keiner, und ihre Antwort verstand sowieso niemand.

Elli konnte nie loslassen, sie musste immer auf sich aufpassen, sich immer unter Kontrolle halten, sich zusammenreißen, denn keiner wollte wissen, wann es ihr schlecht ging und warum. Wenn sie ihre Bedürfnisse äußerte, hieß es: »Das bildest du dir nur ein, stell dich nicht so an, steigere dich nicht so rein, das meinst du nur!«

Dadurch lernte sie, sich selbst und ihren Gefühlen nicht zu vertrauen! Wem also dann?

Elli fühlte sich nur auf festem Boden wohl. Hob jemand sie unverhofft hoch, schrie sie vor Angst. Sie versuchte, wie andere Kinder zu schaukeln und ihr wurde sofort schlecht, wie beim Autofahren. Sie versuchte, Karussell zu fahren – wieder wurde ihr schlecht. Manchmal wollte sie doch auch mal ein bisschen leichter sein, aber das ging nur beim Reiten. Da konnte sie sich tragen lassen, da konnte sie vertrauen. Und wenn sie mal hinunterfiel, konnte sie wieder aufsteigen. Daher fuhr sie mit der Zeit nicht mehr mit auf Ausflüge, sondern ging zum Reiten.

Elli wurde erwachsen, hatte ihre Hochs und Tiefs im Leben. Aber eines verlor sie nie: die Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und eines hatte sie immer noch nicht gefunden: Vertrauen!

Bis zu jenem Tag. Sie war jetzt 44, arbeitslos, mutlos und mal wieder zu Fuß in der geliebten Natur unterwegs, allein, nur in Begleitung des Windes, eines Bussards, der über ihr segelte, und der Sonne, die ihre Wangen streichelte.

Ein ihr vertrauter verwilderter Garten gab ihr Geschenke: Äpfel, Birnen, Pflaumen, Brombeeren und eine Schaukel. Heute rief die Schaukel: Komm, ruh‘ dich aus, schaukle mit mir!

Und sie wagte es! Erst vorsichtig, langsam, dann immer stärker, mit fliegenden Haaren, mit den Füßen voran in den Himmel, immer ihre Gefühle beobachtend … in lautes unbändiges Lachen ausbrechend, wild wie ein Kind!

44 Jahre lang, ihr gesamtes Leben, hatte sie auf diesen Moment gewartet und schon nicht mehr zu hoffen gewagt, dass er irgendwann kommen würde.

In dieser Geschichte zeigt sich das Kind, das Innere Kind, mein Inneres Kind, das auch mit 44 noch Kind sein will und darf. Aus seiner Sicht ist diese Geschichte geschrieben.

Hochsensible Kinder spüren! Sie tragen einen ganzen Antennenwald mit sich herum. Sie spüren die Befindlichkeiten aller Menschen um sich herum, und da sie für gewöhnlich meistens mit der Familie zusammen sind, fangen sie eben all das auf, was sich zwischen den Eltern und in deren unmittelbarem Umfeld abspielt. Wenn die Eltern Probleme haben – sei es miteinander, in materieller Hinsicht oder ganz egal, welcher Art – und versuchen, es vor ihrem hochsensiblen Kind zu verbergen, haben sie wirklich schlechte Karten! Das Schlimmste, was sie ihrem Kind antun können, wenn es nachfragt – denn es spürt ja, dass etwas nicht stimmt –, ist zu sagen: »Das bildest du dir nur ein, steiger dich da nicht rein!« Hierdurch lernt das Kind nämlich, dass es seinen eigenen Wahrnehmungen nicht trauen darf, denn Erwachsene (und vor allem Mama und Papa) wissen doch alles und haben doch immer recht!

Und da fängt das Dilemma an: Das Kind beginnt, an sich zu zweifeln: Es sieht etwas, spürt etwas, bekommt die Informationen durch alle Sinnen zugetragen, wird regelrecht überschwemmt davon, überflutet von Informationen und Sinnesreizen – und kann und darf diesen seinen eigenen Gefühlen nicht glauben, denn Mama und Papa, später die Kindergärtnerin, der Lehrer, verwirren es mit ihren eigenen Wahrheiten. Das geschieht meist nicht aus bösem Willen, sondern weil man das Kind vor etwas bewahren, es schonen möchte.

Das Kind ist verwirrt. Es kann die vielen, einstürmenden Reize nicht richtig verarbeiten und muss versuchen, sie zu unterdrücken. Es wird still, lebt in seiner eigenen Welt, in der es sehr einsam ist. Die unterdrückten Reize bahnen sich ihren Weg und äußern sich in jener starken Empfindlichkeit. Das Kind ist nicht fähig, diese Reize abzubauen, und die Sensibilität zeigt sich in zunehmender Weise nicht mehr nur als eine Art verfeinerte Wahrnehmung, sondern in Form eines völlig überreizten Nervensystems. Das kann sich dann beispielsweise als Übelkeit beim Schaukeln, Karussell- oder Autofahren äußern.

Hochsensible Kinder werden oft schon in frühen Jahren von ihren Lehrern als empfindliche, schüchterne und in sich gekehrte Kinder oder sogar als seelisch krank bezeichnet! Sie merken natürlich, dass sie am besten alleine zurechtkommen und es ihnen besser geht, wenn sie sich einen ruhigen Platz suchen. Oft sind sie gar nicht fähig, eigene Entscheidungen zu treffen, wenn sie zum Beispiel gefragt werden: Willst du deine Puppe mitnehmen oder den Teddy? Sie fühlen durchaus, was sie wollen, aber sie haben zu oft die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, der eigenen inneren Stimme zu misstrauen – und verlassen sich daher lieber auf andere.

Diese Kinder haben eine besonders starke Zuneigung zu Tieren, denn diese werten nicht, sie sind einfach da, lassen sich streicheln und schenken bedingungslos Liebe.

Die vorangegangene Geschichte zeigt, dass man immer lernen kann, loszulassen und zu vertrauen (vor allem sich selbst und den eigenen Wahrnehmungen), auch wenn man schon erwachsen ist. Das ist das Allerwichtigste! Aber an diesen Punkt muss man erst einmal kommen!

Die Erkenntnisse und Entwicklungen, die hierfür notwendig sind, stellen den Inhalt der Erzählungen dieses Buches dar,

In der folgenden Geschichte erfahren wir etwas über die Hilflosigkeit eines kleinen Kindes, das seine Befindlichkeit altersbedingt noch nicht erfassen und somit auch nicht ausdrücken kann, dass es ihm schlechtgeht und warum. Es ist auf die Einfühlsamkeit seiner Eltern angewiesen, die genau beobachten und unterstützend eingreifen sollten.

Emily traut sich nicht

Emily, Mia und zwei andere Kinder im Alter zwischen zwei und drei Jahren spielen auf einem kleinen Spielplatz am Rande des Marktplatzes. Ihre Mütter sitzen an einem Tisch in der Sonne und versuchen, unterbrochen von ihren Kleinen, sich zu unterhalten.

Irgendwie geht es Emily heute gar nicht gut, sie ist dauernd traurig, muss weinen und weiß nicht so richtig, warum. Sie spielt und klettert zwar mit den anderen Kindern, aber das ist alles nicht richtig.

Sie steht mit Mia auf der Drehscheibe, Mia ist ganz zufrieden, aber Emily weint. Mia ist genervt und schubst sie weg. Das ist für Emily ein Grund, richtig laut loszuweinen. Keiner versteht, was mit ihr ist, sie selbst auch nicht, die Nase läuft, sie muss sich dauernd die Augen reiben.

Ihre Mama kommt gelaufen, nimmt sie auf den Arm, putzt ihr die Nase und sagt: »Warum musst du denn heute dauernd weinen?« Das macht Emily noch trauriger, aber sie fühlt die Anteilnahme, und nach zwei Minuten geht es ihr etwas besser.

Sie sitzt wieder auf dem Boden mit den anderen Kindern. Sie findet ein Eislöffelchen und schippt damit kleine Schmutzhäufchen zusammen. Mia schaut sie ganz neidisch an und versucht, ihr das Löffelchen wegzunehmen. Emily versteckt es hinter ihrem Rücken und Mia versucht, um sie herumzugreifen. Sie entreißt Emily den Plastiklöffel, beginnt damit zu spielen und wirft ihn dann achtlos weg. Hauptsache, sie hat ihn ergattert. Emily weint wieder los, die drei anderen Kinder stehen auf, ein Mädchen schubst Emily. Mia schaut sich um, schubst Emily so fest, dass sie umfällt, guckt sich wieder um und rennt, gefolgt von den beiden anderen Kindern, zu ihrer Mama, zumal die Mütter jetzt nach ihren Kindern rufen, weil die bestellte Pizza kommt.

Emily bleibt weinend im Dreck sitzen. Sie will keine Pizza, sie schnappt sich lieber eine Handvoll Dreck und isst davon. Und weint dabei vor sich hin.

An diesem Tag im April war es nach längerer Zeit mal warm. Die Blätter und Blüten entfalteten sich explosionsartig und viele Leute hatten extreme Probleme mit Heuschnupfen. Ich vermute, Emily ging es ähnlich. Sie fühlte sich unwohl wegen ihrer laufenden und juckenden Nase, dem Kribbeln in den Gehörgängen, dem Kratzen im Hals und den brennenden Augen. So etwas kann einen schon zum Weinen bringen. Und wenn man deswegen von den Spielgefährten auch noch abgelehnt und angegriffen wird und die Mama ebenfalls hilflos ist, sie, die sie doch verstehen soll, macht einen das hoffnungslos. Emily kann ja nicht sagen: »Mama, ich hab Heuschnupfen, mein Hals kratzt, die Augen brennen …« In diesem Alter kann man das noch nicht so deutlich und klar ausdrücken, man weiß ja selbst nicht, was los ist.

Wenn sich solch eine Situation häufig wiederholt, drückt das quasi einen »Keiner versteht mich«-Stempel auf die Psyche des Kindes. Und dann kommen solche Sätze wie: »Stell dich nicht so an!«, »Reiß dich mal zusammen!« oder »Steigere dich nicht so rein!«

Dann weiß das Kind eines Tages gar nicht mehr, ob seine Empfindungen wirklich wahr sind, wenn die Mama doch immer sagt, dass das ja gar nicht stimmt, was es fühlt. Später wird es dann seinen Wahrnehmungen gar nicht mehr trauen und immer Entscheidungshilfen von außen brauchen.

Es traut sich einfach nicht!

Doch nun zur nächsten Geschichte:

Aus meiner jetzigen Perspektive, da ich weiß, dass ich hochsensibel bin (als ich die Geschichten aufschrieb, wusste ich es noch nicht), kann ich analysieren:

Ich habe eine große Verbundenheit zur Natur entwickelt, der Wind wurde mein Freund. Er zeigte sich mir als Wesenheit! Er erschien, wenn ich in den Wald ging. Ich sprach mit ihm und manchmal stand ich unter einem Baum und der Wind rauschte nur in den Blättern dieses einen Baumes. So nahm ich es wahr, und ich zweifelte diese Wahrnehmung nicht mehr an! Das war ein erster Schritt in die Richtung, mir selbst zu trauen. Ich denke, viele Hochsensible haben solche Wahrnehmungen, aber sie glauben diesen nicht. Sie trauen sich nicht, darüber zu reden, denn dann hören sie ja wieder altbekannte Sätze wie: »Das bildest du dir nur ein!« oder »Das meinst du nur!«.

Wir dürfen den Menschen, die uns diese Sätze sagen, gar nicht böse sein, sie tun es nicht in schlechter Absicht. Sie können die Intensität der Gefühle eines hochsensiblen Menschen nicht nachvollziehen, weil sie sie selbst nie erlebt haben und voraussichtlich niemals erleben werden! Es geht in diesem Buch auch nicht um die Suche nach Schuld und Schuldigen, sondern allein um Menschen und ihre Lebensumstände und wie erstere mit letzteren zurechtkommen. Nicht-Hochsensible, aber vor allem die Eltern von empfindsamen Kindern, können schnell von ihnen überfordert sein und Angst haben, die »zarten Seelchen« – wie sie sie besorgt nennen – könnten es im Leben nicht schaffen, und man dürfe ihre »Schwäche« nicht auch noch fördern, indem man darauf eingehe. Sie würden sie am liebsten abhärten und wissen nicht, dass das gar nicht geht, dass das Kind dadurch noch unglücklicher wird, sich noch mehr als »nicht passend« empfindet und unverstanden fühlt und durch seine hohe Gefühlsintensität furchtbar traurig wird und leidet.

Aber wenn Hochsensible sich verstanden und angenommen fühlen und Glücksgefühle haben, dann sind diese – wie eben alles, was sie erleben – von einer besonderen Intensität! Und dann wissen sie, dass sie es sich nicht einbilden, sondern dass das Erlebte und Gefühlte Realität ist. Und ein ganz besonderes Geschenk!

Der Wind

Heute fahre ich zum Felsenmeer, einem Ausflugsziel im Odenwald. Das Auto ist beladen, der Rucksack gepackt.

Dort beginnt zunächst eine Kraxeltour. Ich klettere durch ein Flussbett voller Felsbrockenden den Berg hoch. Mittendrin, auf einem großen Fels, packe ich mein Schaffell aus und ziehe meine Schuhe aus. Die Sonne brennt. Eine Fliege, die ich im Stillen »Tigerente« taufe, weil sie so lustig gelb gestreift ist, und eine schwarzgrüne saugen mir die Salze vom getrockneten Schweiß von der Haut. Das fühlt sich lustig an!

Plötzlich naht ganz vorsichtig der Wind und fährt mir sanft kühlend über die Wangen. Ich begrüße ihn erfreut und schließe die Augen, um ihn besser wahrzunehmen. Er wird kräftiger und ich spreche mit ihm. Plötzlich muss ich die Augen öffnen und bemerke, dass ich in einem Regen von weißen Blütenblättern sitze, die der Wind von einem einige Meter entfernten, blühenden Kirschbaum zu mir herüberbläst.

Ich lache vor Glück und habe Tränen in den Augen. Ich nehme eins der weißen Blättchen zwischen die Fingerspitzen, betrachte es und schenke dem Wind ein paar Mantras. Dabei, während ich sie singe, lasse ich eine Vision meines künftigen Leben vor meinem inneren Auge erstehen: