Wenn Worte töten - Anthony Horowitz - E-Book
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Wenn Worte töten E-Book

Anthony Horowitz

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  • Herausgeber: Insel Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Als Daniel Hawthorne, Ex-Polizist und Privatdetektiv, und sein »Assistent« Anthony Horowitz zu einem Literaturfestival auf die beschauliche Kanalinsel Alderney eingeladen werden, rechnen die beiden im Traum nicht damit, Hals über Kopf in eine Mordermittlung verwickelt zu werden. Aber die exklusive Runde, die sich hier versammelt hat – ein Kinderbuchautor, eine französische Lyrikerin, ein Fernsehkoch, eine blinde Wahrsagerin und ein Historiker –, macht den beiden einen Strich durch die Rechnung, und darum herum tummeln sich zudem die Bewohner der Insel, die wegen einer geplanten Stromtrasse heillos zerstritten sind.

Und prompt wird der Mäzen des Festivals brutal ermordet, und Hawthorne und Horowitz müssen den örtlichen Polizeikräften zu Hilfe eilen. Aber erst als ein weiterer Mord geschieht, gelingt es den beiden, dem Täter auf die Spur zu kommen und nebenbei noch einige andere Geheimnisse ans Tageslicht zu holen.

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Cover

Titel

Anthony Horowitz

Wenn Worte töten

Hawthorne ermittelt

Roman

Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel A Line to Kill bei Penguin Random House UK, London

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

hißmann, heilmann, hamburg unter Verwendung des Originalumschlags von Penguin Random House UK

Getty Images, München

eISBN 978-3-458-77637-6

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Jill, die mich zurück nach Alderney brachte. Mit Liebe.

Wenn Worte töten

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1 Die Einladung

2 Abflüge

3 BAN NAB

4 Pik-Ass

5 Die blinde Seherin

6 Der Mann in der dritten Reihe

7 The Lookout

8 Die Snuggery

9 Rosen und Schmetterlinge

10 Böses Blut

11 Verschiedenes Grau

12 Ziviler Ungehorsam

13 Zusätzliche Informationen

14 Einige Überlegungen

15 Das Eiland ist voll Stimmen

16 Der Suchtrupp

17 Wo nie das Licht scheint

18 Das Hercule-Programm

19 Die einfache Antwort

20 Ist da jemand?

21 Komplettes englisches Frühstück

22 Gannet Rock

23 Keep reading!

24 Eine Postkarte von Alderney

Danksagung

Abbildungsnachweis

Informationen zum Buch

1

Die Einladung

Mein Verlag hat seine Büros in der Vauxhall Bridge Road, ein gutes Stück hinter Victoria Station. Es ist ein eigenartiger Stadtteil Londons: Wenn man bedenkt, dass die Straße vom Bahnhof zur Themse hinunterführt und die Tate Britain gleich um die Ecke liegt, ist sie verblüffend schäbig und unattraktiv, gesäumt von Wohnblöcken, die zu viele Fenster, aber keinerlei Aussicht haben, und Läden, die den Eindruck machen, als wären sie schon vor Jahrzehnten bankrottgegangen. Die Straße selbst ist schnurgerade und außergewöhnlich breit, mit vier Fahrspuren für den Verkehr, der vorbeirauscht wie der Dreck durch das Rohr eines Staubsaugers. Es gibt ein paar Seitenstraßen, aber die sehen aus, als ob sie nirgendwo hinführten.

Oft werde ich nicht hierher eingeladen. Ich glaube, ein Buch herzustellen, ist kompliziert genug, auch ohne dass der Autor sich einmischt, trotzdem freue ich mich auf jeden Besuch im Verlag. Ich brauche ungefähr acht Monate, um ein Buch zu schreiben, und in dieser Zeit bin ich ganz allein. Das gehört zu den Paradoxien meines Berufs. Rein physisch gibt es keinen großen Unterschied zwischen dem Anfänger und einem Bestsellerautor: Sie sitzen in einem Zimmer mit einem Laptop, zu vielen Keksen, aber niemandem, mit dem sie reden können. Ich habe mal ausgerechnet, dass ich in meinem Leben wahrscheinlich mehr als zehn Millionen Wörter geschrieben habe. Ich ersaufe gewissermaßen in Wörtern, obwohl ich von völliger Stille umgeben bin, und dieser Widerspruch ist mir dauernd bewusst.

Aber sobald sich die Schwingtüren mit dem berühmten Pinguin-Logo öffnen und ich den Verlag betrete, ändert sich alles. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen dort arbeiten und wie jung die meisten von ihnen zu sein scheinen. Die Verlagsarbeit ist eine Berufung ganz ähnlich der Schriftstellerei, die Karrieren sind eng miteinander verbunden, und der gemeinsame Enthusiasmus ist wohl in kaum einer anderen Branche so ausgeprägt. Jeder in diesem Gebäude liebt Bücher, ganz gleich, wo er steht – und das ist schon mal gut für den Anfang. Nur, was machen die Leute alle? Es ist mir richtig peinlich, dass ich über das eigentliche Verlegen so wenig weiß. Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen einer Lektorin und einem Korrektor? Warum kann eine Person nicht beides machen? Wo hört das Marketing auf, und wo fängt die Werbung an?

Ich vermute, dass es eigentlich egal ist. Hier jedenfalls geht die Post ab, und ein Gedanke, den man in der Badewanne oder bei einem Spaziergang hatte, wird schließlich zur Realität. Wenn die Leute von einer »Traumfabrik« reden, meinen sie in der Regel Hollywood, aber für mich steht die Traumfabrik in der Vauxhall Bridge Road.

Ich war also gern bereit, mich an einem hellen Junimorgen dort einzufinden, drei Monate vor dem Erscheinen meines Romans Ein perfider Plan. Mein Lektor, Graham Lucas, hatte mich mit einem Telefonanruf überrascht.

»Sind Sie sehr beschäftigt?«, fragte er. »Wir würden gern über die Öffentlichkeitsarbeit mit Ihnen reden.« Wie immer kam er unverzüglich zur Sache.

Fahnenexemplare meines Romans waren schon rausgegangen und hatten wohl ein freundliches Echo gefunden, wie es schien. Wenn es anders gewesen wäre, hätte ich es allerdings nie erfahren. Verlagsleute sind Weltmeister im Verschweigen von schlechten Nachrichten gegenüber ihren Autoren.

»Wann denn?«, fragte ich.

»Könnten Sie es am Dienstag um elf einrichten?« Kurze Pause, und dann: »Hawthorne wollen wir auch sehen.«

»Oh.« Ich hätte es wissen müssen, aber trotzdem war ich überrascht. »Warum denn?«

»Wir glauben, er könnte die Verkäufe erheblich befördern. Er ist ja der Co-Autor.«

»Nein, ist er nicht. Er hat keine Zeile geschrieben.«

»Es ist aber seine Geschichte. Wir betrachten Sie als ein Team.«

»Wir stehen uns eigentlich gar nicht so nahe.«

»Ich glaube, dass sich die Leser sehr für ihn interessieren werden. Das heißt, für Sie beide natürlich. Reden Sie mit ihm?«

»Na schön, ich kann ihn ja fragen.«

»Elf Uhr.« Graham legte auf.

Ich war mehr als ein bisschen ernüchtert, als ich das Telefon weglegte. Das Buch war Hawthornes Idee gewesen, das stimmte. Er war ein ehemaliger Kriminalbeamter, der jetzt bei komplizierten Ermittlungen als Berater der Polizei arbeitete. Er hatte mich eingeladen, über ihn zu schreiben, als er den Mord an einer reichen Witwe in Fulham untersuchte. Ich war allerdings von vornherein skeptisch gewesen, weil ich es vorziehe, meine eigenen Geschichten zu erfinden. Auf jeden Fall hatte ich das Buch nie als Gemeinschaftsprodukt gesehen und wusste nicht, ob ich das Rampenlicht mit ihm teilen wollte – oder auch nur den Platz auf dem Podium.

Aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich durchaus davon profitieren konnte. Ich hatte Hawthornes Ermittlungen ja inzwischen schon bei einem weiteren Fall begleitet, genauer gesagt: Ich war hinter ihm hergetrottet. Eigentlich sollte ich sein Biograf und Chronist sein, aber er schien nie bereit, mir zu erklären, was er dachte und tat. Es schien ihm Spaß zu machen, wenn ich im Dunkeln tappte und er mir immer einige Schritte voraus war. Ich hatte alle Hinweise übersehen, die ihn zu Diana Cowpers Mörder geführt hatten, und war vor lauter Dummheit fast noch selbst ermordet worden. Noch größere Fehler hatte ich bei unserem zweiten Fall gemacht, dem toten Scheidungsanwalt in Highgate, und ich hatte keine Ahnung, wie ich die Geschichte erzählen sollte, ohne wie ein Idiot dazustehen.

Jetzt aber bot sich eine Gelegenheit, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn es nach den Wünschen des Verlages ging, würde Hawthorne sich in meine Welt begeben müssen: Podiumsgespräche, Buchvorstellungen, Signierstunden, Interviews, Literaturfestivals. Alles das, was ich seit dreißig Jahren kannte, würde ihm neu und fremd sein. Endlich würde ich mal am längeren Hebel sitzen.

Wir trafen uns noch am selben Nachmittag. Wie immer saßen wir vor einem Café auf der Straße, damit Hawthorne rauchen konnte.

»Wir treffen uns am Dienstag um elf«, sagte ich. »Es dauert nur eine halbe Stunde. Die wollen Sie bloß kennenlernen und über das Marketing reden. Wenn das Buch erscheint, werden Sie sich vielleicht zu ein paar öffentlichen Auftritten bei Festivals und Lesungen aufraffen müssen.«

Er sah mich unsicher an. »Was für Festivals?«

»Edinburgh. Cheltenham. Hay-on-Wye. Die wichtigsten eben!« Ich wusste, worauf es Hawthorne am meisten ankam, und deshalb erklärte ich es genauer. »Schauen Sie, es ist doch ganz einfach. Je mehr Bücher wir verkaufen, desto mehr Geld kriegen Sie. Aber dazu muss man auf Tour gehen. Ist Ihnen klar, dass jedes Jahr einhundertsiebzigtausend Bücher in England veröffentlicht werden? Und Kriminalromane sind nun mal das beliebteste Genre.«

»Ist das denn ein Roman?« Er verzog das Gesicht. »Wir haben doch nichts erfunden.«

»Es ist doch egal, wie man das Buch nennt. Wir müssen dafür sorgen, dass es genügend Aufmerksamkeit kriegt.«

»Sie sind der Autor. Dann gehen Sie auch zu dem Meeting!«

»Warum müssen Sie immer so sperrig sein? Sie haben keine Ahnung, wie schwierig es heutzutage ist, Bücher zu schreiben.«

»Wieso? Ich mach doch die ganze Arbeit.«

»Ja. Aber Sie auch nur halbwegs sympathisch darzustellen, ist mehr als ein Vollzeitjob!«

Er sah mich an, und seine Augen waren auf einmal ganz traurig. Ich hatte diese plötzlich aufflackernde Verletzlichkeit schon früher bei ihm bemerkt. Sie erinnerte mich daran, dass er am Ende auch nur ein Mensch war. Getrennt von seiner Frau und seinem Sohn, wohnte er auf Grund irgendeiner zweifellos traumatischen Kindheit in einer leeren Wohnung und baute Airfix-Modelle zusammen. Hawthorne war nicht so hart, wie er vorgab. Das Ärgerlichste an ihm war vielmehr die Tatsache, dass ich ihn bei aller Widrigkeit doch immer auch faszinierend fand. Ich wollte mehr über ihn wissen. Wenn ich mich zum Schreiben hinsetzte, interessierte ich mich fast genauso für ihn wie für die zu lösenden Fälle.

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte ich. »Aber ich brauche Sie bei diesem Meeting. Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt. Versprechen Sie mir, dass Sie kommen?«

»Eine halbe Stunde.«

»Am Dienstag um elf.«

»In Ordnung. Ich werde da sein.«

Aber das war er nicht.

Ich wartete zehn Minuten lang am Empfang. Dann kam eine Praktikantin und brachte mich in ein Besprechungszimmer im fünften Stock. Ich hoffte, er wäre vielleicht schon da, aber als ich in den fensterlosen quadratischen Raum geführt wurde, war nichts von ihm zu sehen. Stattdessen saßen vier Personen an einem langen Tisch mit Kaffee, Tee und einer Keksmischung auf einem Teller. Sie sahen mich an, und dann richtete ihr Blick sich erwartungsvoll auf die Tür. Es gelang ihnen nicht, ihre Enttäuschung vor mir zu verbergen.

Mein Lektor hatte den Platz am Kopfende inne und stand abrupt auf, als er mich sah. »Wo ist Hawthorne?«, waren seine ersten Worte.

»Ich dachte, er wäre schon hier«, sagte ich. »Er ist bestimmt schon auf dem Weg.«

»Ich dachte, Sie kommen zusammen.«

Er hatte natürlich recht. Das hätten wir tun sollen. »Nein«, sagte ich. »Wir haben uns hier verabredet.«

Graham sah auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. »Nun ja, geben wir ihm noch ein paar Minuten. Setzen Sie sich doch …«

Ich wusste noch nicht genau, was ich von Graham Lucas zu erwarten hatte, der erst kürzlich als Senior Editor zu Penguin Random House gekommen war. Er war ein schlanker Fünfziger mit schmalem Bart und trug einen Blazer und einen Rollkragenpullover, der teuer aussah und wahrscheinlich aus Kaschmir war. Er hatte einen goldenen Ring am vierten Finger, und als ich mich neben ihn setzte, nahm ich den blumigen Duft eines Aftershave wahr, das nicht so recht zu ihm passte. Man kann durchaus sagen, dass wir eine enge Beziehung hatten, aber sie war rein geschäftlich. Ich hatte keine Ahnung, wo er wohnte, was er in seiner Freizeit machte, ob er Kinder hatte und ob sie – was mich noch mehr interessiert hätte – auch meine Bücher lasen. Wenn wir zusammentrafen, sprach er immer nur über die Arbeit.

»Haben Sie schon mit dem zweiten Buch angefangen?«, fragte er jetzt.

»Ja«, sagte ich. »Läuft gut.« In Wirklichkeit hatte ich meiner Agentin schon gesagt, dass ich das Manuskript wahrscheinlich verspätet abgeben würde.

Hilda Starke war vor mir eingetroffen, hatte sich aber bei meinem Eintreffen nicht von ihrem Platz erhoben. Sie saugte heftig an einer dieser Dampfzigaretten, was mich insofern erstaunte, als ich mich nicht erinnern konnte, dass sie jemals geraucht hätte. Ich merkte gleich, dass sie keine Lust zu dieser Besprechung hatte. Sie hatte ihre Jacke über den Stuhl gehängt und saß mit bloßen Armen missmutig vor ihrem Kaffee. Auf der Tasse hatte sie einen Halbmond von grellrotem Lippenstift hinterlassen.

In einem Augenblick der Schwäche und ohne es mit ihr abzusprechen, hatte ich Hawthorne versprochen, beim Honorar halbe-halbe mit ihm zu machen. Das hatte er so verlangt, und ich hatte eingewilligt, ohne Hilda zu fragen. Obendrein war sie verärgert, weil er es abgelehnt hatte, sich von ihr vertreten zu lassen. Sie hatten mal miteinander telefoniert, aber sie waren noch nie persönlich zusammengetroffen. Und so musste sie bei den Hawthorne-Romanen immer noch mit zehn Prozent von der Hälfte der Honorare vorliebnehmen … was ihr einfach zu wenig war.

Ihr gegenüber saß Tamara Moore, die Publicity-Chefin von Random House, eine sehr eindrucksvolle, starke Persönlichkeit Anfang dreißig. Ihr Laptop war aufgeklappt, und ihre Augen huschten ohne Unterbrechung über den Bildschirm. Gleichzeitig drehte sie einen Füllfederhalter in den schlanken Fingern, als wäre er eine Waffe. Jetzt hob sie für eine Sekunde den Blick: »Wie geht’s, Anthony?« Noch ehe ich antworten konnte, stellte sie mir ihre Assistentin vor: »Das ist Trish. Sie hat gerade angefangen.«

»Hallo.« Trish war ungefähr zwanzig und sah ziemlich müde aus. Sie hatte gekräuselte Haare, ein breites Gesicht und ein lockeres Lächeln. »Freut mich sehr. High Fidelity hat mir sehr gefallen.«

»Das ist das nächste Meeting«, sagte Tamara.

»Oh«, sagte Trish und verstummte.

Die nächsten zehn Minuten vergingen mit angestrengtem Geplauder, aber es ist nicht leicht, Smalltalk zu machen, wenn alle nur darauf warten, dass die Tür aufgeht und jemand wie Hawthorne erscheint. Ich kochte innerlich vor Wut, dass er mich versetzt hatte. Schließlich sagte Graham mit schmalen Lippen: »Nun, es gibt nicht viel zu besprechen, wenn Daniel nicht da ist, aber wir sollten wohl besser anfangen.«

»Kein Mensch nennt ihn Daniel«, sagte ich. »Er heißt einfach Hawthorne.« Daraufhin senkte sich Schweigen über die Runde. »Ich kann ihn ja mal auf dem Handy anrufen«, sagte ich schwach.

»Ich weiß nicht, ob das viel Sinn hat.«

»Ich muss um zwölf Uhr dreißig zum Lunch«, sagte Hilda, statt mir irgendwie beizuspringen.

»Wir rufen Ihnen ein Taxi«, sagte Graham. »Wo müssen Sie hin?«

Hilda zögerte. »Weymouth Street.«

»Ich kümmere mich drum.« Trish tippte die Angaben schon in ihr iPad.

Tamara drückte auf die Tastatur ihres Laptops, und der Umschlag von Ein perfider Plan erschien auf dem großen Bildschirm am Ende des Tisches. Es war das Signal zu beginnen.

»Wir können ja zumindest über unsere Strategie zum Jahresende reden«, sagte Graham. »Wann können wir denn Leseexemplare erwarten, Tamara?«

»Die treffen Ende des Monats ein«, sagte die Publicity-Chefin. »Wir schicken zweihundert Exemplare an Blogger, Kritiker und die wichtigsten Buchhandelsketten.«

»Was ist mit Fernsehen und Radio?«

»Wir arbeiten dran …«

»Wie sieht’s denn mit Festivals aus?«, fragte ich. »Edinburgh, im nächsten Monat ist Harrogate, Norwich …« Alle starrten mich verblüfft an. »Ich gehe gern auf Tournee. Und wenn Sie wollen, dass die Leute Hawthorne kennenlernen, dann ist das doch ideal, oder?«

Hilda verzog angewidert die Nase und stieß eine Dampfwolke aus, die sich gleich wieder auflöste. »Es hat keinen Sinn, ein Festival zu besuchen, wenn das Buch noch gar nicht erschienen ist«, sagte sie. »Was soll man denn da verkaufen?« Eine berechtigte Frage.

»Ehe wir Hawthorne nicht kennengelernt haben, können wir das ohnehin nicht entscheiden«, ergänzte Graham mit einer gewissen Schärfe.

Just in diesem Augenblick ging die Tür auf, und die Praktikantin erschien. Gefolgt von Hawthorne – zu meiner großen Erleichterung. Sein ausdrucksloses Gesicht mit dem kaum erkennbaren Lächeln wirkte vollkommen unschuldig. Er schien keine Ahnung zu haben, dass er dreißig Minuten zu spät kam. Wie immer trug er seinen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und einen schmalen Schlips. Mit meinen Jeans und dem Sweatshirt kam ich mir plötzlich schlampig vor.

»Das ist Mr Hawthorne«, sagte die Praktikantin. Sie wandte sich Graham zu. »Ihre Frau hat zweimal angerufen. Sie sagt, es ist wichtig.«

»Ich kann ihr sagen, dass Sie in einer Besprechung sind«, sagte Trish. Ihr Blick wanderte von Tamara zu Graham, als ob sie eine Abstimmung herbeiführen müsste.

»Nein, nein, schon gut«, sagte Graham. »Sagen Sie ihr, dass ich zurückrufe.« Er stand auf, als die Praktikantin gegangen war. »Guten Tag, Mr Hawthorne. Schön, Sie kennenzulernen.«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.« Vielleicht meinte Hawthorne das ernst, aber es konnte auch Ironie sein. Es war unmöglich, das festzustellen. Die beiden Männer gaben sich die Hand. »Ist schon eine Weile her, dass ich hier in der Gegend war«, sagte Hawthorne. »In der Causton Street hab ich mal ein Bordell ausgehoben – ein halbes Dutzend Sexarbeiterinnen aus Osteuropa. Direkt um die Ecke von der litauischen Botschaft. Vielleicht haben sie da immer ihr Visum verlängert. Auf die Idee sind wir damals gar nicht gekommen.«

»Das ist ja spannend.« Graham war total fasziniert. »Erstaunlich, was so alles in der Nähe passiert, und man hat keine Ahnung davon.«

»Vielleicht schreibt Tony ja mal etwas darüber.«

»Tony?«

»Das bin ich«, sagte ich. Und zu Hawthorne: »Wissen Sie, dass Sie eine halbe Stunde zu spät kommen?«

»Zu spät?« Hawthorne machte ein erstauntes Gesicht. »Sie haben halb zwölf gesagt.«

»Nein. Ich habe Punkt elf gesagt.«

»Tut mir leid, Sportsfreund. Sie haben eindeutig halb zwölf gesagt, Tony. Ich irre mich nie, wenn’s um Ort und Zeit geht.« Er tippte sich an die Schläfe. »Darauf bin ich trainiert.«

»Wie auch immer«, beschwichtigte Graham und warf mir einen wütenden Blick zu. »Ich möchte Ihnen Tamara vorstellen, unsere Publicity-Chefin, und ihre Assistentin, Trish.«

Hawthorne schüttelte beiden die Hände. Ich merkte, dass ihm bei Tamara irgendwas auffiel. »Dann sind Sie bestimmt die fantastische Hilda Starke«, sagte er zu meiner Agentin und setzte sich neben sie. »Wie schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Tony schwärmt Tag und Nacht von Ihnen.«

Hilda zu schmeicheln, war eine riskante Sache, aber diesmal strahlte sie regelrecht. Hawthorne hatte eine ganz besondere Wirkung auf andere Menschen. Ich habe ihn schon mehrfach beschrieben: seine schmächtige Figur, das ausrasierte Haar an den Ohren und seinen merkwürdig suchenden Blick. Aber ich habe wohl nie richtig dargestellt, wie er einen Raum beherrschen konnte. Er hatte eine starke Präsenz, die bedrohlich und düster, aber auch magnetisch und anziehend sein konnte, je nachdem, welcher Stimmung er war.

»Meinen Glückwunsch zu Ihrem Buch«, sagte Hilda zu ihm. Dass ich es geschrieben hatte, schien sie – genau wie mein Lektor – vollkommen vergessen zu haben.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, es zu lesen«, erwiderte Hawthorne.

»Ach?«

»Es macht ohnehin keinen Sinn, einen Krimi zu lesen, wenn man schon weiß, wer der Mörder ist.«

Den Spruch hatte er bestimmt vorbereitet! Jedenfalls nickten alle gehorsam.

»Haben Sie sich denn gar nicht gefragt, wie Tony Sie dargestellt hat?«, fragte Graham besorgt.

»Solange das Buch sich verkauft, ist mir das egal.«

Graham wandte sich plötzlich mir zu. »Ich hoffe sehr, dass Sie nicht über uns schreiben werden.« Er versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen.

Ich lächelte. »Natürlich nicht!«

Trish bot Hawthorne Kaffee an, was er dankend annahm. Die Kekse lehnte er ab. Er aß nie etwas vor anderen Leuten, wenn er es vermeiden konnte.

In den nächsten fünf Minuten hielt Graham einen Vortrag über die gegenwärtigen Trends im Verlagsgewerbe und seine Erwartungen an den Verkauf des Buches. »Eine neue Serie auf den Weg zu bringen, ist immer schwer«, sagte er. »Aber wir haben gute Aussichten auf einen Bestsellerplatz. Im September erscheint nicht viel anderes. Der neue Stephen King, und natürlich wird Dan Brown sich Platz eins schnappen, aber wir haben ganz bewusst eine stille Woche gewählt. Hätten Sie vielleicht Lust auf ein bisschen Radio?«

Die Frage ging an Hawthorne, nicht etwa an mich.

»Radio ist in Ordnung«, erklärte Hawthorne.

»Haben Sie mit diesem Medium schon Erfahrung?«

»Ich höre bloß Crimewatch.«

Darüber musste Tamara denn doch lachen, was sie höchst selten tat. »Wir haben schon mal bei Front Row und Saturday Live vorgefühlt«, sagte sie in die Runde. »Sie wollen natürlich zuerst das Buch lesen, aber die Tatsache, dass Mr Hawthorne tatsächlich Polizist gewesen ist, interessiert die Leute schon sehr.«

»Und die Tatsache, dass sie ihn rausgeschmissen haben?«, hätte ich beinahe gefragt.

Tamara hatte sich bereits wieder ihrem Laptop zugewandt. »Wir haben gerade über Literaturfestivals nachgedacht«, behauptete sie. »Und es liegt uns tatsächlich auch eine Einladung vor.«

Ich spitzte die Ohren. Literaturfestivals sind das Beste, was einem Autor passieren kann. Das fängt schon damit an, dass man seine eigene Bude verlässt und endlich mal rauskommt. Man trifft andere Menschen: Leser und Schriftsteller. Man besucht schöne Städte wie Oxford, Cambridge, Cheltenham und Bath. Oder man reist im ganz großen Stil in der Gegend herum – nach Sydney, Sri Lanka, Dubai oder Berlin. Es gibt sogar ein Festival an Bord der Queen Mary 2.

»Und woher kommt diese Einladung?«, fragte ich.

»Aus Alderney. Sie starten ein neues Festival im August und würden sich freuen, wenn Sie beide kommen.«

»Alderney?«, murmelte ich.

»Das ist eine von den Kanalinseln«, sagte Hawthorne, um mir auf die Sprünge zu helfen.

»Ich weiß, wo es liegt! Ich wusste bloß nicht, dass es da ein Literaturfestival gibt.«

»Es gibt sogar zwei.« Tamara tippte auf die Tastatur, und auf dem Bildschirm erschien die Homepage der Veranstalter: THE ALDERNEY LITERARY TRUST – SUMMER FESTIVAL. SPONSORED BY SPIN-THE-WHEEL.COM.

»Wer ist denn Spin-the-Wheel?«, fragte ich.

»Ein Online-Kasino.« Tamara hegte offenbar keinerlei Misstrauen. »Alderney ist tatsächlich ein Zentrum für Internet-Spielkasinos. Spin-the-Wheel sponsert eine Menge Events auf der Insel.« Sie rief eine andere Webseite auf. »Im März gibt es ein Festival für historische Romane, und das war so erfolgreich, dass sie jetzt noch ein zweites veranstalten wollen. Bis jetzt haben sie Elizabeth Lovell, Marc Bellamy, George Elkin, Anne Cleary und …« – sie beugte sich etwas vor, um den Namen lesen zu können – »… Maїssa Lamar eingeladen.«

»Kenne ich alle nicht«, sagte ich.

»Marc Bellamy ist im Fernsehen«, sagte Graham.

»Er ist ein Sternekoch«, fügte Hilda hinzu. »Er hat eine Vormittagsshow auf ITV2.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich unsicher, obwohl ich spürte, dass ich der Einzige mit Bedenken war. »Alderney ist doch eine ziemlich verlassene Insel, und die Anreise ist kompliziert …«

»Von Southampton sind es nur vierzig Minuten«, warf Hawthorne ein.

»Ja, aber –« Ich unterbrach mich. Hawthorne hatte das gesagt? Was fiel dem Kerl ein? Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu.

»Also, ich bin dabei«, sagte er fröhlich, während ich ihn ungläubig anstarrte. »Ich wollte schon immer mal nach Alderney«, fuhr er fort. »Interessante Insel. War im Krieg von den Deutschen besetzt.«

»Aber wir haben doch noch gar keine Bücher, wie Hilda gerade gesagt hat«, erinnerte ich die Verlagsleute. »Wozu sollen wir dann nach Alderney?«

»Vielleicht ist es ja gut für die Vorbestellungen«, sagte Graham. »Was meinen Sie, Hilda?«

Meine Agentin sah von ihrem Handy auf, das neben ihr auf dem Tisch lag. »Ich glaube, es kann nicht schaden. Wir können es als Trockenübung betrachten, bei der Anthony und Mr Hawthorne ihren Auftritt probieren können. Und wenn es eine völlige Katastrophe ist, hält sich der Schaden in Grenzen.«

»Na, Sie machen mir Mut!«, sagte ich.

»Dann sind wir uns also einig«, fasste Graham zusammen. Er hatte es offenbar eilig. »Sonst noch was?«

Wir verbrachten den Rest der Zeit damit, über Hawthorne zu reden. Oder besser gesagt: Hawthorne erzählte von sich, vor allem von seiner Arbeit. Es war interessant zu beobachten, wie viel er reden konnte, ohne irgendwas zu verraten. Das hatte mich schon immer an ihm genervt. Um kurz nach zwölf erinnerte Trish meinen Lektor daran, dass sie gleich noch ein anderes Meeting hätten, und teilte Hilda mit, dass ihr Taxi zur Weymouth Street jetzt bereitstünde. Tamara klappte den Laptop zu, Hilda zog ihre Jacke an und machte sich zu ihrem Lunchtermin auf. Es war klar, dass alle vier von Hawthorne begeistert waren. Beim Händeschütteln lächelten sie jedenfalls alle heftig.

Sogar der Türsteher strahlte ihn an, als wir auf die Vauxhall Bridge Road hinaustraten. Ich war schlechter Laune und machte auch keinen Hehl daraus.

»Was ist denn los, Sportsfreund?« Hawthorne zog eine Zigarette heraus und steckte sie an.

Ich zeigte mit dem Daumen auf das Gebäude zurück. »Was war denn da oben los? Die waren ja ganz verrückt nach Ihnen.«

»Ja, sie scheinen sehr nett zu sein.« Hawthorne betrachtete seinen Glimmstängel. »Und Sie sollten vielleicht etwas netter zu ihrer Agentin sein. Sie macht sich offenbar wegen irgendwelcher Untersuchungsergebnisse Sorgen.«

»Was für Untersuchungsergebnisse? Wovon reden Sie?«

»Graham lässt sich offenbar von seiner Frau scheiden«, fuhr Hawthorne fort.

»Davon hat er kein Wort gesagt.«

»Das war auch nicht nötig. Er hat eine Affäre mit der Publicity-Lady, und diese Trish weiß darüber Bescheid. Die hat’s auch nicht leicht. Jetzt, wo sie gerade Mutter geworden ist, macht sie sich bestimmt Sorgen um ihren Job.«

Das war typisch für Hawthorne. Jedesmal, wenn wir irgendwo hinkamen, traktierte er mich mit irgendwelchen rätselhaften Erkenntnissen über die Leute, die wir gerade getroffen hatten. Aber ich hatte keine Lust, das Spiel mitzuspielen.

»Ich will nicht nach Alderney«, sagte ich und marschierte zur U-Bahn-Station Pimlico, ohne mich darum zu kümmern, ob Hawthorne mir folgte.

»Warum denn nicht?«

»Weil das Buch noch nicht erschienen ist. Da hat es doch keinen Sinn!«

»Okay! Wir sehen uns dann auf der Insel.«

Auf Alderney gibt es so wenig Verbrechen, dass es keine eigene Polizeitruppe hat. Es gibt allerdings eine Wache: ein Sergeant, zwei Constables und zwei Special Constables – aber die sind nur ausgeliehen von der Nachbarinsel Guernsey und zu tun haben sie auch nichts. Die ärgsten Straftaten der letzten Zeit waren die »unautorisierte Benutzung eines Transportmittels« und zwei Geschwindigkeitsüberschreitungen. Ob die Taten in einem Zusammenhang standen, war nicht zu ermitteln.

Wenn man von den Gräueltaten absieht, die während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg verübt worden waren, musste man davon ausgehen, dass es in der Geschichte der Insel noch nie einen Mord gegeben hatte.

Das sollte sich ändern.

2

Abflüge

Sechs Wochen später traf ich mich mit Hawthorne in der Waterloo Station, wo wir den Zug nach Southampton Parkway nahmen. Es war unsere zweite gemeinsame Reise – im Jahr zuvor waren wir nach Yorkshire gefahren – und wieder schleppte er diesen Koffer mit sich herum, den er wahrscheinlich schon gehabt hatte, als er noch im Internat war. Er erinnerte mich an die Kinder, die im Zweiten Weltkrieg evakuiert worden waren. Er wirkte genauso verloren.

Mir schien aber, dass er außergewöhnlich vergnügt war. Inzwischen kannte ich ihn etwas besser. Ich hatte zwar immer noch nichts über seine Vergangenheit in Erfahrung gebracht, aber ich konnte seine Stimmungen besser einschätzen. Ich hatte den Eindruck, dass er mir etwas verheimlichte. Er hatte mehr als deutlich gemacht, dass er sich für Literaturfestivals nicht interessierte, aber auf die Gelegenheit, nach Alderney zu fliegen, hatte er sich geradezu gestürzt. Da steckte etwas dahinter, aber was konnte es sein?

Der Zug war pünktlich, und sobald wir den Bahnhof verlassen hatten, zog Hawthorne eine Taschenbuchausgabe von The Little Stranger von Sarah Waters heraus. Eine fabelhafte Geistergeschichte, die er wahrscheinlich für seinen Lesekreis lesen musste. Noch ehe er das Buch aufschlagen konnte, ging ich zum Angriff über. Ich schaffte es einfach nicht, länger zu warten.

»Also gut«, sagte ich. »Sie müssen es mir erklären.«

Er hob den Blick. »Was?«, fragte er.

»Das wissen Sie ganz genau. Das ganze Zeug, was Sie im Verlag angeblich gesehen haben. Sie haben behauptet, Graham hätte eine Affäre mit Tamara und Trish wisse darüber Bescheid. Sie wäre gerade Mutter geworden und hätte jetzt Angst, ihren Job zu verlieren. Und Hilda hätte Angst vor einem Untersuchungsergebnis.«

»Das ist doch schon Wochen her, Sportsfreund!« Er sah mich mitleidig an. »Hat es Sie sehr gequält?«

»Nein. Aber wissen will ich trotzdem, was Sie zu solchen Behauptungen veranlasst.«

»Aber, Tony! Sie waren doch auch im Zimmer. Sie hätten es auch sehen können.«

»Danke! Sagen Sie mir einfach, was los war. Okay?«

Hawthorne dachte einen Augenblick nach, dann legte er sein Buch mit dem Gesicht auf den Tisch. »Also schön. Fangen wir mit Hilda an! Haben Sie ihren Arm gesehen?«

»Sie trug eine Jacke.«

»Nein. Die hatte sie ausgezogen und über den Stuhl gehängt. Es gab einen kleinen Fleck, wo ihre Haut etwas blasser war. Direkt über der Vena mediana cubiti.«

»Keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Die Ellenbeugenvene, die zur Blutentnahme benutzt wird. Außerdem war sie schrecklich nervös. Sie hat ständig an dieser E-Zigarette gezogen und auf ihr Smartphone gestarrt. Sie hat auf eine SMS gewartet. Wahrscheinlich von ihrem Arzt. Dieser Termin in der Weymouth Street war vermutlich erfunden. In Wirklichkeit wollte sie in die Harley Street, gleich um die Ecke, wo die Ärzte sind.«

»Und was ist mit Tamara und Graham?«

»Das junge Mädchen, diese Praktikantin, hat ihm gesagt, seine Frau hätte zweimal angerufen und es sei wichtig. Aber er hat nicht mal gefragt, was los war. Es handelt sich offensichtlich um eine Krise, die schon seit längerem schwelt. Und die Assistentin, diese Trish, hat auch nicht gewartet, was er dazu sagen würde. Ziemlich merkwürdig, eigentlich. Ich kann ihr sagen, dass Sie in einer Besprechung sind, hat sie vorgeschlagen. Und dabei hat sie nicht Graham angesehen, sondern Tamara.«

»Aber das heißt doch nicht, dass Tamara eine Affäre mit Graham hat.«

»Haben Sie ihr Parfüm gerochen?«

»Nein.«

»Aber ich. Und ich kann Ihnen sagen: Graham hat ganz genauso gerochen.«

Ich nickte. Es war also doch nicht sein Aftershave, was mich so verblüfft hatte. »Und was ist mit Trish? Einen Kinderwagen hab ich nirgends gesehen, und sie hat auch keine Babyfotos herumgezeigt.«

»Na ja, irgendwas scheint sie nachts wachzuhalten. Sie sah müde aus. Außerdem hatte sie einen Fleck auf der linken Schulter von ihrer Bluse. Der kam offensichtlich von einem Baby, das sie auf dem Arm gehabt hat. Es hat sein Bäuerchen da gemacht. Das machen die Kinder nur bis zum achten Monat. Sie hat ihre Elternzeit also gar nicht ganz ausgenutzt, sondern ist früher ins Büro zurückgekommen, weil sie Angst um ihre Karriere hat. Sie scheint kaum älter als zwanzig zu sein, wahrscheinlich ist sie schwanger geworden, als sie gerade erst angefangen hatte zu arbeiten. Und jetzt fürchtet sie, dass ihr das schadet.«

Hawthorne tat so, als ob das alles selbstverständlich und klar wäre. Damit wollte er mir bloß zeigen, wer in unserer Beziehung das Sagen hat. Danach war unsere Unterhaltung erst einmal beendet. Hawthorne widmete sich seinem Buch, und ich griff nach meinem iPad, um meine E-Mails zu lesen.

Seit der Verlag die Einladung nach Alderney angenommen hatte, war ich von Judith Matheson, die das Festival organisierte, mit langen Mails bombardiert worden. Mittlerweile fürchtete ich mich schon davor, ihr zu begegnen. Sie schien sehr energisch zu sein. Beinahe täglich hatte sie neue Fragen, und wenn ich die Informationen nicht sofort lieferte, erfolgte am nächsten Tag eine Nachfrage. War es mir recht, im Braye Beach Hotel untergebracht zu werden? Gab es irgendwelche Lebensmittel, gegen die ich allergisch war? Brauchte ich einen Leihwagen? Würde ich Bücher signieren? Sie hatte die Zug- und Flugtickets organisiert, das Hotelzimmer für mich reserviert und mir ständig Updates zum Programm des Festivals geschickt. Gestern Abend noch hatte sie mir gemailt, dass sich einige der Teilnehmer bereits in Southampton am Flughafen treffen würden. Ich könne sie noch vor der Sicherheits- und Passkontrolle in der Globe Bar & Kitchen aufsuchen. Sie haben noch Zeit für eine Mahlzeit und ein Bier, schrieb sie. Sogar ein paar Essensvorschläge hatte sie angehängt.

Ich wischte zur Festival-Webseite und überprüfte noch einmal die Schriftsteller, mit denen ich ein langes Wochenende verbringen sollte.

Marc Bellamy

Marc braucht man niemandem vorzustellen! Jeder kennt seine wunderbare Sonntagsvormittags-Kochschau Lovely Grub bei ITV2. Marc hat keine Angst vor spitzen Zungen, wenn er seine leckeren Sachen zubereitet. Seine Cuisine ist alles andere als »Haute«. Auf der Speisekarte stehen deftige Mahlzeiten nach alter Schule: Steak Pie, knusprige Brathähnchen und klebriger Toffee Pudding. Sein Motto lautet: »Kalorienzählen ist Quatsch!« Auf Alderney feiert er die Premiere seines Lovely Grub-Kochbuchs und hat sich bereiterklärt, am Samstag das Abendessen für die Festivalgäste zu kochen.

Elizabeth Lovell

Seit ihrer Geburt litt Elizabeth Lovell an Diabetes und verlor kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag ihr Augenlicht. Gleichzeitig machte sie die Erfahrung, dass sie die einzigartige Gabe besitzt, in die spirituelle Welt der Geister sehen und Stimmen aus dem Jenseits hören zu können. Ihre Geschichte hat sie in ihrer Autobiografie Blind Sight erzählt, die zum Online-Bestseller wurde und zweihunderttausendmal verkauft wurde. Es folgten Second Sight und ihr neues Buch, Dark Sight. Elizabeth lebt in Jersey mit ihrem Ehemann Sid. Sie hält auf der ganzen Welt Vorträge, und wir sind sehr glücklich, dass wir sie erneut in Alderney begrüßen dürfen.

George Elkin

George Elkin ist der berühmteste Historiker unserer Insel. Er wurde in Crabby geboren, wo er heute noch mit seiner Frau lebt. Sein erstes Buch, The German Occupation of the Channel Islands 1940-1945, ist eine brillante Beschreibung der deutschen Besatzung auf den Kanalinseln, und die folgenden Bücher, Operation Green Arrow und The Atlantic Wall, wurden beide für den Wolfson History Prize nominiert. Bei unserem Festival wird er über sein nächstes Buch berichten, das sich mit den vier deutschen Arbeitslagern beschäftigt, die es während des Krieges auf Alderney gab. Abgesehen von seiner schriftstellerischen Arbeit ist George auch ein leidenschaftlicher Naturfreund und Amateurmaler.

Anne Cleary

Gibt es einen Zehnjährigen, der nie von Bill und Kitty Flashbang, den Zwillingen mit den Superkräften, und ihren Abenteuern gehört hat? Kitty kann sich unsichtbar machen, und Bill kann fliegen, und gemeinsam haben sie die Welt vor Geistern, Drachen, verrückten Robotern und Invasoren aus dem Weltall bewahrt! Die gelernte Krankenschwester Anne Cleary war in der Gefängnisfürsorge tätig und hat die gemeinnützige Stiftung Books Behind Bars gegründet. Sie wird über ihre Arbeit mit Strafgefangenen berichten und in der St-Anne-Schule eine Unterrichtsstunde abhalten, mit der sie die Kinder zum Schreiben und Zeichnen ermutigen möchte.

Daniel Hawthorne und Anthony Horowitz

Sie haben bestimmt schon Kriminalromane gelesen. Aber kennen Sie auch einen richtigen Detektiv? Daniel Hawthorne hat viele Jahre als Kriminalbeamter bei Scotland Yard gearbeitet, ehe er Privatdetektiv wurde. Er wirkt jetzt als Sonderberater bei der Aufklärung vieler prominenter Kriminalfälle mit, und einen der neuesten hat der Bestsellerautor Anthony Horowitz, der unter anderem durch die Alex Rider-Serie bekannt wurde, für uns aufgeschrieben. Sein Tatsachenroman erscheint demnächst. Der Detektiv und sein Biograf werden von Colin Matheson (Mitglied der States of Alderney) über ihre Arbeit befragt, und anschließend gibt es reichlich Gelegenheit für Fragen aus dem Publikum. Ein Leckerbissen für alle, die sich für wahre Verbrechen interessieren.

Maїssa Lamar

Wir freuen uns besonders, die junge Lyrikerin Maїssa Lamar aus Frankreich für eine Performance gewonnen zu haben. Sie ist in Rouen geboren und aufgewachsen und schreibt ihre Gedichte im ost-normannischen Dialekt der Gegend um Caux, dem sogenannten »Cauchois«. Le Monde hat sie deshalb als »Fackelträgerin der Kultur des Cauchois« gefeiert. Maїssa ist Lehrbeauftragte an der Universität Caen und hat bereits drei Gedichtbände vorgelegt. Ihr Auftritt beim Alderney Summer Festival wird in englischer Sprache erfolgen, die in französischer Sprache vorgetragenen Gedichte werden mit Untertiteln versehen.

Das also war das Ensemble: ein Fernsehkoch der Kategorie fett, süß und ungesund, eine blinde Hellseherin, ein Kriegshistoriker, eine Kinderbuchautorin, eine französische Performance-Dichterin, Hawthorne und ich. Nicht gerade die glorreichen Sieben, ging es mir durch den Kopf.

Als wir schließlich in der Globe Bar & Kitchen ankamen, waren dort bereits drei der anderen versammelt. George Elkin war vermutlich in seinem Haus auf der Insel. Elizabeth Lovell und ihr Ehemann kamen wohl mit der Fähre von Jersey. Aber Marc Bellamy, Anne Cleary und Maїssa Lamar saßen an einem Tisch in der Bar und schwatzten wie alte Freunde. Es stellte sich heraus, dass sie alle einen Zug früher genommen hatten als wir. Außer den drei Autoren saß noch eine junge Frau mit am Tisch, Kathryn Harris, die sich als Assistentin von Marc Bellamy vorstellte.

Es gibt mehr als dreihundertfünfzig literarische Festivals im Vereinigten Königreich. Ist das nicht unglaublich? Ich habe viele davon besucht. Appledore, Birmingham, Canterbury, Durham … Man könnte das ganze Land von Norden nach Süden bereisen und das ganze Alphabet dabei durcharbeiten. Irgendwie ist es ein tröstlicher, schöner Gedanke, dass sich auch in diesen hektischen Zeiten noch Hunderte von Leuten ein oder zwei Stunden lang in einem Theater, einer Turnhalle oder einem Zelt zusammensetzen, um sich aus Büchern vorlesen zu lassen oder darüber zu reden. Es liegt eine herrliche Unschuld darin. Die Leute sind alle so friedlich und freundlich, und ich habe kaum je einen Autor getroffen, der – ganz egal wie erfolgreich – arrogant oder zickig gewesen wäre. Im Gegenteil: Viele sind gute Freunde geworden. Sogar in Hay-on-Wye, wo es meistens regnet, hatte ich den Eindruck, dass bei diesen literarischen Festivals immer die Sonne scheint.

Aber als ich mich in Southampton zu den anderen Gästen setzte, war mir sehr unbehaglich zumute. Dazu trug auch die Umgebung bei. Das Globe war ein Flughafenrestaurant, wo es Flughafenessen gab. Nicht mehr und nicht weniger. Das grelle Licht und der nach allen Seiten offene Aufenthaltsbereich mitten im Terminal waren sehr ungemütlich. Wir hätten genauso gut auf der Rollbahn sitzen und essen können. Außerdem war ich immer noch nicht überzeugt, dass Alderney eine gute Idee war. Obwohl ich sechs Wochen Zeit gehabt hatte, war ich nicht in der Lage gewesen, mich vorzubereiten, und ich hatte keine Ahnung, wie sich Hawthorne verhalten würde, wenn man ihn auf ein Podium setzte. Und auch ich hatte ein großes Problem: Über Alex Rider oder Sherlock Holmes zu reden, war eine Sache, aber wenn der Held eines Romans gleich neben einem saß, war das höchst ungemütlich. Da befand ich mich weit außerhalb meiner Komfortzone. Und es war nicht nur das: Als ich mich zu Marc, Anne und Maїssa an den Tisch setzte, fühlte ich mich als Außenseiter. Ich hatte das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Marc Bellamy hatte ich auf Grund des Fotos auf der Festival-Webseite sofort erkannt. Er trug sogar dieselben Sachen: ein flaschengrünes Jackett, ein offenes Hemd mit extrabreitem Kragen und eine Lesebrille, die an einer goldenen Kette von seinem Hals baumelte. Wie viele Fernsehstars war er im wirklichen Leben viel kleiner als auf dem Bildschirm, und obwohl seine Zähne sehr weiß und seine Haut tief gebräunt waren, sah er nicht sehr gesund aus. Aber vielleicht gehörte das auch zu seinem Image. Schließlich hatte er sich auf ungesundes Essen spezialisiert und wütete in seiner Show gegen Veganer, Vegetarier und Pescetarier (»das sind die Schlimmsten, die sind so fischig«). Das war natürlich nur Spaß; alle seine Beleidigungen wurden in einem breiten Yorkshire-Akzent vorgetragen und von Augenzwinkern und Grinsen begleitet. Er war übergewichtig, aber nicht direkt fett, sondern eher ein bisschen pummelig. Sein langes Haar war in üppigen Wellen zurückgekämmt und wies an den Ohren schon sehr viel Grau auf. Seine Nase zeigte ein rotes Wegenetz von geplatzten Äderchen. Ich schätzte ihn auf über vierzig.

»How do!«, rief er, als er unserer ansichtig wurde. Das war einer seiner Lieblingssprüche. »Sie müssen Anthony und Mr Hawthorne sein – oder umgedreht? Hawthorne und Mr Anthony?« Er lachte darüber. »Nur nicht so schüchtern! Setzt euch!« Er winkte. »Ich bin der Marc. Und das Mädel hier ist meine Assistentin, die Kathryn. Das ist die Maїssa, mit den zwei Pünktchen! Über dem i, mein ich! Nicht, was ihr denkt! Das ist die Anne Cleary, reimt sich auf traurich, aber das ist sie gar nicht. Wir sind die Schreibertruppe, könnte man sagen. Es ist noch genug Zeit, um was zu essen. Der Flieger steht schon auf der Rollbahn, aber sie müssen den Motor noch aufziehen.« Auch darüber lachte er herzlich. »Wir haben bereits bestellt. Wissen Sie, was Sie wollen?«

Wir setzten uns. Hawthorne bat um ein Glas Mineralwasser, ich wählte eine Cola light.

»Was für ein grässliches Zeug! Sei so lieb, Kathryn, und gib die Bestellung auf, ja?«, sagte Bellamy. Die Assistentin war Anfang zwanzig, schlank und verlegen, den größten Teil ihres Gesichts versteckte sie hinter großen Brillengläsern. Bisher hatte sie auf ihre Knie gestarrt und gehofft, dass sie niemand bemerkte, aber jetzt sprang sie auf und lief hastig zur Theke. »Sie ist ein gutes Mädchen«, versicherte Bellamy in einem lauten Flüsterton, wobei er sogar noch seinen Mund mit dem Handrücken abschirmte. »Hat gerade erst bei mir angefangen. Sie liebt meine Show. Kommt mir sehr recht, da brauch’ ich ihr nicht so viel zahlen.«

Seine Redeweise war ziemlich verzweifelt, so als ob er ständig dem nächsten Witz hinterherjagte, den er aber nie so richtig zu fassen kriegte. Meine detektivischen Fähigkeiten konnten sich mit denen von Hawthorne nicht messen, aber ich hätte gutes Geld darauf gewettet, dass Bellamy ein einsamer Mann war, wahrscheinlich geschieden.

»Hallo, Anthony.« Anne Cleary begrüßte mich, als ob wir uns kennen würden, und mir sank das Herz in die Hose. Ich wusste zwar, wer sie war, konnte mich aber nicht erinnern, sie schon einmal getroffen zu haben.

»Schön, Sie wiederzusehen, Anne«, sagte ich.

Sie verzog das Gesicht, schien aber nicht weiter böse zu sein. »Sie haben mich total vergessen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Wir haben uns vor ein paar Jahren beim Sommerfest von Walker Books mal unterhalten. Das war, als es noch Sommerfeste bei den Verlagen gab.«

»Sie sind bei Walker Books?«, fragte ich. Das war mein Verlag für die Alex Rider-Serie.

»Nicht wirklich. Ich hab nur ein Buch da gemacht. Igel wachsen nicht auf Bäumen.«

»Ich hab mal einen Igel gegessen«, warf Bellamy ein. »In Lehm gebraten. Nach Zigeunerart. Hat eigentlich gut geschmeckt.«

»Sie meinen sicher: Sinti und Roma«, sagte Anne.

»Keine Ahnung, Schatz, ob das Sinti sind oder Roma. Für mich sind die einfach Zigeuner.« Er lachte schon wieder.

Anne drehte sich wieder zu mir um. »Wir haben über Politik geredet … Die Labour Party und Tony Blair.«

»Natürlich«, sagte ich. »Jetzt weiß ich es wieder.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Anne. »Aber ist auch egal. Gesichter und Namen! Geht mir genauso. Das ist das Problem, wenn man Schriftsteller ist. Man verbringt so viel Zeit mit sich allein, und dann sind da plötzlich fünfzig Leute um einen herum. Ich freu mich trotzdem, Sie wiederzusehen. Ich hab mich schon gefreut, als ich im Programm Ihren Namen gesehen habe.«

So langsam konnte ich mich an sie erinnern. Wir hatten ungefähr eine halbe Stunde geredet und sogar unsere E-Mail-Adressen getauscht, aber daraus hatte sich nichts weiter entwickelt. Sie hatte mir erzählt, dass sie in Oxford wohnte. Ihr Mann war Porträtmaler, sie hatte zwei erwachsene Kinder, und ihr Sohn studierte in Bristol. Sie gehörte zu den Labour-Wählerinnen, die nach dem Irakkrieg sehr enttäuscht von ihrer Partei waren und deshalb zu den Grünen gewechselt sind. Ich ärgerte mich über mein schlechtes Gedächtnis und prägte mir ihre Gesichtszüge jetzt umso genauer ein, damit mir so etwas nicht noch einmal passierte, wenn wir uns noch einmal trafen. Irgendwie erinnerte sie mich an meine Mutter. Oder die Mutter von jemand anderem. Sie hatte etwas Warmherziges und Beschützendes. Das runde Gesicht, das dunkle, graumelierte, vernünftig geschnittene Haar und die bequemen Kleider wirkten sehr mütterlich.

»Was tun Sie in Alderney?«, fragte ich und meinte: Warum haben Sie die Einladung angenommen?

»Ach, ich werde nicht mehr so oft zu Festivals eingeladen. Bei Ihnen ist das sicher ganz anders. Werden Sie über Alex Rider reden?

»Nein, ich habe einen Kriminalroman geschrieben. Eine Detektivgeschichte …« Ich zeigte auf Hawthorne. »… über ihn.«

»Ich bin Daniel Hawthorne.« Ich hatte noch nie erlebt, dass sich Hawthorne mit vollem Namen vorstellte, und als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich, dass er vor Bewunderung fast erstarrt war. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Anne«, sagte er. »Mein Sohn hat Ihre Bücher geliebt. Inzwischen ist er ein bisschen zu alt dafür, aber als er sieben war, musste ich sie ihm jeden Tag vorlesen.«

»Vielen Dank!« Anne lächelte.

»Flashbang Trouble. Das war die Piratengeschichte. Wir mussten beide so viel dabei lachen.«

»Wirklich? Das ist eins meiner Lieblingsbücher.«

»Meins auch.«

Das war ein ganz anderer Hawthorne als der, den ich kannte. Es zeigte mir, wie wenig ich von ihm wusste. Seine Exfrau hatte ich nur einmal getroffen. Seinen Sohn hatte ich nie gesehen. Aber mit Anne hatte er sich gleich befreundet. Während die beiden redeten, wandte ich mich der Performance-Dichterin zu, Maїssa Lamar. »Wie kommt es, dass Sie hier am Flughafen sind?«, fragte ich.

»Ich will mit dem Flugzeug nach Alderney fliegen!« Sie sprach langsam und mit starkem französischem Akzent. Vielleicht war der Akzent auch Cauchois. Dabei sah sie mich an, als ob ich bekloppt wäre.

»Ich meine …«, erklärte ich. »Ich dachte, Sie kommen aus Frankreich.«

»Ich hatte gestern Abend eine Performance in London. Im Red Lion Theatre in Camden.«

Ich beschloss, mal auf YouTube nach ihr zu suchen. Maїssa war, meiner Einschätzung nach, eine französische Afrikanerin. Sie trug eine wild bestickte Jacke und Pluderhosen. Im rechten Nasenflügel hatte sie einen silbernen Stecker, und ihre Finger waren mit zahllosen Ringen geschmückt. Ihre Haare waren so kurz rasiert, dass die Kopfhaut durchschimmerte, aber es war noch genug davon da, dass der Friseur auf der einen Seite ein Zickzack-Muster hatte hineinfräsen können. Ihre großen, hellen Augen blieben einen Moment lang an meinem Gesicht haften, ehe sie jedes Interesse verloren. Es gibt zeitgenössische Dichter, die ich sehr schätze: Jackie Kay, Sia Figiel, Harry Baker. Aber ich ahnte, dass Maїssa keine intime Freundin von mir werden würde.

Ein Kellner kam mit den Bestellungen: Kaffee, Tee, ein Salat, ein Vorspeisenteller mit Mezze, ein grüner Tee für Maїssa und ein großes Bitter für Marc. Wir hatten noch eine volle Stunde bis zum Abflug unserer Maschine. Eine Minute später kam Kathryn, Marcs Assistentin, mit den Getränken, die ich und Hawthorne bestellt hatten. Sie legte die Rechnung zu der, die der Kellner schon auf dem Tisch hinterlassen hatte, und setzte sich neben mich.

»Sind Sie auch Schriftsteller?«, wurde Hawthorne von Maїssa gefragt.

»Nein, bin ich nicht, meine Liebe.« Er lächelte. »Ich bin Detektiv.«

»Ach, wirklich?« Ihre Augen weiteten sich. »Was machen Sie dann beim Festival?«

»Er hat ein Buch über mich geschrieben«, sagte Hawthorne und zeigte in meine Richtung. »Er wird das alles erklären. Ich bin bloß zum Vergnügen da.«

»In welchem Bereich ermitteln Sie denn?«, fragte Anne.

»Ich bin heute eigentlich nur noch Berater. Wirtschaftskriminalität. Häusliche Gewalt. Mord.« Er ließ das letzte Wort in der Luft hängen. »Was immer so auf mich zukommt.«

Ein langes Schweigen entstand. Mir wurde plötzlich bewusst, dass unsere vier neuen Bekannten ein wenig nervös schienen.

Der Themenwechsel kam von Marc. »Was die Leute an pürierter Avocado finden, hab ich nie begriffen«, erklärte er und schaufelte sich einen Mundvoll auf sein Pitabrot. »Allein schon dieses Wort: püriert. Das ist so was von affig. Typisch Jamie Oliver. Man kann die Dinger doch einfach mit einem scharfen Messer in Streifen schneiden. Das genügt mir vollkommen. Am besten mit knusprigem Bacon dazu.«

»Soll ich Ihnen noch welchen holen, Marc?«, fragte Kathryn, die in einem Käsesalat herumstocherte.

»Nein, nein. Ich finde bloß, dass die pürierte Avocado so eine typische Modeerscheinung ist. Als ich noch ein kleiner Junge war, hatte noch niemand von diesen Dingern gehört. Sie hießen Avocadobirne, und niemand wusste, was man damit sollte. Es gab sogar Leute, die sie mit Vanillesoße servierten.«

Das Geplänkel setzte sich fort, und jeder versuchte, die anderen abzuschätzen. Marc aß den größten Teil der Vorspeisen, einschließlich der pürierten Avocado, und trank sein Bitter. Schließlich sah Kathryn auf ihre Armbanduhr und sagte: »Die Maschine startet in vierzig Minuten. Wir sollten jetzt vielleicht durch die Kontrolle gehen.«