Wer andern eine Bombe baut - Christopher Brookmyre - E-Book

Wer andern eine Bombe baut E-Book

Christopher Brookmyre

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Beschreibung

Cool, britisch und ziemlich raffiniert: Ein Thriller über einen gewissenlosen Auftragsterroristen – voller Esprit und schwarzem Humor und mit einem atemberaubenden Showdown in den schottischen Highlands. War's das für Raymond Ash? An der Uni träumten er und sein Kumpel Simon von einer Zukunft als Rockstar, stattdessen hat er jetzt, mit Mitte 30, ein schreiendes Baby und einen neuen Job als Lehrer an der Backe – und Simon ist seit drei Jahren tot. Kein Wunder, dass Ray seinen Augen nicht traut, als er ihn am Glasgower Flughafen sieht. Und dann geschehen auf einmal Dinge, die seltsamer und brutaler sind als jedes von Rays geliebten Computerspielen. Gemeinsam mit der Polizistin Angelique de Xavia (bekannt aus Die hohe Kunst des Bankraubs) gerät er in sich immer schneller überschlagende Ereignisse, und die beiden müssen über sich hinauswachsen, um einen Terroranschlag zu verhindern, den der »neue«, sehr sehr böse Simon verüben will. Nur: was ist überhaupt das Ziel der Attacke? Die Spur fuhrt in die schottischen Highlands … Mörderische Spannung, tiefschwarzer britischer Humor, ein halsbrecherischer Showdown und umwerfende Protagonisten – nach Die hohe Kunst des Bankraubs der nächste Pageturner mit der toughen Glasgower Polizistin Angelique de Xavia!

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Seitenzahl: 656

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Christopher Brookmyre

Wer andern eine Bombe baut

Thriller

Aus dem schottischen Englisch von Hannes Meyer

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Christopher Brookmyre

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Auch die hier ist wahr.

Motto

Prolog

Als Toter in Stavanger

Ein Denkzettel für die Obrigkeit

Montag, erster September

Feindkontakt

Mittwoch, dritter September

Das wahre LebenTM

Toter Wichser

Donnerstag, vierter September

Warnung vor vernünftigen Entscheidungen

Die besten Tage deines Lebens

Interessante Zeiten

Festnahme

Deus Nigellus ex Machina

Schwänzen: die Nachteile

Freitag, fünfter September

Musikalische Meinungsverschiedenheiten

Aufstand der Bekloppten

Holzschuhe in den Webstuhl schmeißen

Überlebenden-Selbsthilfegruppe

Ziel erfasst

Aus kleinen Wichsern werden große

Samstag, sechster September

Opposing Force

Die besten Pläne

Team Deathmatch: Leet Good Guys [LGG] vs Terrorist Llamas [TL]

Zuhause

Burnbrae Academy: Die Weisheit des Wee Murph

Noch ein letzter Song: Synchronicity II

Inhaltsverzeichnis

Für Jack

Danke: Marisa, Id Software, Greg Dulli, POTZW.

Die sind alle mit schuld.

Inhaltsverzeichnis

Auch die hier ist wahr.

Inhaltsverzeichnis

Du selbst sein heißt: dich selbst ertöten.

– Henrik Ibsen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Tonight, tonight I say goodbye

To everyone who loves me

Stick it to my enemies tonight

Then I disappear

Bathe my path in shining light

Set the dials to thrill me

Every secret has its price

This one’s set to kill

Too loose, too tight, too dark, too bright

A lie, the truth, which one should I use?

If the lie succeeds

Then you’ll know what I mean

When I tell you I have secrets

To attend

Do you think I’m beautiful?

Or do you think I’m evil?

– Greg Dulli, Crime Scene Part OneVom Album Black Love, The Afghan Whigs

Als Toter in Stavanger

Armselige Vorstadtsklaven. Notschlachten wäre noch zu nett gewesen.

Im Ernst.

Diese Ratten sollten ruhig ewig leben. Die AVS in ihren ewig gleichen Pseudofachwerk-Strafkolonien. Die Insassen hatten sich einreden lassen, dass sie freiwillig dort waren, also brauchte das Gefängnis keine Mauern. Und in dieser Inhaftierung durch Ambition pflanzten sie sich auch noch treudoof fort und gaben ihre Diener-DNA an die nächste Generation stumpfäugiger Gefangener weiter.

Und jeden Tag standen sie wieder auf und beteten, die Befreiung möge niemals kommen: »Lieber Gott, bewahre uns vor der Einzigartigkeit. Gib uns ewige Anpassung und erlöse uns von jeder Besonderheit. Amen.«

Gerade hing ihm so einer auf der Stoßstange, ließ die Lichthupe seines MX3 aufblitzen, riss dazu die Augen auf und schnaubte. Was für ein Pfosten! Riskierte sein Leben bei einem Überholmanöver kurz vor dem Ende der Kriechspur, damit er eine Stelle – eine Stelle – weiter vorne an der Ampel stand. Was sagte einem das über das Leben, das er da gerade riskierte?

Ganz genau.

Armselige Vorstadtsklaven. So kam es überhaupt erst zu Stress und Gewalt im Straßenverkehr. Die gingen nicht etwa auf die immer schlimmere Staulage zurück (wobei die Autoeinzelbelegung natürlich mit beiden zu tun hatte), sondern vor allem darauf, dass die AVS hier ihre einzige Chance für ein bisschen Kühnheit sahen, einen letzten, geisterhaften Rest des Willens zur eigenen Identität. Nur noch hier konnten sie ansatzweise Individualität zeigen, wenn sie allein hinter dem Lenkrad saßen und mit den anderen Gesichtslosen um die Platzierung kämpften. Wenn man den Typen im größeren, neueren, schickeren Auto überholte, vergaß man, auf wie viele andere, bedeutendere Weisen er einen abgehängt hatte. Wenn einem einer in die Quere kommt, einen aufhält, projiziert man all seine Frustrationen auf ihn, weil er einen daran erinnert, wie viele Hindernisse zwischen hier liegen und dort, wo man hinwill. Der Wagen vor einem ist das mangelnde Selbstvertrauen, das Vermächtnis der überbehütenden Mutter. Der Wagen vor einem ist die Konfrontationsangst, das Erbe des geknechteten, gebrochenen Vaters. Der Wagen vor einem ist die Uni, auf die man nicht gegangen ist, der Golfclub, dem man nicht beigetreten ist, die Bruderschaft, zu der man nicht gehört. Der Wagen vor einem sind die Frau und die Kinder und die Risiken, die man nicht eingehen kann, weil man Verantwortung trägt.

Aber das eigentlich Tragische ist, dass man das Auto vor sich, das Hindernis braucht, weil es einem die Konfrontation mit der Tatsache erspart, dass man nicht weiß, wohin man will. Außerhalb der Strafkolonie würde man sich nicht zurechtfinden. Es ist gruselig da draußen.

Das wäre nichts für einen.

Und deshalb wurden jedes Jahr Milliarden ins Marketing quasiidentischer Karren als Zeichen persönlichen Geschmacks und Urteilsvermögens investiert. Toyota, Nissan, Honda, Ford, Vauxhall, Rover, jeder mit einem Kombi, einem Coupé, einer Limousine, jedes Modell bis auf das Markenzeichen kaum von seinen Konkurrenten zu unterscheiden. In den Werbespots waren Muskelprotze mit breitem Unterkiefer zu sehen, die Kinder retteten, mit Haien kämpften und es trieben wie die Hengste, Hauptsache, niemand achtete allzu sehr auf das Auto. »Der neue Vauxhall: Mit geringfügig anders geformten Scheinwerfern. Weil Sie geringfügig anders sind.« Zieht nicht so recht, was?

Aber da gab es ja noch die Allrad- und Sportkarossen. Mit dem Geländewagen zur verdammten Videothek; offroad war die Karre höchstens mal auf der Auffahrt des »Traumhauses« aus Rigips und Spanplatten und natürlich in der Werkstatt, nachdem man eine Kurve mit über sechzig genommen und plötzlich gemerkt hatte, dass pure Masse ohne jede Aerodynamik auch nicht alles war. Manchmal gab es noch einen Görenvan für die Frau oder auch nur irgendeinen Standardviertürer, je nach Gehalt. Also sparte und rackerte und schleimte man, damit man sich den MR2 oder CRX oder GTI leisten konnte, um sich an die erbärmliche Fantasie seiner Restvirilität zu klammern. Man hatte vielleicht die Frau, den Hauskredit, die Kinder und jeden Sonntag die Schwiegereltern zum Abendessen da, aber ein Teil von einem würde sich niemals zähmen lassen. Noch jemand eine Scheibe Viennetta?

Da konnte das Benzin noch so teuer werden, da konnten noch so viele Subventionen in die Park-and-Ride-Angebote gebuttert werden, die Staulage der Großstädte würde sich niemals bessern. Denn auf dem Arbeitsweg, der halben Stunde morgens und abends, in der man seinen röhrenden Straßenkoloss lenkte (und zwar genauso schnell wie die Ente vor einem), konnte man noch einen armseligen kleinen Traum von sich selbst leben.

Fahrgemeinschaft? Niemals! Der Vorstadtsklave stand lieber jeden Tag im Stau und wartete auf den kurzen Augenblick, in dem er aufs Gas treten und so tun konnte, als hätte er etwas Wichtiges zu tun, als müsste er unbedingt dorthin, und zwar schnell. Sich vom Motor in den Sitz drücken lassen, das Lenkrad in der Hand und Bryan Adams auf den Boxen. In dem Augenblick war er cool wie sonst was: ein Geheimagent, ein Superbulle, ein Auftragskiller, ein Terrorist. Und kein Versicherungssachverständiger.

Wobei ihm natürlich nicht klar war, dass ein echter Geheimagent, wenn es ihn denn gäbe, ein echter Superbulle, Auftragskiller oder Terrorist irgendeine 08/15-Vorstadtsklavengurke fahren würde, damit er nicht auffiel. An seinem freien Tag saß er dann vielleicht in etwas Coolerem, aber ganz bestimmt nicht in einem verdammten Mazda. Und er träumte beim Rumheizen garantiert nicht von einem Leben als Familienvater und Lohnsklave.

Die Träume des AVS sind einheitlich und vorhersagbar, weil er keine Fantasie hat. Ohne Werbung kann er sich nichts vorstellen. Deshalb glaubt er frei von jeglicher unabhängiger Meinung oder sachkundiger Urteilsfähigkeit, dass Denise Richards sexy ist, dass Sony hochwertige Hi-Fi-Ausrüstung herstellt und dass er mit einer Flasche Beck’s in der Hand cooler ist als der Typ neben ihm mit einem Pint Heavy. Deshalb glaubt er, er sehe am Steuer des Familiensechssitzers anders aus als an dem seiner überteuerten (aber aus irgendeinem Grund jeden Penny werten) Egokarosse. Er glaubt, Auftragskiller und Terroristen gurken in Sportwagen herum, und würde man ihn fragen, was für ein Auto der Tod fährt (und ihm schnell erklären, dass ein Leichenwagen zu offensichtlich wäre), würde er wohl den Wagen seiner tollkühnsten Träume beschreiben, natürlich in Schwarz. Einen Lamborghini oder Ferrari oder am besten gleich ein Batmobil; eine schnittige, starke, dunkle und unvergleichlich machomäßige Maschine.

Und da läge er falsch. Meilenweit.

Der Tod würde einen Espace fahren.

Er würde eine Sklavenfamilienkarre fahren, um zu unterstreichen, dass das Leben, das er nahm, sowieso nicht lebenswert gewesen war; und hinten war genug Platz für die nächste Generation, wenn sie an der Reihe war.

 

Jetzt war er auf der Hauptstraße, von hier waren es an jedem anderen Wochentag fünf Minuten bis zum Flughafen, aber heute, am Montagmorgen, zehn. Hätte es einen besseren Zeitpunkt für einen Neuanfang geben können als den Beginn der Arbeitswoche, den Tag, der für alle anderen die 104-Stunden-Messe einläutete, bei der sie für die Erlösung des Freitagabends beteten?

Aber jeder Neuanfang war immer auch ein Ende, jede Wiedergeburt brauchte vorher einen Tod. Es wäre doch respektvoll, ja anständig (und natürlich witzig), wenn er noch einmal das Leben betrachtete, das er bald zurücklassen würde, das nur noch ein paar Stunden auf der Uhr hatte. Bei dem Gedanken nahm er die Kassette aus dem Radio und drückte auf den Sendertasten herum, bis er den örtlichen privaten hatte. Den richtigen trostlosen Soundtrack. Ein düsteres Grinsen kroch ihm über die Lippen, als er den Song erkannte, den neuen Chart-Topper von EGF. Eine ordentliche Portion Euro-Dance-Einheitsbrei, eine Kelle voll von dem Dünnschiss, mit dem die Benelux-Länder die Teenagerkopulationskolonien am Mittelmeer und ganz Europa überschwemmten.

EGF. Die Eindhoven Groove Factory. Kein Witz. Vor gar nicht so langer Zeit hatte man seine festlandeuropäische Herkunft gefälligst geheim gehalten, wenn man es im Musikgeschäft zu etwas bringen wollte und einem nicht sowieso alles egal war wie zum Beispiel den Einstürzenden Neubauten. Das war kommerzieller wie credibility-technischer Selbstmord. Man konnte einfach nicht vom europäischen Festland sein und erwarten, in Großbritannien oder den USA Alben zu verkaufen, den beiden größten Musikmärkten der Welt.

Die Skandinavier wurden aus irgendeinem Grund toleriert, der vielleicht weniger mit der Geographie zu tun hatte und mehr mit dem Reichtum an drallen Blondinen. Von Abba über die Cardigans und Roxette bis Ace of Base hatte es den Albumverkäufen nie geschadet, wenn die Frontfrau blond mit Beinen bis zum Arsch war. Das musste man den Skandinaviern schon lassen: Sie hatten das einzige erfolgsträchtige Exportrezept genau erkannt. Doch anscheinend hatte man nirgendwo südlich dieser Gegend kapiert, dass der eigene Sub-Eurovision-Rotz auf der Insel als reinster internationaler Aggressionsakt gedeutet werden würde. Deshalb schaffte es auch kaum etwas in Dover durch die Quarantäne. Gelegentlich wurde mal ein Exemplar als zoologisches Kuriosum importiert, um uns unsere musikalische Überlegenheit zu bestätigen, wie Rock Me Amadeus oder The Final Countdown.

Manche glaubten, der dritte Antichrist der Prophezeiungen des Nostradamus habe sich in Form der EU manifestiert, und tatsächlich war um die Zeit des Vertrags von Maastricht Anfang der Neunziger etwas Satanisches entfesselt worden. Wie sonst war die Tatsache zu erklären, dass die britische Öffentlichkeit auf einmal Musik aus derselben gottverlassenen Gegend kaufte, die Live is Life und den Katalog an Grausamkeiten der Scorpions zu verantworten hatte? Wie konnte es sonst sein, dass Bands heute nicht mehr aus vier trinkfesten Kerlen bestanden, sondern aus zwei, drei pickligen Evian-Schlürfern, die bei ihrer Mama in der Garage irgendwo im Benelux-Flachland Synthesizer quälten?

Die neueste (und wohl auch schlimmste) Seuche war EGF mit ihrem unerklärlich allgegenwärtigen (in den Clubs total angesagt!) »Song« Ibiza Devil Groove.

Die Arbeit eines Grüppchens dieser hirnlosen Wichser war eigentlich nie von der eines anderen zu unterscheiden, aber EGF hatte doch das Unmögliche vollbracht und sich in seinen Augen und Ohren von der Masse abgehoben. Nämlich zeichneten sie sich durch ihre Wahl des obligatorischen Retro-Hits aus, dessen Samples sie durch den Fleischwolf drehten (statt sich mal zwei Minuten hinzusetzen und sich eine Hookline oder womöglich einen Textfetzen selbst auszudenken). Kein Andy-Summers-Riff oder Topper-Headon-Beat für diese Jungs; die Söhne Eindhovens hatten den Smash-Hit des Sommers um den Refrain von Cliff Richards Devil Woman gebastelt.

Rock and fucking Roll.

Er drehte das Radio voll auf. Das hatte etwas vom letzten Schultag vor den Sommerferien in einer der seltenen Stunden, als der Lehrer nicht fünfe gerade sein ließ: Man ging perverserweise in der Langeweile einer Mathe-Doppelstunde auf und genoss in vollen Zügen, was man morgen nicht würde tun müssen.

Andererseits wollte er sich auch nichts vormachen: Vor dem Ibiza Devil Groove gab es kein Entrinnen. Da hätte er sich auch erschießen können – keine Chance; die guten alten Sparks mit The No. 1 Song in Heaven fielen ihm spontan ein, und dass in der Hölle auf Platz eins EGF stand, war ja wohl klar. Andererseits konnte er dann einer Sache doch endlich entkommen, nämlich …

»… Silver City FM mit einem kleinen Gruß von den Balearen, ha ha ha, von der großartigen EGF. Wir haben gleich acht Uhr neunundvierzig am sechsundzwanzigsten Mai, und hier in der Ölhauptstadt Europas haben wir elfeinhalb Grad …«

Ölhauptstadt Europas. Jetzt mal ehrlich. Als er das zum ersten Mal gehört hatte, hatte er es für einen selbstironischen Scherz gehalten. Aber mit der Zeit hatte er erfahren, dass es in Aberdeen keine Selbstironie gab, schon gar nicht, wenn es um die vollkommen unbegründete Selbstverliebtheit dieser Stadt ging. Sie war ein Provinzfischereihafen, der einfach das Schweineglück gehabt hatte, dass in der Nordsee Öl gefunden worden war, mit dem gleichen Ergebnis wie bei einem Bauerntölpel, der im Lotto gewinnt, abzüglich des blöden Grinsens und der ungläubigen Dankbarkeit. In der Stadt herrschte die Illusion vor, sie sei nicht bloß zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen, sondern habe sich ihr unfassbares Glück irgendwie verdient, das eigentlich schon viel früher habe kommen müssen. Und trotz aller Milliarden, die in die Wirtschaft der Gegend gepumpt wurden, wurde gern und laut gequengelt, wenn irgendwo mal ein Penny an schottischem Staatsgeld südlich der Raststätte Stracathro ausgegeben wurde.

Er ging nicht davon aus, dass die Leute dort erst mal beim Rest der europäischen Ölindustrie nachgefragt hatten, bevor sie ihrer Heimatstadt diese Würde verliehen hatten, aber als alter Hase in der Marketingbranche wusste er, wie wichtig irreführende Werbung in Anbetracht der weniger glamourösen Wahrheit war. »Die viertgrößte Stadt Schottlands« riss einen nicht gerade vom Hocker, zumal es nach Platz eins und zwei steil abwärtsging und man dann immer noch hinter dem gottverlassenen Dreckloch namens Dundee lag.

Der ebenfalls selbstverliehene Spitzname »Silver City« war noch so ein übereifriger Versuch, aus Scheiße Gold zu machen. Die Stadt war grau. Alles war grau. Da ging kein Weg dran vorbei. Die Häuser waren alle – alle – aus Granit, und am Himmel hing eine dicke Dauerwolkenschicht. Es. War. Grau. Wenn Aberdeen silbern war, war Scheiße nicht braun, sondern kupferfarben. Die Stadt war grau und langweilig und trist und hatte ein schweres Farbhandicap. Sie war grau, grau, grau. Grauer als die Stadt waren nur noch die verdammten Eingeborenen. Zwei Zitate zur Illustration:

»Ein Aberdeener würde einen Shilling mit den Zähnen aus einem Kackhaufen ziehen.« Paul Theroux.

»Kein Volk der Welt kann besser sein als das von Don und Dee.« Lewis Grassic Gibbon.

So treffend das erste war, war das zweite doch lehrreicher, wenn auch auf andere Art und Weise, als der Autor beabsichtigt hatte. Zuerst einmal musste man raten, aus welcher Ecke der Welt Grassic Gibbon wohl stammte. Wenn man sich die Antwort vom Äther hatte einflüstern lassen, entwickelte man vielleicht langsam ein Bild von diesen Menschen, die entweder nicht viel herumgekommen waren oder sich unterwegs absichtlich vor neuen Eindrücken verschlossen hatten. Wie sonst konnten sie sich ihre Unkenntnis grundlegendster fremder Bräuche wie etwa des Lächelns bewahren?

Während seiner Zeit in Aberdeen hatte er den Unterschied zwischen dem Provinziellen und dem wahrhaft Insularen gelernt. Das Provinzielle definierte sich durch eine naive, ja unschuldige Unwissenheit über die Welt jenseits der eigenen Grenzen. Das wirklich insulare Element wusste sehr wohl, dass es noch eine Welt da draußen gab, mochte sie aber einfach nicht und konnte sie auch einfach nicht gebrauchen, verdammte Axt!

In Aberdeen hatte er auch verstanden, dass man nur ein Leben hatte, das viel zu kostbar war, um es in Aberdeen zu verschwenden. Diese unausweichliche Wahrheit war ihm erst richtig bewusst geworden, als er gemerkt hatte, wie ausweglos sein Leben inzwischen war. Man ging doch überhaupt nur nach Aberdeen, weil man glaubte, dass man nicht lange bleiben würde; man saß eben geduldig seine Strafe ab und kehrte bei der ersten Gelegenheit in die Zivilisation zurück. Dabei übersah man aber die Möglichkeit, dass diese Gelegenheit vielleicht niemals kommen würde und sich beim Warten die Umstände um einen wickelten wie eine Würgeschlange.

Was sollte man also mit seinem einen, einzigen Leben machen, wenn man dazu verdammt war, es hier zu verbringen? Aufgeben und einer der AVS werden? Von wegen! Sich ein Kompensationslaster suchen, sich an den freien Gleitzeittagen unter der Woche durch die örtliche Hausfrauenschaft vögeln? Hatte er ausprobiert. Das war vor allem deshalb schnell nervig geworden, weil die Damen zu der Art postkoitalem Smalltalk neigten, die ihm langsam das Gehirn weichkochte. Als wäre irgendein pawlowscher Mechanismus am Werk, schnatterten sie fünf Minuten nach dem Orgasmus alle über ihre Kinder los. Wenn sie einen da nicht schon aus dem Bett geworfen hatten, weil sie die kleinen Scheißer aus dem Kindergarten oder sonst woher abholen mussten. Man konnte sich eine Zeit lang einreden, dass einem so etwas guttat, aber eigentlich hätte man auch genauso gut mit dem Golfen anfangen können. Es war eben eine der Freizeitoptionen auf dem Gefängnishof.

Was blieb noch? Lotto spielen und sich unter die Jünger dieser traurigsten neuen Religion Großbritanniens mischen? Sie war auch die größte, kein Wunder, im Gegensatz zu allen anderen versprach sie einem ja schon in diesem Leben eine zweite Chance. Und ja, rein theoretisch gab es sie. Wirklich unumstößlich war im Leben nur der eine Grundsatz, der verlangte, dass man das Beste daraus machte, und einen am Steuer seines Espace auslachte, wenn man es wirklich versuchte.

Aber diese wertvolle zweite Chance kam verdammt selten, noch viel seltener als die Vierzehn-Millionen-zu-eins-Lottogewinner, die größtenteils viel zu dröge waren, um mit ihren neuen Ressourcen etwas ansatzweise Interessantes anzustellen. Wenn sie von der obligatorischen Karibikkreuzfahrt zurück waren und sich den Ferrari, die Motoryacht und die neue Bude in dem Stadtteil gekauft hatten, wo die Nachbarn sie wie den letzten Dreck behandeln würden, was dann? Konsumnirvana? Na ja, irgendwann hatte man eben den aktuellen Technikspielzeugkatalog rauf und runter gekauft. Sicher konnte man für zwanzig Millionen ein neues Leben bekommen, man musste nur wissen, wo. Sonst kaufte man sich doch nur eine größere Zelle. Wenn man wirklich etwas daraus machen wollte, musste man schon mehr tun, als sich von irgendeinem B-Promi plus Bikinitrulla einen Riesenscheck überreichen zu lassen.

Dabei brauchte man selbst hier im Pseudofachwerkgulag nicht mal im Lotto zu gewinnen, um seine zweite Chance zu bekommen, wie er jetzt wusste. Man brauchte nur den Willen, loszulassen. Nicht jammern, nicht zicken, einfach gehen.

Abhauen. Nicht mehr und nicht weniger.

Alles zurücklassen.

Diese Einsicht, diese Entscheidung war das Schwere. Hinterher kam einem alles lachhaft einfach vor.

Den Partner verlassen. Kein Problem. Schon geschehen. Die Menschen, die sie beide mal gewesen waren, gab es schon lange nicht mehr. Oder eher: Der, der er mal gewesen war, war beim Umzug in die Silver City verloren gegangen. Wie ging der Song noch? If you love somebody, set them free? Er liebte Alison zwar nicht, aber das schuldete er ihr dann doch. Er würde nicht nur sich selbst eine zweite Chance geben.

Den Job aufgeben. Soll das ein Witz sein? Welchen Anreiz hatte er – hatte er jemals gehabt –, ihn zu behalten? Ach ja, natürlich: die Sicherheit. Wie in »Hochsicherheitstrakt«.

Diese Ketten halten einen nur, solange man sich an ihnen festkrallt.

 

Der Automat spuckte einen Parkschein aus und öffnete die Schranke, als er ihn herauszog. Er warf ihn auf den Beifahrersitz und fuhr langsam vor, ordnete sich in die vierrädrigen Satelliten ein, deren Umlaufbahn immer weiter wurde, als sie mit jeder Umrundung ein Stück weiter weg vom Terminal nach einem Platz suchten. Sie kurvten mindestens fünf Minuten herum, um ihren Fußweg vielleicht zwanzig Sekunden zu verkürzen. Die meisten von ihnen hatten immerhin eine ganze Aktentasche zu schleppen. Oder vielleicht glaubten sie, sie liefen Gefahr, von Raubtieren gerissen zu werden, wenn sie die Herde verließen.

Als er den Motor ausschaltete, fiel ihm als Erstes der Parkschein auf. »Nicht im Auto lassen«, stand da. Das war nur eine der vielen Anweisungen, die für ihn nicht mehr galten. Er steckte ihn trotzdem in die Tasche. Es gab keinen Spielraum für dekadente Gesten. Dieses Leben musste so normal und nach all seinen dummen, kleinen Regeln weitergelebt werden, bis sein Anschlussflug in Stavanger abhob. Als einziges Zugeständnis trug er einen Rollkragenpullover statt Hemd und Kragen, um die andere Garnitur zu verbergen, die er darunter anhatte. Niemand sollte ihn gehen sehen, also würde er dann schon jemand anders sein.

Das obligatorische Jackett mit passender Hose trug er natürlich noch, allerdings eins, das zum Rollkragen passte und den »So lässig wie möglich gekleideter Geschäftsreisender, der aber trotzdem allen zeigen will, dass er Geschäftsreisender ist«-Look vollendete. Es war doch wohl einer der großen Punkte, mit der die Männerseite gegen das ewige Feministengequengel anstinken konnte, dass die Frauen die freie Auswahl aus einer Vielfalt von Businessklamotten hatten, während es bei den Männern bestenfalls kleinste Variationen des Monochromthemas »grauer Anzug« gab. Lachhaft, was da für ein Geschiss um Label, Stil und Schnitt gemacht wurde, auch wenn es vielleicht verständlich war, dass man sich auch hier am kleinsten bisschen Individualität aufgeilte. Wahrscheinlich gab es auch Anglerfische, die von ihren Artgenossen als besonders unattraktiv betrachtet wurden, dabei sah die ganze Spezies aus wie Pete Doherty nach einer durchzechten Nacht.

Und am schlimmsten: Anscheinend war er mit seiner kleidertechnischen Frustration allein auf weiter Flur. Für die AVS war der Anzug wie ein Schnuffeltuch. Ohne fühlten sie sich nackt und verwundbar, und Mann, was sahen sie gut aus, glaubten sie. Der Schlips um den Hals schränkte einen zwar etwas beim Atmen ein, was aber gleichzeitig ein beruhigendes Gefühl war wie der Druck einer väterlichen Hand, die einem versicherte, dass der eigene Status anerkannt und sichtbar war: Man war Anzugträger, man hatte eine Anzugträgerkarriere in einer Anzugträgerbranche, und niemand, niemand würde einen für einen gesichtslosen Niemand halten, ganz bestimmt nicht.

Von überall auf dem Parkplatz marschierten sie auf das Terminal zu, als würde es sie magisch anziehen, alle im Anzug mit dazugehöriger Aktentasche. Reiste man hochoffiziell geschäftlich, war der Anzug vorgeschrieben, aber bei diesen Deppen kam der Drang von innen. Er überwog alle anderen Überlegungen, wie die der Zweckmäßigkeit. Ein Anzug war auf einer Flugreise einfach nicht bequem, wo die Sitzgröße, die Beinfreiheit und der Sicherheitsgurt ihr Schindluder mit dem Stoff trieben, ganz zu schweigen von der ewigen Angst, das Essen, der Tee oder Kaffee (Sir?) könnte bei einem auf dem Schoß landen. Aber immer noch hielt sich die Fehlvorstellung, man müsste sich für den Flieger schick machen, was wohl noch von früher kam, als ihn sich nur die Reichen leisten konnten. Er erinnerte sich noch an Familien-Pauschalreisen als Kind Anfang der Siebziger, als er von Abbotsinch nach Palma oder Málaga geflogen war. Sein Vater hatte ihm gezeigt, dass man die kleinen Jungs aus Glasgow auf ihrem ersten Flug immer daran erkannte, dass sie aussahen, als wären sie auf dem Weg zum Gericht. Auf dem Rückflug hatten sie es dann kapiert, trugen lustige Riesensombreros und hatten Schwerstsonnenbrand auf jedem Fleckchen nackter Haut.

Mit der Zeit, Erfahrung und den Generationswechseln hatte sich der Privatreiselook gewandelt, aber schmeichelhaft war er auch nicht geworden. Er hatte immer mal recherchieren wollen, ob Easyjet einen vielleicht am Gate abwies, wenn nicht die ganze Familie aufeinander abgestimmte Jogginganzüge trug und gemeinsam die 500-Kilo-Marke knackte.

Er hörte immer öfter, die Billigflieger verstopften den Himmel und eine rapide Zunahme an Katastrophen stehe bevor. Sicher war da oben immer mehr los, aber seiner Meinung nach durfte man die Schuld nicht der Moppelfraktion vor die bereebokten Füße werfen; deren Reisen hatten immerhin einen Zweck, auch wenn der nur in der Aufnahme gesättigter Fette in wärmerem Klima bestand. Der wahre Grund für all die Beinahe-Zusammenstöße und zwanzigminütigen Warteschleifen war überall zu sehen: sinnlose, unnötige Geschäftsreisen.

Wir waren doch mitten im Kommunikationszeitalter, der Ära der Videokonferenzen, virtuellen Produktshowcases, E-Mails, Webkataloge, und doch drängten jeden Tag an jedem Flughafen haufenweise AVS an Bord der Flieger, die sie zu Meetings beförderten, bei denen nichts erreicht werden würde, was nicht genauso gut per Telefon oder sogar per Brief hätte erreicht werden können. Es hieß, es gehe um den persönlichen Touch oder den Wert des direkten Gesprächs, was natürlich teilweise stimmte, aber hauptsächlich ging es darum, den AVS-Drohnen vorzugaukeln, sie seien geschätzte und wichtige Kollegen. Das war auf jeden Fall billiger als eine Gehaltserhöhung, und zu den absetzbaren Blockbuchungen gab es bestimmt als Zugabe den einen oder anderen Erste-Klasse-Langstreckenflug für den Chef und die Sekretärin, die er zurzeit vögelte.

Es unterbrach die Monotonie, wenn man sie alle paar Wochen über Nacht sonst wohin jagte; dann hatten sie das Gefühl, sie seien auf einer geheimen Mission, die die Firma ihnen ganz persönlich anvertraut hatte. Dann waren sie nicht mehr bloß Anzugträger, sondern plötzlich so wichtige Anzugträger, dass sie irgendwohin jetten mussten. Kein Herumgekurve durchs Vertriebsgebiet im Ford Mondeo mehr. In den allermeisten Fällen kam dabei aber praktisch nichts raus als eine zusätzliche Verstopfung der Flughäfen.

Der Check-in-Bereich war überfüllt und chaotisch wie an einem Montagmorgen zu erwarten, und eine Horde Jugendlicher, die mit der ganz speziellen Hirnlosigkeit postpubertärer Festländer herumhampelte, ließ zusätzliche Freude aufkommen. Es stank nach Clearasil und feuchten Rucksäcken. Er hörte besorgt zu und betete, dass sie nicht Norwegisch quasselten. Sie hörten sich aber eher italienisch an, vielleicht spanisch. Schwer zu sagen, an welchem Schalter das Gewusel eigentlich anstand, aber bald wurde klar, dass sich heute British Airways damit herumschlagen musste und nicht er.

Am ScanAir-Schalter zeigte er sein Ticket vor und bekam dafür ein Lächeln von dem Mädchen hinter dem Tresen. Auf dem Namensschild stand Inger, was das Aberdeen-untypische Zähneblecken erklärte. Hatte sich wahrscheinlich in der Kabinencrew abgerackert und sich dann an den Boden versetzen lassen, als sie sich einen betuchten Ölmanager geangelt hatte.

Sie erledigten die üblichen Platzzuweisungs- und Flirtformalitäten, bevor sie zu den obligatorischen Sicherheitsfragen kam: Haben Sie Ihr Gepäck selbst gepackt, haben Sie es aus dem Blick gelassen, hat Sie jemand gebeten, etwas für ihn mitzunehmen, ist das eine Boden-Luft-Rakete in Ihrer Hosentasche, oder freuen Sie sich nur, mich zu sehen? Der Zweck dieses Spiels erschloss sich ihm nicht. Wer ihr wegen der paar höflichen Fragen plötzlich das Herz ausschüttete, musste in der Terroristenschule bestimmt nachsitzen. Vielleicht sollte damit nur dem Passagier versichert werden, dass alle Sicherheitsvorschriften befolgt wurden; wenn das alles war, was sie an Antiterror-Expertise zu bieten hatten, konnte man richtig Panik bekommen. Was machten sie denn, wenn wirklich mal einer mit einer Waffe durchkam? Ihn freundlich auffordern, sie doch vielleicht abzulegen, bitte?

Eine fortgeschrittene Version des gleichen sinnlosen Theaters wartete an der Sicherheitskontrolle, wo man Schlange stand, um sich das Handgepäck verstrahlen und sich selbst sanft tätscheln zu lassen, wenn man vergessen hatte, das Schlüsselbund in die Schale zu werfen. Er war schon intimer berührt worden, als sein Schneider für einen Anzug maßgenommen hatte. So zaghaft, wie sie sich anstellten, machten sie die ganze Sache angemessen lächerlich: Sie wollten nicht zu fest rangehen, damit man nicht sauer wurde und ihnen unter die Nase rieb, was sowieso alle wussten: Dass noch nie jemand mit einer Waffe in der Unterhose in diesem Legolandflughafen erwischt worden war und es wohl auch nie werden würde. Und sollte diese astronomische Unwahrscheinlichkeit doch einmal eintreten, meinten die, der Bewaffnete würde sich einfach brav zur Seite bitten und abtasten lassen, warten, bis er aufgeflogen war, um dann verlegen zu grinsen und zu sagen: »Tja, ich wollt’s eben mal probieren.« Außer natürlich, hinter der beleuchteten Reklame vom Scottish Tourist Board versteckte sich rund um die Uhr ein Trupp bis an die Zähne bewaffneter Bullen, denen vor Langeweile schon der Abzugsfinger juckte.

»Dürfen wir mal eben in Ihre Aktentasche schauen, Sir?«

»Klar, sicher doch.«

Auch nach all den Flügen im Laufe der Jahre hatte er immer noch keine Ahnung, nach welchen Kriterien ausgewählt wurde, wessen Handgepäck geöffnet wurde. Manchmal hielten sie ihn an, manchmal nicht, ohne jegliche Korrelation bezüglich seines Aussehens, seines Ziels, ob er allein oder mit anderen reiste und so weiter. Hatte der Drecksack mit dem glasigen Blick und dem verstopfungsverdächtigen Gesichtsausdruck, der chronisch genervt den Röntgenmonitor anstarrte, etwas Ungewöhnliches gesehen? Wurde nach dem Zufallsprinzip vorgegangen, um irgendeine Quote zu erfüllen? Hatten sie einfach gerade mehr Lust, einem in den sauberen, schimmernden Aktenkoffer zu schauen, als in die schmuddelige Reisetasche des schweißtriefenden Fleischbergs vor einem, der nur mit einem Schubs durch den Metalldetektorbogen gekommen war? Oder schnüffelten sie eben gerne manchmal ein bisschen herum? Wenn nicht, hätten sie seinen Respekt verloren.

Der bärtige Sicherheitsmann bedeutete ihm, er solle den Koffer selbst öffnen. Hinter dieser vorgeblichen Höflichkeit steckte doch nur die Angst, er würde sich beim Gefummel am neuesten unnötig komplexen Verschlusssystem zum Deppen machen. Er drückte gleichzeitig die Knöpfe auf beiden Seiten wie bei einem Flipper, bei dem die Kugel gerade träge durch die Mitte runterläuft. Er drehte den Koffer geschickt um hundertachtzig Grad und ließ den Deckel los, der sich dank des Alu-Teleskop-Gestänges beeindruckend sanft hob, das bestimmt noch mal zwanzig Prozent auf den Preis draufgeschlagen hatte.

Viel war nicht zu sehen. Zwei Mappen, eine Zeitschrift, eine Zeitung, ein Handy, ein Handventilator, ein Walkman, ein King-Size-Mars und zwei Saftpäckchen. Unwahrscheinlich, dass irgendetwas davon auf dem Röntgenbild unheimlich verdächtig ausgesehen hatte. Aber der Sicherheitskerl hatte ihn nun schon rausgewinkt, also musste er jetzt auch ein bisschen Theater machen. Bartgesicht fing mit dem Handy an, hob und senkte es auf der Handfläche, um das Gewicht zu betonen, und reichte es ihm.

»Würden Sie das bitte einmal einschalten?«

»Klar, kein Problem.«

Er drückte auf den Knopf, und Bartgesicht linste kurz auf das LCD-Display, bevor er es wieder annahm.

»Alles klar. Ein ziemliches Monster, was?«

»Das können Sie laut sagen. Deshalb habe ich es ja im Koffer. Mein Neues ist kaputt, deshalb muss ich das hier herumschleppen. Ist wohl gerade so noch als Handgepäck durchgegangen. Musste ja kurz vor der Reise passieren.«

»Dumm gelaufen.«

Bartgesicht widmete sich als Nächstes dem Walkman und holte die genickte Erlaubnis ein, selbst auf Play zu drücken. Die Kassette spulte zu seiner Zufriedenheit ab, wobei er natürlich nicht darauf achtete, ob der Fluggast vielleicht ganz präzise seinen Lieblings-Startsong eingestellt hatte. Dann hielt er einen Kopfhörer hoch. Ein kurzes, blechernes Aufscheppern reichte, das Gezische hörte sich jedes Mal an wie Speed Garage, das wohl einzige Musikgenre, bei dem es egal ist, ob man die Kopfhörer aufhat oder nicht.

Ungeachtet der Tatsache, dass es eigentlich nichts mehr zu überprüfen gab, setzte Bartgesicht seine Überprüfung fort. Er ließ den Ventilator einmal wirbeln; nahm die Mappen, die Zeitschrift und die Zeitung jeweils in die Hand und blätterte kurz etwas; entweder aus bewundernswerter Sorgfalt oder leichter Gehässigkeit prüfte er dann auch noch den Mars und schließlich die Saftpäckchen. Um bei diesen noch ein letztes Mal seine Autorität auszuspielen, starrte er jedes einmal durchdringend an, bevor er es misstrauisch schüttelte, was wohl der endgültige Beweis der absoluten Sinnlosigkeit des ganzen Sicherheitstheaters war. Hätte er wirklich vermutet, die beiden Ribena-Päckchen seien voller Nitroglycerin gewesen, hätte die jeweilige Vorschrift ihm dann tatsächlich zu einer so ruckartigen Kontrollmethode geraten?

»In Ordnung, vielen Dank, Sir. Einen angenehmen Flug!«

Erst als er an Bord des Flugzeugs war und die hartnäckig sinnlosen Ansagen über sich hatte ergehen lassen, was zu tun war, wenn das vollgetankte Flugzeug senkrecht vom Himmel fiel, wurde ihm klar, was diese zweidimensionalen Sicherheitsvorkehrungen eigentlich bedeuteten. Wenn dieses Flugzeug nämlich sabotiert wäre und abstürzen würde, bevor er heute Stavanger erreichte, wäre er ein stinksaurer Toter. Ganz zu schweigen von der kolossalen Ironie.

Ach, na ja. Hauptsache, er saß im Jenseits nicht bis in alle Ewigkeit in der Hölle Aberdeens fest.

***

Das Flugzeug landete um 11:20 Uhr Ortszeit. Sonnig, klarer Himmel, Außentemperatur achtzehn Grad.

Stavanger. Ein angemessen nichtssagender Übergangsort für seinen großen Plan. Hier gab es keine neuen Anfänge, nur Transitlounges, Fluginformationen und einen Laden, der Plüschgnome und Räucherlachs verkaufte. Meistens war er nur hierhergekommen, um mit einem anderen Flugzeug weiterzufliegen; anderswohin, wo er auch nicht unbedingt hatte sein wollen. Andere mussten geschäftlich nach Barcelona, Mailand, Athen oder Paris. Sein Job hatte ihn in jede karge, hypermaskuline Industriefestung Skandinaviens geführt, darunter – aber häufiger via – Stavanger. Endlich würde ihn einmal ein Flieger von hier an einen Ort bringen, an den er wirklich wollte, aber wie immer musste er noch einmal in ein Flugzeug ein- und wieder daraus aussteigen, bis seine Reise vorbei war und eine andere wirklich begonnen hatte.

Als er von der Toilette zurückkam, setzte er sich im Abflugbereich auf eine Bank am Fenster. Das Flugzeug stand Meter vor ihm auf dem Rollfeld, die Farben waren in der Sonne verfälscht, aber der Name auf dem Rumpf war lesbar: Freebird. Er grinste. Er hätte es nicht besser taufen können.

Die Uhr zeigte 11:55. Eine Viertelstunde bis zum Boarding. Das war der schwerste Teil: Nicht mehr lange zu warten, aber sonst gab es nichts zu tun. Warten und nachdenken. Ersteres war unumgänglich, Letzteres hätte er gerne vermieden. Wie er den Jet so vor sich sah, drängte sich ihm die Bedeutung dessen auf, was so kurz vor ihm lag, aber er musste sie ausblenden. In diesen letzten Minuten würde ein Rückzieher allzu verlockend wirken. Er würde die Behaglichkeit der alten Ketten spüren.

Es war die längste Viertelstunde seines Lebens, die ihn mit jeder zähen Minute dem Augenblick näher brachte, in dem die selbst gewählte Qual enden würde. Wenn er seinen Boarding Pass gezeigt hatte und über die Gangway lief, gab es kein Zurück mehr. Zumindest nicht ohne ein paar sehr peinliche Erklärungen.

Irgendwie gewannen dann doch die Gesetze der Zeit, und die Uhr gab sich geschlagen.

 

Um 12:12 Uhr wurde zum Boarding aufgerufen.

Um 12:15 Uhr stieg er ein.

Um 12:37 Uhr hob das Flugzeug ab.

Um 12:39 und achtzehn Sekunden, als das Flugzeug genau dreitausend Fuß erreicht hatte, explodierte eine Bombe hinten in der Kabine. Der Sprengsatz war nicht allzu groß, musste er aber auch nicht sein, da er kaum einen Meter von den Treibstofftanks entfernt war. Das Heck wurde vollständig abgetrennt, sodass der Rest des Flugzeugs einen Bogen beschrieb und dann ins Trudeln geriet, als es auf den Fjord zustürzte.

 

Das war der absolute Wendepunkt, an dem das Leben, was auch immer es vorher bedeutet hatte, plötzlich bedingungslos wertvoll wurde.

Der Job, das tägliche Gependel, der knechtende Kredit, der gesichtslose Vorort, die qualvolle Beziehung, die Streits, die Rechnungen, die verworfenen Pläne, die kastrierenden Kompromisse: In einem Augenblick wurde aus dieser ausweglosen Hölle ein verlorenes Paradies.

Und dieser Wandel vollzog sich mit knapp zehn Metern pro Sekunde im Quadrat.

 

Um 12:40 Uhr schlug der vordere Rumpf auf dem Wasser auf und zerbrach wiederum in zwei Teile, wobei alle bisher Überlebenden an Bord starben.

Ein Denkzettel für die Obrigkeit

So aufgeregt war er noch nie gewesen. Es war ganz anders als vor einem Spiel; das war ja eher Ungeduld, eine Unruhe, die sich beim ersten Ballkontakt ausglich, beim ersten Pass, beim ersten Zweikampf. Der Rest war dann vertraut, egal, wie stark der Gegner war. Aber, Gott sei Dank, war es nicht mehr so schlimm wie am Donnerstag, als er auf ihre Pause gewartet und es so abgepasst hatte, dass es natürlich wirkte und sie nicht merkte, dass er extra geblieben war, als er sich Sorgen gemacht hatte, ihr Zeitplan habe sich vielleicht geändert und er habe sie schon verpasst; und all das, bevor er sie überhaupt angesprochen hatte. Er hatte Angst gehabt, seine Stimme würde versagen oder sie könnte seine Gedanken lesen, während er mit ihr plauderte und scherzte. Als er sie schließlich fragte, waren ihm die Worte im Hals weich und zittrig geworden, die Lippen taub, als hätte er eine Art Lähmung, und er mimte ganz bestimmt nicht den harten Typen, mit dem er seine Chancen aufgebessert hätte.

Sie hieß Maria. Er kannte sie schon seit Jahren, sie hatten manchmal in der Schule im gleichen Kurs gesessen, aber mit ihr gesprochen hatte er erst vor Kurzem. In der Schule redeten die Jungs eben nicht mit den Mädchen, wenn sie nicht mit Witzen und Sprüchen bombardiert werden wollten. Selbst untereinander gab keiner zu, auf welche er stand, außer natürlich bei Models und Filmstars. Als wäre das ein Zeichen von Schwäche gewesen, etwas, was die anderen gegen einen verwenden konnten. Oder noch schlimmer, sie hätten es ihr erzählen können, und dann konnte man sich ja gleich umbringen.

Maria jobbte während der Sommerferien in einem der großen Kaufhäuser, und Montag war er ihr wirklich zufällig in ihrer Pause über den Weg gelaufen. Es hatte ihn überrascht, wie locker sie sich hatten unterhalten können, aber noch weniger hatte er erwartet, wie es ihm hinterher ging. Er konnte an nichts und niemand anderes mehr denken. Sie war nicht mehr nur eine, die er flüchtig kannte, sondern die Einzige, die er kennenlernen wollte.

Am nächsten Tag ging er wieder hin, einfach nur, um sie zu sehen, wobei sie ihn nicht sehen sollte (was hätte sie sich dann gedacht?), aber da war ihr freier Tag. Am Mittag musste er seinem Vater im Garten mulchen helfen, und der Lieferant war spät dran, also waren sie erst spätnachmittags fertig. Er wäre vielleicht noch in die Stadt gegangen, um sie nach ihrer Schicht abzupassen, aber als er nach dem Duschen wieder runterkam, stand Jo-Jo in der Küche und wollte mit ihm im Park bolzen gehen. Dann würde er morgen gehen, hatte er sich gesagt, und nicht nur gucken, sondern sie ansprechen. Er würde sie ins Kino einladen.

Sie sagte nicht Ja. Stattdessen nickte und lächelte sie schon, bevor er mit seinem Gestammel überhaupt fertig war, also hatte sie doch seine Gedanken gelesen, gewusst, was kam, und auch, was sie antworten würde. Es war großartig.

Sie wollten sich draußen treffen. Zu seiner Überraschung hatte sie sich den amerikanischen Film Close Action 2 gewünscht, den Tony nicht gerade als ideales Date-Material eingestuft hatte, und beinahe hätte er ihre Beziehung schon kaputt gemacht, bevor sie überhaupt angefangen hatte, als er andeutete, sie stehe wohl auf den Star Mike MacAvoy. Maria sah sich nicht als »Tussi«. Sie hörte The Offspring und Nine Inch Nails, während ihre Mitschülerinnen den letzten Popteenidolen hinterherschwärmten, und während die anderen über Soaps tratschten, war sie selbst eher Expertin für Akte X und die Sopranos.

Sie war spät dran. Nicht besonders spät, nicht so spät, dass er sich ernsthaft Sorgen machte, sie hätte ihn versetzt, noch nicht. Die letzten sechsunddreißig Stunden über hatte er Vorfreude in verschiedenen Schweregraden verspürt, aber dieses Gefühl jetzt gerade war etwas ganz Neues. Er war angenehm aufgeregt. Er versuchte, sich zu erinnern, wie sie roch, malte sich aus, was sie wohl trug, wie sie ging, wie sie lächelte, und konnte kaum fassen, wie viel Wunderbares und Spannendes an so einem kleinen Menschen sein konnte. Es kribbelte ihm im Bauch und bebte ihm in der Brust. Es war, als würde er fast das Atmen vergessen.

Und dann sah er sie, als sie plötzlich hinter zwei alten Frauen in Witwenschwarz hervortrat. Sie trug ein kornblumenfarbenes Sommerkleid, mit dem sie aussah, als müsste sie eigentlich gerade barfuß durch kniehohes Gras spazieren. Letzten Monat hatte er in der Nachspielzeit einen direkten Freistoß verwandelt und seiner Mannschaft den Aufstieg gesichert.

Aber das hier war viel besser.

 

Es war ein ungemütlicher Abend, der Regen prasselte auf den Asphalt, schwallte über die Windschutzscheibe und verwandelte die Autos vor ihm in ein rotes Rücklichtgeschmiere. Aber nur ungemütlich für alle anderen. Nicholas bereitete das schlimme Wetter eine seltsame Freude. Selbst die Autofahrt darin beruhigte ihn irgendwie, da er danach die Haustür würde hinter sich zuziehen und sich zu seiner Frau an den Esstisch setzen können.

Stürmische Winterabende hatte er schon als Kind toll gefunden, als er ewig in der Wohnung am Fenster gestanden und sich die regennassen Straßen oder die Schlieren auf der Scheibe angesehen hatte. Das machte es drinnen nur noch gemütlicher und sicherer, die Nähe seiner Mutter noch wärmer. Als er mit Janine zusammengezogen war, hatte er zu seiner Freude gemerkt, dass sich das Gefühl bis ins Erwachsenenleben erhalten hatte. Sie hatten immer gerne hinter sich die Tür zugemacht und waren nur noch füreinander da gewesen, und das wirkte umso stärker, wenn der Wind die Bäume schüttelte und den Regen an die Fenster prasseln ließ.

Es war ihr zweiter Hochzeitstag und der erste, den sie gemeinsam verbrachten, nachdem Nicholas im letzten Jahr geschäftlich unterwegs gewesen war. Es war auch der letzte, den sie in absehbarer Zeit für sich alleine hatten, da Janines Stichtag für den nächsten Monat angesetzt war. An Abenden wie diesem wusste man, wofür man gearbeitet hatte, und Wind und Regen machten aus der kleinen, aber doppeltverglasten Wohnung einen Palast.

Trotz des Regens war der Verkehr nicht so schlimm, bloß an den üblichen Kurven und Steigungen etwas langsamer. Vielleicht war sogar weniger los, weil viele sich früher abgemeldet hatten, als sie durchs Bürofenster die Sintflut gesehen hatten. Nicholas sah auf die LED-Uhr auf dem Armaturenbrett. Er würde wohl in vierzig Minuten zu Hause sein. Janine würde ihn mit einem Kuss und einem Glas Merlot begrüßen, und er würde sich mit dem neuen Kleid revanchieren, das er ihr gekauft hatte. Sie würde es nicht sofort anziehen können, aber er wusste noch, wie seine Schwester sich über so ein Geschenk gefreut hatte, als sie hochschwanger gewesen war. Es hatte sie daran erinnert, dass sie nicht immer schon in diesen Umständen gewesen war, auch wenn es ihr manchmal so vorkam, und ihr einen Ansporn gegeben, um hinterher wieder in Form zu kommen.

Er fragte sich, was es heute wohl gab. Beim Gedanken an ein Cassoulet musste er breit grinsen. Letzte Woche hatte sie mal eins gekocht, aber als er zu Hause angekommen war, hatte sie gemerkt, dass sie den Ofen noch gar nicht angeschaltet hatte, also hatten sie die Wartezeit notgedrungen gemeinsam in der Badewanne und im Bett überbrückt. Sie waren im Moment wie die Teenager und trieben es bei jeder Gelegenheit. Vielleicht lag das an Janines Hormonen, vielleicht an dem natürlichen Drang, näher zusammenzurücken, weil sie jetzt eine Familie wurden. Aber wen interessierte schon der Grund?

Er drückte zur nächsten CD weiter, OK Computer. Auf den ersten Blick nicht die romantischste Wahl, aber das Album war herausgekommen, als Janine und er zusammengezogen waren, und es erinnerte ihn immer an die Zeit damals. Als er über die Kuppe und am Zementwerk vorbei war, floss der Verkehr wieder zügiger. Wahrscheinlich würde er doch nur eine halbe Stunde brauchen.

 

Tanya wünschte sich so langsam, sie wäre in der Zukunft geboren, wenn die Teleportation die anderen Verkehrsmittel abgelöst hatte, aber zur Not hätte auch eine Zeit gereicht, in der persönliche Hygiene von der Staatsgewalt durchgesetzt wurde und die Bahnen nicht mehr aussahen wie irgendein kommunistisches Sozialexperiment auf Schienen. Der Waggon war wie immer absolut überfüllt, und gemäß dem ersten Gesetz des öffentlichen Nahverkehrs war das Verhältnis von genetischen Unterspezies und Verhaltensauffälligen zu normalen Menschen zehnmal so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Sie hatte sich einen Fensterplatz sichern können, sodass sie zwar die eisige Zugluft aushalten musste, dafür aber nur auf einer Seite ein Mitglied der seifenallergischen Unterklasse neben sich hatte. In diesem Fall war es eine alte Schachtel, die nach Kohl roch und deren ledrige Haut und Krächzstimme vermuten ließen, dass sie mehr qualmte als ein Laborbeagle. Im Moment riss sie sich zum Glück zusammen, wahrscheinlich wegen des kleinen Jungen auf ihrem Schoß, der einen Bonbon weniger lutschte als vielmehr in seine molekularen Bestandteile auflöste, um ihn so weit wie möglich über seinen kleinen Körper zu verteilen. Seine glänzenden Hände kamen ihrem guten Mantel alle paar Sekunden gefährlich nah, und wenn Tanya sich noch enger an die Wand presste, machte die Alte sich einfach noch breiter und brachte den eingekleisterten Kleinen wieder in Reichweite.

Ihr gegenüber saß ein Knutschpärchen, das wohl gerade versuchte, sich ineinanderzustülpen, um im überfüllten Waggon möglichst wenig Platz einzunehmen. Wenn Tanya die Augen schloss, hätte sie das Geschlabber für das Blubbern eines vulkanischen Schlammlochs halten können, wobei das Kind allein immer noch mehr Speichel produzierte als die beiden zusammen. Sie waren wie ein waberndes Zauberwesen, aus dem immer mal wieder eine andere Extremität hervorstieß, was umso grotesker wirkte, da der Kerl die ganze Zeit mit mindestens einem Arm bei seiner Freundin in der Bluse steckte. Auf der einen Seite ihrer Brust wanderten drei Knöchelgnubbel umher, wo eigentlich nur eine Brustwarze hätte sein sollen. Die alte Schachtel zischte und grummelte gelegentlich, aber die beiden wären wohl nur mit einem Eimer Eiswasser zu trennen gewesen.

Neben ihnen saß der obligatorische Murmler, ein Brillenträger mittleren Alters, der wohl von Kindheit an schon Tics sammelte. Sein Blick sprang verstohlen, aber chaotisch durch den Waggon, während die Finger herumzappelten und aus dem inkontinenten Mund ein Strom zusammenhangloser Wörter und Geräusche hervorsprudelte.

Ein Fluch über ihre Eltern, die ihr kein Geld für ein Flugticket gegeben hatten. Sie hätten ihr schon genug Geld für das nächste Semester geschickt, das müsse sie sich selbst einteilen, aber meine Güte, sie wussten doch, wie sehr sie die Bahn hasste. Wollten sie etwa, dass sie die Hälfte schon während der Weihnachtsferien ausgab? Es lag an ihren Klausurergebnissen letztes Semester. Sie hatten nichts gesagt – machten sie nie, sondern schmollten nur herum, und man durfte ihre Gedanken lesen –, aber Tanya wusste, dass es darum ging. Nicht, dass es ihre Schuld gewesen wäre. Das Arbeiterkind, von dem sie sich die Hausarbeiten hatte schreiben lassen, hatte sich als Niete herausgestellt, und Tanya hatte überall Durchschnittsnoten bekommen. Typisch ihr Glück: Alle taten es, aber sie musste ausgerechnet aufs lahme Pferd setzen. Sie wischte die beschlagene Scheibe mit einem Taschentuch sauber, weil sie sie nicht direkt anfassen wollte. Es war das letzte in der Packung, sie hatte überlegt, es dem kleinen Scheißer anzubieten, damit er sich die Flossen abwischen konnte, aber sie wollte sich lieber mit dem Ausblick ablenken. Es lohnte sich natürlich nicht. Nichts als Schnee. Sie konnte ein paar Soldaten sehen, also kamen sie, Gott sei Dank, bald an der Kaserne vorbei. Dann musste sie nur noch eine Dreiviertelstunde überstehen.

Bei Peters Weihnachtsfeier waren auch ein paar Soldaten gewesen, ein alter Schulfreund von ihm mit drei Kameraden. Was hatten die saufen können! Vom Gedanken allein dröhnte ihr der Schädel. Es war noch wilder zugegangen als üblich, und natürlich hatte Helena sich selbst übertreffen müssen. Mitten im Zimmer hatte sie zweien der Soldaten einen geblasen, und alle hatten sie angefeuert. Das war doch wohl etwas übertrieben. Sie musste unbedingt mal den Unterschied zwischen Dekadenz und Dummheit lernen. Es sollte einem zwar egal sein, was alle anderen von einem hielten, aber deshalb musste man noch lange nicht jede Selbstachtung über Bord werfen. Das hätte für sie eigentlich das gesellschaftliche Ende sein müssen, aber aus offensichtlichen Gründen würden die Jungs sie weiterhin einladen.

Draußen rasten verschwommen die Pfosten und Drähte des Kasernenzauns vorbei. Sie starrte hindurch in den Schnee, während das Pärchen schmatzte, der Murmler brummelte und der Kleine schließlich die Spannung brach und die Hand an Tanyas Oberschenkel abwischte. Sie schaute runter, um den Schaden abzuschätzen, wurde aber sofort in den Sitz zurückgeworfen, als wäre die Bahn wie eine Peitsche geschwungen worden. Der Waggon war plötzlich zur Seite geruckt, und es wummerte durch den Stahl, kreischte und grollte von unten. Das Pärchen und der Murmler waren zwischen die Sitze geworfen worden, und wer auf dem Gang gestanden hatte, lag jetzt auf dem Boden oder auf anderen Fahrgästen.

Um sie herum keuchten und schrien die Leute, während es weiter grollte, als die entgleiste Bahn mit schrecklicher Wucht weiterraste. Der Waggon bebte und sprang, und alle versuchten, sich irgendwie festzuhalten. Das Mädchen am Boden hatte sie am Unterarm gefasst, während die Alte sich um den Kleinen krümmte, der jetzt schrie. In allen Gesichtern stand die Angst, die Augen aufgerissen, den Atem angehalten. Mit jedem neuen Ruck wurden die Körper gegeneinandergeworfen, und Stimmen schrien vor Schmerz. Das Mädchen fiel nach vorne, als es sich aufrichten wollte, und rammte Tanya den Ellenbogen in den Oberschenkel wie einen Stachel. Ihr Freund lag auf der Seite, und Blut lief ihm aus der Nase, wo der Kopf des Murmlers ihn erwischt hatte, der wiederum an den Knien der Alten zusammengesackt war wie eine Marionette.

Es bebte stärker, der Waggon wurde schneller und schneller nach links und rechts geworfen, während die Bahn immer weiterrauschte, bis es von vorne krachte und donnerte. Tanya krümmte sich instinktiv zusammen, zog die Beine an und rollte sich zwischen Rückenlehne und Wand zu einer Kugel zusammen.

Die Entgleisung selbst war nur der Anfang gewesen; jetzt fing die Sinfonie der Zerstörung erst richtig an. Der Waggon schleuderte horizontal herum, fiel auf die Seite und rollte volle dreihundertsechzig Grad, während er weiter durch den Schnee und Kies rutschte, bis er schließlich ein Kasernengebäude rammte, halb einriss und zum Stehen kam.

Drinnen war es wie in einem Mixer.

Tanya wusste nur, dass der Waggon sich nicht mehr bewegte, weil das Grollen aufgehört hatte. Um sie herum fielen und rollten immer noch Menschen, wer bei Bewusstsein war, versuchte, sich aus dem Gewirr zu befreien; die anderen hingen hilflos der Schwerkraft ausgeliefert da.

Sie lebte noch, denn sie hörte Schreie und spürte Schmerzen. Ihr linker Knöchel war weggeknickt wie ein Hühnerknochen, aber sie konnte ihn nicht sehen, weil sie hüftabwärts unter dem Mädchen und der Alten eingeklemmt lag, die wohl beide tot waren. Das Mädchen lag mit dem Gesicht nach oben, der Kopf in einem unmöglichen Winkel, Genick gebrochen, die Augen offen. Die Alte lag reglos auf dem Bauch, und unter ihr bildete sich eine Blutlache.

Die Schreie waren überall, wirkten deshalb aber fast wieder stumm; oder vielleicht verlor sie auch gerade das Bewusstsein. Aus dem Lärm hörte sie einen etwas anderen Schrei heraus, höher, drängend, jünger. Der Kleine. Tanya sah sich um. Sie fand ihn unter einem Sitz, der auf unerklärliche Weise standgehalten hatte. Sein Gesicht war vom Weinen knallrot, Angst und Verwirrung standen ihm im Gesicht. Von irgendwoher nahm sie die Kraft, sich an der Rückenlehne hochzuziehen, um sich möglichst von den beiden Leichen zu befreien. Beim winzigsten Versuch einer Bewegung schoss ihr der Schmerz durchs Bein, aber die Alte rutschte schon zur Seite weg. Nun konnte Tanya auch das Mädchen von sich rollen und sich nah genug rüberdrücken, dass sie die Hand nach dem Kleinen ausstrecken konnte. Er reagierte erst gar nicht und war wohl noch so sehr in seiner Verzweiflung gefangen, dass er sie gar nicht wahrnahm. Als er es dann doch tat, wich er zurück.

»Komm schon«, wollte sie sagen, aber ihr raues Flüstern ging im Lärm unter.

Sie berührte ihn am Fuß, dann nahm er vorsichtig ihren Finger und krabbelte schließlich aus seinem Versteck hervor.

Durch das kaputte Fenster hörte sie jemanden rufen. Ein Soldat schaute zu ihr herunter und streckte ihr die Hand entgegen. Ihre Stimme versagte, und sie zeigte nach unten, bis der Mann das Kind sah. Der Soldat beugte sich nach drinnen, legte die Arme um Tanyas Rumpf und hob sie nach draußen, während sie weiter heiser auf den Kleinen am Boden hinwies.

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Soldat leise, als er sie sanft auf den Boden setzte und sich dann wieder ins Waggoninnere hangelte. Der Wagen steckte mit einem Ende im Gebäude, und entlang der Seite halfen überall Soldaten, so gut sie konnten. In der anderen Richtung sah sie die restlichen Waggons, die alle mit auf das Kasernengelände gestürzt waren. Aus allen Gebäuden strömten Soldaten auf die zerstörten Fahrzeuge zu.

Ihr Retter kam mit dem verstummten Kleinen unter einem Arm nach draußen. Er reichte ihn ihr und stieg zurück in das Abteilwrack. Das Kind fing wieder an zu schluchzen, warf ihr die kleinen Arme um den Hals und vergrub das Gesicht in ihrem Mantel. Sie schloss die Augen und drückte ihm die Wange ins Haar; der Schmerz in ihrem Bein wirkte etwas ferner.

Dann hörte sie den Knall.

Tanya schaute hoch und sah den vordersten Waggon und die Lok in einem Feuerball verschwinden. Der Boden bebte, als die Explosion sich immer schneller ausdehnte, immer weiter, unaufhaltsam, unausweichlich. In einem Sekundenbruchteil sah sie das Feuer Soldaten, Waggons und Gebäude verschlingen und wie eine flammende Flutwelle vorwärtsbranden.

Sie drückte das Kind an sich und schloss die Augen.

 

Ein grelles Licht strahlte plötzlich durch die regenschwarze Nacht. Die Scheibenwischer kämpften weiter gegen die Fluten an, und Nicholas ging von einem Blitz aus. Einen Sekundenbruchteil später erschütterte der Donner den Himmel, den Boden und das Auto, Letzteres vor allem, weil Nicholas sich so sehr über die unerwartete Lautstärke erschrak. Er konzentrierte sich wieder auf die Autos vor sich, deren Bremslichter aufstrahlten, als der Scheibenwischer ihm wieder eine Millisekunde freie Sicht schenkte. Die Überführung vor ihm stürzte ein, die Pfeiler rissen und brachen, und die Straßenbrücke krachte in Riesenbrocken mitten auf den Verkehr.

Er trat die Bremse durch, aber der Audi schlitterte bei vollem Aquaplaning mit neunzig Sachen auf den Vordermann zu, der selbst noch weiterraste, die Bremslichter nicht mehr als ein panischer Wunsch. Gleichzeitig hörte Nicholas es wieder mehrmals knallen, als würden seine Mitverurteilten einer nach dem anderen exekutiert, während er auf seine eigene Kugel wartete. Er hob die Arme vors Gesicht, als der Audi den Vordermann rammte, der Airbag herausschoss und ihn umfasste, bevor er durch den nächsten Aufprall von hinten hin- und hergeworfen wurde.

Er hyperventilierte, aber immerhin lebte er noch. Hinter sich hörte er noch weitere Zusammenstöße; vor sich sah er nur den Airbag. Seine Arme waren darin eingefangen, aber er konnte sie ein bisschen bewegen, und auch seine Beine waren glücklicherweise noch in Ordnung. Er versuchte, langsamer zu atmen und sich zu sammeln. Er war okay. Erschüttert, und wahrscheinlich standen ihm monatelange Rückenschmerzen bevor, aber er lebte. Überleben durch Technik.

Vorne knallte es wieder, lauter als die Zusammenstöße, dann noch mal und noch mal, immer schneller. Oben auf der Windschutzscheibe sah er rotes und gelbes Licht in den Regentropfen tanzen.

Feuer.

Nicholas zerrte am Airbag, um seiner nun lebensgefährlichen Umarmung zu entkommen. Er griff nach dem Hebel unter dem Sitz, rutschte zurück und hatte nun ein paar wertvolle Zentimeter Bewegungsfreiheit.

Als er den Gurt löste, explodierte der Wagen vor ihm.

Er schloss die Augen.

»Janine.«

 

Als Tony die Augen öffnete, sah er zuerst seine Faust direkt vor dem Gesicht. Sie hielt immer noch den Geldschein, den er am Popcornschalter gezückt hatte, um Marias Eis zu bezahlen, das Einzige, wozu sie sich hatte einladen lassen. Dahinter waberten Rauch und Staub, so viel Staub. Er wallte um ihn herum, verschleierte alles außer seiner allernächsten Umgebung und gab nur kurz die Sicht auf etwas frei, was etwas weiter weg lag: ein kornblumenfarbenes Kleid, eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten, die zuckte und sich krümmte.

Er atmete nicht richtig. Er saugte die Luft ein und zischte sie zu schnell, zu unregelmäßig wieder heraus. Alles war kalt.

Zwischen sich und dem kornblumenfarbenen Sommerkleid sah er zwei Beine in den Trümmern liegen. Ein Fuß fehlte, der andere hing noch an fransigen Fleischfetzen. Der Schuh sah aus wie seiner. Genau solche hatte er auch, aber heute hatte er sie nicht angezogen. Heute nicht. Heute hatte er andere an, die alten.

Bitte.

Tony streckte den rechten Arm danach aus.

Er wollte nach seiner Mutter rufen, aber der Hals lief ihm voll. Blut floss ihm übers Gesicht, über die Augen, und er sah nichts mehr.

Inhaltsverzeichnis

Montag, erster September

Feindkontakt

Der Briefing Room hatte etwas von einem 3D-Kabinett der Unterkiefer, Reihe um Reihe kantiger Schädel auf steifen Schultern. Zum letzten Mal hatte sie in der Schuldisco so viele Kerle hart und cool tun sehen. Nahe der Tür hätte es noch freie Plätze gegeben, aber sie ging lieber vor dem Podium vorbei, um zu sehen, wie alle reagierten. Jeder Kopf drehte sich, jedes Auge folgte ihr, aber sie machte sich keine Illusionen, warum. Es ging nicht unbedingt darum, dass sie die einzige Frau im Raum war, sondern vor allem darum, dass überhaupt eine Frau da war. Das schwache Geschlecht war zwar in der Special Branch durchaus hin und wieder vertreten, aber nicht jede Region hätte eine Frau zu so einem Weitpisswettbewerb geschickt. Das lag aber weniger am vorwärtsgewandten Liberalismus der Polizei von Strathclyde, sondern vielmehr an deren Einschätzung, wie wenig die aktuelle Warnung ihre Gegend betraf. Und das stimmte wohl auch. Im internationalen Terroristenatlas war Großbritannien als nierenförmige Insel eingezeichnet, die von etwas namens »M25« begrenzt wurde.

Sie erwiderte beim Gehen ein paar Blicke, konfrontierte die Zweifler und lächelte geziert, um ihnen zu zeigen, dass sie ihre Gedanken lesen konnte.

»Was will die denn hier? Eindeutige Quotenfrau. Außerdem bisschen kurz geraten. Auf die soll man sich im Einsatz verlassen können? Kleine Karrieristin, bestimmt. Tausend Qualifikationen, im Feld nichts vorzuweisen. Schrecklich schlau, aber keinen Arsch in der Hose.«

Vielleicht dachten sie das alles auch gar nicht, aber sie hatte es alles schon mal gehört.

Ein paar bekannte Gesichter nickten ihr zu, aber nur eins lächelte, John Millburn, der auch als Einziger Disziplinarmaßnahmen riskierte, weil er es mit der Uniformvorschrift gerade nicht so genau nahm. Er winkte ihr zu, dass in seiner Reihe noch ein Platz frei sei, und stupste den Glatzenkandidaten neben sich an, damit er rutschte und sie bei ihm sitzen konnte.

»Angel X. Wie läuft’s, Kleine?«

»Ganz gut, Kleiner«, erwiderte sie und musste gähnen. »Sorry. Mein Flieger ging um halb sieben. Schön, dass alle die Ernste-Miene-Anweisung gekriegt haben. Hier sieht’s ja aus, als hätte die Regierung gerade eine Freimaurer-Steuer angekündigt.«

»Oh, vorsichtig, junge Frau! Irgendwer muss sich doch um die Witwensöhne kümmern. Oder, Brian?«

Der Polizist mit dem Glatzenansatz schaute böse und schüttelte den Kopf. Warum musste ausgerechnet er neben dem Klassenkasper sitzen? Und würde er einen Klassenbucheintrag bekommen, wenn er beim Kichern erwischt wurde?

»Worum geht’s heute eigentlich? Weißt du da was? Also außer …«

Millburn zuckte die Schultern. »Ich weiß auch nicht mehr als du. Eigentlich nur, dass die, die mehr wissen als wir, sich große Sorgen machen.«

Sie schaute sich um. Das Getuschel wurde lauter, als um die fünfzig Leute das gleiche Gespräch führten.

»Tja, bei uns passiert da ja sowieso nichts, was?«, bemerkte sie. »Uns haben sie doch nur aus Höflichkeit eingeladen.«

»Dich vielleicht. Ich arbeite doch jetzt selber hier unten im guten, alten London. Seit einem Monat.«

»Echt? Glückwunsch! Oder so. Ist Newcastle ohne dich nicht schon längst in der Anarchie versunken?«

»Klar, bloß nennen wir das in Tyneside nicht Anarchie, sondern Samstagabend.«

Links vom Podium öffnete sich eine Tür, und heraus kam Tom Lexington, der Chef der Anti-Terrorist Task Force. Der Saal verstummte, als hätte er eine Taste auf der Fernbedienung gedrückt. Das war eine Instinktreaktion aus Respekt vor dem Mann, aber vor allem davor, was seine Gegenwart bedeutete. Er blieb an der Tür stehen und hielt sie auf. Neben dem Rednerpult standen drei Stühle.

Als Erstes folgte ein blasskränklicher Kinderschändertyp mit Brille. MI5, vermutete sie. Wenn man den durchschnitt, zog sich das als Muster quer durch seinen Körper wie bei einer Zuckerstange. Er trug eine schwarze Hose, die eigentlich nur voller Essensreste und mit einem Gürtel aus Paketschnur hochgehalten sein konnte. Geheimdienst-Analytiker, heute auf Freigang von seinem Keller in Millbank. Hatte wahrscheinlich den ganzen Weg hierher die Augen vor der Sonne zugekniffen.

Danach kam ein Exemplar konzentrierter Mannhaftigkeit in grauem Feldanzug, das auch den stolzesten Machokiefer im Saal in die Flucht schlagen konnte. Die gelassene Körpersprache, die Haltung, der neutrale, fast müde Gesichtsausdruck. Der hatte niemandem etwas zu beweisen, von niemandem etwas zu fürchten. Muskulös, aber leichtfüßig. Neben Lexington sah er recht klein aus, aber das war bei fast jedem so. Ein kleiner Rasierunfall am ansonsten glatten Kinn sorgte an seinem anderweitig makellosen Äußeren für Abwechslung.

Die beiden Neuankömmlinge setzten sich, als Lexington ans Pult trat und ein paar Papiere drauflegte.

»Guten Morgen«, sagte er, auch wenn die Umstände eindeutig nahelegten, dass das ganz und gar nicht stimmte. Er hatte eine Stimme wie ein Nachrichtensprecher bei Radio Four. Sanft, aber bei jeder Lautstärke voller Autorität, ein gemessener Ton, der gleichzeitig beruhigte und mitriss. »Als Erstes möchte ich Ihnen allen danken, dass Sie heute Morgen gekommen sind, und mich für den Mangel an Informationen darüber entschuldigen, warum Ihre Anwesenheit nötig war. Ich weiß nur zu gut, dass wir Bullen nichts schlechter ertragen, als wenn jemand anders alle Geheimnisse kennt. Das werde ich aber gleich ändern.«

Er räusperte sich, blätterte eine Seite um und dann wieder zurück.