Wenn Kinder anders fühlen - Identität im anderen Geschlecht - Stephanie Brill - E-Book

Wenn Kinder anders fühlen - Identität im anderen Geschlecht E-Book

Stephanie Brill

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Beschreibung

Ihr sechsjähriger Sohn will im Kleid zur Schule gehen? Ihre kleine Tochter behauptet: "Ich bin nicht 'sie', ich bin 'er'!" Handelt es sich um eine Entwicklungsphase oder könnte Ihr Kind "transident" sein, d.h. sich nicht seinem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen, sondern einem anderen? Dieses Buch ist ein Ratgeber für Eltern und alle Fachkräfte, die sich mit dem Phänomen der Transidentität von Kindern und Heranwachsenden befassen. Es klärt sachlich und informativ über Transidentität auf und antwortet auf typische Elternfragen wie: Ist mein Erziehungsverhalten schuld? Ist mein Kind krank? Was sage ich Nachbar:innen, Lehrkräften, Verwandten? Besonders wertvoll sind die zahlreichen Tipps für Erziehung und Gestaltung des Alltags - damit sich das Kind in Einklang mit seiner Einzigartigkeit entwickeln kann. Mit der Berücksichtigung des gender-affirmativen Ansatzes trägt die neu bearbeitete 3. Auflage des bewährten Ratgebers der gewandelten Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Thema in der Gesellschaft Rechnung.

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Stephanie Brill • Rachel Pepper

Wenn Kinder anders fühlen – Identität im anderen Geschlecht

Ein Ratgeber

3., völlig neu bearbeitete Auflage

Aus dem Englischen übersetzt von Rita Kloosterziel

Ernst Reinhardt Verlag München

Titel der Originalausgabe: The Transgender Child © 2008 Stephanie A. Brill, Rachel Pepper. Original English language edition published by Start Midnight LLC 101 Hudson St, 37th Floor, Suite 3705, Jersey City, NJ, 07302,United States. All rights reserved.

Stephanie A. Brill, Hebamme, Gründerin der Organisation „Gender Spectrum Education and Training“, Oakland (Kalifornien), begleitet Familien mit transidenten und nichtbinären Kindern und bildet Fachleute auf diesem Gebiet weiter.

Rachel Pepper, Oakland (Kalifornien), ist Therapeutin und spezialisiert auf die Begleitung von LGBTQ+-Personen und ihren Familien.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03148-1 (Print)

ISBN 978-3-497-61281-9 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61914-6 (EPUB)

3., völlig neu bearbeitete Auflage

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung / Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

Printed in EU

Covermotiv: © Jens Vogelsang, Aachen

Satz: Katharina Ehle, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Einführung

Kapitel 1: Ist mein Kind transident?

Kapitel 2: Akzeptanz in der Familie: Gestärkt aus der Krise gehen

Kapitel 3: Wie kann ich mir sicher sein?

Kapitel 4: Über die Entwicklungsstadien transidenter oder nichtbinärer Kinder

Kapitel 5: Mein Kind abholen, wo es steht: Erziehung als Hilfe zur Identitätsentwicklung

Kapitel 6: Weichenstellung für Geschlechtskongruenz: Was ist das Beste für Ihr Kind?

Kapitel 7: Sich mit der Umwelt arrangieren: Wem, wie, warum und wann erzähle ich von unseren Entscheidungen?

Kapitel 8: Das Bildungssystem und Ihre Familie

Kapitel 9: Medizinische und psychotherapeutische Hilfe für transidente und nichtbinäre Kinder

Fazit

Glossar

Widmung

Den Begleitungsplan für die Transition in der Schule finden Sie im Online-Material zum Buch auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de. Auf der Homepage geben Sie den Buchtitel oder die ISBN in der Suchleiste ein. Hier finden Sie das Online-Material unter den Produktanhängen.

Vorwort

Als 2008 die erste Auflage von Wenn Kinder anders fühlen veröffentlicht wurde, schloss Dr. Norman Spack sein Vorwort mit der folgenden Bemerkung: „Bis heute ist noch kein Ratgeber oder Handbuch über transidente Kinder und ihre Familien geschrieben worden. Nun endlich haben wir ein solches Buch.“ Seitdem sind zu der damals landesweit einzigen, von Dr. Spack geleiteten pädiatrischen Gender-Klinik vergleichbare Behandlungsprogramme an mehr als 50 Standorten entstanden. Dr. Spack hat den Staffelstab in zahlreiche Hände gegeben, unter anderem an die beiden Verfasser:innen dieses Vorworts. Sie alle führen seine bahnbrechende Tätigkeit mit geschlechtsvarianten und transidenten Kindern und Jugendlichen fort. Stephanie Brill und Rachel Pepper, die Autorinnen von Wenn Kinder anders fühlen, haben für die Arbeit mit den betroffenen Familien wesentliche Grundlagen geschaffen.

Mit ihrem Ratgeber gaben Brill und Pepper Eltern und anderen Bezugspersonen zum ersten Mal ein innovatives, anteilnehmendes und umfassendes Navigationssystem an die Hand, wie man geschlechtsvariante und transidente junge Menschen mit Verständnis und Liebe tatkräftig unterstützen kann. Fast 15 Jahre später schenken uns die beiden Autorinnen eine aktualisierte Ausgabe ihres Buches, in die alle Erkenntnisse und Änderungen seit Erscheinen der ersten Version eingeflossen sind.

In den letzten zehn Jahren ist ein neues Konzept zur Behandlung und Begleitung der Kinder entstanden, um die es in Wenn Kinder anders fühlen geht: der gender-affirmative Ansatz, der auf dem Grundgedanken basiert, dass jeder Mensch das Recht hat, in dem Geschlecht zu leben, das ihm am meisten entspricht. In der Folge werden Kinder zunehmend in ihrer individuellen Geschlechtsentwicklung anerkannt. Dabei können sie und ihre Familien sich auf viele evidenzbasierte Studien stützen. Für Lehrkräfte und andere professionelle Bezugspersonen der Kinder wird inzwischen ein spezielles Training angeboten. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass den Kindern und ihren Familien eine einfühlsame und gender-affirmative Betreuung und Begleitung zur Seite steht, wie sie in evidenzbasierten Leitlinien für die klinische Praxis formuliert wird. Die stetig wachsende Zahl von Familien auf der ganzen Welt, die ihre Kinder in ihrem als authentisch empfundenen Geschlecht unterstützen, erhält mittlerweile Informationen, Gemeinschaft und Hilfe von zahlreichen Organisationen. Seit der gender-affirmative Ansatz als empfohlene Vorgehensweise bei der Betreuung von transidenten Kindern und ihren Familien umgesetzt wird, haben wir die faszinierende Vielfalt der Geschlechtsvariationen bei Kindern näher kennengelernt – und auch den steinigen Weg, den jede Familie geht, wenn sie ihre Kinder durch eine Welt begleitet, die ihnen nicht immer wohlgesonnen ist.

Trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit dieses Konzepts stören sich manche Menschen an gender-affirmativen Praktiken und der wachsenden Zahl von Familien, die ihre Kinder in der Entwicklung ihrer geschlechtlichen Identität unterstützen. Seien Sie versichert, dass die Position aller großen Berufsverbände hinsichtlich der Betreuung und Unterstützung von transidenten und geschlechtsvarianten Kindern und Jugendlichen konsistent und wissenschaftlich fundiert ist. Wir haben keinen Zweifel, dass Eltern das Beste für ihre Kinder tun, wenn sie ihnen helfen und ihnen Zugang zu unverzichtbarer, individuell ausgerichteter gender-affirmativer und medizinisch notwendiger Gesundheitsfürsorge durch erfahrene und gut ausgebildete medizinische und psychologische Fachkräfte verschaffen.

Die überarbeitete Ausgabe von Wenn Kinder anders fühlen erscheint zu einem kritischen Zeitpunkt. Mehr denn je brauchen Eltern und andere Bezugspersonen der Kinder eine vertrauenswürdige, verlässliche Stimme, die sie durch ein zutiefst persönliches Thema geleitet, das inzwischen auch Gegenstand der Politik geworden ist. Das aktualisierte Navigationssystem von Brill und Pepper ist wichtig, um Familien und das Umfeld der Kinder gleichermaßen dabei zu unterstützen, jedes einzelne Kind in seiner Individualität zu fördern.

Als Mitbegründer:innen des Child and Adolescent Gender Center, das mit der University of California San Francisco und einer Reihe von sozialen Organisationen zusammenarbeitet, laden wir, die Leiterin der Abteilung für psychische Gesundheit und der medizinische Leiter, Sie nun ein, sich in die Seiten der überarbeiteten Ausgabe von Wenn Kinder anders fühlen zu vertiefen.

Diane Ehrensaft, PhD, Director of Mental Health, Child and Adolescent Gender Center, UCSF

Stephen Rosenthal, MD, Medical Director, Child and Adolescent Gender Center, UCSF

Einführung

„Mom, ich habe dir schon so oft gesagt, dass ich ein Mädchen bin, also hör auf, ,er‘ zu mir zu sagen!“

Seit er sprechen konnte, versuchte Alejandro, seinen Eltern klarzumachen, dass er in Wirklichkeit ein Mädchen war. Kaum hatte er laufen gelernt, tappte er zum Kleiderschrank seiner großen Schwester und zog ihre Kleider an. Er band sich Schals und Tücher um den Kopf. Er schminkte sich mit dem Make-up seiner Mutter und lief in ihren Schuhen umher. Mit drei Jahren weinte er sich regelmäßig in den Schlaf und fragte Gott, warum Er einen Fehler gemacht habe. Mit vier Jahren wiederholte er immer noch den obigen Satz, wenn man ihn als Jungen ansprach: „Ich habe schon so oft gesagt, dass ich ein Mädchen bin, also hört auf, ,er‘ zu mir zu sagen!“ – sehr zur Verwunderung seiner Eltern. Als er fünf war, redete er ganz offen davon, dass er sich umbringen wolle, dass er nicht in diese Welt gehöre oder dass er am liebsten verschwände. Zuerst glaubten seine Eltern, es sei nur eine Phase, etwas, das jedes Kind irgendwann durchläuft. Als es jedoch immer so weiterging, vermuteten sie, er sei schwul. Anders konnten sie sich sein Verhalten nicht erklären. Sie suchten Rat beim Kinderarzt, weil sie sich Sorgen um ihren Sohn machten. Der Kinderarzt empfahl ihnen, einen Therapeuten aufzusuchen, und der Therapeut gab ihnen zu verstehen, dass Alejandro möglicherweise transident sei.

Ninas Eltern brauchten ein paar Jahre, bis ihnen auffiel, dass Nina auf die Frage „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ immer dieselbe Antwort gab. „Ich bin Nina“, sagte sie. Anfangs fanden die Leute es niedlich, doch als sie älter wurde, hatten sie das Gefühl, dass sie sich über sie lustig machte. Außerdem wurden ihre Eltern böse, weil sie ihre Reaktion unhöflich fanden. Nina versuchte, ihnen zu erklären, dass sie sich nicht wie ein Mädchen und nicht wie ein Junge fühlte. Warum war das überhaupt wichtig? Warum konnte sie nicht einfach sie selbst sein? Ihre Eltern erklärten mit Nachdruck, sie sei ein Mädchen, in der Hoffnung, das Thema damit endgültig zu beenden. Leider war es für Nina nicht so einfach. Jedes Mal, wenn sie sich entscheiden musste, ob sie sich im Unterricht zu den Jungen oder zu den Mädchen stellen sollte, litt sie Höllenqualen und konnte kaum den Anweisungen folgen. Schließlich stellte eine einfühlsame Lehrerin die Verbindung her, als Nina begann, sich vor dem Aufstellen in die Hose zu machen und sich in der Garderobe zu verstecken. Ein Kinderpsychiater erwähnte die Möglichkeit, dass sich Nina nichtbinär oder agender fühlte oder genderfluid war.

Kommen Ihnen diese Berichte bekannt vor? Im Laufe der Geschichte hat es immer wieder Kinder gegeben, die die traditionellen Geschlechterkategorien infrage gestellt haben. Erziehungspraktiken und gesellschaftliche Erwartungen führen jedoch oft dazu, dass diese Kinder ihre Identität vor anderen und manchmal sogar vor sich selbst verbergen. Doch die Zeiten ändern sich und der Geschlechtsbegriff wird inzwischen weiter gefasst. Heutzutage lässt es sich kaum noch rechtfertigen, dass man einem Kind vorschreibt, wer es ist oder wer es nicht ist, wenn der Schaden, den das Verleugnen seiner persönlichen Wahrheit anrichtet, derart offensichtlich ist. Immer öfter setzt sich die Erkenntnis durch, dass die engen Grenzen, die wir der Geschlechtsidentität gesetzt haben, in vielerlei Hinsicht willkürlich sind. Zahlreiche wissenschaftliche Studien beschäftigen sich mit der Frage, was angeboren ist und was durch kulturelle Einflüsse geprägt, gefördert und erzwungen wird. Eltern stehen mittlerweile vor der interessanten und bisweilen beängstigenden Aufgabe, Kinder in einer Welt großzuziehen, in der sich das Verständnis von Geschlechtsidentität mit atemberaubender Geschwindigkeit erweitert.

Heute kann man Geschlechtsidentität nicht mehr als ein System mit zwei Kategorien betrachten. Diese Denkweise ist überholt. Wir sind fast alle mit der Idee aufgewachsen – und glauben oft immer noch felsenfest daran –, dass es nur zwei Geschlechter gibt, das männliche und das weibliche. In Wirklichkeit zeigt uns die Geschichte, dass es sich dabei um ein künstliches Konstrukt handelt und dass es weit mehr Geschlechtsvarianten gibt, als wir normalerweise in Betracht ziehen.

Dennoch kann es für Eltern schwierig und beängstigend sein, Kinder ihren natürlichen Neigungen folgen zu lassen, wenn das eine Abweichung von einem vertrauten Weg bedeutet. Als Gender-Spezialist:innen, Forscher:innen, Autor:innen und Eltern sind wir uns bewusst, welchen Schwierigkeiten Mütter und Väter sich bei dem Versuch gegenübersehen, ein transidentes, nichtbinäres oder geschlechtsvariantes Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen. Wir wissen auch, dass letztendlich alle Eltern das Beste für ihre Kinder wollen. Wir hoffen, besorgten Familien mit diesem Buch hilfreiche Werkzeuge an die Hand zu geben, wie sie ihre geschlechtsdiversen Kinder so großziehen, dass sie sich in ihrem Körper und in der Welt wohlfühlen.

Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen und bereit sind, zu lernen, werden uns Kinder und Jugendliche unweigerlich darauf stoßen, dass Geschlechtsidentität in Wirklichkeit ein weites Spektrum ist. Könnten wir zusehen, wie Kinder sich auf natürliche Weise entfalten, ohne eine bewusste oder unterbewusste äußere Verstärkung der Geschlechtsrollen und -erwartungen, würden wir nicht schlecht staunen. Viele Merkmale, die wir als typisch männlich oder typisch weiblich ansehen, werden als solche vermittelt und erlernt. Tatsächlich sind viele Aspekte von Geschlechtsidentität überhaupt nicht angeboren, sondern gesellschaftlich bedingt. Wie manche Genderaktivist:innen sagen würden: Sie können Ihr Geschlecht im nächsten Textildiscounter kaufen.

Wie also erziehen liebevolle Eltern Kinder mit einer „gesunden Geschlechtsidentität“, wie unterstützen und bestätigen sie sie? Das ist eine komplizierte und oft genug verwirrende Angelegenheit. Mit unserem Buch Wenn Kinder anders fühlen hoffen wir, Ihr Verständnis dessen zu vertiefen, was genau mit Geschlechtsidentität gemeint ist. Wir zeigen auf, was wir alle zur Förderung einer gesunden Geschlechtsidentität bei Kindern tun können, in ihren Herzen und ihren Köpfen, in ihren Familien, ihren Schulen, in ihrem Umfeld. Um Begriffe wie transident, nichtbinär und geschlechtsvariant zu verstehen, müssen wir wissen, was mit Geschlechtsidentität gemeint ist.

Zwei große Schritte sind nötig, um geschlechtsvariante, nichtbinäre und transidente Kinder zu fördern, zu bestätigen und großzuziehen. Als Erstes muss man sich eingehend über den aktuellen Stand der Forschung zum Thema Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle sowie das gegenwärtige Verständnis von Geschlechtsidentität informieren. Dann besteht der nächste Schritt darin, sich von überlieferten Überzeugungen loszumachen, um das Spektrum der Geschlechtsidentität in seiner ganzen wundervollen Vielfalt würdigen zu können. Dieses Lernen und Verlernen ist für alle Eltern wichtig, nicht nur für die Eltern geschlechtsdiverser Kinder.

Wir möchten allen Familien, die sich mit Fragen zur Geschlechtsidentität konfrontiert sehen, versichern, dass sie nicht allein sind. Wir wissen, dass es Tausende anderer Familien gibt, die vor den gleichen Herausforderungen stehen. Allen, die in einem Meer aus Verwirrung unterzugehen drohen, soll dieses Buch als Rettungsfloß dienen und ihnen zeigen, wie sie den Kopf über Wasser halten können. Und denjenigen, die sich in ihrer Rolle als Eltern eines transidenten oder geschlechtsvarianten Kindes bereits sicherer fühlen, gibt das Buch die Bestätigung, dass sie auf dem richtigen Weg sind, und ebnet ihnen hoffentlich den Weg zu neuen Ideen und frischen Perspektiven.

Zu Beginn von Wenn Kinder anders fühlen helfen wir Ihnen herauszufinden, ob Ihr Kind transident oder geschlechtsvariant ist, und machen Sie mit unseren Begriffsdefinitionen vertraut, sodass Sie die in diesem Themenkreis gebräuchlichen Begriffe besser verstehen. Des Weiteren ist am Ende des Buches ein Glossar angefügt. Als Nächstes erkunden wir, wie Sie ein solches Kind erziehen und wie Ihre Familie am besten mit der Welt interagiert. Eine nie dagewesene Fülle aktueller und detaillierter Informationen zeigt Eltern von transidenten Kindern Möglichkeiten auf, durch das Schul- und Gesundheitssystem zu navigieren, und gibt ihnen Hinweise zu Therapien und Hormonen.

Die in diesem Buch zusammengefassten Informationen speisen sich aus drei verschiedenen Quellen.

Erstens fließen in Wenn Kinder anders fühlen die Erfahrungen ein, die wir beide in der jahrelangen Arbeit mit den unterschiedlichsten Familien mit geschlechtsvarianten, nichtbinären und transidenten Kindern und Jugendlichen gesammelt haben. Wir haben beide zu Themen wie transidente Jugendliche, die Entwicklung der Geschlechtsidentität bei jüngeren Kindern und allgemeine Aspekte von Schwangerschaft und Erziehung geschrieben. Insgesamt haben wir acht Bücher und zahlreiche Beiträge veröffentlicht, aus denen oft zitiert wird.

Zweitens basiert das Buch auf unseren jahrelangen professionellen Forschungen zur sozialen Konstruktion von Geschlechtsidentität und zum Einfluss erzieherischer und religiöser Praktiken auf Gesundheit und Wohlbefinden geschlechtsvarianter Kinder und Erwachsener.

Auf einige Forschungsergebnisse wird in Form von Überblicken und Interviews Bezug genommen. Des Weiteren zitieren wir Experten wie Dr. AJ Eckert, Dr. Jen Hastings, Dr. Diane Ehrensaft, Dr. Karisa Barrow, Dr. Kellen Grayson, Dr. Norman Spack, Amy Boillot, LCSW, Tony Ferraiolo, CLC, Shannon Price Minter und Asaf Orr vom NCLR sowie Dr. Caitlin Ryan vom Family Acceptance Project.

Wir danken diesen herausragenden Fachleuten für ihre Beteiligung an diesem Projekt – und dafür, dass sie daran geglaubt haben.

Besonderer Dank gilt all den Eltern, die unserer Bitte gefolgt sind, bei der überarbeiteten Ausgabe von Wenn Kinder anders fühlen mitzumachen. Ihre Stimmen haben dieses Projekt enorm bereichert, denn Ihre kollektive Weisheit, Liebe und Fürsprache sind durch nichts zu ersetzen. Wir sind Ihnen zutiefst dankbar und hoffen, dass Sie den großen Unterschied sehen, den Ihre Stimmen in unserem gemeinsamen Bemühen machen, die Welt für alle Kinder zu verändern. Wir hoffen, wir haben unsere Sache gut gemacht.

Als drittes bereicherndes Element für dieses Buch möchten wir unsere professionelle Kompetenz nennen. Stephanie hat zahllose Vorträge vor Eltern, Sozialarbeiter:innen, Therapeut:innen, Kinderärzt:innen und pädiatrischem und anderem medizinischen Fachpersonal sowie in Schulen und Universitäten zu den hier behandelten Themen gehalten, sowohl im Alleingang als auch im Rahmen der von ihr mitgegründeten Organisation Gender Spectrum. Als lizensierte Therapeutin richtet Rachel ihr Hauptaugenmerk auf die Arbeit mit transidenten und nichtbinären Jugendlichen und ihren Familien. Ihre praktischen Erfahrungen verleihen dem Buch zusätzliches Gewicht.

Kurz und gut: Dies ist eine Quelle, der Sie vertrauen können.

Zum Schluss möchten wir darauf hinweisen, dass sich dieses Buch nicht nur an Eltern, sondern auch an Lehrkräfte und alle anderen Berufsgruppen richtet, die mit Kindern arbeiten. Die positive Wirkung, die ein liebevoller, bejahender Erwachsener auf das Leben eines Kindes haben kann, sollten Sie nie unterschätzen. Sie spielen eine ungeheuer wichtige Rolle beim Zuhören, Validieren und Unterstützen dieser Kinder. Wir hoffen, die Informationen in diesem Buch vertiefen Ihr Verständnis für geschlechtsvariante, nichtbinäre und transidente Kinder und zeigen Ihnen die beste Vorgehensweise für Ihr Berufsfeld auf, die den Bedürfnissen aller Kinder und Familien entgegenkommt.

Wenn wir Sie nun das Buch erkunden lassen, denken Sie bitte immer daran: Alle Kinder sind erstaunliche, wunderbare Menschen, die bedingungslose Liebe und Unterstützung verdienen. Wir hoffen, Sie sind mit uns einer Meinung.

Stephanie Brill

Rachel Pepper

Ein Hinweis zur Sprache

Das Vokabular im Zusammenhang mit Geschlechtsidentität ändert sich ständig. Wir wissen, dass die in diesem Buch verwendeten Begriffe vielleicht irgendwann überholt sind oder eine neue Bedeutung bekommen. Klären Sie mit Ihrem Kind, welche Begriffe im Zusammenhang mit Geschlechtsidentität benutzt werden und was diese Begriffe für das Kind bedeuten.

Kapitel 1: Ist mein Kind transident?

Es ist so lustig, wenn mich Leute fragen, woher ich weiß, dass ich ein Junge bin. Ich frage sie dann: „Wie weißt du denn, dass du ein Junge bist?“ Was für eine dumme Frage. Diese Dinge weiß man einfach. Ich weiß es schon mein ganzes Leben lang!

Tommy, ein siebenjähriger transidenter Junge

Als Eltern standen wir vor der Wahl: Wir konnten ihr entweder erlauben, sich ihrem Empfinden gemäß auszuleben, oder ihr beibringen, ihr wahres Selbst zu unterdrücken, was möglicherweise zu Depressionen und einem geminderten Selbstwertgefühl führen würde. Wir haben uns dazu entschlossen, Bella voll und ganz dabei zu unterstützen, genau die zu sein, die sie ist, wohin auch immer der Weg führen mag.

Elternteil einer sechsjährigen transidenten Tochter

Seit der Zeit, als er seine Interessen mitteilen konnte, also etwa seit dem zweiten Lebensjahr, ist mein Kind geschlechtsvariant. Ich wünschte, ich hätte damals gewusst, dass alles gut werden würde und dass ich vielen Leuten begegnen würde, die mein Kind genau so lieben und akzeptieren, wie es ist. Ich rate Ihnen, sich nicht aus Angst daran hindern zu lassen, das Wunderbare an Ihrem Kind zu genießen. Und: Schaffen Sie sich ein Netzwerk aus Freunden für Sie selbst und für Ihr Kind, weil es schwierig ist, ein geschlechtsvariantes Kind großzuziehen.

Mutter eines neunjährigen geschlechtsvarianten Kindes

Mein Sohn war ungefähr 16 Jahre alt, als er mir sagte, er sei transident. Zu behaupten, dass ich geschockt war, wäre eine Untertreibung. Aber mir war eins klar: Mein Kind sollte wissen, dass ich es lieben und zu hundert Prozent unterstützen würde. Über die Jahre habe ich so viel gelernt, und die Stärke, die mein Sohn an den Tag legt, macht mir Mut. Ich habe das Gefühl, als habe die ganze Familie die Transition mit ihm zusammen vollzogen und als hätte sich für uns alle viel verändert seit dem Tag, als mein Sohn seiner wahren Identität zum ersten Mal eine Stimme verliehen hat.

Mutter eines 18-jährigen transidenten Sohnes

Sie haben dieses Buch aus einem bestimmten Grund zur Hand genommen. Höchstwahrscheinlich sind Sie Eltern eines geschlechtsvarianten, nichtbinären oder transidenten Kindes oder kennen jemanden in dieser Situation. Wenn das der Fall ist, möchten Sie erfahren, wie Sie Ihr Kind am besten großziehen, wie Sie für Ihr Kind eintreten und es unterstützen und was die Zukunft für Sie und Ihre Familie bringt.

Oder vielleicht sind Sie im Bereich der Pädagogik, Medizin oder Psychotherapie tätig und haben von Berufs wegen mit einem Kind zu tun, das von sich behauptet, nicht das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht zu haben, mit einem Kind, das sich mit seinem Geschlecht nicht wohlfühlt, oder mit einem Kind, das bereits als transident bestätigt ist. Sie brauchen weitere Informationen, um das Kind besser verstehen und effektiver mit ihm arbeiten zu können. Vielleicht sind Sie sich hinsichtlich der Bedeutung von Begriffen im Zusammenhang mit Transidentität und Geschlechtervarianz nicht sicher und möchten mehr erfahren.

Wie dem auch sei: Wahrscheinlich haben Sie sich vor Kurzem gefragt, ob Ihr eigenes oder ein anderes Kind transident ist, und sind auf der Suche nach Antworten. Wir hoffen, Ihnen auf der gemeinsamen Reise durch dieses Buch einige Antworten geben zu können.

Wie viele transidente Kinder gibt es?

Niemand weiß, wie viele transidente Kinder es gibt. Jüngste Studien zu Jugendlichen im Highschool-Alter vermitteln uns ein klareres Bild, als das bei früheren Studien der Fall war. Nach Angaben der CDC (Centers for Disease Control) identifizierten sich 1,8 % der Jugendlichen als transident, also einer von fünfzig. Diese Zahl liegt viel höher als bei früheren Schätzungen. Einer in Pediatrics, dem offiziellen Organ der American Academy of Pediatrics, veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2021 zufolge liegt die Anzahl der geschlechtsdiversen Highschool-Schüler (also nicht nur derjenigen, die sich selbst als „transident“ bezeichnen), bei fast einem von zehn.

Nicht alle Jugendlichen stellen ihre Geschlechtsidentität mit den gleichen Begriffen dar, und in der neueren Studie wurde dem mit einer zweiteiligen Frage zur Geschlechtsidentität Rechnung getragen. Die Ergebnisse waren sehr interessant. Von den geschlechtsdiversen Jugendlichen hatten etwa 30 % eine transmaskuline Identität, etwa 39 % eine transfeminine Identität und etwa 31 % eine nichtbinäre Identität. Geschlechtsdiverse Identitäten erstrecken sich über alle Kategorien von ethnischer Zugehörigkeit. Die Studie aus dem Jahr 2021 ergab, dass sich 7,1 % der weißen Jugendlichen im Highschool-Alter, 9,9 % der schwarzen Jugendlichen, 14,4 % der hispanischen Jugendlichen, 8,7 % der multiethnischen Jugendlichen und 13,4 % der Jugendlichen einer anderen Ethnie als geschlechtsdivers bezeichnen.

Bevor Sie das Buch jetzt mit dem Gedanken beiseitelegen, dass wir behaupten, einer von zehn Jugendlichen sei transident, lesen Sie bitte weiter, denn das ist nicht das, was wir sagen wollen. Definitionen von Geschlechtsidentität unterliegen ständigen Änderungen, ebenso wie das Vokabular, das sie beschreibt. Immer wieder setzen sich neue sprachliche Gepflogenheiten durch und bisweilen klingen die Begriffe selbst so überwältigend und vielschichtig, dass kaum nachvollziehbar ist, wie aus etwas scheinbar Einfachem wie dem binären Geschlechtersystem ein derart komplexes und kompliziertes Gebilde werden konnte. Außerdem besteht, was die Haltung zu Fragen der Geschlechtsidentität angeht, eindeutig eine Kluft zwischen den Generationen. Um diese Kluft zu überbrücken, können wir, die wir mit dem binären Geschlechtersystem aufgewachsen sind, die Gelegenheit beim Schopf packen und das Thema aus einer neuen Perspektive betrachten, um uns der Komplexität von Geschlechtsidentität bewusst zu werden.

Wie immer Ihre ursprüngliche Reaktion angesichts der Forderung ausgesehen haben mag, über die Grenzen des binären Geschlechtersystems hinauszudenken – ganz gewiss werden wir uns auch in Zukunft mit dem neuen Verständnis der Geschlechtsidentität, mit dem Jugendliche heutzutage leben, auseinandersetzen müssen. Selbst wenn Sie sich dabei bisweilen nicht ganz wohl in Ihrer Haut fühlen: Die gute Nachricht ist, dass diese Veränderungen nicht nur geschlechtsdiverse Menschen, sondern alle Menschen stärker, selbstbewusster und freier machen.

Wenn ein Kind von sich sagt, dass es sich nicht als der Junge oder das Mädchen identifiziert, für das Sie es halten, oder wenn es eine andere Geschlechtsidentität empfindet, also weder männlich noch weiblich ist, beiden Geschlechtern gleichzeitig angehört oder nichtbinär ist, sollten Sie sich die Zeit nehmen und zuhören, was das Kind Ihnen mitzuteilen versucht. Als Eltern, Erziehungsberechtigte oder Angehörige der medizinischen oder psychischen Heilberufe sind Sie in der Welt dieses Kindes die ersten Ansprechpartner, die ihm Akzeptanz und Verständnis entgegenbringen und ihm bedingungslose Wertschätzung und Liebe vermitteln. Für ein Kind gibt es nichts Wichtigeres.

Woher wissen Sie, ob Ihr Kind transident ist?

Uns ist klar, dass Sie sich auf die Frage „Ist mein Kind transident?“ eine rasche Antwort erhoffen. Doch wie so oft im Leben könnte die Antwort komplizierter ausfallen als erwartet. Möglicherweise ergibt sie sich nicht auf einen Schlag, sondern erst im Laufe der Zeit.

Zum Glück haben die meisten Kinder in diesem Punkt eine eindeutige Haltung. Wenn sie vor der Wahl stehen, sich entweder als Junge oder als Mädchen zu identifizieren, empfinden sie häufig eine starke Neigung zum einen oder anderen Geschlecht. Aber es gibt immer wieder Kinder, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht oder auch beiden Geschlechtern zugehörig fühlen. Wenn Sie diesen Kindern ein breiteres Spektrum als das binäre anbieten, bekommen Sie eine größere Bandbreite an Reaktionen. Tatsächlich empfinden viele Kinder, dass ein System mit lediglich zwei Kategorien für sie nicht funktioniert.

Wenn Ihre Tochter Ihnen mit anderthalb Jahren mitteilt: „Ich Junge“ oder Ihr vierjähriger Sohn darauf besteht, dass er ein Mädchen ist, und die Kinder trotz eines besseren Verständnisses des Konzepts der Geschlechtsidentität in den folgenden Jahren ohne irgendeinen Zweifel dabei bleiben, dann können Sie sich ziemlich sicher sein, dass Sie ein transidentes Kind haben. Nur weil Ihr Kleinkind etwas Niedliches oder Uneindeutiges von sich gegeben hat, müssen Sie natürlich nicht sofort davon ausgehen, dass es transident ist. Aber wenn dieses Kleinkind eine Phase durchlebt, in der es behauptet, einem anderen als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht anzugehören, und diese Phase nicht irgendwann endet, dann handelt es sich nicht nur um eine vorübergehende Laune. Wir sagen Eltern oft: Beobachten Sie, ob das Kind anhaltend, beharrlich und unbeirrbar seiner empfundenen Geschlechtsidentität Ausdruck verleiht.

Zur Feststellung von Transidentität bei Kindern werden traditionell typische Signale herangezogen. Sie werden in diversen diagnostischen Leitlinien wie dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und dem ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Disorders) aufgeführt, mit dem Fachleute aus den Bereichen der Medizin und der Psychologie arbeiten. Zu den diagnostischen Kriterien zur Feststellung der Transidentität bei Kindern gehören der ausgeprägte Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören, eine Tendenz zum Cross-Dressing, eine Abneigung gegen geschlechtstypische Kleidung sowie eine vehemente Ablehnung der angeborenen anatomischen Merkmale. Des Weiteren gelten die für das angestrebte Geschlecht typische Art zu urinieren und ein starker Widerwille gegen geschlechtstypische Unterwäsche und Badekleidung als Signale. Im Laufe einer gründlichen Begutachtung durch eine therapeutische Fachperson oder eine:n Mediziner:in mit einer Zusatzausbildung als Gender-Spezialist:in werden zu diesen und vielen anderen Faktoren oftmals sehr detaillierte Fragen gestellt, um das Erleben des Kindes in Bezug auf seine Geschlechtsidentität auszuloten.

Hier geht es nicht nur um ein kleines Mädchen, das gerne mit Autos spielt, oder einen Jungen, der ab und zu ein Glitzer-T-Shirt anzieht. Vielmehr geht es um ein allgemeines Muster, das sich über Jahre durch die Selbstidentifikation, das Verhalten und die Vorlieben und Abneigungen zieht, mit der Zeit intensiver wird und möglicherweise Empfindungen wie Geschlechtsdysphorie und seelische Not beinhaltet. Dr. Norman Spack, der Gründer der bahnbrechenden GeMS-Klinik am Children’s Hospital Boston und ein Experte auf dem Gebiet, stellte fest, dass viel für die Transidentität eines Kindes spricht, wenn sich mehrere dieser wesentlichen Faktoren bestätigen. „Diese Kinder machen mit jeder Bewegung und jedem Wort eine klare Aussage“, sagte er.

Einige dieser Verhaltensweisen können auch darauf hindeuten, dass ein Kind geschlechtsvariant, aber nicht transident ist. Tatsächlich ist ein großer Teil geschlechtsdiverser Kinder nicht transident, sondern verhält sich lediglich nicht geschlechtskonform. Man sagt auch, dass sie in ihrer individuellen Ausdrucksweise geschlechtsvariant oder geschlechtsdivers sind. Bei dem Versuch, ihre Kinder nach Kräften zu unterstützen, informieren sich die Eltern über Transidentität und gelangen zu der Überzeugung, dass ihr Kind transident sein muss. Das ist nicht immer – nicht einmal besonders oft – der Fall. Im weiteren Verlauf des Buches gehen wir genauer auf den Unterschied zwischen geschlechtsbezogenen Ausdrucksformen und Geschlechtsidentität ein.

Uns ist klar, dass wir bereits viele Begriffe verwendet haben, die Ihnen möglicherweise neu sind. Am Ende des Buches finden Sie ein Glossar, das Ihnen beim Verständnis dieser Begriffe hilft.

Bin ich schuld? Kann ich dafür sorgen, dass es verschwindet?

Ob jemand transident oder geschlechtsvariant ist, hat nichts mit dem Verhalten der Eltern zu tun. Eine transidente oder nichtbinäre Identität oder eine geschlechtsvariante Art der Selbstdarstellung ist nichts, was Sie verursacht haben. Es ist weder das Ergebnis von Scheidung noch Kindesmissbrauch oder elterlicher Enttäuschung über das biologische Geschlecht des Kindes und hat auch nichts mit Ihrem Erziehungsstil zu tun, egal, ob Sie als Eltern dominant, nachgiebig oder abwesend sind oder waren. Nichts, was Eltern und Betreuungspersonen tun oder lassen, führt dazu, dass ein Kind nichtbinär oder transident wird. Frühere Studien, die einen Einfluss der Erziehung auf die Tatsache ausmachten, dass ein Kind transident wird, sind inzwischen allesamt weithin umstritten. Sie basierten auf Denkweisen, die mittlerweile sowohl im psychiatrischen Gesundheitswesen als auch unter Mediziner:innen abgelehnt werden. Wenn Sie bei Ihrer Suche nach medizinischem und psychiatrischem Beistand auf Vertreter:innen dieser Denkweise stoßen, ist es höchste Zeit, sich bei jemandem Hilfe zu suchen, der oder die ein aktuelleres, bejahendes und evidenzbasiertes Konzept verfolgt. Eine Fachperson, die behauptet, Sie könnten so auf Ihr Kind einwirken, dass es eine andere Geschlechtsidentität annimmt, vertritt einen falschen und sogar schädlichen Ansatz. Tatsächlich haben angesehene medizinische und psychiatrische Organisationen wie die American Academy of Pediatrics und die American Academy of Child and Adolescent Psychiatry allen Therapieansätzen abgeschworen, die darauf abzielen, die Geschlechtsidentität eines Menschen zu ändern. Aktuell ist allein der Versuch in mindestens 24 US-Bundesstaaten verboten. Es ist nicht möglich, die Geschlechtsidentität eines Kindes zu ändern. Sie stellt eine Kerndimension der Ich-Identität dar. Ihr Verhalten als Eltern kann jedoch die Selbstwahrnehmung des Kindes in Bezug auf seine empfundene Geschlechtsidentität beeinflussen.

Was bedeutet Geschlecht?

Ich wünschte, ich hätte mehr über Geschlecht als Spektrum gewusst, als ich Mutter wurde. Rückblickend stellen sich mir so viele Fragen zu meiner eigenen Erziehung und Identität. Wir vermitteln unseren Kindern so viele mehr oder weniger subtile Botschaften in Bezug auf das Geschlecht, und oft genug steckt Unwissenheit dahinter.

Mutter einer fünfjährigen transidenten Tochter

Um geschlechtsvariante, transidente und nichtbinäre Kinder in ihrer Entwicklung unterstützend zu begleiten, bedarf es eines grundlegenden Verständnisses von Geschlecht und Geschlechtlichkeit. Der Grundstein für die Einstellung zum Geschlecht und zu dem, was als angemessenes Verhalten des jeweiligen Geschlechts gilt, wird bereits in der frühen Kindheit gelegt. Diese prägenden Ansichten können sich mit der Zeit ändern, aber sie beeinflussen die Entscheidungen, die man im Laufe seines Lebens trifft. Mit anderen Worten: Wie Sie als kleines Kind gelernt haben, mit Geschlecht umzugehen und mit anderen in Bezug auf Geschlecht zu interagieren, wirkt sich unmittelbar auf Ihre heutige Weltsicht aus. Das bedeutet auch, dass Ihr Erziehungshandeln unmittelbar durch das beeinflusst wird, was Sie über Geschlecht und Geschlechtlichkeit gelernt haben. Manches von dem, was wir über Geschlechtsidentität schreiben, mag Ihnen auf den ersten Blick radikal vorkommen, weil Sie Geschlechtsidentität zurzeit aus einer anderen Perspektive betrachten. Vielleicht fragen Sie sich nach der Lektüre dieses Buches, was Männlichsein oder Weiblichsein eigentlich wirklich bedeutet – und Sie fragen sich, warum bisher niemand das Thema Ihnen gegenüber angeschnitten hat.

Die Geschlechtsrollen begleiten uns vom Augenblick der Geburt an. Sich mit geschlechtsvarianten, nichtbinären und transidenten Kindern zu unterhalten, über sie zu lesen, sie zu begleiten und mit ihnen zu interagieren wird Ihre persönliche Sicht auf Geschlecht und Geschlechtsidentität verändern. Je mehr sich Ihr Verständnis der Thematik erweitert, desto leichter wird es Ihnen fallen, darüber zu sprechen. Je unbefangener Sie mit dem Thema und mit Ihrem Kind umgehen, desto schneller bauen sich Hemmungen, Ängste, Verwirrung und Feindseligkeit bei anderen ab, mit denen Sie zu tun haben.

Jede Person, die mit geschlechtsvarianten und transidenten Menschen interagiert, muss sich öffnen und dazulernen. Das ist nachvollziehbar. Eine ausgeprägte Abweichung von geschlechtskonformem Verhalten bringt die Grundfesten einer klar definierten Geschlechterordnung ins Wanken und stellt alles infrage, was wir bisher als selbstverständlich angesehen haben. In der Folge können sich lange verdrängte negative Einstellungen und Homophobie einen Weg an die Oberfläche bahnen. Wir möchten Ihnen als Eltern oder Fachpersonen Orientierungshilfen an die Hand geben, wenn Sie sich in dieses neue Territorium vorwagen. Wir begleiten Sie durch die unterschiedlichen Phasen, die Sie erfahrungsgemäß durchlaufen, bis Sie die Andersgeschlechtlichkeit Ihres Kindes akzeptieren und in Ihr Leben integrieren.

Aber was bedeutet Geschlecht denn nun? Beginnen wir mit einer kurzen Übung. Nehmen Sie Stift und Papier und notieren Sie Ihre Antworten auf die folgenden Fragen:

  Was ist ein Junge?

  Was ist ein Mädchen?

  Woher wissen Sie das?

  Wann weiß man, ob man ein Junge oder ein Mädchen ist?

  Wann wussten Sie es?

  Sind Sie ein Mann? Sind Sie eine Frau? Woher wissen Sie das?

  Sind Sie ganz oder teilweise beides? Woher wissen Sie das?

  Hat sich Ihr Geschlecht mit der Zeit geändert?

  Hat sich Ihre persönliche Darstellung Ihres Geschlechts mit der Zeit geändert?

  Wenn sich Ihr Körper über Nacht in das andere Geschlecht verwandeln würde, würde sich etwas an Ihrer Selbstwahrnehmung ändern?

  Welche Einstellung zum Geschlecht hatten Sie als Heranwachsende:r? Hat sich daran etwas geändert?

  Denken Sie an die Botschaften zu Geschlecht und Geschlechtlichkeit, die man Ihnen als Kind vermittelt hat. Haben sie für Sie einen Sinn ergeben? Wollen Sie Ihrem Kind die gleichen Botschaften vermitteln?

Legen Sie Ihre Antworten für den Moment beiseite, aber behalten Sie sie bei der Lektüre des restlichen Kapitels im Sinn. Es ist hilfreich, diese Übung regelmäßig zu wiederholen, weil sich Ihre Antworten im Laufe der Zeit ändern können.

Unsere Gesellschaft kannte lange Zeit nur zwei Geschlechterkategorien: Junge / Mann und Mädchen / Frau. Diese binäre Betrachtungsweise ist mit Erwartungen und Regeln für jedes Geschlecht befrachtet. Diese Regeln diktieren, welche Kleidung, Aktivitäten und Verhaltensweisen standardmäßig als angemessen akzeptiert werden, obwohl die vorangegangene Übung vielleicht gezeigt hat, dass die Wahl der Kleidung, der Aktivitäten oder Verhaltensweisen nicht eindeutig in die eine oder andere stereotype Kategorie passt. Es gibt fast nichts, was nicht in eine der beiden Geschlechtskategorien fällt – Spielsachen, Farben, Kleidung und selbst die Sprache sind die offenkundigsten Beispiele. Jeder Aspekt unseres Lebens vermittelt Erwartungen in Bezug auf Geschlecht: Familie, Kultur, Gleichaltrige, Schule, Gemeinschaft, Sport, Arbeit, die Medien und die Religion. Geschlechtsrollen und Rollenerwartungen sind so fest verankert, dass wir sie kaum aus unserem Leben wegdenken können.

Entwicklung der sozialen Geschlechtsrolle und der Druck, sich anzupassen

Kinder werden stark beeinflusst durch das, was ihnen Eltern und Gesellschaft im Hinblick auf Geschlecht beibringen. Eltern tragen sowohl aktiv als auch passiv, bewusst und unbewusst dazu bei, dass Jungen lernen, Jungen zu sein, und Mädchen lernen, Mädchen zu sein.

Kinder ahmen nach, was sie in ihrer Umwelt beobachten. Durch unsere Interaktionen mit ihnen lernen sie die ihrem Geschlecht angemessenen Verhaltensweisen. Sie verinnerlichen situationsbezogene Machtverteilungen, eignen sich als akzeptabel erachtete Bedürfnismuster an, schenken Vorbildern des eigenen Geschlechts besondere Beachtung und eifern ihnen nach. Die Art, wie ein Kind Geschlechtsrollen wahrnimmt, kann sich mit der Zeit verändern und wird durch Faktoren wie Gesellschaftsschicht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Religion und Kultur unmittelbar beeinflusst. Selbst kleine Kinder sind auf die in ihrer Kultur idealisierten Versionen von Männern und Frauen eingestimmt.

Geschlechtsspezifische Interaktionen beginnen, sobald die Eltern das biologische Geschlecht ihres Babys kennen. Studien belegen, dass Erwachsene selbst vor der Geburt – und ganz gewiss danach – ihre Stimmlage und Worte anpassen, je nachdem, welches Geschlecht das Neugeborene hat. Bei geburtsgeschlechtlichen Mädchen oder Babys mit unbekanntem Geschlecht verfallen sie intuitiv in einen Singsang und halten und trösten diese Babys mehr. Bei geburtsgeschlechtlichen Jungen sprechen sie mit einer tieferen Stimme; männliche Babys werden seltener gehalten und getröstet. Die wenigsten Erwachsenen sind sich dieser Unterschiede in der Interaktion mit Babys bewusst. Es ist also nicht verwunderlich, dass die meisten Kinder im Alter von drei Jahren, dank einer Kombination aus sozialer Konditionierung und persönlichen Vorlieben, die Aktivitäten und Verhaltensweisen bevorzugen, die man typischerweise mit ihrem biologischen Geschlecht assoziiert.

Gesellschaftlich akzeptierte Geschlechtsrollen und Erwartungen an geschlechtsspezifische Ausdrucksformen sind so fest in der Mainstream-Kultur und in unseren persönlichen Subkulturen und unserem Umfeld verankert, dass sich kaum jemand eine zivilisierte Gesellschaft ohne sie vorstellen kann. Da Geschlechtsrollen einen integralen Teil unseres gesellschaftlichen Gefüges darstellen, haben sich die meisten geschlechtstypischen (also cisgeschlechtlichen) Menschen noch nie gefragt, was Geschlecht eigentlich bedeutet. Das ist auch nicht nötig, denn im binären System finden sie problemlos ihren Platz.

Das lange akzeptierte, binäre Geschlechtersystem benachteiligt nicht geschlechtskonforme Kinder. Die Erkenntnis, dass das gefühlte Geschlecht und die Anatomie nicht zwangsläufig übereinstimmen, ist der erste Schritt bei dem Versuch, geschlechtsdiverse Kinder zu verstehen und zu unterstützen.

Bevor wir uns der Frage zuwenden, was Geschlecht bedeutet, sollten wir klären, was es nicht bedeutet, denn das sorgt oft für Verwirrung. Meist werden die Begriffe „biologisches Geschlecht“ (engl. „sex“) und „Geschlechtsrolle“ oder „Geschlechtsidentität“ (engl. „gender“) synonym verwendet. Diese Begriffe hängen zwar zusammen, sind jedoch nicht gleichbedeutend. Anatomische Merkmale sind die Grundlage für die Zuweisung des biologischen Geschlechts bei der Geburt. Das zugewiesene Geschlecht bestimmt dann die Zuweisung der Geschlechtsrolle und die vermutete Geschlechtsidentität; daraus ergibt sich, ob eine Familie ein Kind als Jungen oder Mädchen erzieht. Die meisten Menschen verschwenden keinen weiteren Gedanken daran, weil ihre Geschlechtsidentität mit der Geschlechtsrolle und den äußeren Merkmalen übereinstimmt, die man mit ihrem biologischen Geschlecht assoziiert. Anderen bereitet das Thema jedoch Stress und nicht selten seelische Not, weil die Teile der Ich-Identität nicht nahtlos zusammenpassen. Tatsächlich besteht das Geschlecht aus einem komplexen Zusammenspiel dreier Dimensionen: anatomische Gegebenheiten, individuelle Verhaltensweisen und Geschlechtsidentität.

Wie Kinder Geschlechtsrollen kennenlernen

Bereits in jungen Jahren bekommen Kinder mit, dass an Jungen und Mädchen unterschiedliche Erwartungen gestellt werden. Sie beginnen, diese Rollen in ihren Familien und mithilfe der gesellschaftlichen Werte, Überzeugungen und Einstellungen ihrer Kultur und der Welt um sie herum zu lernen. Obwohl die geschlechtsbezogenen Normen nicht in allen Gesellschaften gleich sind und sich mit der Zeit verändern, ist es im Wesentlichen die Kultur, die unsere Erwartungen prägt, was ein Mann und was eine Frau ist. Geschlechtsrollen geben unserer Gesellschaft Struktur, indem sie allgemein akzeptierte Funktionsweisen und Interaktionen etablieren.

Kleine Kinder lernen die Welt aus der Perspektive dieser Geschlechtsrollen kennen. Vor dem Hintergrund dieses Sozialisierungsprozesses lässt sich leicht nachvollziehen, wie wir zu der Überzeugung gelangen, dass ein Mädchen ein bestimmtes Aussehen vorzuweisen, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten und bestimmte Vorlieben zu haben hat. Ein Junge zu sein, heißt demzufolge, andere Dinge zu tun und zu mögen.

Kinder internalisieren Gelerntes durch Verstärkung

Der Grundstein für unser Verständnis der Geschlechtsrollen wird in der frühen Kindheit bis zum fünften Lebensjahr gelegt. Dieses Verständnis wird von vielen Dingen beeinflusst: durch die Kleider, die man uns kauft, die Einrichtung unseres Kinderzimmers, die Spielsachen, die man uns gibt, die Aktivitäten, zu denen wir ermuntert werden, die Gefühle, in deren Ausdruck wir bestätigt werden, den Haarschnitt, den man uns verpasst. Auch die positive und negative Verstärkung, die wir erfahren, übt einen Einfluss aus. Stellen Sie sich ein Kind vor, das als Junge großgezogen wird. Dieses Kind bekommt möglicherweise ein negatives Feedback, wenn es das Kleid seiner Schwester anzieht oder im Spielzeugladen um eine Puppe bettelt. Man sagt ihm vielleicht, dass das Mädchensachen sind, und schüttelt angesichts seiner Wünsche tadelnd den Kopf. Nach und nach wird dieses Kind genau wie jedes andere Kind, das solche lehrreichen Momente durchlebt, ein Verständnis der Geschlechtsrollen entwickeln. Es wird lernen, wie ein Junge und wie ein Mädchen zu sein hat, und welche Konsequenzen drohen, wenn man die Regeln nicht befolgt.

Positive und negative Verstärkung zeigen einem Kind, welche Verhaltensweisen lobend anerkannt und welche missbilligt werden. Dann internalisiert es diese Geschlechtsrollen und die damit verbundenen Erwartungen und ist motiviert, die Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die als seinem Geschlecht angemessen gelten. Die Normen und Erwartungen seiner Kultur, seiner Familie und seiner Umgebung werden internalisiert. Nach und nach entsteht durch wiederholtes Feedback von außen ein innerer Bezugsrahmen, an dem richtig und falsch gemessen werden. Außerdem empfinden Kinder eine größere Selbstzufriedenheit, wenn sie sich so verhalten, wie es ihnen vorgelebt wurde. Das führt sowohl zur Selbstregulation als auch zu dem Wunsch, richtig und falsch mit anderen zu teilen, sodass der verstärkende Kreislauf fortgesetzt wird – selbst bei Vorschulkindern.

Entwicklung der Ich-Identität

Psycholog:innen gehen davon aus, dass die Ich-Identität aus drei wesentlichen Dimensionen besteht. Es wird allgemein angenommen, dass sich diese unterschiedlichen Dimensionen im Laufe der Kindheit bis zum Alter von sechs Jahren herausbilden und dann im Teenageralter erneut auf ihre Stimmigkeit überprüft werden. Was die sexuelle Orientierung angeht, so haben jüngere Kinder vielleicht eine vage Ahnung, zu wem sie sich hingezogen fühlen, doch sexuelle Anziehung im eigentlichen Sinne manifestiert sich erst nach der Latenzperiode, etwa im Alter zwischen 11 und 13 Jahren. Die drei Dimensionen der Ich-Identität sind:

  Geschlechtsidentität – das tiefgreifende, innere Gefühl der Geschlechtszugehörigkeit, unabhängig von der Anatomie

  individuelles Verhalten – die natürlichen Neigungen und Ausdrucksformen

  sexuelle Orientierung – zu wem man sich sexuell hingezogen fühlt

Diese drei Dimensionen der Ich-Identität existieren getrennt voneinander, wenngleich sie in gegenseitiger Beziehung zueinander stehen. Jede Dimension kann für sich genommen unterschiedliche Erscheinungsformen aufweisen. Bei den meisten Leuten passen die drei Dimensionen der Ich-Identität in einem vorhersehbaren Muster zueinander. Diese wesentlichen Komponenten stellen den sozialen Kontext dar, aus dem Geschlechtsrollen und das Bezugssystem der Geschlechter entwickelt werden, und in westlichen Kulturen sind die geschlechtsbezogenen Normen und Erwartungen danach ausgerichtet. In Wirklichkeit weisen jedoch viele Menschen Abweichungen von einer oder mehreren Dimensionen der Ich-Identität auf. Wir alle kennen sicherlich gut angepasste Erwachsene, die eine Mischung von Identitäten erkennen lassen.

Zum Beispiel:

  Wahrscheinlich kennen Sie einen Mann (Geschlechtsidentität), der sanft und gefühlsbetont (individuelles Verhalten) und heterosexuell ist (sexuelle Orientierung).

  Vielleicht kennen Sie eine Frau (Geschlechtsidentität) mit sehr kurzen Haaren, die auf dem Bau arbeitet (individuelles Verhalten) und lesbisch ist (sexuelle Orientierung).

  Vielleicht kennen Sie einen Menschen, den Sie als Frau wahrnehmen, der sich selbst jedoch als nichtbinär wahrnimmt (Geschlechtsidentität). Er hat lange Haare, trägt hochhackige Schuhe, bekleidet einen einflussreichen Posten in der Geschäftsführung (individuelles Verhalten) und ist pansexuell (sexuelle Orientierung).

Geschlechtsidentität

Die Geschlechtsidentität ist eine Dimension der Ich-Identität. Dabei handelt es sich um das innere Gefühl und das persönliche Erleben des eigenen Geschlechts. Die Geschlechtsidentität eines Menschen kann mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen oder davon abweichen. Standardmäßig unterscheidet man zwischen binärer (d. h. Junge / Mann, Mädchen / Frau) und nichtbinärer (d. h. agender, genderfluid, nichtbinär) Geschlechtsidentität. Was genau unter der Bezeichnung einer bestimmten Geschlechtsidentität verstanden wird, kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Da Kinder über einen begrenzten geschlechtsbezogenen Wortschatz verfügen, kann es eine Weile dauern, bis sie die Sprache finden, die ihr inneres Erleben am besten darstellt. Außerdem entwickelt sich die Sprache ständig weiter, und so können sich auch die Begriffe ändern, mit denen jemand seine Geschlechtsidentität beschreibt. Das bedeutet nicht, dass sich seine Geschlechtsidentität geändert hat, sondern es signalisiert nur eine Änderung in der Wortwahl. Die Begriffe zur Benennung der Geschlechtsidentität können sich also entwickeln.

Die Vorstellung, dass es nur zwei Geschlechter gibt und dass man entweder dem einen oder dem anderen angehört, nennt man „Geschlechtsbinarität“ oder „das binäre Geschlechtersystem“. Viele Gesellschaften betrachten jedoch das Geschlecht seit Jahrhunderten als ein Spektrum, statt es auf zwei Alternativen zu beschränken.

Wie wird ein Mensch transident?

Ich wünschte, die Welt könnte sehen, wie mein Kind wirklich ist. Alle Bücher und Theorien und Forschungen werden bedeutungslos angesichts dieser schlichten Wahrheit: Sehen Sie sich mein Kind an, wie sie wirklich ist, und Sie werden wissen, dass Sie das wahre Kind entdeckt haben. Da ist nichts vorgetäuscht, es ist keine Fehlfunktion, keine Krankheit. Sie ist ein Kind in all ihrer Pracht, die ihren Weg durch die Welt geht.

Elternteil einer sechsjährigen transidenten Tochter

Menschen, die sich erkennbar nicht an die allgemein anerkannten Normen der Geschlechtsrollen anpassen – und die sich heute vielleicht als transident identifizieren würden –, hat es in der Menschheitsgeschichte immer schon in allen Kulturen gegeben. Heute finden sich transidente Kinder in allen Völkern, Populationen und Religionen. Sie werden von den unterschiedlichsten Eltern und in den unterschiedlichsten Zusammenhängen erzogen.

Weltweite Geschlechtervielfalt

Es ist zweifelsfrei belegt, dass es in den meisten, wenn nicht gar in allen Kulturen weltweit transidente und anderweitig geschlechtsdiverse Menschen gegeben hat. Im Laufe der Geschichte existierten vollkommen andere Geschlechtersysteme, viele von ihnen sehr variantenreich. In manchen Kulturen ist das auch heute noch der Fall. Diese Systeme bestehen aus anderen Geschlechterkategorien und anderen Normen und Erwartungen in Bezug auf das, was wir typischerweise als Geschlecht bezeichnen.

Viele von uns sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass die Kategorien Mann und Frau unverrückbar feststehen, und gehen davon aus, dass der Rest der Welt das gleiche Bild von menschlicher Geschlechtsidentität hat.

Es mag den Anschein haben, als habe sich unsere Definition von Geschlecht in jüngster Zeit stark verändert, als sei aus etwas Einfachem etwas unnötig Kompliziertes geworden. Aber Geschlecht oder Geschlechtsidentität waren noch nie einfach.

Das heute vorherrschende binäre Geschlechtersystem und die damit verbundenen Geschlechtsrollen hatten ihren Ursprung hauptsächlich in Europa und wurden fast dem ganzen Rest der Welt im Zuge der Kolonialisierung übergestülpt. Dabei handelte es sich nicht um eine „natürliche“ Folge der Kolonisation. Vielmehr haben die europäischen Kolonisatoren ihre starren binären geschlechtsbezogenen Normen durchgesetzt, nicht selten mit Gewalt und unter Androhung drakonischer Strafen. Viele, wenn nicht gar die meisten ursprünglichen geschlechtsbezogenen Systeme waren sehr viel komplexer als das heute verbreitete binäre System. Dort, wo diese Systeme weiterhin Bestand haben, sind sie es immer noch.

Das trifft auf die Kulturen der amerikanischen Ureinwohner ebenso zu wie auf jene in Afrika, auf den Pazifischen Inseln, in Indien, Persien und einigen anderen Ländern.

Transidentität ist eine normale menschliche Ausdrucksform. Nach den Ursachen für transidente Geschlechtsidentität zu forschen, ist müßig, weil es nahelegt, dass es ein „Problem“ gibt. Wenn Sie Mühe haben, Ihr Kind zu akzeptieren, sollten Sie sich vor Augen halten, dass es immer schon geschlechtsdiverse und transidente Menschen gegeben hat.

Individuelle Verhaltensstile

Als einen weiteren Aspekt der Ich-Identität bezeichnen Psycholog:innen persönliche Verhaltensäußerungen. Der individuelle Verhaltensstil eines Menschen spiegelt seine natürlichen Neigungen und Ausdrucksformen wider, und die Gesellschaft ordnet diese entweder dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zu. Der Teil unserer Identität, der sich durch unsere unverwechselbaren Verhaltensweisen äußert, kann also als Ausdruck und Darstellung unserer Geschlechtsidentität gesehen werden.

Menschen, die sich mit ihrem Verhaltensstil außerhalb der gesellschaftlichen Erwartungen bewegen, machen oft bedrückende Erfahrungen. Je stärker die Neigung und Vorlieben für Verhaltensweisen sind, die typischerweise dem „anderen“ Geschlecht vorbehalten sind, desto größer ist die wahrgenommene Abweichung von der Norm. Da die geschlechtsbezogenen Erwartungen einem starren Muster folgen, werten wir die Art eines Menschen, sich zu kleiden, sich zu bewegen, zu sprechen und sich auszudrücken, als Hinweis auf seine Geschlechtsidentität. Verhaltensstile sind jedoch nicht gleichbedeutend mit Identität – vom individuellen Verhalten und der Selbstdarstellung kann man nicht immer auf die Geschlechtsidentität schließen. Zu Merkmalen individueller Verhaltensweisen zählen Frisur, Körpersprache, Gangart, die Vorliebe für bestimmte Kleidung und Kleidungsstile sowie das Spielverhalten. So zieht ein Junge vielleicht gerne Kleider und Röcke an, doch damit definiert er nicht zwangsläufig seine Geschlechtsidentität. Sein Kleiderwunsch zeigt lediglich an, dass er (zumindest zeitweise) gern Sachen trägt, die die Gesellschaft typischerweise mit Mädchen assoziiert. Welche Vermutungen wir über die Geschlechtsidentität eines Menschen aufgrund seiner individuellen Verhaltensweisen und Ausdrucksformen anstellen, hat eigentlich nichts mit diesem Menschen zu tun, sondern mit unserer Vorstellung von Geschlecht.

Sowohl Eltern als auch Kinder werden kritisch beäugt, wenn ein Kind Vorlieben zeigt, die gemeinhin dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden. In der Mainstream-Kultur trifft dies vor allem auf Jungen zu, die als feminin betrachtete Interessen oder Verhaltensweisen an den Tag legen. In vielen anderen Kulturen und Gesellschaften werden Mädchen jedoch ebenso auf akzeptierte Verhaltensweisen reduziert und in ihrer Selbstdarstellung eingeschränkt.

Mit ihrem Anpassungszwang übt die Gesellschaft nicht nur Druck auf die Kinder, sondern auch auf die Eltern aus. Da Jungen noch genauer auf männliche Ausdrucksformen hin beobachtet werden, fällt es Eltern oftmals schwerer, Geschlechtervarianz bei ihren Söhnen zu akzeptieren. Darüber hinaus betrachten viele Menschen Kinder als den Spiegel ihrer Eltern. Ein feminin wirkender Junge kann als Bedrohung der Männlichkeit seines Vaters wahrgenommen werden. In Kulturen und Gemeinschaften, in denen biologischen Frauen ein begrenztes Repertoire an Ausdrucksformen zur Verfügung steht, stellt ein Mädchen mit männlichen, androgynen oder geschlechtsvarianten Neigungen eine Schande für die Familie dar. Aus diesem Grund bezeichnen wir ein Kind, dessen persönliche Vorlieben außerhalb der geschlechtstypischen Erwartungen liegen, als geschlechtsvariant. Da alle Aspekte der Identität eines Menschen miteinander verwoben sind, können wir sie nicht als separate Größen betrachten. Die gesellschaftlichen und persönlichen Elemente von Verhaltensstilen und geschlechtsspezifischen Ausdrucksformen bilden eine vielfältige und facettenreiche Mischung. Um dem Rechnung zu tragen, dürfen wir uns bei der Einschätzung einer Person nicht auf einen ersten flüchtigen Eindruck und die daraus resultierenden Vermutungen verlassen.

Sexuelle Orientierung

Bei der sexuellen Orientierung, dem dritten Element der Ich-Identität, geht es darum, zu wem wir uns sexuell oder romantisch hingezogen fühlen. Die sexuelle Orientierung ist ein integraler Bestandteil der Ich-Identität eines Menschen. Studien belegen eindeutig, dass die sexuelle Orientierung keine Frage der persönlichen Entscheidung ist. Nichts, was ein Elternteil oder jemand anderes tut oder lässt, treibt ein Kind in die Homosexualität oder verhindert, dass es lesbisch, schwul, bisexuell oder pansexuell wird oder eine andere sexuelle Identität herausbildet. Leider wissen viele Leute das nicht; noch immer machen zahlreiche Fehlinformationen zu sexueller Orientierung die Runde.

Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung sind verschiedene Aspekte des Ichs, die gleichwohl miteinander verwoben sind. Geschlechtsidentität bezieht sich auf die eigene Person (wie wir uns selbst sehen), während die sexuelle Orientierung eine zwischenmenschliche Komponente hat (zu wem wir uns physisch, emotional und / oder romantisch hingezogen fühlen). Es handelt sich um zwei Dimensionen unserer Persönlichkeit. Die sexuelle Orientierung hat insofern etwas mit unserer Geschlechtsidentität zu tun, als sie durch unsere eigene Geschlechtsidentität und die der Menschen definiert wird, zu denen wir uns hingezogen fühlen.

Oft werden die geschlechtsbezogenen Verhaltensweisen eines Kindes als Ausdruck seiner sexuellen Orientierung gewertet. Geschlechtsvariantes Verhalten kann, muss aber kein Hinweis auf die spätere sexuelle Orientierung sein. Von geschlechtsvarianten Kindern wird ein größerer Anteil homosexuell, als es bei Cis-Kindern (d. h. bei nicht geschlechtsvarianten Kindern) der Fall ist. Dennoch ist geschlechtsvariantes Verhalten kein eindeutiges Merkmal für die sexuelle Orientierung: Aus vielen geschlechtsvarianten Kindern werden keine homosexuellen Jugendlichen oder Erwachsenen, während viele nicht geschlechtsvariante Kinder später homosexuell sind.

Wie wohl sich ein junger Mensch mit sich selbst fühlt, hängt davon ab, wie gut diese Kerndimensionen der Ich-Identität – Geschlechtsidentität, Verhaltensstil und Geschlechtsausdruck sowie (im Teenageralter) sexuelle Orientierung – miteinander harmonieren. Grundsätzlich streben Menschen nach einer Übereinstimmung aller drei Aspekte, die man auch als Geschlechtskongruenz bezeichnet.

Geschlechtskongruenz

Wir alle bemühen uns um Geschlechtskongruenz. Wenn Sie sich kaum jemals Gedanken wegen Ihrer Geschlechtsidentität gemacht haben, ist dieser Wunsch nach Harmonie schwer nachvollziehbar. Vielleicht hilft Ihnen das folgende Bild weiter: Sie haben wahrscheinlich selbst schon erlebt, dass Sie eine Bluse oder ein Hemd anhatten, das sich irgendwie nicht richtig anfühlte – Sie waren darin einfach nicht Sie selbst. Oder Sie stellen nach einem Friseurbesuch fest, dass Ihre Haare viel zu kurz geraten sind. Sie sind ganz unglücklich mit Ihrer Frisur und haben das Gefühl, als seien Sie nicht Sie selbst. Wenn sich etwas richtig und stimmig anfühlt, nennen wir es Kongruenz; wenn sich etwas nicht stimmig anfühlt, befinden wir uns in einem Zustand der Inkongruenz oder mangelnden Kongruenz.

Geschlechtskongruenz äußert sich darin,

  dass Sie ein angenehmes Körpergefühl in Bezug auf Ihr Geschlecht haben;

  dass Sie Ihr Geschlecht so bezeichnen, dass es zu Ihrer empfundenen Geschlechtszugehörigkeit passt;

  dass Sie einen Namen und Pronomina verwenden, die Ihre empfundene Geschlechtszugehörigkeit widerspiegeln;

  dass Ihre Kleidung, Gesten, Interessen und Aktivitäten Sie so darstellen, wie Sie gesehen werden möchten;

  dass andere Sie so sehen, wie Sie sich selbst sehen.

Geschlechtskongruenz bedeutet ein harmonisches Zusammenspiel zwischen dem Körper, der Geschlechtsidentität, dem Geschlechtsausdruck und den Geschlechtsrollen. Bei geschlechtsvarianten, nichtbinären und transidenten Kindern herrscht ein Gefühl von Inkongruenz vor, das Gefühl, dass irgendetwas im Zusammenhang mit ihrem Geschlecht nicht stimmt. Geschlechtsvariante, nichtbinäre und transidente Kinder sehnen sich nach einem Gefühl innerer Harmonie, damit sie mit sich selbst im Einklang sind – und darin unterscheiden sie sich nicht von allen anderen Menschen. Bei manchen ist das Gefühl von Inkongruenz so stark, dass Geschlechtsdysphorie und seelische Not die Folge sind. Die einzige Behandlungsmethode bei Geschlechtsdysphorie und innerer Not besteht darin, herauszufinden, wie sich eine Kongruenz herstellen ließe, und die so gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen.

Was soll ich tun, wenn mein Kind wirklich transident ist?

Vertrauen Sie Ihrem Kind voll und ganz.

Mutter einer siebenjährigen transidenten Tochter

Bevor mir mein Kind mitgeteilt hat, dass es nichtbinär ist, hatte ich keine Ahnung von Transidentität und dergleichen. Seitdem habe ich mir viele Bücher und Podcasts zum Thema herausgesucht und folge nichtbinären Leuten auf Instagram, um von ihnen zu lernen.

Mutter eines 14-jährigen nichtbinären Kindes

Der beeindruckendste Teil dieser Reise ist es, diesem kleinen Wesen zuzusehen. Sie ist sich ihrer so sicher und weiß genau, wer sie ist. Ich habe das Gefühl, dass ich selbst noch auf der Suche bin, aber sie hat mir das Selbstvertrauen vermittelt, mich so anzunehmen, wie ich bin.

Mutter einer achtjährigen transidenten Tochter

Suchen Sie sich eine Selbsthilfegruppe für Eltern und einen guten Gender-Spezialisten. Machen Sie sich klar, dass nichts erzwungen oder überstürzt werden muss. Außerdem würde ich anderen Eltern raten, ihren Kindern zu vertrauen und sich auf dieser Reise von ihnen leiten zu lassen.

Vater einer 13-jährigen transidenten Tochter

Erstens: Holen Sie tief Luft. Nehmen Sie sich Zeit. Hören Sie Ihrem Kind zu. Suchen Sie sich Unterstützung für sich und Ihre Familie. Lesen Sie dieses Buch und sehen Sie sich nach weiteren Informationsquellen um. Das Thema Transidentität ist noch recht neu, also werden Sie möglicherweise Schwierigkeiten haben, in Ihrer Nähe einen ausgebildeten Spezialisten zu finden. Für den Anfang ist es sicher am hilfreichsten, im Internet Kontakt mit anderen Eltern aufzunehmen.

Geschlechtsvariante, nichtbinäre und transidente Kinder brauchen viel Unterstützung, ebenso wie ihre Eltern, Geschwister und oft auch ihre weitere Verwandtschaft. Wir geleiten Sie Schritt für Schritt durch die unterschiedlichen Phasen bis hin zur Akzeptanz der Situation. In den folgenden Kapiteln machen wir Sie auch mit wichtigen Erziehungspraktiken vertraut. Forschungen haben ergeben, dass Ihre Reaktion auf Ihr Kind und Ihre Unterstützung – oder der Mangel an Unterstützung – bestimmen, mit welchem Lebensgefühl Ihr Kind in die Zukunft blickt.

Die Reise wird nicht immer einfach sein, aber Sie sind nicht allein unterwegs. Sie sind nicht die ersten Eltern, die feststellen, dass sich Ihr Elternsein nicht in allen Punkten so entwickelt, wie Sie es sich vorgestellt haben. Sie werden sich der Forderung gegenübersehen, zu lernen, infrage zu stellen, zu entdecken und sich für Ihr Kind stark zu machen. Sie müssen sich neue Fertigkeiten aneignen und all Ihre Kraft aufbieten, damit Ihr Kind sicher und gesund aufwächst.

Als Lehrkräfte, Betreuer:innen oder Angehörige der medizinischen oder psychotherapeutischen Berufe sind Sie aufgerufen, geschlechtsvariante, nichtbinäre und transidente Kinder immer und überall zu unterstützen.

Um die Psychologin und Genderspezialistin Dr. Karisa Barrow aus Kalifornien zu zitieren: „Lehrer:innen, Schulleiter:innen im Besonderen und die Öffentlichkeit im Allgemeinen sollten wissen, wie viel Hoffnung und Zuversicht sie einem Kind vermitteln, wenn sie seinen geschlechtsbezogenen Ausdrucksformen freundlich und verständnisvoll begegnen und ihm das Gefühl geben, dass es in der Gemeinschaft willkommen ist. Das Kind kann dann seine Energie darauf verwenden, zu lernen, zu spielen und zu träumen. Ich möchte auch Politiker:innen und Gesetzgeber:innen aufrufen, geschlechtsbezogene Ausdrucksformen, Rollen oder Identitäten nicht zu bestrafen, sondern Kindern und Eltern zuzuhören, die von ihren Entscheidungen betroffen sind – von Entscheidungen, für die sie nicht die nötige Kompetenz besitzen. Wir müssen uns gegen die Gesetze wehren, die die Grundrechte unserer Kinder einschränken. Starre Vorstellungen von menschlicher Vielfalt in all ihren Formen sind repressiv und schaden unserer Gesellschaft – nicht nur transidenten Kindern und Jugendlichen.“

Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass dies für manche Gemeinschaften eine immense Herausforderung darstellt. Doch wir glauben an Sie und vor allem glauben wir an Ihre Kinder. Sie schaffen das. Wir zeigen Ihnen, wie.

Kapitel 2: Akzeptanz in der Familie: Gestärkt aus der Krise gehen

Bis Eltern ihren Frieden mit der Geschlechtsidentität und den geschlechtsbezogenen Ausdrucksformen des eigenen Kindes machen, durchlaufen sie oft eine tiefgreifende Krise. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob das Kind eines Tages verkündet, es sei transident, oder ob die Eltern seine Entwicklung zu einem transidenten, nichtbinären oder geschlechtsvarianten Menschen über einen längeren Zeitraum beobachten. Die Erkenntnis, dass ein Kind nichtbinär oder transident ist, löst unterschiedliche Gefühlsreaktionen aus, die von Eltern zu Eltern und von Familie zu Familie variieren. Zunächst kommt es den meisten Eltern vor, als ziehe ihnen jemand den Boden unter den Füßen weg. Sie sind zutiefst erschüttert, verspüren Verlust, Schock, Unsicherheit, Wut, Angst, Scham und Trauer. Eine solche persönliche, innere Krise kann bisweilen jahrelang andauern. Andere, die mit anfänglicher Gelassenheit reagieren, erkennen vielleicht im Laufe der Zeit, dass die Situation schwieriger ist, als sie es sich zunächst vorgestellt haben. Nicht alle Reaktionen treffen auf alle Eltern zu, aber wir glauben, dass Sie sich in diesen Beschreibungen wiederfinden.

Auf die Frage, wie sie sich in dem Moment des Coming-out gefühlt habe, schrieb uns die Mutter einer 17-jährigen transidenten Tochter: „Wenn man erfährt, dass sich das eigene Kind nicht mit seinem biologischen Geschlecht identifiziert und unter Geschlechtsdysphorie leidet, sind Schmerz und Trauer ganz normale Reaktionen. Nachts schweißgebadet aufzuwachen, ist normal. Das tiefe Bedauern und die Schuldgefühle sind normal. Man muss sich sagen, dass es der Beginn einer Reise ist, kein Todesurteil. Es wird besser. Es wird ganz bestimmt besser.“

Zu den anfänglichen gefühlsmäßigen Reaktionen gehören das verzweifelte Bemühen, zu verstehen, was im Kind vorgeht, und ein Gefühl von Überforderung und möglicherweise von Trauer, gefolgt von der bangen Frage, wie man es anderen Leuten sagen soll. Bevor sie die Situation akzeptieren, sind die meisten Familien unsicher, besorgt und oftmals auch skeptisch – lauter natürliche Reaktionen. Während sich dieser innere persönliche Umsturz vollzieht, machen sich die meisten Eltern auf die Suche nach Informationen, weil sie verstehen wollen, was ihr Kind erlebt und wie sie am besten darauf reagieren. Idealerweise behalten sie ihren inneren Aufruhr für sich und versuchen, sich auf die neue Situation einzustellen und gleichzeitig ihrem Kind zu helfen.

Durch beharrliche Gefühlsarbeit, das Zusammentragen von Informationen und die uneingeschränkte Solidarität zu ihren Kindern können Eltern nach und nach eine neue Sichtweise auf Geschlecht und Geschlechtsidentität entwickeln, ihrem Kind mehr Verständnis entgegenbringen und es besser unterstützen. Manche empfinden es als einen inneren Wendepunkt, wenn sie zu vollkommener Akzeptanz bereit sind. Für andere stellt sich der Weg hin zur Akzeptanz als ein natürlicher und langwieriger Prozess dar, der oft mit der Erkenntnis einhergeht, dass sie ihrem Kind mit der Verweigerung von Liebe und Akzeptanz zusätzlichen Stress und Not bereiten. Normalerweise dauert es einige Jahre, bis Eltern ihr nichtbinäres oder transidentes Kind voll und ganz annehmen. Dr. Karisa Barrow erinnert uns daran, „dass für die Erziehung eines geschlechtsdiversen Kindes keine standardmäßige Gebrauchsanleitung zur Verfügung steht. Für ein transidentes oder nichtbinäres Kind gibt es keinen vorgezeichneten Weg. Eine gesunde Entwicklung ergibt sich, wenn Eltern ihr Kind mit liebevollem Verständnis und bedingungsloser Solidarität begleiten. Dabei will ich jedoch nicht verschweigen, dass Eltern eines transidenten Kindes stetig dazulernen und dabei ihren anfänglich empfundenen emotionalen Aufruhr und ihre Sorgen hintanstellen müssen. Zunächst gilt es, sich zu informieren und mehr über Geschlechtsidentität als kulturelles Phänomen sowie über ihre Auswirkungen auf geschlechtsdiverse Kinder und ihre Entwicklung zu erfahren. Im nächsten Schritt müssen die Eltern an ihrer eigenen Einstellung zu Geschlechtsidentität arbeiten.“

Unterschiedliche Reaktionen der Eltern

Ehrlich gesagt, kam ich irgendwann an einen Punkt, wo ich dachte, mein Mann würde es nie verstehen. Ich war mir nicht sicher, was das für unsere Familie bedeuten würde. Würde ich mich zwischen meinem Mann und der Hilfe für mein Kind entscheiden müssen? Zum Glück kam es nicht dazu, und letztendlich hat es uns in der Familie einander nähergebracht.

Mutter eines 16-jährigen nichtbinären Teenagers

Mein Mann stand von Anfang an hinter unserem Kind, er war sehr verständnisvoll, aber er hatte auch das Gefühl, dass unser Sohn nicht recht wusste, was er wollte, und sich irgendwann umentscheiden würde. Für mich brach eine Welt zusammen, ich fühlte mich, als hätte man mir gerade gesagt, mein Baby sei gestorben. Nach einer Therapie und dank der Unterstützung durch eine Selbsthilfegruppe lichtet sich die Depression allmählich. Es war eine lange Trauerphase um den Sohn, den ich verloren habe.

Mutter einer 17-jährigen transidenten Tochter