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Er ist ihre große Liebe, aber auch ihr größter Feind. Denn er ist vielleicht ein Mörder. Alyssa und Mika verbindet eine ereignisreiche Vergangenheit, denn Mika ist Alyssas große Liebe – und ihr größter Feind. Als er in ihrer Stadt auftaucht, verschwinden Menschen und tauchen tot wieder auf. In Alyssa keimt ein schrecklicher Verdacht: Steckt Mika hinter den Verbrechen oder ist diese Vermutung ihrer blühenden Fantasie geschuldet? Doch viel wichtiger ist: Wie weit geht sie für die Liebe? Gefangen zwischen Sehnsucht, Zerstörung und der unheilvollen Suche nach der Wahrheit.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
IMPRESSUM UND INHALTSWARNUNG
2. vollständig überarbeitete Auflage, 2022
Copyright © Rahel Hefti
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Ein Nachdruck oder Reproduktion in jeglicher Form sowie die Verbreitung ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin sind untersagt.
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig. Jegliche Markennennungen gehören den jeweiligen Copyrightinhabern.
Diese Geschichte erschien 2016 in anderer Form als »Zürich fliegt« beim Emons Verlag. Die Rückgabe der dem Verlag eingeräumten Rechte gem. Vertrag vom 12. Oktober 2015 erfolgte mit Wirkung zum 31. März 2022.
Inhaltswarnung:
Dieser Roman ist ein Romantic Thriller. Er enthält Gewalt- und Erotikdarstellungen und befasst sich mit Themen wie Mord, Vergeltung, Suizid, Nötigung und Verfolgung.
Impressum:
reticulum GmbH z.H. Rahel Hefti Husmattweg 6 8832 Wilen
E-Mail:
Website:
www.rahelhefti.ch
Cover:
Coverdesign: Juli van Winter, www.julivanwinter.de | Covergrafik: artant, Adobe Stock
VORWORT
Dieser Roman erschien erstmals als »Zürich fliegt« beim Emons Verlag. Aufgrund des vom Verlag vertriebenen Hauptgenres (Regionalkrimi) wurden Elemente des ursprünglichen Textes genrekonform ergänzt, umgeschrieben oder gelöscht.
»Wenn Schmetterlinge sterben« ist jene Geschichte, welche die Autorin erzählen will.
Es ist Rahels Version.
WIDMUNG
Für meine Eltern und meine Schwester ich liebe euch über alles
Und für mich, weil ich das hier schon lange tun wollte :)
Es herrschte tiefe Nacht. Obwohl Mitte April war, schneite es seit Stunden. Das kleine Dorf am See wurde vom Schnee ummantelt wie ein Gebäck von Puderzucker. Es musste diese Ähnlichkeit sein, die Ralf Seilers Magen zum Knurren brachte.
Nervös rieb er sich die Arme. Die Kälte bohrte sich wie eine Betäubungsspritze in seine Poren. Gleichzeitig perlte ihm der Schweiß von der Stirn. Ängstlich schielte er zum jungen Mann mit den schlecht blondierten Haaren und der blauen Wollmütze, der ihn am Arm festhielt und die Straße hinunter zum See zerrte.
Wieder knurrte sein Magen.
Es war das schlimme Ende eines Tages ohne eine einzige warme Mahlzeit: Seine Frau und er hatten sich einmal mehr gestritten. In der Folge hatte sie das Abendessen vom Tisch, den Ehering aus dem Fenster und ihn aus der Wohnung geworfen.
Erneut musterte Seiler den Mann, der ihn unmittelbar nach seinem Rausschmiss abgefangen hatte. Er kannte ihn nicht; trotzdem folgte er ihm durch die Nacht. Die Argumente des Jungen waren denn auch bestechend: die Statur eines Boxers und eine Schusswaffe mit Schalldämpfer. Mit einem Körperfettanteil von dreiundzwanzig Prozent und einem Kugelschreiber in der Hosentasche hatte Seiler dem wenig entgegenzusetzen.
Der Fremde lotste ihn zum Seeufer. Seiler lachte nervös; zuckende Wolken bildeten sich vor seinem Mund. »Ist es nicht ein bisschen kalt zum Schwimmen?«
Der andere antwortete nicht. Überhaupt hatte er kein Wort gesagt, seit er Seiler aufgegriffen hatte. Für Seiler war das Schweigen unerträglich. Er war ein pensionierter Mediensprecher, für den Reden stets Gold war.
Auf der Liegewiese neben dem öffentlichen Strandbad stellte der Mann zwei Campingstühle hin und wies Seiler mit einem Nicken auf den einen Platz. Zitternd kam dieser der Aufforderung nach. Der Fremde nahm seinen Rucksack vom Rücken und zog verschiedene Flaschen hervor: Bordeaux, Cognac, Grey Goose Wodka und Schwarzwälder Sauerkirschlikör. Der Anblick trocknete Seilers Kehle aus. Er kannte die Flaschen: Sie stammten aus seiner persönlichen Sammlung.
Der Mann setzte sich auf den zweiten Stuhl und lehnte sich entspannt zurück. Die Waffe hielt er auf sein Opfer gerichtet. »Ich hoffe, du hast Durst.«
Seilers Gesicht versteinerte. »Ich soll mich betrinken? Das ist lächerlich!«
Der Fremde schoss neben ihm in den Schnee. Seiler schrie.
»Die nächste Kugel geht in deinen Fuß.«
Panisch stürzte sich Seiler auf den Sauerkirschlikör. Als er die Flasche nicht sofort öffnen konnte, lud der andere geräuschvoll nach. »Ich beeile mich ja!« Tränen rannen über seine Wangen. Mit einem leisen Plopp sprang der Deckel weg.
»Ex!«, befahl der Fremde.
»Willst du mich vergiften?«
Der junge Mann nahm Seilers Fuß ins Visier.
Der Likör rann wie Leitungswasser Seilers Hals hinunter. Sein Kopf drehte sich, als er die Flasche nach vier Schlucken vom Mund zog. »Wieso zwingst du mich zum Trinken?« Er weinte und lallte.
Der Fremde kickte ihm den Wodka hin. »Nastrovje.«
Seiler musste jede Flasche anbrechen. Bald sah die Liegewiese aus wie nach einem Besäufnis. Die Flocken vor seinen Augen verwandelten sich in tanzende Sterne. Er fiel vom Stuhl und landete im Schnee.
Was ihn überkam, war keine richtige Ohnmacht, denn er spürte, wie er umhergedreht wurde. Als er auf dem Bauch landete, wurde ihm schlecht.
»Warum?« Das Wort drang kaum noch durch, aber er wollte nicht aufgeben. Er war mit seinem liebsten Hobby – dem Trinken – gefoltert worden, er hatte eine Antwort verdient.
Der Fremde ließ ihn los und ging zu seinem Rucksack. »Weißt du noch, was du gesagt hast?«
Seiler schnappte überfordert nach Luft. Er hatte keine Ahnung.
Dann landete eine Klopapierrolle vor seiner Nase und das Blut gefror ihm in den Adern.
Der Fremde lächelte. »Ah, du erinnerst dich.«
Seilers Verzweiflung explodierte. Er wollte davonrennen, hinfort robben, wegrollen, durch den Schnee paddeln, schwimmen und kraulen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Der Mann holte ihn anstrengungslos ein und drückte sein Gesicht in den Schnee, bis er das Bewusstsein verlor.
Die Schneeflocken hatten sich zu einer weißen Wand verdichtet, als er wieder erwachte. Er lag auf einem Windsurfbrett und war von Kopf bis Fuß mit Klopapier umwickelt. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden, auch die Beine konnte er keinen Zentimeter auseinanderbewegen. Ein großer Papierklumpen in seinem Mund verhinderte, dass er reden, schreien oder richtig atmen konnte. Panisch riss er den Kopf hoch.
Das Surfbrett trieb auf den See hinaus. Der junge Mann mit der Wollmütze stand am Ufer und schaute ihm nach.
Mit einem Schlag flennte Seiler, was seine Augen hergaben. Er kannte den Mann und wusste, warum er hier war. Und ja, er erinnerte sich an seine Worte von damals und wieso er nun mit Klopapier umwickelt war.
Auf einmal sah er sich vor dem Gerichtsgebäude stehen, das volle Haar gescheitelt, den noch flachen Bauch durch ein enges Hemd betont. Er schaute zu den Journalistinnen und Journalisten mit ihren Mikrofonen und den blitzenden Kameras, spürte, wie seine Wangen vor Stolz erröteten.
Es waren Fesseln aus Papier. Daraus hätte sich jeder retten können.
Die Furcht überkam ihn im Sturm. Er wollte schreien, dabei verschluckte er sich am Papierklumpen in seinem Mund. Sein darauffolgender Hustenanfall brachte das Surfboard in Schieflage. Er versuchte, die Bewegung auszugleichen, stattdessen neigte sich das Brett ein für alle Mal zur Seite.
Wäre er nicht so betrunken gewesen, hätte er einfach stillgehalten und gewartet, bis ihn jemand fand. Doch Panik gebar keine Vernünftigen.
Der Papierklumpen verschluckte seinen letzten Schrei, als er ins Wasser fiel und seinem kalten Grab entgegensank.
Das Wasser plätscherte leise über den Kies. Nebel kam auf. Das Schilf und die hochgewachsenen Gräser bogen sich sanft unter ihrer Bepuderung. Der Mann schaute eine Weile lang auf den See hinaus. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, sein Gesicht verriet keinerlei Regung. Als er sich zum Gehen abwandte, tat er es so ungerührt, als hätte er nichts weiter als einen lästigen Job erledigt.
»Hast du alles kopiert?«
»Ja.«
»Ganz sicher?«
»Ja.« Genervt wischte sich Alyssa eine dunkelrot gefärbte Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte aus dem Tramfenster. Sie hasste den öffentlichen Verkehr, besonders in Gesellschaft.
Wegen einer Stellwerkstörung fielen alle Züge aus und sie musste auf das langsame Tram ausweichen. Die sechsundzwanzigjährige Birgit saß ihr gegenüber und nagte sich die Unterlippe wund. Immer wieder schaute sie auf die Omega Constellation, die ihr Freund ihr zum Zweijährigen geschenkt hatte. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die Stress für einen Charakterzug hielt: Wer keinen besaß, forderte sich selbst zu wenig heraus. Dass Alyssa ihren Studentenjob vergaß, kaum dass sie die Anwaltskanzlei verließen, wertete Birgit demzufolge als große Schwäche.
»Du musst deinen Job endlich ernster nehmen. Dann würden sie dir vielleicht auch eine Festanstellung anbieten«, fuhr die gebürtige Berlinerin energisch fort.
»Ich nehme das Kopieren von Papieren für die physische Ablage sehr ernst, glaub mir«, gab Alyssa lakonisch zurück.
»Ach ja? Du hast heute drei Eselsohren gemacht!«
Alyssa rollte mit den Augen und versuchte, sich auf den Sturm vor dem Tramfenster zu konzentrieren. Es war schon der Dritte diesen Monat. Blätter und Blüten wirbelten wie Konfetti durch die Luft.
»Und jetzt ignorierst du mich«, maulte Birgit.
»Tut mir leid«, erwiderte Alyssa, ohne es zu meinen. Birgit und sie konnten einander nicht ausstehen; trotzdem hing Birgit jeden Montag an ihrem Rockzipfel, wenn sie aus der Zürcher Innenstadt nach Zürich-Oerlikon fuhren. Birgit besuchte dort eine Yogaklasse, Alyssa eine Vorlesung am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung. Alyssa beneidete Birgit nicht nur wegen des Yogas über Mittag.
Die zierliche Blondine mit der kleinen Schweinchennase hatte ihr Jurastudium zur selben Zeit begonnen wie Alyssa ihres in Kommunikation und Psychologie. Beide jobbten seither in der Anwaltskanzlei Moretti & Partner – Birgit für Chef Silvano Moretti, Alyssa für dessen Kommunikationschefin Caroline Fischer. Birgit hatte mittlerweile eine mündliche Zusage für ein Praktikum nach ihrem Bachelorabschluss erhalten und Alyssa … gar nichts. Folglich hatte Birgit alles, wovon Alyssa derzeit träumte: eine Quasifestanstellung, einen Freund und zwei Katzenbabys. Birgit fand trotzdem immer einen Grund, um ihre zwei Jahre jüngere Kollegin zusätzlich schlechtzureden. Mal war sie zu groß, mal zu dünn, mal aß sie zu viel Fast Food, dann zu viel Salat, dann wiederum waren ihre Haare zu rot und ihr Geist nicht da, wo er sein sollte: bei der Sache.
Zumindest gegen Letzteres konnte Alyssa nichts einwenden. Sie war wirklich eine Träumerin. Auch jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihre Kopfhörer herauszunehmen, die Musik aufzudrehen und alles um sich herum zu vergessen. Ihre Fantasie war wie eine zweite Haut, die sie überziehen konnte, wenn das echte Leben zu langweilig wurde – was meistens der Fall war. Ihre Mutter sah darin eine kreative Begabung, ihr älterer Bruder eine psychische Störung. Sie selbst versuchte, sich keinen Kopf zu machen. Es war schließlich zehn Jahre her, seit ihre Fantasie zuletzt mit ihr durchgegangen war. Sie hatte sich im Griff.
Birgit hingegen fehlte jegliche Selbstbeherrschung. »Passen Sie doch auf!«, fuhr sie eine ältere Frau mit Rollator an, als diese ihr beim Aussteigen versehentlich den Weg abschnitt.
Draußen regnete es in Strömen. Alyssa zog die Kapuze ihrer schwarzen Stoffjacke über den Kopf. »Bis Morgen«, verabschiedete sie sich und sprang aus dem Tram hinaus.
»Sei zur Ausnahme pünktlich, ja?«, rief Birgit ihr gestresst hinterher. Alyssa widerstand dem Drang, ihr den Finger zu zeigen.
Sie betrat den Vorlesungssaal mit einer Verspätung von dreißig Minuten. Die Dozentin referierte bereits mit Herzblut über das kommunikative Handeln von Jürgen Habermas.
Der Eingang befand sich direkt neben der Großleinwand. Alyssa reckte unbehaglich den Hals und atmete auf, als sie ihre WG-Mitbewohnerin in der zweithintersten Reihe entdeckte. Diese winkte ihr eifrig zu. Ihre klirrenden Armbänder übertönten selbst das Mikrofon der Dozentin. Ein paar Studierende drehten sich genervt zu ihr um, aber Valérie beachtete sie nicht. Sie war nur eins sechzig und hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, trotzdem überall aufzufallen. Alyssa war das häufig unangenehm. Sie überragte ihre Freundin um ganze zwanzig Zentimeter. Wenn Valérie in ihrer Anwesenheit also die Vorlaute spielte, war es für gewöhnlich die großgewachsene Alyssa, die man als Erstes bemerkte.
»Wer hat dich diesmal aufgehalten?«, neckte Valérie, als sie sich hinsetzte.
»Der Zug.« Seufzend nahm sie ihren Notizblock hervor und fuhr herum, als ihr jemand auf die Schulter tippte.
»Sorry, ah – dürfte ich auch ein paar Blätter haben?« Die blasse Hand, die sie berührte, gehörte einem schwarzhaarigen, jungen Mann mit kräftigem Körper und roten Pusteln im Gesicht. Wie Alyssa hatte er als einer der wenigen keinen Laptop bei sich. Alyssa kannte ihn aus einem Forschungsseminar: Er hieß Roman, wirkte stets etwas verlegen und war ein ganzes Stück kleiner als sie.
Sie riss ein Bündel Blätter vom Block und reichte es ihm mit einem freundlichen Nicken. Sein Strahlen schien daraufhin den ganzen Vorlesungssaal zu erhellen. Valérie unterdrückte ein Glucksen, was Alyssa mit einem finsteren Blick kommentierte. »Hast du Pitbull heute schon gesehen?«, feixte sie.
»Konzentrier dich mal, Lyssi. Sonst wird das nix mit dem Bachelor«, gab Valérie in einem Akzent zurück, der verdächtig nach Birgit klang. Alyssa drückte ihr den Ellbogen in die Seite und versuchte, der Aufforderung nachzukommen.
Sie scheiterte nach fünf Minuten.
Gähnend nahm sie ihr Handy hervor und begann, sich durch die Fotos von ihren letzten Ferien in Portugal zu scrollen. Sie hatte das erste Mal auf einem Surfbrett gestanden und eine erbärmliche Figur abgegeben. Die Erinnerung brachte sie zum Lächeln und ihre Gedanken drifteten ab … bis Valérie sie in den Arm klaubte.
»He, ist Ralf Seiler nicht euer Mediensprecher?«
»Der ehemalige Mediensprecher. Warum?«
»Darum.« Sie schob ihr Handy zu Alyssa herüber. Diese erblasste. Ralf Seiler ist tot – ist er betrunken ertrunken?, stand in Großbuchstaben auf der Startseite der größten Schweizer Tageszeitung.
»Da steht, dass ein Pärchen seine Leiche im Greifensee entdeckt hat«, raunte Valérie aufgewühlt. »Angeblich wurde er seit eineinhalb Wochen vermisst. Man hat damals ganz viele Alkoholflaschen am See gefunden. Jetzt glaubt die Polizei, dass er sich betrunken hat und dann ertrunken ist – vielleicht sogar mit voller Absicht.«
»Suizid?«, hakte Alyssa heiser nach.
Valérie nickte. »Du hast ihn gekannt, oder?«
»Flüchtig.« Ihre Schläfen pulsierten. Sie konnte nicht fassen, was sie las.
Ralf Seiler war bereits pensioniert gewesen, als sie ihren Studentenjob bei Moretti & Partner aufgenommen hatte. Der ehemalige Mediensprecher war jedoch ein gerngesehener Gast geblieben. Er hatte alle Mitarbeitenden beim Namen gekannt, sogar Alyssa.
»Ohne dich wäre diese Barbie aufgeschmissen«, hatte er einmal zu ihr gesagt, als Caroline nicht hinhörte. Die Vorstellung, dass dieser Mann möglicherweise Suizid begangen hatte, war verstörend. Seiler hatte durch und durch lebensfroh gewirkt. Andererseits war Alyssa immer schon schlecht darin gewesen, Menschen richtig einzuschätzen.
Für einen kurzen Moment dachte sie an früher.
»Alyssa?« Valérie schnippte mit den Fingern vor ihrem Gesicht.
Sie zuckte zusammen. »Tut mir leid, was hast du gesagt?«
»Nur, dass das Moretti & Partner echt hammerhart treffen muss. Hat sich nicht vor einem Jahr schon einer der Anwälte im Badezimmer erhängt?«
»Keine Ahnung.« Alyssa hing immer noch der Erinnerung nach, die sie aus dem Nichts heimgesucht hatte. Zitternd griff sie nach ihrer Wasserflasche und trank sie bis zur Hälfe aus.
Valérie bemerkte ihre Unruhe nicht – oder missinterpretierte sie. Ihre Augen funkelten wie die einer manischen Ermittlerin, während sie mehr über Ralf Seiler herauszufinden versuchte. »Keine Kinder, dafür besaß er ein Weingut in der Provence. Vielleicht ist an der Alkoholgeschichte doch etwas dran.«
»Hm.« Alyssa richtete ihren Blick fieberhaft auf die Dozentin. Dabei fiel ihr ein rasierter Schädel im vorderen Drittel des Saals auf. »Da ist Pitbull.«
»Lenk nicht vom Thema ab – wo?« Valérie hob den Kopf so alarmiert, dass sich Alyssas Anspannung ein Stück weit verflüchtigte. Stattdessen brach ein sanftes Lächeln durch. Valérie entdeckte, was sie bereits erblickt hatte, und stöhnte gequält. »Shit. Denkst du, er hat mich gesehen?«
»Schätzchen, er sieht dich jede Nacht in seinen Träumen.« Alyssa kicherte boshaft und Valérie schlug sich peinlich berührt die Hände vor das Gesicht.
Markos Petalidou – oder Pitbull, wie sie ihn heimlich nannten – war ihr Nachbar, Kommilitone und Valéries Fitnessverehrer. Sein Stiernacken und die stahlharten Arme deuteten auf exzessives Krafttraining hin, der rasierte, unförmige Eierschädel und das eng sitzende FC-Zürich-Trikot auf fehlendes Modebewusstsein. Er war genauso klein wie Valérie, aber mindestens dreimal so breit, mit wachen Augen, einer platten Nase und geschwungenen Lippen. Pitbull besaß ein klassisches Resting bitch face, das sich jedoch umgehend erhellte, wenn er mit jemandem sprach. Am hellsten wurde es in Anwesenheit von Valérie.
Pitbulls ambivalente Optik faszinierte Alyssa. Sie mochte ihn, obwohl sie sich nur vom »Hallo«-Sagen kannten. Valérie erging es da deutlich anders: Im Fitnesscenter landete er angeblich ständig auf benachbarten Geräten. Dort wartete er hoffnungsvoll darauf, von ihr bemerkt zu werden – ein Gefallen, den sie ihm aus Prinzip nicht machte.
»Ich hoffe, dein Roman wird eines Tages genauso anstrengend. Ich war heute nicht hier«, zischte sie hitzköpfig, packte ihre Sachen und schlich vorzeitig aus dem Vorlesungssaal. Pitbull bemerkte sie. Er hob kurz den Kopf und ließ die massiven Schultern enttäuscht fallen.
Wieder tippte ein Finger auf Alyssas Schulter. »Sorry, hättest du mir vielleicht auch noch einen Kugelschreiber?«
Alyssa lächelte immer noch wegen Pitbull und Valérie. Sie reichte Roman einen ihrer Werbekugelschreiber aus der Anwaltskanzlei und sagte, dass er ihn ruhig behalten könne, weil das Logo ohnehin schon ganz verblichen war.
Am nächsten Nachmittag arbeitete Alyssa wieder bei Moretti & Partner. Ralf Seilers Ableben war das Hauptthema in der Kanzlei. Sein Tod nahm alle mit – außer Caroline Fischer. Gerüchten zufolge hatte sich Seiler sehr deutlich gegen sie als seine Nachfolgerin ausgesprochen. Auch andere Mitarbeitende hatten Zweifel geäußert, ob die achtundzwanzigjährige ehemalige Langzeitstudentin ohne Abschluss und Berufserfahrung diesem Job gewachsen war. Moretti hatte sie trotzdem zur neuen Medien- und Kommunikationschefin ernannt. Entsprechend chaotisch ging es seither zu und her.
Caroline stand das Wasser bis zum Hals. Moretti wollte am Donnerstag eine Medienkonferenz abhalten, um seines verstorbenen Freundes zu gedenken. »Ich will etwas Großes, einen Big Bang. Aber überziehe dein Budget nicht«, hatte er gesagt und Caroline rote Stressflecken auf die perfekt gepuderten Wangen gezaubert. Mittlerweile stand auch Birgit im Medienbüro, um der Kommunikationschefin auszuhelfen. So hatte Caroline wenigstens Zeit, ein Foto ihres unordentlichen Arbeitsplatzes auf LinkedIn hochzuladen. Hashtag #bossbabe.
Alyssa und Birgit bereiteten Pressemappen vor, die unter anderem Fotos von Ralf Seiler und einen dreiseitigen Nachruf beinhalteten. Die Aufgabe war simpel: drucken, heften, ablegen, kontrollieren, repetieren. Birgit benahm sich trotzdem, als ginge es um ihr Leben.
»Hör auf, die Dinger senkrecht zusammen zu tackern! Wir haben uns doch auf diagonal geeinigt.«
»Unser Job wird nicht wichtiger, wenn du eine Staatsaffäre daraus machst«, hielt Alyssa dagegen.
Die Berlinerin ignorierte den Einwand. »Diagonal, Lyssi. Dia-go-nal.«
»Seid ihr schon durch?« Caroline schielte über den Rand ihrer drei Computerbildschirme.
»Nein, erst fünfzehn«, antwortete Alyssa.
Die Kommunikationschefin seufzte dramatisch. »Dann mal zackig! Die Mappen hätten schon gestern fertig sein sollen.«
»Gestern wussten wir noch gar nichts von der Pressekonferenz?«
»Voraussicht ist besser als Nachsicht.«
Alyssa war sich sicher, dass Caroline diese Weisheit demnächst online posten würde.
»Was machen wir eigentlich, wenn die uns über Seilers Tod ausfragen?«, fragte Birgit.
Caroline klackste genervt mit der Zunge. »Es ist nicht unser Job, dazu Stellung zu nehmen. Wir lügen, was für ein toller Mensch er war, und kippen uns anschließend einen hinter die Binde.«
»Weiß man überhaupt schon mehr über seinen Tod?«
»Nur, was in den Medien steht: zwei Komma acht Promille, Klopapierreste im Mund, keine Anzeichen auf eine Fremdeinwirkung … im Ernst, das Theater ist lächerlich. Er ist nicht der Erste und auch nicht der Letzte, der betrunken einen Unfall baut.«
»Was ist mit dem Klopapier? Den Befund finde ich schräg.«
»Zwei Komma acht Promille, Birgit. Der Idiot war so besoffen, dass er Chips nicht mehr von Klopapier unterscheiden konnte.«
»Was sagst du dazu?«
»Hm?« Alyssa hob ertappt den Kopf. Birgit schaute sie erwartungsvoll an.
Caroline zog lauernd die linke Braue hoch. »Du mochtest ihn, oder?«
»Ich kannte ihn gar nicht«, wiegelte Alyssa schnell ab.
Silvano Moretti betrat das Büro. Das Geplapper der drei Frauen verstummte. Caroline setzte sich sofort aufrechter hin und zupfte ihren enggeschnittenen Blazer zurecht. Lippenstiftstriemen waren auf ihren Schaufelzähnen zu sehen, als sie dem Inhaber von Moretti & Partner ein nervöses Lächeln schenkte.
Ihre Aufregung spiegelte sich in Alyssa und Birgit wider. Das kam nicht von ungefähr: Silvano Moretti war eine einschüchternde Erscheinung. Der Fünfzigjährige besaß stechendgrüne Augen und eine eindrucksvolle Hakennase. Der Ansatz seiner schwarzen Haare war bis zur Schädelmitte gewichen, im hinteren Teil baumelte ein langer Pferdeschwanz über den mokkabraunen Maßanzug. Moretti war kein Schönling, strahlte jedoch eine Autorität aus, die überraschend anziehend war.
Heute wirkte er allerdings nicht so eloquent wie üblich. Sein Blick schoss gejagt umher. Er drehte an einem Knopf seines weißen Hemds herum, bis er ihn lose in der Hand hielt. »Alyssa. Kann ich dich kurz in meinem Büro sprechen?«
Alyssa hob den Kopf. Auch Birgit und Caroline wirkten überrascht. Moretti rief sie sonst nie zu sich.
»Ah, klar.« Sie beeilte sich, die Heftmaschine beiseitezulegen und ihrem Chef in dessen Büro zu folgen. Hinter ihr erhob sich aufgeregtes Tuscheln.
»Setz dich bitte.« Moretti zeigte auf den Ledersessel vor seinem Mahagonitisch. Alyssa tat wie geheißen. Im Raum roch es nach Zigarettenrauch, obwohl im gesamten Altbaugebäude Rauchverbot herrschte.
Moretti setzte sich ihr gegenüber hin. Seine grünen Augen waren aufgewühlt. Ansonsten regte sich in seinem Gesicht kein einziger Muskel. »Ich weise dich darauf hin, dass dieses Gespräch vertraulich ist.« Sie nickte verunsichert. Er öffnete die Schublade seines Arbeitstischs und zog eine Fotografie heraus. Geräuschvoll schob er sie unter ihre Augen. Ihr Atem versiegte. »Kennst du diesen Jungen?«
Sie nickte wieder, diesmal kaum ersichtlich.
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
»Vor zehn Jahren.« Sie musste sich räuspern, um ihre Stimme zu finden.
»Eine Ahnung, wo er jetzt ist? Freunde? Verwandte?«
»Nein. Nein, gar nichts. Ich habe ihn nie mehr gesehen.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.« Nur in meinen Träumen. Sie stotterte.
Er studierte sie aus verengten Augen. Schließlich steckte er das Bild seufzend in die Schublade zurück. »In Ordnung. Du darfst zurück an deinen Arbeitsplatz.«
Alyssa blieb sitzen. Sie klammerte sich an ihre eigenen Oberschenkel, so fest, dass es wehtat. »Was ist mit dem Jungen?«
»Nichts Wichtiges. Es geht um einen Fall – einen Erbfall. Er ist nur am Rande involviert. Vielen Dank, Alyssa.« Die letzten Worte betonte er mit Nachdruck.
Sie beeilte sich aufzustehen. Das Bild des Jungen verfolgte sie bis in den Flur hinaus. Erst war es statisch, eine Momentaufnahme aus der Vergangenheit. Aber schon bald geriet es in Bewegung. Kurz darauf türmten sich die Erinnerungen zu einer Welle auf.
Explodierende Laterne, höllische Angst. Flatternde Schmetterlinge in ihrem Bauch.
Ihr Kopf begann sich zu drehen. Sie verkroch sich im Badezimmer, wo sie sich zitternd am Waschbecken festklammerte. Das Bild des Jungen war omnipräsent geworden, begleitet von einer irrationalen Angst, die sie bis ins letzte Glied durchschüttelte. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, und es dauerte Minuten, bis sie wieder die Kontrolle erlangte. Dann hob sie den Blick zum Spiegel und richtete sich mit erkalteten Fingern Make-up und Haare. Der kleinen Narbe an ihrer Stirn widmete sie besonders viel Aufmerksamkeit. Erst als diese sicher unter dem Haaransatz verschwand, verließ sie die Toilette. Angeleitet von ihrer Vernunft, kehrte sie in den Alltag zurück.
In ihrem Bauch lagen tote Schmetterlinge.
***
Am Abend nach der Arbeit saß Alyssa in ihrem Zimmer am offenen Fenster und arbeitete an einem Seminarreferat. Die Sonne hatte kaum noch Kraft. Alyssa hoffte trotzdem, noch etwas Vitamin D abzukriegen.
Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Nach nervenaufreibenden Tagen in der Stadt fühlte sie sich wie ein verdrecktes Pflänzchen. Sie mochte Zürich, hatte aber eine Abneigung gegen das dichtbebaute, hektische Zentrum entwickelt. Mit den steigenden Temperaturen verwandelte sich die Innenstadt in eine flimmernde Teerwüste voller Menschen und Lärm. Wieso alle eine Wohnung in den inneren Kreisen wollten, konnte sie nicht nachvollziehen. Ihre Zweier-WG in Schwamendingen war nicht nur billiger als ein vergleichbares Objekt im Stadtkern, sondern kam auch ohne die beklemmende Enge und die vielen Leute rundum aus. Sie befand sich in Waldnähe und war trotzdem in fünf Minuten beim Bahnhof Stettbach und von dort aus in wenigen Minuten zurück in der Stadt.
Zugegeben, auch der Stadtteil Schwamendingen war nicht nur schön. Zuvor wohnte Alyssa am oberen Zürichsee, der Grenze zwischen Agglomeration und Land. Erzählte sie dort von ihrem neuen Wohnort, schaute man sie an, als wäre sie einer Drogenbande beigetreten. Alyssa hatte Schwamendingen trotzdem ins Herz geschlossen. Der Stadtkreis versuchte nicht im Geringsten, seine kulturellen, politischen und geografischen Extreme zu verstecken, sondern trug sie stolz nach außen. Letztes Jahr war sie zum ersten Mal auf der Kirmes gewesen: Sie hatte sich selten so heimisch gefühlt.
Sie hob den Kopf und schaute in den Innenhof. Ein kleines Geschwisterpaar sprang einem Fußball nach. Der Ball landete vor Pitbull, der soeben von einem Einkauf zurückkehrte. Seinem furchteinflößenden Stiernacken zum Trotz rannten ihm die Kinder sofort entgegen. Das Mädchen sagte etwas. Pitbull stellte seine Einkaufstüten auf den Boden, hob den Ball mit dem Fuß auf und balancierte ihn auf dem Oberschenkel. Die Kinder kreischten vor Freude, während Pitbulls Wangen vor Stolz erröteten. Alyssa beobachtete die drei. Auf einmal wünschte sie sich, wieder kindlich naiv zu sein, jedem zu vertrauen und nichts zu hinterfragen.
Lass nicht zu, dass er in deinen Kopf eindringt.
Durch ihre Stirn ging ein Stechen. Mit einem hektischen Räuspern nahm sie den Blick vom Innenhof und widmete sich wieder ihrem Vortrag. Es half nichts. Ihre Gedanken hatten unlängst ein Eigenleben entwickelt. Genervt klappte sie den Laptop zu.
Sie hatte sich im Rekordtempo umgezogen: Zwei Minuten später marschierte sie im Joggingdress durch die Wohnung.
»Du Arsch«, grollte Valérie. Sie saß im Wohnzimmer und verdrückte einen Starbucks-Muffin.
»Komm doch mit?«, meinte Alyssa achselzuckend.
»Hm, nee. Ich gehe heute vielleicht noch ins Gym.«
»Gute Idee. Pitbull begleitet dich bestimmt.«
»Ich gehe morgen«, korrigierte Valérie und schaltete den Fernseher ein.
Die Sonne war hinter den Hausdächern verschwunden, als Alyssa aus dem Wohnblock trat. Sie entschied sich für die übliche Runde: Sie rannte ein paar Meter die Hauptstraße entlang und bog dann zum Wald ab.
Sie kam an dem alten Reihenhaus vorbei, in welchem ständig jemand auf seinem Klavier übte. An manchen Tagen stellte sie sich vor, dass es ein weltberühmter Jazzpianist sei, der unbekannt in ihrem Stadtkreis wohnte.
»Du siehst immer nur das Schöne«, warf ihre Mutter ihr manchmal vor. »Darum machst du aus Schwamendingen ein Reichenviertel, aus Sojamatsch Fleisch und aus bösen Jungs gute.«
Bettina Müller lästerte mit Herzblut über Schwamendingen, obwohl sie Alyssa noch nie besucht hatte. Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern war vor zwei Jahren mit Alyssas jüngeren Schwester Maja nach Kanada ausgewandert, derweil Alyssa nach Zürich zog und ihr drei Jahre älterer Bruder Noé nach München.
Bettina selbst hatte es nie lange an einem Ort ausgehalten. Allein in Alyssas Jugendjahren änderte die Familie viermal ihren Wohnort. Alyssa hatte das ihrer Mutter nie nachgetragen, im Gegenteil. Dank der Umzüge lernte sie die halbe Schweiz kennen. Auch Problemen war sie nie einfacher aus dem Weg gegangen.
Sie erreichte den Wald, drehte die Musik lauter und beschleunigte das Tempo. Ein wohliger Schauer jagte durch ihren Körper, als sie den harzigen Geruch der Bäume wahrnahm. Sie war keine Baumknutscherin, liebte aber das Gefühl, sich komplett im Wald zu verlieren. Auch mochte sie die unheimliche Atmosphäre, die sich wie Nebel über die dichtesten Passagen legte und besonders in der Dämmerung zur Geltung kam. Bettina wäre wahnsinnig geworden, hätte sie ihre Tochter nun gesehen. Für sie war der Wald nichts anderes als ein Hort des Verbrechens. Alyssa verstand ihre Ängste nicht – vielleicht, weil sie selbst kein furchtsamer Mensch war. Oder weil die Gefahr schon immer eine sonderbare Faszination auf sie ausgeübt hatte. Manchmal glaubte sie gar, das echte Leben erst am Abgrund wahrzunehmen. Es war einer der wenigen Momente, in denen ihr Kopfkino verstummte.
Nach einer Viertelstunde hörte die Musik auf zu spielen: Der Handyakku war leer. Alyssa zog eine Schnute und rannte ohne Bonnie Tyler weiter.
Die Geräusche des Waldes fluteten ihre Sinne augenblicklich. Der Boden knirschte unter ihren Sohlen, zirpende Insekten begleiteten ihren Weg. Über ihr heulte ein Kauz, in der Ferne schrie ein Fuchs. Beeindruckt lauschte sie der Klangkulisse. Die Sinneseindrücke waren enorm. Gleichzeitig realisierte sie, woher die Kriminellen-Fantasie ihrer Mutter kam. Obwohl es windstill war, schien alles in Bewegung zu sein. Bald vernahm sie nicht nur die Geräusche der wilden Tiere, sondern auch die Schritte und Atemgeräusche eines Menschen.
Erschrocken blieb sie stehen.
Mit ihrem Blick tastete sie die Umgebung ab. Von der vermeintlichen zweiten Person hörte sie nichts mehr. Voller Argwohn rannte sie weiter. Sie hatte kaum ihr altes Tempo erreicht, als die Schritte hinter ihr wieder einsetzten. Diesmal blieb sie nicht nur stehen, sondern machte einen explosiven Sprung um hundertachtzig Grad. Niemand war da, aber ihre Fantasie brauchte keinen weiteren Trigger.
Er strich ihr liebevoll über den Schopf: »Ich sagte doch, dass ich dich verfolge.«
Das Grauen prickelte in ihrem Nacken. Auf einmal verfluchte sie Silvano Moretti. Der Fünfzigjährige hatte keine Ahnung, was er mit diesem Bild aus seiner Schublade losgetreten hatte. Verbissen versuchte sie, dem Gespräch mit ihm alle Bedeutung abzusprechen oder zumindest eine vernünftige und möglichst trockene Erklärung dafür zu finden, wieso ihr Chef ein Bild von Mika Blum besaß. Gut denkbar, dass dieser heute ein untergetauchter Steuerhinterzieher war und von Moretti aufgespürt werden sollte. Die Kanzlei hatte immer wieder mit solchen Fällen zu tun. Folglich war Mika bestimmt nicht in Zürich – und damit auch garantiert nicht in ihrer Nähe – wie hier im Wald, zum Beispiel.
Ihr Herz sackte noch etwas tiefer. Kurzerhand machte sie kehrt und rannte nach Hause.
Ihr Kopf war rot angelaufen, als sie den Wohnblock erreichte. Sie war so erschöpft, dass sie die Milchglastür zum Treppenhaus nur noch unter dem Einsatz ihres ganzen Körpergewichts aus dem Schnappschloss brachte.
Noch einmal schaute sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Das Adrenalin pumpte immer noch durch ihre Adern, aber es verunsicherte sie nicht mehr. Stattdessen verspürte sie eine seltsame Genugtuung.
Sie sollte sich öfters einbilden, verfolgt zu werden: Das machte sie deutlich schneller.
Mit einem amüsierten Schnauben verschwand sie im Wohnblock. Im Treppenhaus ging automatisch das Licht an. Die Milchglastür fiel schnappend ins Schloss.
Dunkle Augen folgten ihr.
Die Beerdigung fand am Donnerstag nach der Pressekonferenz statt. Silvano Moretti wollte alle seine Mitarbeitenden und Partner dort sehen. Caroline ließ sich wegen der Nachbearbeitung der Konferenz entschuldigen. Alyssa wollte mitziehen, doch ihre Chefin wimmelte sie mit scheinheiliger Großzügigkeit ab. »Nimm dir den Nachmittag frei. Ich mache das schon.«
Kurz darauf saß sie wieder mit Birgit im öffentlichen Verkehr. Die Zugfahrt dauerte eine Viertelstunde. Birgit schaffte es, die ganze Zeit durchzureden, Alyssa hörte allerdings nur mit einem Ohr zu. Ihr Blick wanderte immer wieder durch den Zug.
Seit ihrer Joggingrunde kam sie sich verfolgt vor. Als sie gestern am Fenster die Zähne putzte, glaubte sie, hinter jedem Baum und Müllcontainer eine Gestalt zu entdecken. Beim Verlassen der Wohnung am Morgen schien ein fremdes Augenpaar auf sie zuzukriechen und während der Medienkonferenz fühlte sie sich ausgestellt, obwohl sie im Zuschauerraum saß.
Auch jetzt, im Zug, saß ihr die Beklemmung im Nacken. Sie hatte keine Ahnung, woher das ungute Gefühl kam. Blühende Fantasie hin oder her: Sie war nicht paranoid. Zumindest glaubte sie das.
Die Trauergemeinschaft versammelte sich auf dem Platz vor der Kirche. Diese lag in einer Schlaufe an einer vielbefahrenen Straße. In der Nähe befanden sich Restaurants mit Gartentischen vor den Fensterfronten. Neben der zwanzigköpfigen Belegschaft von Moretti & Partner waren mindestens zweihundert weitere Gäste anwesend. Das bewies vor allem eines: Ralf Seiler war ein beliebter Mann gewesen. Diese Erkenntnis schnürte Alyssas Kehle von Neuem zu. Sie fragte sich nach der Gerechtigkeit des Universums, das einen solchen Menschen aus dem Leben riss. Betroffen wandte sie sich von den Trauernden ab.
Ihr Blick schweifte zu einem Restaurant. Die Tische waren bis auf den letzten Platz besetzt. An ihnen saßen vornehmlich ältere Menschen, die die Trauernden begafften, als säßen sie im Theater. Alyssas Aufmerksamkeit blieb an einem Mann hängen, der nicht im Geringsten zu den Seniorinnen und Senioren passte. Er saß ziemlich weit weg. Trotzdem maß sie sich sofort eine Beurteilung zu.
Sie schätzte ihn auf ihr eigenes Alter. Er trug eine verspiegelte Pilotenbrille, khakifarbene Skatershorts und ein T-Shirt der amerikanischen Metalcore-Band August Burns Red. Seine Wangen waren nachlässig rasiert, der Haarschnitt schwankte zwischen Harry Styles und Penner. Sie waren blond, jedoch mit jener orangenen Färbung, die bei misslungenen Blondierungsversuchen auftrat. Wie die Alten um ihn herum schaute er zur Beerdigungsgesellschaft. Vielleicht starrte er auch nur Löcher in die Luft. Das hätte seine gleichgültige Mimik erklärt, die Alyssa auszumachen glaubte.
Gerade als er seine Kaffeetasse an den Mund führte, entdeckte er sie. Ihr Starren musste ihn überrascht haben. Die Kaffeetasse entglitt seinen Fingern und fiel ihm in den Schoß. Alyssa biss sich auf die Zunge, als er unter einem Aufschrei in die Höhe schoss und seinen Tisch umnietete sowie zwei ältere Damen anrempelte, die ihrerseits zu kreischen begannen.
Der Vorfall erregte die Aufmerksamkeit der ganzen Trauergemeinschaft. Der junge Mann reagierte hektisch. Einen Atemzug später war er davongerannt. Zurück blieben die wimmernden Seniorinnen und ein Scherbenhaufen.
Betreten knetete Alyssa ihre Hände durch. Sie konnte den Gedanken nicht abwenden, den Unfall durch ihr Starren provoziert zu haben. Etwas Gutes hatte die Sache immerhin: Sie lenkte sie ab. Ihr Verfolgungswahn verschwand für den Rest vom Tag.
***
»Heute hat sich einer meinetwegen die Eier verbrüht«, erzählte Alyssa, als sie abends zu Valérie in die Küche kam. Diese stand am Herd und kochte Pasta.
Über ihr Gesicht huschte ein Grinsen. »Ich wusste nicht, dass du Vasektomien anbietest. War er hübsch?«
»Keine Ahnung. Er saß zu weit weg.«
»Also ja.«
Alyssa verdrehte die Augen. »Ich frage mich, was ihn so erschreckt hat. Sehe ich heute irgendwie scheiße aus?«
»Vielleicht hat er nicht dich, sondern Birgit angeschaut. Oder hat er dich gekannt?«
»Und sich darum erschrocken?« Sie pustete die Wangen auf. »Wie nett. Aber nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich niemanden mit orangeblondierten Haaren kenne.«
»Orangeblondiert?« Valérie lachte auf. »Es ist sechs Uhr abends und du hängst gedanklich immer noch einem Typ mit orangen Haaren nach?«
»Es stand ihm«, murmelte Alyssa zerknirscht.
»Also gefiel er dir doch!« Valérie knuffte sie in den Arm. »Mit etwas Glück seht ihr euch eines Tages wieder, dann kannst du dich bei ihm entschuldigen. Oder ruf mal im Krankenhaus an. Vielleicht liegt da jemand mit Spiegeleiern im Schritt.«
Alyssa verkniff sich ein Prusten und griff nach dem Küchenmesser. »Sag mir, wie ich dir helfen kann, bevor ich das Ding anderweitig einsetze.«
»Lass mal, ich habe das Gemüse bereits geschnippelt. Aber du könntest den Biomüll rausbringen.«
»Alles klar, Chef.« Sie schnappte sich den kleinen, grünen Behälter und verließ die Dreizimmerwohnung.
Eine Etage tiefer begegnete sie Pitbull. Er hatte eine Sporttasche geschultert, die fast gleich groß war wie er selbst. Um das linke Handgelenk baumelte eine transparente Einkaufstasche; darin befanden sich zwei Packungen Eier, ein tiefrotes Rindersteak sowie eine stattliche Menge Magerquark. Die Eier erinnerten Alyssa an das Gespräch mit Valérie von zuvor. Sie musste unweigerlich schmunzeln.
Der Bodybuilder lächelte schüchtern zurück. Er drückte sich platt gegen die Wand, um sie an sich vorbeizulassen. Sie bedankte sich und verspürte sofort Mitleid mit ihm. Er schien ein lieber Kerl zu sein. Valérie könnte getrost netter zu ihm sein, Interesse hin oder her.
Ein tiefvioletter Schleier lag über dem Horizont. In der Nähe donnerten die Autos über die Hauptstraße und am Himmel ein tieffliegender Jet Richtung Flughafen. Irgendwo saßen Menschen draußen und unterhielten sich lachend. Die Geräuschkulisse löste ein wohliges Gefühl in Alyssa aus. Nach unzähligen Wohnortswechseln fühlte sie sich endlich zu Hause.
Sie schwang den Müllbehälter übermütig durch die Luft, während sie die Straße zum Container hinunterschlenderte. Eine fröhliche Melodie lag auf ihren Lippen. Der Containerdeckel quietschte, als sie ihn anhob und den Behälter entleerte. Der Griff war verklebt. Sie wischte sich die Hand an der Hose ab und machte sich summend auf den Rückweg.
Da entdeckte sie ihn.
Der Ton blieb ihr im Hals stecken. Die Autos, das Flugzeug und die plaudernden Leute verstummten.
Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite – nachlässig blondierte Haare, khakifarbene Shorts, August Burns Red. Alyssa widerstand der Versuchung, sich die Augen zu reiben. Trotzdem war der Spuk mit dem nächsten Blinzeln vorbei. Die Geräusche drangen an ihre Ohren zurück; der Fremde war verschwunden.
Ihr Herz begann zu rasen. Hatte sie sich das soeben eingebildet?
Es war nach Mitternacht. Auf der ländlichen Außerortsstrecke verkehrte kein Auto mehr. Der Mond schien zwischen Wolkenbändern hindurch und spiegelte sich im regungslosen Wasser des kleinen Sees außerhalb von Zürich.
In den umliegenden Häusern war es dunkel geworden; nur aus einer kasernenartigen, alten Garage drang noch Licht. Sie lag etwas oberhalb der Hauptstraße, unmittelbar vor der ersten Baumreihe des angrenzenden Waldes. Das Garagentor war abgeschlossen, die integrierte Tür hingegen von innen angelehnt. Der Schein einer alten Neonröhre flackerte grell aus der Öffnung hervor.
Auf der Stereoanlage lief »Dirty Diana«. Silvano Moretti summte die Melodie mit. Er mochte Michael Jackson, obwohl der Ausnahmekünstler in einigen Kreisen als verrufen galt. Zum Glück hatte Moretti noch nie auf andere gehört. Er interessierte sich nur für einen Menschen: sich selbst.
Lächelnd schielte er über die eigene Schulter. Hinter ihm stand sein größter Schatz: ein fünfzigjähriger Aston Martin DB6. Das Auto war eine Rarität, ein Traum in Bordeauxrot – und hoffnungslos restaurationsbedürftig. Letzteres begeisterte Moretti am meisten. Seit einem halben Jahr verbrachte er jede freie Minute in der Garage. Als kleiner Junge hatte er Automechaniker werden wollen. Sein Vater war dagegen gewesen: »Du bist der Ferrari, nicht die Werkstatt.«
Er hatte den Aston Martin mit einem Wagenheber angehoben, die Räder demontiert und das Fahrgestell auf Holzklötzen aufgebockt. Nun stand er an der Werkzeugbank und sortierte seine Arbeitsmittel mit der Sorgfalt eines Chirurgen.
Die Stereoanlage neben ihm geriet ins Stocken. »Dirty Diana, no. Dirty Di-Di-Die-Die-Die ...« Er gab dem Gerät einen Klaps. Die CD löste sich aus der Blockierung und spielte weiter.
Er griff nach dem Engländer und schob sich voller Vorfreude auf einem Rollbrett unter das Auto. Da die Zylinderkopfdichtung des Motors ersatzbedürftig war, wollte er das Triebwerk einer Totalrevision unterziehen. Hierfür musste er das alte Motorenöl ablassen. Moretti hatte das am Vorabend tun wollen, war jedoch an der festsitzenden Ölablassschraube gescheitert. Aus diesem Grund hatte er sich einen neuen Verstellschlüssel gekauft.
Die Verkäuferin war seinem Vorhaben mit großer Skepsis begegnet. »Das sollten Sie besser einem Profi überlassen. Der Wagen muss sicher aufgebockt werden, wenn Sie etwas mit einer so ruckartigen Hebelwirkung lösen möchten.«
Seine Armmuskulatur wölbte sich, als er zum ersten Kraftakt ansetzte. Der Wagenrahmen schwankte, ansonsten regte sich nichts. Ungeduldig wischte er sich den Schweiß von der Stirn, bevor er den zweiten Versuch startete und dann den dritten und den vierten. Die Ölablassschraube saß fest.
Die Stereoanlage stockte erneut. Moretti brummte genervt. Da spielte die Anlage von allein weiter. Überrascht fuhr er zur Werkbank herum.
Vor dem Tisch stand ein Mann in knielangen Shorts. Dem Schuhwerk zufolge – schwarz-weiß karierte Vans-Slippers – handelte es sich um eine jüngere Person.