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Menschen lieben, ist eng verbunden mit Selbst- und Selbstwertgefühlen. Das gilt auch für das Gegenteil, den Hass. In den Beiträgen des Tagungsbands der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie geht es unter der Leitidee »Wer bin ich und wen ich liebe« um das Ringen um Selbsterkenntnis in Relation zu »bedeutsamen Anderen«. Im Rahmen dieses Themenspektrums werden Genderbezüge auf dem Hintergrund der Prozesse der eigenen (psychosexuellen) Geschlechtsidentitätsentwicklung reflektiert. Hier geht es unter anderem um Fragen zur Transsexualität und zu einem Trend, der als »Trans-Gesundheit« bezeichnet werden kann. Ausführlich wird von der psychotherapeutisch-psychoanalytischen Fall-Arbeit berichtet, in der insbesondere Probleme der Verschränkung von Körpererleben, früher Spiegelung und dem Ringen um Selbstfindung und Selbstwerdung angesprochen werden. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch, wie im Rahmen psychotherapeutischer Begegnungen mit Liebesgefühlen von Patienten und Therapeuten umgegangen werden kann. Nicht zuletzt kommen gruppendynamische Prozesse zur Sprache, die sich aktuell am politisch rechten Rand unserer Gesellschaft ereignen und in denen sich Selbstwert- und Hassgefühle auf fatale Weise verschränken und gegen »andere« richten. Als gemeinsame Klammer all dieser unterschiedlichen Problemstellungen fungiert letztlich die Frage, wer wen oder was wie und warum liebt oder hasst, akzeptiert oder ablehnt.
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Beiträge zur Individualpsychologie
Band 44: Pit Wahl (Hg.)
Wer bin ich und wen ich liebe
Identität – Liebe – Sexualität
Pit Wahl (Hg.)
Wer bin ich und wen ich liebe
Identität – Liebe – Sexualität
Mit 39 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Pit Wahl
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-90105-3
Inhalt
Vorwort
Brigitte Eibl und Stefan Lehmann
»Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten« – Georg Kreisler in Texten und Liedern
Hanna Marx
Die neueste Volte der »Trans-Genderwelle« Der Paradigmenwechsel von Transsexualität und Transgesundheit
Andrea Heyder
Der zerbrochene Spiegel – werde, der du bist? Zur Verschränkung von Körpererleben, Spiegelung und Identitätsentwicklung am Beispiel von Transsexualität
Hermann Stöcker
Wir sind wir und wen wir hassen
Hildegard Mergel-Hölz
Wenn männliche Identität und Sexualität zu scheitern drohen – das Therapiebeispiel eines jungen Mannes
Manfred Gehringer
Der Umgang mit der Liebe in der Psychoanalyse
Fabian J. Escher
Bedeutung des Jugendalters als Krise in der Identitätsentwicklung
Ulla M. Nitsch
Woran das Herz hängt – sieben Menschen und sieben Dinge
Vera Kalusche und Roland Lambrecht
»Denn wie die Liebe dich krönt, so kreuzigt sie dich« – Ein psychologisch-historischer Streifzug zum Ich durch die Sprache der Liebe
Regine Kroschel
Psychotherapie als Suche nach dem eigenen Ich
Pit Wahl und Günter Heisterkamp
Menschen in der DGIP – Performance und Gespräch über Widersprüche und Wechselfälle des Lebens
Die Autorinnen und Autoren
Personenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Vorwort
»Wer bin ich und wen ich liebe« – der Titel der Jahrestagung der DGIP 2017 fordert auf, zweimal hinzuschauen. Er liest sich so, als ob eine Frage mit einer Aussage verbunden wird, die gleichzeitig wieder als Frage verstanden werden kann – also ganz schön vertrackt und komplex und insofern dem Gegenstand angemessen. Dabei ist der Wunsch, sich selbst zu erkennen (»Wer bin ich?«), schon seit der Antike Gegenstand philosophischer und psychologischer Erkenntnisbemühungen. Im zweiten Teil des Satzes (»und wen ich liebe«) wird aber nicht nur der Selbstbezug angesprochen, sondern die als Aussage formulierte Frage bezieht ein Gegenüber mit ein, auf das sich ein Bedürfnis, ein Verlangen, eine Sehnsucht, vielleicht eine Begierde oder einfach auch nur ein faktisches Statement richtet. Wie auch immer – das Tagungsthema impliziert: Es gibt kein Ich, kein Selbst, keine Identität ohne ein Gegenüber, ohne einen anderen.
Während sich für Sigmund Freud menschliche Entwicklung noch überwiegend als Abfolge biologisch bestimmter Phasen darstellte, ging Alfred Adler schon früh von einer naturgegebenen sozialen Bezogenheit des Säuglings aus. Für ihn vollzog sich Ich- und Identitätsentwicklung von Geburt an überwiegend in den Interaktionen zwischen den primären Bezugspersonen (vor allem Mutter, Vater und Geschwister) und dem Neugeborenen bzw. dem heranwachsenden Kind. Heute wird fast im gesamten psychoanalytischen Spektrum menschliche Entwicklung im Rahmen relevanter Beziehungserfahrungen betrachtet. Für alle tiefenpsychologischen Schulen gilt zudem, dass Liebesfähigkeit – also das Glück, Liebe zu empfinden, zu spenden und genießen zu können – ein wesentliches Merkmal seelischer Gesundheit und somit auch ein implizit immer vorgegebenes Ziel psychotherapeutischer Bemühungen ist.
Im Lebensverlauf ergibt sich dabei allerdings immer wieder neu die Frage, wen (oder was) jemand lieben möchte, kann und darf. Neben der allseits akzeptierten und als Voraussetzung für seelische Gesundheit als wichtig anerkannten, liebevollen Verbundenheit mit den und der sicheren Bindung an die primären Bezugspersonen bekommt (später) die Frage nach dem Objekt der Begierde, d. h. auch nach der geschlechtlichen Orientierung, für viele Menschen eine große Bedeutung.
Im Kulturraum der westlichen Industrienationen hat sich hinsichtlich der Bewertung erotischer und sexueller Neigungen sowie des identitätsrelevanten Selbstverständnisses der Betroffenen im Laufe von etwa einem halben Jahrhundert vieles liberalisiert. Lange war die Ansicht vorherrschend, dass es höher- und minderwertigere Formen sexueller Orientierungen gibt. Homosexualität beispielsweise wurde im gesellschaftlichen Diskurs – auch bei den Gründervätern der Psychoanalyse – im Zuge früherer Denk- und Erlebenstraditionen als krank und abnorm klassifiziert. Eine solche Sicht und das damit verbundene Menschenbild ist auch heute noch nicht aus der Welt. In den meisten europäischen Ländern aber sind gegenwärtig gleichgeschlechtliche Partnerschaften weitgehend akzeptiert – sie werden weder pathologisiert noch kriminalisiert.
Inhaltlich hat sich die Debatte inzwischen erweitert. Heute geht es nicht mehr »nur« um Hetero- oder Homosexualität. In den Diskurs werden inzwischen vielfältige Formen und Varianten erotischen und sexuellen Erlebens und Begehrens einbezogen. Ob es um Transsexualität, Intersexualität oder um andere »Spielarten« sexuellen Erlebens und Verhaltens bzw. persönlich-geschlechtlicher Identität geht: Die Entscheidungsgrundlagen dafür, ob jedem Einzelnen in seiner jeweiligen Besonderheit ganz grundsätzlich ein Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich seiner mentalen und leiblichen – das heißt gerade auch geschlechtlichen – Identität und Identitätsentwicklung zugestanden wird oder ob die jeweilige Orientierung (weiterhin und zumindest teilweise) pathologisiert und damit entwertet oder diskriminiert werden (soll), sind unklarer geworden.
Gegenwärtig ist als vorherrschender wissenschaftlicher Trend eine Tendenz zur Entpathologisierung besonderer sexueller Erlebens- und Verhaltensformen zu beobachten (sofern diese andere nicht gefährden oder schädigen – dies allerdings bleibt eine ganz wesentliche Grenze, etwa bei pädophilen Neigungen). Für die Fortentwicklung und möglicherweise anstehende Veränderung der bestehenden Klassifizierungssysteme (etwa ICD-10 oder DSM-5) sind diese Weiterentwicklungen perspektivisch von einiger Bedeutung. Ob sich im klinischen Alltag viel ändert, ist fraglich, da es im Zuge jedweder Entwicklung und Orientierung immer zu innerseelischen Konflikten, Störungen und Symptomen von Krankheitswert kommen kann, die einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen.
Dennoch ist eine intensivere und möglichst vorurteilsfreie Beschäftigung mit dem Thema und den mit ihm in Zusammenhang stehenden Phänomenen angesagt. Die in diesem Tagungsband zusammengefassten elf Beiträge bieten eine spannende Lektüre und Einstimmung auch in diesen sich rasch verändernden Themenkomplex. Ein Abgleich mit den eigenen Erfahrungen in den verschiedenen Berufsfeldern dürfte sich lohnen.
In dem zum Tagungsauftakt traditionell kulturell ausgerichteten ersten Beitrag machen Stefan Lehmann und Brigitte Eibl unter dem Titel »›Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten‹ – Georg Kreisler in Texten und Liedern« uns mit den Liedern und dem wechselvollen Leben des Multitalents Georg Kreisler bekannt. »Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten« ist ein Buchtitel des in Wien geborenen, von den Nazis vertriebenen und später wieder nach Europa zurückgekehrten Musikers, Literaten, Kabarettisten und Satirikers. Treffend und selbstironisch bringt Kreisler mit seiner Formulierung zum Ausdruck, dass die Frage nach dem »Wer bin ich?« für ihn nicht abschließend zu beantworten, sondern immer in Veränderung begriffen war, und dass er sich selbst letztlich immer ein Rätsel blieb. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, seine Mitmenschen bissig und mit viel Witz in deren vielfältigen Widersprüchen und Fehlhaltungen zu skizzieren und sie damit zu konfrontieren. Aber auch wenn Georg Kreisler keinen Hehl daraus macht, wen er nicht liebt, und wenn in der Darstellung seines Lebens deutlich wird, wie schwer er sich selbst lange Zeit mit Liebesbeziehungen und Bindungen getan hat, so machen sein Leben und Werk doch deutlich, wie präzise und genau er die Menschen und ihre Psyche erkannt und analysiert hat.
Hanna Marx reflektiert in ihrem Beitrag »Die neueste Volte der ›Trans-Genderwelle‹« das Thema der Tagung auf dem Hintergrund gesellschaftlicher und fachgesellschaftlicher Entwicklungen. Sie legt dar, dass es in den zurückliegenden etwa 35 Jahren immer wieder spezielle Themen gab, denen die mit den jeweiligen Problemen befassten Fachleute besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben – Themen, die für eine gewisse Zeit wellenartig schwerpunktmäßig diskutiert wurden: In den 1980er Jahren stand beispielsweise die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und im Zusammenhang damit das Problem des nicht seltenen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Fokus des Forschungsinteresses; dann beschäftigte man sich schwerpunktmäßig mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und möglichen Folgen verschiedenster Traumatisierungen. Aktuell werden häufig Fragen nach der geschlechtlichen (sexuellen) Orientierung Einzelner bzw. nach ihrer Geschlechterrolle und ihrer sexuellen Identität unter dem Aspekt diskutiert, ob es sich bei den vielfältigen Varianten geschlechtlichen Selbstverständnisses und/oder erotisch-sexueller Orientierung (und Wandlung) um natürlich gegebene, gewünschte oder gewählte Normvarianten handelt oder um genuin pathologische und behandlungsbedürftige Phänomene. Hanna Marx erinnert in diesem Zusammenhang an wesentlich flexiblere und weniger festgelegte, d. h. nicht-binäre Sichtweisen, wie sie etwa in der Antike vorherrschten. Auf diesem Hintergrund erläutert sie einen sich aktuell vollziehenden Paradigmenwechsel von Betrachtungsweisen, die sich mit Transsexualität beschäftigen, hin zu Fragestellungen, die ein neues, nicht pathologisierendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit in den Mittelpunkt rücken.
Um Transsexualität geht es bei Andrea Heyder: »Der zerbrochene Spiegel – werde, der du bist? Zur Verschränkung von Körpererleben, Spiegelung und Identitätsentwicklung am Beispiel von Transsexualität«. In einer ausführlichen und detaillierten Fallbeschreibung und anhand ausgewählter Szenen aus dem Spielfilm »The Danish Girl« zeichnet sie zunächst sehr konkret und gut nachvollziehbar den Prozess einer analytischen Psychotherapie mit einem Mann nach, der sich in seinem Körper mit den ihm eigenen, angeborenen geschlechtlichen Merkmalen nicht zu Hause fühlt. Sie schildert, wie sich der Patient/die Patientin im Verlauf der Therapie immer klarer mit der weiblichen Geschlechterrolle identifiziert und sich nach und nach schließlich eine auch somatische Angleichung an die gefühlte Geschlechtszugehörigkeit wünscht. Dabei werden nicht nur die emotionalen Entwicklungen der betroffenen Person beschrieben, die Analytikerin berichtet auch offen und differenziert über die in ihr selbst ausgelösten Reaktionen, Gefühle und Ambivalenzen. In einem zweiten Abschnitt reflektiert sie die Thematik auf dem Hintergrund einschlägiger Fachliteratur zum Thema Transsexualität, bevor sie anhand von drei Szenen aus »The Danish Girl« die Gefühle der unmittelbar und mittelbar Betroffenen nachzeichnet. Der Film erzählt die wahre Geschichte des dänischen Künstlerehepaars Wegener – Einar Wegener unterzog sich 1930 als einer der ersten transsexuellen Menschen einer geschlechtsangleichenden Operation. Überzeugend plädiert Andrea Heyder angesichts der Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas sowie seiner emotionalen Brisanz für die Beachtung der Relativität theoretischer und subjektiver Perspektiven und für eine gewisse Deutungsdemut. Sie betont, dass gerade das Phänomen der Transsexualität deutlich vor Augen führen kann, wie individuell jede menschliche Entwicklung ist, wie stark Körpererleben, Spiegelung und Identitätsentwicklung ineinander verwoben sind und wie schnell Deutungen und Theorien der Abwehr eigener Ängste dienen können.
Unter der Überschrift »Wir sind wir und wen wir hassen« interpretiert Hermann Stöcker das Tagungsthema unter gruppendynamischen und gesellschaftlichen Aspekten. Er reflektiert insbesondere gemeinschaftliche Identitätsbildungsprozesse und untersucht dabei nicht nur positive Orientierungen und Motive – etwa: wie und wann sucht eine Gruppe ihre Identität im liebevollen Bezug zum Mitmenschen? –, er durchleuchtet auch negative Haltungen, mittels derer Einzelne oder Gruppen Identitätsbestandteile über aversive Emotionen ausbilden. Indem er so das Tagungsthema erweitert, fragt er zudem auch nach den Beweggründen eines Individuums, eines individuellen »Ichs«, und untersucht dynamische Prozesse im Rahmen sich bildender kollektiver »Wir«-Gefühle. Konkret zeichnet er am Beispiel populistisch ausgerichteter Gruppierungen wie der Partei »Alternative für Deutschland« (AFD) verschiedene, aktuell immer häufiger anzutreffende Positionen, Prozesse und Strategien nach, die an vorhandene Ängste und Unzufriedenheiten anknüpfen und versuchen, sie in Ressentiments, Hass und Gewaltbereitschaft zu verwandeln, um sie für die eigenen politischen Ziele nutzbar zu machen. Sein abschließender Appell »Wir müssen reden!« betont die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich einerseits verständnisvoll mit berechtigten Ängsten und Wünschen auseinanderzusetzen, andererseits eigene demokratische und humanistische Positionen in der Auseinandersetzung zu beziehen und immer wieder auf die Möglichkeiten gemeinschaftskompatibler und solidarischer Kommunikation und Kooperation hinzuweisen.
In ihrem Beitrag »Wenn männliche Identität und Sexualität zu scheitern drohen – das Therapiebeispiel eines jungen Mannes« gibt Hildegard Mergel-Hölz einen sehr differenzierten Einblick in die gemeinsamen Klärungs-, Veränderungs- und Heilungsbemühungen von Patient und Therapeutin im Laufe ihrer etwa vierjährigen Zusammenarbeit. Auf eine Besonderheit in der Darstellung des Therapieverlaufes sei hier hingewiesen: die Einbeziehung zahlreicher Träume des Patienten und die außerordentlich kreative Bebilderung dieser Träume durch die Autorin selbst. Man kann dies, die gesamte Therapie und auch die Form ihrer Darstellung als Ausdruck einer gelungenen Ko-Konstruktion betrachten, als eine freie und doch präzise Form der Erfassung dessen, was sich in dieser analytischen Psychotherapie im therapeutischen Feld intersubjektiv ereignet hat. Eine weitere Besonderheit ist, dass die Identitätsfindungssuche im Rahmen der beschriebenen adoleszenten Entwicklungsdynamik durch die Verschränkung von erotisch-libidinös-sexuellen Wünschen und Bedürfnissen mit teilweise aggressiven und destruktiven Impulsen bzw. Fantasien erschwert war. Auch hier zeigt sich, dass es bei Fragen der Bezogenheit keineswegs immer nur um Liebe, sondern – wie in diesem Fall – oftmals auch um Hass, Wut, Angst und andere, eher negativ konnotierte Gefühle geht. Da diese beim Patienten in engem Zusammenhang mit seinen Erfahrungen in der Ursprungsfamilie und somit auch mit den Eigenarten und Persönlichkeitsmerkmalen der Eltern stehen, erforscht die Autorin zusammen mit ihm ebenso Dynamiken in der Herkunftsfamilie und somit transgenerationale Perspektiven. Auch hier wird die innere, die Psychodynamik des jungen Mannes wie die therapeutische Beziehungsdynamik in theoretische Diskurse eingeordnet, die sich dabei hauptsächlich auf die Arbeiten von Laplanche, Quindeau, Ferenczi, Fairbairn und Hirsch beziehen.
Manfred Gehringer geht es in »Der Umgang mit der Liebe in der Psychoanalyse« um ein geradezu klassisches und doch immer wieder aktuelles Problemfeld. Er bezieht das Tagungsthema auf die eigene Profession und auch auf die eigene Person. Dabei gelingt es ihm, die wichtigsten Positionen namhafter Vertreter der analytischen Community sowie die Wandlungen in der Einschätzung der Bedeutung des Themas im Laufe der inzwischen mehr als hundertjährigen Geschichte der Psychoanalyse treffend darzustellen und gleichzeitig ganz konkret in sehr persönlicher, niemals aber unangemessen exhibitionistischer Weise über eigene Erfahrungen im Umgang mit Liebesgefühlen von Patientinnen ihm gegenüber wie auch von seinen eigenen Gefühlen zu berichten. Die gemessen an der Bedeutung des Themas in der psychoanalytischen Literatur eher seltenen und mageren Stellungnahmen zu diesem Thema bewertet er überwiegend kritisch, die Art, wie dieser wichtige Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen im Therapieausbildungsbetrieb repräsentiert ist, scheint ihm unangemessen dürftig und zudem viel zu vage. Von seinen Ausbildern und Supervisoren fühlte er sich unzureichend vorbereitet und begleitet, sodass er mit diesem Thema weitgehend allein dastand und zudem wenig überzeugende bzw. eher negative Vorbilder kennenlernte. In konkreten Verlaufsbeschreibungen aus drei unterschiedlichen analytischen Psychotherapien, in denen es um Liebes- und Verführungsangebote seiner Patientinnen und seine eigenen emotionalen Reaktionen darauf ging, wird sein jeweiliger Umgang mit dem Thema deutlich, aber auch sein eigener Entwicklungsprozess. Auf diese Weise gibt er einen spannenden Einblick in sein intersubjektiv geprägtes Verständnis des therapeutischen Geschehens und in den Prozess der Festigung seiner eigenen therapeutischen Identität.
Über die »Bedeutung des Jugendalters als Krise in der Identitätsentwicklung« berichtet Fabian J. Escher aus der Perspektive des empirischen Entwicklungsforschers. Er gibt zunächst einen Überblick über die entwicklungspsychologische Theoriebildung zum Thema, wobei er sich mit der Auffassung auseinandersetzt, dass das Jugendalter als regelhaft zu bewältigende Phase der normativen Identitätskrise anzusehen ist. Weiter weist er darauf hin, dass das Interesse der akademischen Forschung besonders auf die Frage ausgerichtet ist, welche Faktoren und Einflussgrößen die Identitätsfindung bzw. Herausbildung einer ausreichend stabilen und flexiblen eigenen Identität verzögern oder gar blockieren können. Mit den Methoden der empirischen Sozialwissenschaften erhobene Ergebnisse belegen, dass der kulturelle Hintergrund, die elterliche Erziehung, das Geschlecht, der Bildungsstatus und die allgemeine psychische Gesundheit der Heranwachsenden hier eine entscheidende Rolle spielen. Die Kenntnis der vorliegenden Forschungsergebnisse kann dabei nicht nur das Verständnis für die Situation Jugendlicher und junger Erwachsener erweitern, aus den Resultaten der entwicklungspsychologischen Forschung lassen sich auch Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit mit dieser Klientel ableiten. Hier ist die Bedeutung haltgebender Strukturen – in allgemeinen sozialen Kontexten wie auch in therapeutischen Beziehungsverhältnissen – zu betonen, Strukturen, die Adoleszente darin unterstützen können, drohende Identitätsdiffusionen und Destabilisierungen abzuwenden oder abzumildern, und die sie bei der Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgaben unterstützen können.
Einen ganz anderen Zugang zum Tagungsthema wählt Ulla M. Nitsch aus der Perspektive einer pädagogischen Wissenschaftlerin und Museumspädagogin. Sie beschäftigt sich mit Beziehungen, die Menschen zu Objekten, zu Sachen haben. Hier ist vorab zunächst daran zu erinnern, dass der Begriff des Objekts in der Alltagssprache und in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten ganz verschiedene Bedeutungen haben kann. Objekt kann etwas Dinglich-Materielles meinen, aber auch eine Person bezeichnen. In dem Satz: »Ich liebe dich!« bezeichnet das grammatikalische Objekt (»dich«) ja eine Person. Ebenso handeln die psychoanalytischen »Objektbeziehungstheorien« vom Verhältnis Neugeborener und Heranwachsender zu ihren relevanten Bezugspersonen. Die Objekte, mit denen sich Ulla M. Nitsch in ihrem Beitrag beschäftigt, sind – zumindest zunächst – vordergründig tatsächlich sichtbare, materielle Dinge, Gegenstände. Diese waren oder sind aber für Individuen emotional durchaus von großer, von besonderer Bedeutung. Diese Zusammenhänge sind bereits im Titel des Beitrags »Woran das Herz hängt – sieben Menschen und sieben Dinge« angedeutet. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sich ihre Ausführungen und Überlegungen nur mit dem Verhältnis von Individuen zu Dingen beschäftigen. Schnell aber ist festzustellen, dass die Autorin in ihrer museumspädagogischen Praxis immer wieder mit berührenden und besonders bedeutsamen zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen und Erinnerungen konfrontiert wird. Bei den Gegenständen, die sowohl weggegeben als auch aufbewahrt werden sollen, geht es immer um etwas, das helfen soll, Erinnerungen an einprägsame, kritische oder sogar traumatische Lebensereignisse sowohl zu bewahren als auch zu bewältigen, zu verarbeiten oder dadurch vielleicht sogar auch vergessen zu können. Es wird deutlich, dass sich die Frage nach dem eigenen Sein, der eigenen Existenz und dem bedeutsamen anderen gleichermaßen auf Personen wie auf Sachen beziehen kann – auf Dinge allerdings, die selbst immer auch emotional mit anderen Menschen verbunden sind, die also ihre Beziehungsqualität für ihre (ehemaligen) Besitzer quasi materiell in sich tragen und auch Außenstehende anrühren können.
Vera Kalusche und Roland Lambrecht behandeln entsprechend ihrer wissenschaftlichen Interessen und Qualifikationen hauptsächlich aus literaturwissenschaftlicher, historischer und philosophischer Perspektive die Frage, wie und seit wann Liebeslyrik und die Beschäftigung mit Liebesthemen Teil der menschlichen Kultur und als Ich-Erlebnisse thematisiert wurden. Der Beitragstitel »›Denn wie die Liebe dich krönt, so kreuzigt sie dich‹ – Ein psychologisch-historischer Streifzug zum Ich durch die Sprache der Liebe« deutet bereits darauf hin, dass der Autorin und dem Autor auf ihrer Reise durch die einschlägige Literatur auffallend häufig Schilderungen begegnet sind, die das enorme Spannungsfeld zwischen Beglückung und Qual im Zusammenhang mit Liebeserlebnissen beschreiben bzw. bejubeln oder bejammern. Erhebende und vernichtende Erfahrungen werden über Jahrhunderte hinweg immer wieder in allen Einzelheiten und Facetten festgehalten, was auch dafür spricht, dass diese Themen seit Urzeiten für Menschen existentiell sind. Dadurch, dass Vera Kalusche und Roland Lambrecht sich in ihrem Alltag nicht in erster Linie mit pädagogischen, klinischen und psychotherapeutischen Fragen beschäftigen, können sie das Tagungsthema durch ihre ganz eigenen Perspektiven erweitern und bereichern. Seit sich in der Literatur ein von Liebe betroffenes Subjekt ausmachen lässt, wird immer wieder die Ambivalenz der liebenden – und potentiell immer auch der hassenden – Menschen beschrieben, mitunter sogar eine sie in Todesnähe bringende innere Zerrissenheit. Liebe ist und bleibt aber ein letztlich geheimnisvolles, magisches Phänomen, das oft mit großer Unsicherheit, fast immer aber auch mit großer Kraft und Leidenschaft einhergeht und letztlich nie ganz zu begreifen ist. Was aber über Jahrhunderte immer wieder beschrieben wird, ist, dass Liebende sich nicht nur phasenweise dem Irdischen entrückt und wie im Himmel fühlen, sondern dass sie auch stets mit Ohnmachtserfahrungen zu kämpfen haben, die sie allzu häufig durch ein Streben nach Macht und Überlegenheit zu überwinden suchen. Allerdings gibt es auch, so führen die Autoren aus, die Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit diesen starken und turbulenten Gefühlen bedeutsame Erfahrungen zu machen und wichtige Entwicklungsschritte zu vollziehen.
Der vorletzte Artikel beschäftigt sich noch einmal mit einem klinischen, ebenfalls aber identitätsrelevanten Thema. Regine Kroschel begründet aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Perspektive wünschenswerte Haltungen im Umgang mit Menschen, die unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung leiden. Nachvollziehbar stellt sie fest, dass in der Arbeit mit betroffenen Patienten »Psychotherapie als Suche nach dem eigenen Ich« verstanden werden kann und muss. Sie legt dar, dass und warum es in den von ihr geschilderten Behandlungsverläufen immer wieder um grundsätzliche, existentielle Fragen ging. Eine Besonderheit in der therapeutischen Arbeit mit von Psychosen bedrohten Menschen sieht sie in der Notwendigkeit einer besonders klaren und eindeutigen, offenen, ehrlichen und kongruenten Kommunikation. An mehreren Fallbeispielen illustriert sie, dass gerade die uneindeutigen, oftmals paradoxen, auch die starren und rigiden Kommunikations- und Interaktionsformen in den Herkunftsfamilien ihrer Patientinnen und Patienten den Grundstein für deren Unfähigkeit gelegt haben, Metabotschaften angemessen wahrzunehmen und zu entschlüsseln. Engagiert plädiert sie außerdem dafür, dieser Patientengruppe mehr psychotherapeutische Angebote zu machen und dies auch im Indikationskatalog und bei der Ausgestaltung der Psychotherapierichtlinien besser zu berücksichtigen.
Es dürfte schon bis hier deutlich geworden sein, dass das »Wer bin ich und wen ich liebe« auf ganz unterschiedliche und vielfältige Weise betrachtet und erforscht werden kann. Sind für die individuelle Identitätsbildung zu Beginn des Lebens vor allem dyadische und triadische Beziehungen zu den primären Bezugspersonen wichtig, spielen später außerfamiliäre Kontakte eine zunehmend wichtige Rolle: frei gewählte Freundschaften, die Zugehörigkeit zu Peergruppen und besonders auch Liebesbeziehungen. Auch verpflichtend vorgegebene Gruppen wie Klassengemeinschaften haben großen Einfluss oder Menschen, mit denen man im Arbeits- und Berufsleben zu tun hat. In einen solchen Kontext kann der Beitrag von Pit Wahl und Günter Heisterkamp eingeordnet werden, der sich im Rahmen eines inzwischen festen Tagungsformats bewegt, das sich der Würdigung von Personen widmet, die in unterschiedlichen Funktionen die Geschicke der analytischen Fachgesellschaft DGIP mitgestaltet haben. Die hier beachtete Entwicklung Einzelner oder einer Gruppe kann für die gewürdigte(n) Person(en) ein Baustein der eigenen Identität sein, ist aber auch Teil der Identitätsbildung der Institution. Unter der Überschrift »Menschen in der DGIP – Performance und Gespräch über Widersprüche und Wechselfälle des Lebens« skizzieren die beiden Beteiligten Leben und Werk von Günter Heisterkamp und nutzen in diesem Zusammenhang das Märchen von »Hans im Glück« gleichzeitig als prototypische Parabel, die Wesentliches zum Verständnis des Gegenstands der Psychologie, der Individualpsychologie und eines individuellen Lebens beitragen kann.
Den Teilnehmenden an der Düsseldorfer Jahrestagung der DGIP 2017 wünsche ich mit dieser Zusammenstellung eine gute »Nachlese« und all denen, die sich vom Thema dieser Publikation angesprochen und herausgefordert fühlen, vielfältige Anregungen und Impulse für die eigene pädagogische, psychotherapeutische und psychoanalytische Arbeit.
Pit Wahl
Brigitte Eibl und Stefan Lehmann
»Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten« – Georg Kreisler in Texten und Liedern
Zusammenfassung
Jugend in Wien, nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland Flucht, erste Jahre in Hollywood, erste Ehe, Kriegszeit in der US-Army, Geheimdienstausbildung, Army-Entertainer, Überlebenskampf als Künstler in New York, zweite Ehe, Engagement in der »Monkey Bar«, Rückkehr nach Wien, Kabarettist in der »Marietta Bar«, endlich Barbara.
Der Beitrag schildert wesentliche Lebensstationen und Identitätsverwicklungen des österreichisch-amerikanischen Kabarettisten Georg Kreisler und illustriert sie anhand seiner Lieder.
Das Thema der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie »Wer bin ich und wen ich liebe« könnte auch eine Überschrift über das lange Leben Georg Kreislers sein. Er selbst formuliert es 1973 im Titel eines seiner Bücher so: »Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten«.
Prolog
Empfindsamkeit und Melancholie verwandelt Georg Kreisler scharfzüngig und zuweilen auf wunderbar bösartige Weise in bizarre Poesie, in seinen Liedern begegnet uns ein schwarzer, tiefsinniger, durchaus giftiger Humor, eine grandiose Musikalität und eine gallenbittere satirische Kraft.
So spottet er in einem Lied1 über Psychoanalytiker (Kreisler, 1997/2006) und lässt uns nachdenklich schmunzelnd in den Spiegel schauen:
My Psychoanalyst is an Idiot (Original 1947)
Jarvis, scratch my back again and pour another Rye!
If things continue on like this, I’m surely going to die.
Business is falling off, you know, and prices getting horrider,
I hardly have sufficient funds to pay for a short stay in Florida.
And after all, a bank account can only pay your way.
But nonetheless, with all my woes I’d still be toujours gai
and forget about the troubles that I have ad infinitum.
Ah, I could stand it all, if it were not for one small item:
My psychoanalyst is an idiot. The fellow has no feelings for my woes.
He asks about my childhood days and certain of my childhood ways,
but why I’m so distressed, he never knows.
My psychoanalyst is an idiot, who never fails to get me all upset.
He makes me count from one to ten and then from ten to one again.
Then feels my nose, to see if it is wet.
There’s one thing that I must admit regarding this affair:
Analysis has taught me things I never knew were there.
I struggle now with concepts that some genius invented.
Neurosis and psychosis have me morbid and demented.
I’m serious, delirious, I’m almost schizophrenic,
I’m notional, emotional and highly neurasthenic.
My libido gets torpedoed every hour and at length.
More perversions than the Persians’ keep on eating at my strength.
I enjoy a paranoia that is simply homicidal.
Self-expression and aggression just refuse to leave me idle.
I sit back at my haunches, while he tears at my subconscious.
And he combs my super-ego, while I watch another fee go.
He slams my ideology with never an apology
and psychoanalytically he handles me quite critically.
He dresses me, undresses me and measures my reactions,
he badgers me unnaturally and tears my soul to fractions.
He feels my head, he slaps my face, he hits me on the knee,
he gives me tests, he draws my blood, than wants another fee.
He pulls my ears, he tears my hair, he throws me on a bed,
he pokes my ribs, he taps my chest and stands me on my head.
And when he’s through investigating, depredating, irrigating,
desecrating, contemplating, irritating, estimating,
lacerating, iterating, mediating, meditating, aggravating, enervating,
overrating, underrating, and when he’s got me fluidized
and alkalized and brutalized and victimized and analyzed
and oversized and undersized and ionized and mechanized
and totally demoralized
and when he’s almost murdered me in manner quite informal,
he rubs his forehead thoughtfully and says: I think you’re normal.
Mein Psychiater ist ein Idiot (Rohübersetzung)
Jarvis, kratz mir den Rücken und gieß mir noch einen Whisky ein!
Wenn die Dinge so weitergehen, wird es mein Tod sein.
Die Geschäfte werden schwächer und die Preise werden immer schrecklicher.
Ich habe kaum genügend Mittel, um den Winter in Florida zu verbringen.
Was nützt schließlich ein Bankkonto? Man zahlt die Rechnungen, das ist alles.
Aber trotz all dieser Sorgen, wäre ich noch immer guter Laune.
Ich würde alle meine Sorgen sofort vergessen,
alles gerne ertragen, wenn da nicht eine kleine Sache wäre:
Mein Psychiater ist ein Idiot. Der Mann hat kein Gefühl für meine Leiden.
Er fragt mich über meine Kindheit aus und was ich in meiner Kindheit getan habe,
aber warum ich so unglücklich bin, weiß er nicht.
Mein Psychiater ist ein Idiot. Er beunruhigt mich immer wieder.
Er lässt mich von eins bis zehn zählen und dann zurück von zehn bis eins,
dann schaut er nach, ob meine Nase feucht ist.
Eines muss ich zugeben, was diese Angelegenheit betrifft:
Die Analyse hat mir Dinge gezeigt, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt.
Ich kämpfe jetzt mit Ideen, die irgendein Genie erfunden hat.
Neurosen und Psychosen machen mich ganz krank und irr.
Ich bin ernst, bin rasend, bin beinahe schizophren,
habe Grillen, kriege Gefühle, bin hochgradig neurasthenisch,
meine Lüste werden jede Stunde und immer wieder torpediert,
persische Perversitäten verzehren meine Kräfte.
Ich genieße eine Psychose, die Mordgelüste hervorruft.
Selbstverwirklichung und Aggressionen lassen mich kaum in Ruhe.
Ich sitze still auf meinen Hinterbacken,
während er an meinem Unterbewußtsein zerrt.
Dann kämmt er mein Über-Ich durch, was wieder extra kostet.
Er haut meine Ideologien durcheinander, ohne sich zu entschuldigen,
und psychoanalytisch gesprochen, ist er ausgesprochen kritisch zu mir,
er zieht mich an, zieht mich aus, misst meine Reaktionen,
setzt mich widernatürlichen Belästigungen aus
und zerreißt meine Seele in kleine Stücke.
Er befühlt meinen Kopf, schlägt mir ins Gesicht, stößt mich aufs Knie,
gibt mir Testaufgaben, nimmt mir Blut ab, verlangt ein weiteres Honorar.
Er zieht mich an den Ohren, reist mich an den Haaren, wirft mich auf ein Bett,
pufft mich in die Rippen, klopft meine Brust ab und lässt mich kopfstehen.
Und wenn er fertig ist mit der Untersuchung, der Plünderung, der Bewässerung,
der Entweihung, der Überlegung, der Irritierung, der Abschätzung,
der Zerfleischung, der Wiederholung, der Vermittlung, der Meditierung,
der Verschlimmerung, der Entnervung, der Überschätzung, der Unterschätzung,
und wenn er mich verflüssigt, alkalisiert und brutalisiert
und drangsaliert und analysiert und vergröbert und verkleinert
und ionisiert und mechanisiert und total entmutigt
und mich auf ganz legere Weise abgemurkst hat,
reibt er nachdenklich seine Stirne und sagt:
Ich glaube, Sie sind ganz normal.
Wer aber ist Georg Kreisler?Georg Kreisler gibt es gar nicht!
Georg Kreisler und seine Eltern werden von den Nazihorden im März 1938 aus ihrer Heimatstadt Wien vertrieben, weil sie Juden sind. Seither ist er unterwegs: von Wien nach Los Angeles, von Los Angeles nach New York, von New York nach Wien, nach München, wieder zurück nach Wien, nach Berlin, nach Salzburg, nach Basel und noch einmal nach Salzburg. »Zu Hause bin ich nur in der deutschen Sprache«, hat er einmal gesagt (Kreisler, zit. nach Wessely, 2012, DVD 03:26–03:31).
Sein Freund, der Kritiker Hans Weigl, meint, wenn ihm eines Tages erzählt würde, Georg Kreisler gäbe es gar nicht, wir hätten ihn nur geträumt, dann würde er sich nicht wundern, sondern sagen: »Dacht ich’s doch!« (Weigl, zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 182).
Dieses »Gibt es gar nicht« zieht sich wie ein roter Faden durch Georg Kreislers künstlerisches Leben: Zensierte Platten, eifrige Rundfunkleute, die aufpassen, dass es den bissigen, scharfen, politisch bösen Kreisler im Radio erst einmal nicht gibt. Sein Buch »Die alten bösen Lieder« (Kreisler, 1989), in dem er mit denen abrechnet, die ihm in den 1950er Jahren das Leben schwer gemacht haben, fällt (angeblich?) einem Wasserschaden zum Opfer. Man findet es nur noch manchmal in Antiquariaten, so wie die meisten anderen Bücher Kreislers vergriffen sind. Theaterstücke Georg Kreislers gibt es kaum auf deutschsprachigen Bühnen, seine erste Oper wurde nur einmal inszeniert: Ein unbequemer Zeitgeist, ein Unruhestifter und genauer Beobachter, der möglichst unter der Decke gehalten wird.
Ein berühmtes Lied
Einige Hundert Lieder schreibt Georg Kreisler im Laufe seines Lebens. Mit einem Lied aber ist er in den 1950er Jahren berühmt geworden (Kreisler, 2005, S. 24 f.):
Taubenvergiften
Schatz, das Wetter ist wunderschön!
Da leid ich’s nicht länger zu Haus.
Heute muss man ins Grüne gehen,
in den bunten Frühling hinaus.
Jeder Bursch und sein Mäderl
mit einem Fresspaketerl,
sitzen heute im grünen Klee.
Schatz, ich hab eine Idee:
Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau,
gehen wir Taubenvergiften im Park!
Die Bäume sind grün, und der Himmel ist blau,
gehen wir Taubenvergiften im Park!
Wir sitzen zusamm’ in der Laube,
und ein jeder vergiftet a Taube.
Der Frühling, der dringt bis ins innerste Mark
beim Taubenvergiften im Park.
Schatz, geh, bring das Arsen g’schwind her,
das tut sich am besten bewähren.
Streu’s auf ein Grahambrot kreuz über quer,
und nimm’s Scherzel, das fressens’ so gern.
Erst verjagen wir die Spatzen,
denn die tun einem alles verpatzen.
So ein Spatz ist zu g’schwind, der frisst’s Gift auf im Nu,
und das arme Tauberl schaut zu.
Ja, der Frühling, der Frühling, der Frühling ist hier,
gehen wir Taubenvergiften im Park!
Kann’s geben im Leben ein größeres Pläsir
als das Taubenvergiften im Park?
Der Hansl geht gern mit der Mali,
denn die Mali, die zahlt’s Zyankali.
Die Herzen sind schwach, und die Liebe ist stark
Beim Taubenvergiften im Park.
Nimm für uns was zu naschen –
in der anderen Taschen!
Gehen wir Taubenvergiften im Park!
Georg Kreisler (zit. nach Wessely, 2012, DVD 06:30–06:46) selbst hasste dieses Lied später: »Ich verstehe nicht, wie man ein Lied über das Tauben-vergiften im Kopf behalten kann und mich noch nach fünfzig Jahren damit identifiziert. Damals gab es eine Taubenplage in Wien und es war jeden Tag in der Zeitung, dass man die vergiften sollte. Aus dieser Tatsache heraus ist das Lied entstanden.«
Er schreibt schließlich (2009, S. 51) in seiner Autobiografie hierzu: »Im Lied vom Taubenvergiften im Park wird von mir das Töten von harmlosen Tieren zu einer heiteren Walzermelodie als nicht nur nützlicher, sondern auch vergnüglicher Zeitvertreib beschrieben. Das Lied löste, 1956, bei manchen Leuten Entsetzen aus, seine Verbreitung durch Rundfunk und Fernsehen wurde verboten, es war also alles andere als harmlos, ja, man könnte es fast als eine Verniedlichung von Auschwitz betrachten, wo das Töten von Menschen als nützlich und vergnüglich begriffen wurde. Die Tauben, wie die Menschen, wurden nur vergiftet, weil sie lästig waren. Sie dienten nicht als Nahrung oder sonst einem Zweck, sie störten einfach, es waren ihrer zu viele, man wollte mit ihnen nichts zu tun haben, also tötete man sie und warf sie weg. Um Missverständnissen vorzubeugen: In meinem Lied wurde das Tauben-vergiften nicht empfohlen, sondern angeprangert. Man lacht darüber, weil es nicht stimmte, kein Mensch fand Vergnügen daran, die Tiere zu vergiften. Man lachte über die Übertreibung, die Verzerrung, das Taubenvergiften fand zwar statt, aber nicht so, wie es in dem Lied beschrieben wurde.«
Warum wurde dieses Lied im Österreichischen Rundfunk über mehrere Jahre hinweg nicht gespielt? Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse (zit. nach Wessely, 2012, DVD 06:20–06:30, 07:20–07:37) versucht, die Hintergründe für das Sendeverbot so zu beschreiben: »Das muss man sich mal vorstellen, in den 1950er Jahren kommt der mit so einem Lied. Es ist gerade mal zehn Jahre her, da wurden gerade die KZs geschlossen und in denen wurde vergiftet, in großem Stil und keine Tauben. […] Man hat es schon so verstanden, man muss es so verstanden haben, da kommt der Judenbengel zurück – das ist ja auch dieser speak der damals daheimgebliebenen Antisemiten: ›die haben es fein gehabt, während uns hier die Bomben auf den Kopf gefallen sind‹ – und dann kommt der zurück und schreibt noch freche Lieder. Das geht nicht!«
Jugend im unheimlichen, im antisemitischen Wien
Am 18. Juli 1922, vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wird Georg Kreisler in Wien geboren, mitten hinein in eine Zeit der Inflation und Not. Die Eltern sind assimilierte Juden, Religion spielt zu Hause kaum eine Rolle. Vater Sigfried, ein nüchterner Mensch, wäre eigentlich gerne Richter geworden. Seine Gewissenhaftigkeit und Korrektheit wird bei Gericht sehr geschätzt. Doch er bemerkt, dass er als Jude immer nur ein Beamter zweiter Wahl wäre, der spürbar langsamer befördert würde als seine nichtjüdischen Kollegen. Schweren Herzens verlässt er den Staatsdienst und macht sich als Rechtsanwalt selbstständig. Mutter Hilda ist elf Jahre jünger als er, eine sehr attraktive Frau mit vollem, hellblonden Haar, großen Augen und einer großen Liebe zur Musik. Sie hat die Handelsschule absolviert, hilft, »natürlich« unentgeltlich, im väterlichen Betrieb mit, bis sie heiratet. Zu Hause erhält sie Französisch- und Klavierunterricht.
Die dreiköpfige Familie wohnt zur Miete im VII. Bezirk, einer bürgerlichen bis gutbürgerlichen Wohngegend, in der Neustiftgasse 119, im vierten Stock. Hier gehört man zum »besseren« Teil der zu diesem Zeitpunkt stark geschrumpften Bevölkerung Österreichs. Die überwiegende Anzahl der zweihunderttausend jüdischen Einwohner Wiens wohnt in der Leopoldstadt im II. Bezirk, jenseits des Donaukanals, zusammengepfercht in engsten Wohnverhältnissen. Dort gibt es jüdische Geschäfte, Theater und Caféhäuser. Aber wer etwas auf sich hält, sich assimiliert hat und nicht weiter auffallen will, wohnt in anderen Bezirken.
Georg Kreisler (zit. nach Wessely, 2012, DVD 08:16–08:45) dazu: »Das Wien meiner Kindheit war mir so rätselhaft wie das Prag von Franz Kafka. Düstere Gassen, die im Nichts enden, rätselhafte mächtige Beamte, die alles Leben zermalmen. Die ganze Stadt ein jüdischer Friedhof, auf dem der Golem die Verirrten in die Gräber legt. Es war eine Welt voller Geheimnisse, voller Figuren, vor denen man Angst hatte und die man nicht erklären konnte. Mich überforderte das.«
Zu den beunruhigenden Erfahrungen seiner frühen Kindheit gehört für Georg auch der in Wien allgegenwärtige Antisemitismus. In seinen Erinnerungen klingt das so (Kreisler, zit. nach Wessely, 2012, DVD 08:53–09:17): »Als Jude war man am besten überhaupt nicht sichtbar. Das hatte ich früh gelernt. Ich erinnere mich genau daran, ich muss vielleicht fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, dass sich meine Mutter einmal zu mir hinuntergebeugt hat und mir gesagt hat: Schrei nicht so laut, wir sind Juden! Als Kind habe ich das noch nicht verstanden, aber ich hab irgendwie gespürt, Jude zu sein, das war etwas Ungutes.«
Musste da im kleinen Georg nicht ein Bild entstehen, die Welt sei ein Ort voll seltsamer Geheimnisse und Gefahren, an dem man keine Freunde hat, ein Ort, an dem man sich selten wohlfühlt und von dem man sich nur zu gerne fortträumt?
Mutter Hilda setzt sich dafür ein, dass Georg Klavierunterricht erhält. Vater Siegfried (zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 19) ist strikt dagegen und meint: »Von Phantasie kann man nicht leben, man endet in einem Untermietzimmer voller Wanzen.« Er hat also wenig Vertrauen in die Lebenschancen von Künstlern und ist gegen alles Künstlerische. Aber in diesem Punkt setzt sich die Mutter, die das Talent ihres Sohnes erkennt, vehement durch.
Georg muss ein strenges, rigide überwachtes Pensum an Hausaufgaben und Klavierübungen absolvieren. Er wird von seinen Eltern nicht gelobt, sondern viel kritisiert. Georg begegnet vor allem seinem Vater mit Vorsicht und Respekt.
In seiner Biografie erzählt er (Kreisler, zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 42): »Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, erhielt ich Klavierunterricht und es wurde angeordnet, dass es mir Spaß zu machen hatte. Da meine Eltern selbst auch Hobbypianisten waren, meinten sie beurteilen zu können, wie ihr Herr Sohn Klavier spielt, und dann behaupteten sie, sie hätten drei Patzer gehört, meistens waren es nur zwei, das ärgerte mich fürchterlich. Nicht, dass sie es besser konnten als ich, die beiden spielten grauenvoll Klavier, aber kritisieren konnten sie besser als ich. Es war also sehr viel Druck auf mir. Meine Eltern waren sehr ehrgeizig für mich, wie das jüdische Eltern so an sich haben, weil sie wollen, dass ihre Kinder etwas erreichen und geachtet werden, damit sie nicht soviel Antisemitismus erleben. Das hat alles seine Gründe.«
An den Wochenenden wird die Verwandtschaft besucht. Die verwandtschaftlichen Bande werden nicht nur aus Tradition gepflegt. In einer großen Familie lassen sich immer auch gut Geschäfte einfädeln.
Auch außerhalb der Familie verkehren die Kreislers mit Juden, im Wien der 1920er Jahre ist das Normalität, eine Selbstverständlichkeit, auch unter denen, die kaum religiös leben.
Umso erstaunter ist Georg, in der Volksschule Zielscheibe von antisemitischen Beschimpfungen zu werden. Ein Antisemitismus, der die Angriffe auf die jüdischen Schüler als Lausbubenstreiche bagatellisiert. Es gibt einige Mitschüler, die nach dem Ende des Unterrichtes immer wieder auf Kreisler und seinen Freund Ludwig Edelstein warten, um sie zu verprügeln.
»Erst einmal Fortlaufen« wird für Georg zu einem Grundmuster, das in jener Zeit geprägt wird. Sich zu wehren, wird er erst später lernen: »Wenn ich das Gefühl gehabt habe, dass mir ein Unrecht geschieht, dann bin ich weggegangen und habe gesagt: Schluss. Mit dir habe ich nichts mehr zu tun. Und habe mich dann erst gewehrt« (Kreisler, zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 36).
Es bringt für jüdische Schüler auch nichts, sich bei Lehrern zu beklagen, und: »Beim Vater auf Unterstützung zu hoffen ist ebenfalls vergebens; ängstlich schärft er dem Sohn immer wieder ein, wie vorsichtig, lerneifrig, höflich, dienstbeflissen und nicht zu fröhlich man als Jude sein muss, um die ›große‹ Zeit und ihre Ausschreitungen zu überleben« (Fink und Seufert, 2005, S. 36).
Auch im Bundesrealgymnasium in der Kandlgasse 39 entspannt sich die Lage für Georg nicht. Ein Lichtblick ist der Klavierunterricht im Neuen Konservatorium der Stadt Wien bei Hilde Stern. Die lobt, bestärkt, ermutigt ihn. Sie wird er zeitlebens hierfür in guter Erinnerung behalten. Beglückende Gefühle von Freiheit erlebt Georg in Theatervorstellungen oder wenn er die Oper besucht.
In den 1960er Jahren wird Georg Kreisler in einer im Auftrag des NDR geschaffenen Liederserie, die er »Nichtarische Arien« nennt, alltägliche Lebensprobleme der jüdischen Bevölkerung Wiens beschreiben. Es sind Lieder, die aus dem fast ausgerotteten jüdischen Kulturkreis erzählen. Gerade die »Nichtarischen Arien« spiegeln wie kaum etwas anderes Kreislers verwundete Seele wider. Ein Lied (Kreisler, 2005, S. 238 f.), das den Ehrgeiz jüdischer Eltern für ihre Kinder beschreibt, aber auch eine bissig-bittere Satire auf das Soldatsein ist, hat den Titel »Der General«:
Der General
Der Vater ist Vertreter und ein ehrenwerter Mann,
die Mutter eine Dame, wie man selten finden kann.
Der Sohn hätt drum nach Wissen und Gewissen
ein anständiges Jüngel werden müssen.
Doch Gottes Wege sind einmal verworren und diskret.
Obwohl der Sohn studierte auf der Universität,
hat er – wer hätte damals das gedacht? –
den Eltern nix wie Schimpf und Schande eingebracht.
Sie schleichen durch die Stadt und schauen niemand ins Gesicht.
Der mißgeratene Sohn ist nämlich – wissen Sie noch nicht?
Der arme Mensch ist General.
Es ist wahrhaftig ein Skandal.
Er hätte wirklich – und dafür wird er noch brennen –
auf seine Mutter etwas Rücksicht nehmen können.
Er geht umher und tut sich groß
mit einem Streifen auf der Hos’.
Die Mutter weint die Augen blind.
Er spielt Soldat, als wär er noch ein kleines Kind,
macht Leuten angst und schlägt Krawall,
damit man merken soll, er ist ein General.
Sie haben noch drei Töchter, und die machen ihnen Ehr’.
Die erste ist verheiratet, ich glaub, mit ein’ Chauffeur.
Die zweite ist sogar mit einem Doktor,
der wird sie einmal heiraten – so sogt er.
Die dritte ist noch ledig, und sie lässt sich etwas Zeit.
Man sagt, sie wird es schwer haben, weil sie kennt zu viele Leut’.
Doch muss man dabei einräumen dem Kind,
dass es zumindest bei der Sache gut verdient.
Und nur der eine Sohn hat sich so fürchterlich verirrt.
Für ihn ist es nur wichtig, dass man schön im Takt marschiert.
Links, zwei, drei, vier, fünf –
No ja, er ist ein General,
da ist der Schaden schon total.
Er näht sich Borten an den Rock und kleine Sterne,
denn wenn die anderen salutieren, das hat er gerne.
Er schläft bei Nacht in einem Zelt,
und wenn er träumt, ist er ein Held.
Dann wacht er auf und kriegt ein’ Zorn,
statt einem Wecker, kommt ein Goj mit einem Horn!
No, sagen Sie selbst, ist das normal?
Aus dem wird nie etwas, der bleibt ein General.
Am 12. März 1938 überschreitet die deutsche Wehrmacht die Grenze zu Österreich. Schon am Tag nach dem Einmarsch hängen Hakenkreuzfahnen bis zu zehn Meter Länge an den Häuserfronten. Sehr viele Leute tragen Hakenkreuzabzeichen in den Knopflöchern – bis auf die Juden, die man daher sofort erkennen kann. Der »Anschluss« ist ein überwältigendes Volksfest – nicht so sehr deutsch-national, denn man denkt eher an ein nationalsozialistisches, aber unabhängiges Österreich. Man feiert also ein patriotisch-österreichisches Fest, und das ist dann, vor allem in Wien, ein antisemitisches Fest. Georg Kreislers Kindheit ist damit zu Ende.
Über Nacht bricht sich in Wien ein offener Antisemitismus Bahn. In aller Öffentlichkeit beginnt ein Wettlauf darin, Juden zu demütigen, zusammenzuschlagen, zu enteignen, zu vertreiben.
Georg und seine jüdischen Mitschüler werden aufgefordert, nach der »10-Uhr-Pause« die Schule zu verlassen, um ab sofort in die Judenschule in der Grasgasse 5 zu gehen. Nach zwei bangen langen Schulstunden gehen sie ein letztes Mal durch das Schultor. Davor haben ihre Mitschüler ein Spalier gebildet, in dem die Ausgestoßenen geschmäht und geschlagen werden: »Ich hatte Glück und kam ohne größere Blessuren hinaus« (Kreisler, zit. nach Fink u. Seufert, S. 63).
Georg Kreislers Verhältnis zu Wien ist dadurch geprägt, dass man ihn von da vertrieben hat. Das Gefühl von Vertrieben-Sein, Unsicherheit und einer Welt, die sicher zu sein scheint, aber in Wirklichkeit höchst gefährlich und geprägt von Aggression und Bösartigkeit ist, das wird in gewisser Weise sein Weltbild überhaupt.
Seine spätere Frau Barbara Kreisler-Peters (zit. nach Wessely, 2012, DVD 08:53–09:17) erzählt: »Ich weiß nur, dass er dieses Trauma der Vertreibung und der Emigration nie losgeworden ist. Das ist bis zum Schluss, bis zu seinem letzten Tag da gewesen, und er hat immer das Bedürfnis gehabt, darüber zu reden. Es gibt kein Buch, was er nicht gekauft hat über den Holocaust und Antisemitismus, es gibt keinen Film, keinen Fernsehfilm, den er nicht angeschaut hat. Das war ein ewiges Bedürfnis, das wieder aufzuarbeiten, aber er hat es nicht geschafft, es aufzuarbeiten, es war immer eine ganz große Empfindlichkeit.«
Georg Kreislers Erfahrungen hatten sich also zu einem Trauma entwickelt, das er nie ganz überwinden konnte. Die hiermit in Verbindung stehende große Empfindlichkeit drückte er auf seine ganz eigene Art in folgenden Zeilen aus (Kreisler, 2005, S. 164 f.):
Wien ohne Wiener
Wien is a schöne Stadt, das weiß alle Welt.
Aber wissen Sie, was mir ganz besonders g’fällt?
Weder der Stephansturm noch der Johann Strauß,
nicht a Wiener G’schpusi, schon gar nicht die Musi,
nein, was ich am liebsten hab – ich sag’s grad heraus:
Die Messer! Die Messer!
Die G’schäften san ganz voll damit, in jeder Zahl, aus Edelstahl
und aus der Monarchie.
Zum Schnitzen, zum Schlitzen,
wohin man schaut, auf Schritt und Tritt,
für’n Pudel, für’n Strudel und für die Chirurgie.
Wer Wien liebt,
und das tun doch heut die meisten Leut,
der denkt bei so viel Messer
gleich an diese Möglichkeit:
Wie schön wäre Wien ohne Wiener!
So schön wie a schlafende Frau!
Die Ringstraße wär noch viel grüner,
und die Donau wär endlich so blau.
Wie schön wäre Wien ohne Wiener!
Ein Gewinn für den Fremdenverkehr!
Die Autos ständen stumm,
das Riesenrad fallert um,
und die lauschigen Gasserln wären leer,
in Grinzing wär a Ruh
und’s Burgtheater zu,
es wär herrlich, wie schön Wien dann wär.
Keine Baustellen, keine Schrammeln
und im Fernsehen kein Programm,
nur die Vogerln und die Pferderln
und de Hunderln und die Bam.
Und wer durch dies Paradies muß,
findet später als Legat
statt des Antisemitismus
nur ein Antiquariat.
Weder Krankheit noch Genesung,
weder Fürst noch Parlament!
Wär für Wien nicht diese Lösung
das perfekte Happy End?
Und der Wein wächst ungetrunken,
und die Geigen werden geschont,
und der Mond wirft seine Funken
tief im Prater auf die Unken,
und die Unken schauen versunken in den Mond.
Wie schön wär mein Wien ohne Wiener!
Wie ein Hauch, der im All balanciert.
Vielleicht gibt’s wo a fesche Angina,
die ein Wohltäter herimportiert.
Wie schön wäre Wien ohne Wiener!
Nur einmal möcht ich es so sehen.
Und schreite ich sodann
den Kahlenberg hinan
und bleib oben voll Seligkeit stehen,
und seh dann aus der Fern
mein liebes leeres Wean,
werde ich sagen: Sehn S’, jetzt is da schön.
Hollywood, die Erste
Am 21. Oktober 1938 gehen die Kreislers ins Exil. Mit einem Zug überqueren sie gemeinsam die Grenze zwischen Österreich und Italien. In Genua besteigen sie den Frachter Cellina, die Schiffspassage ist bis nach Los Angeles bezahlt. Bargeld haben sie keines, die nationalsozialistische Enteignungsmaschine hat sie um ihr gesamtes Vermögen gebracht – ihr zuzustimmen war die Voraussetzung, überhaupt Pässe und Visa beantragen zu können.
Vor den Nationalsozialisten gerettet werden die Kreislers von Georgs Cousin Walter Reisch. Er übernimmt die Bürgschaft für die gesamte Familie, pflegt einen sehr familiären herzlichen Umgang mit ihnen, verbringt viel Zeit mit ihnen, lädt sie regelmäßig zum Essen ein, hilft ein Haus in Los Angeles zu finden und unterstützt die Familie, so gut er kann. Walter Reisch ist 20 Jahre älter als Georg. Er war schon vor 1938 nach Amerika ausgewandert und hat sich als Drehbuchautor etabliert.
Georg Kreisler (zit. nach Wessey, 2012, DVD 15:49–16:16) erzählt über seine ersten Eindrücke in Amerika: »Es war ein Schlüsselerlebnis, mit sechzehn Jahren nach Hollywood zu kommen und zu merken, dass die Welt auch anders aussehen kann als im düsteren Wien. Kalifornien war ein Kulturschock für mich. Supermärkte, Drugstores, Autostaus und an den Straßen wuchsen Avocado- und Orangenbäume. Jeder durfte sich die Früchte pflücken und essen. Ich war aus der Hölle ins Paradies gekommen.«
Und doch sind die ersten Jahre der Kreislers geprägt von wirtschaftlicher Not: »In Hollywood auf der Flucht vor Hitler pflegten wir Verkehr mit anderen Flüchtlingen und alle sagten dasselbe, sie waren der Hölle entkommen und beklagten sich über das Paradies, fühlten sich zurecht unsicher und beurteilten einander nach der Höhe des Einkommens. Mein Cousin Walter Reisch verdiente tausend Dollar wöchentlich und war daher ein besserer Mensch als der Drehbuchautor Billy Wilder, der nur hundert Dollar in der Woche verdiente. Wer gar nichts verdiente, wurde nicht erwähnt. Der Boden unter den Füßen war verschwunden« (Kreisler, zit. nach Wessely, 2012, DVD 17:15–17:47).
Der Vater von Georg kann als Rechtsanwalt in Amerika nicht arbeiten. Er macht eine Umschulung zum Steuerberater, zwischendurch klingelt er an Haustüren und versucht, selbsthergestellte Kosmetika zu verkaufen.
Georg muss mitverdienen. Er gibt Klavierunterricht und arbeitet als Pianist für Gesangsschüler. In dieser Zeit emanzipiert er sich von seinen Eltern. Die Eltern sehen machtlos zu und protestieren nachts leise in ihrem Schlafzimmer. Immerhin gibt Georg sein gesamtes Geld noch zu Hause ab.
Im Herbst 1940 verändert sich die Atmosphäre zu Hause dramatisch: Georgs Mutter erkrankt an Krebs. Sie ist gerade einmal fünfundvierzig Jahre alt. Sein trauriges zu Hause wird noch trauriger. Bei den unerschwinglich hohen Behandlungskosten unterstützt sie erneut Cousin Walter Reisch.
Georg Kreisler stellt sich mit einem Empfehlungsschreiben von Artur Guttmann2 bei Arnold Schönberg vor. Der empfängt ihn freundlich, stellt ihm ein paar musikalische Testfragen und ist dann bereit, ihn in seine Kompositionsklasse aufzunehmen. Schönberg befürchtet Schwierigkeiten vonseiten des Rektorats, da Kreisler kein Abiturzeugnis und kein Abschlussdiplom der High School vorweisen kann. Er schreibt an das »Office of the Registrar« der Universität einen sehr wohlwollenden Brief. Der Rektor amüsiert sich über die Naivität des Herrn Professors – »Natürlich« gehe das nicht! Georg Kreisler ist also auch diese Möglichkeit verbaut.
So kann er seinem tiefen Wunsch, Komponist zu werden, nicht verwirklichen, kann seine große Liebe zur Oper und zur ernsten Musik auf diesem Weg erst einmal nicht weiterentwickeln. Er muss halt Geld verdienen. Das verbittert ihn.