Wer vom Teufel spricht - Rose Wilding - E-Book

Wer vom Teufel spricht E-Book

Rose Wilding

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie sind alle seine Opfer – doch eine von ihnen ist auch seine Mörderin … Ein mitreißender Thriller um Manipulation, Betrug, Gewalt und toxische Beziehungen Sieben Frauen starren am Silvesterabend 1999 in einem heruntergekommenen Hotel auf den abgetrennten Kopf von Jamie Spellman. Alle sieben haben ihn gekannt, alle beteuern ihre Unschuld – und alle hatten einen mehr als guten Grund, Jamie zu ermorden: seine betrogene Ehefrau; die Teenagerin, die von ihm schwanger ist; die beiden Ex-Geliebten; seine beste Freundin, die er nur ausgenutzt hat; die Frau, die er zu Uni-Zeiten vergewaltigt hat; und selbst die Tante, die ihn großgezogen hat. Detective Nova Stokoe weiß nichts von den Frauen, als sie die Ermittlungen aufnimmt. Doch auf einem Überwachungsvideo erkennt sie ihre ehemalige Geliebte Kaysha … Das hochspannende Debüt aus England!  "Lange habe ich kein so gutes und einnehmendes Debüts gelesen. Eine schlauer, komplexer Roman!" Autorin Kate Rhodes

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 477

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rose Wilding

Wer vom Teufel spricht

Thriller

Aus dem Englischen von Noa Sinowski

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sieben Frauen starren am Silvesterabend 1999 in einem heruntergekommenen Hotel auf den abgetrennten Kopf von Jamie Spellman. Alle sieben haben ihn gekannt, alle beteuern ihre Unschuld – und alle hatten einen mehr als guten Grund, Jamie zu ermorden: seine betrogene Ehefrau; die Teenagerin, die von ihm schwanger ist; die beiden Ex-Geliebten; seine beste Freundin, die er nur ausgenutzt hat; die Frau, die er zu Uni-Zeiten vergewaltigt hat; und selbst die Tante, die ihn großgezogen hat.

Detective Nova Stokoe weiß nichts von den Frauen, als sie die Ermittlungen aufnimmt. Doch auf einem Überwachungsvideo erkennt sie ihre ehemalige Geliebte Kaysha …

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorbemerkung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Danksagung

Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch ist [...]

In Liebe all jenen gewidmet, die lebend durchgekommen sind,und denen, die es nicht sind.

Vorbemerkung

Im Zentrum von Wer vom Teufel spricht steht eine Gruppe brillanter Frauen mit all ihren Fehlern. Der Roman handelt von der Schwierigkeit, Gerechtigkeit zu finden in einer Gesellschaft, die meist die Ohren verschließt, wenn wir unsere Geschichten erzählen. Er beruht auf dem, was in der Welt um uns herum passiert – Erfahrungen mir bekannter Frauen, Nachrichten, meinem eigenen Leben –, und ist darum stellenweise sehr düster. Im Anhang findet sich eine Liste von Adressen für Betroffene.

 

Ich habe diesen Roman geschrieben, weil ich – in mir drin, verborgen hinter meinem Lächeln – stinkwütend bin.

1

31. Dezember 1999

Schon Stunden vor der Jahrtausendwende knallen und explodieren Raketen im dunklen Himmel über der Stadt, und Maureen sieht ihnen ein, zwei Sekunden zu, ehe sie das Fenster aufdrückt und die Vorhänge zuzieht. Sarah hat bereits die Kerzen angezündet und reicht ihr eine, als sie sich wieder setzt.

Flackerndes Kerzenlicht beleuchtet acht geisterhafte Gesichter mit tief eingesunkenen Augen. Sieben Frauen sitzen in einem Halbkreis, einer Art Altar in der Mitte des Raumes zugewandt. Alle schauen ihn an, einige nur kurz und heimlich, andere gebannt, als könnten sie den Blick nicht abwenden. Nur eine von ihnen wusste, dass er hier sein würde; den Übrigen graut unterschiedlich stark bei seinem Anblick. Selbst die eine, die ihn hergebracht hat, gruselt sich, vielleicht noch mehr als die anderen.

Eine Frau namens Ana erhebt sich und kniet vor ihm nieder. Sie hat seit Jahren nicht mehr gebetet, das letzte Mal kurz nach ihrer Ankunft aus Brasilien, trotzdem strömen die Worte, auch wenn sie über dem Partylärm von unten kaum zu hören sind, in schnellem, geschmeidigem Portugiesisch nur so aus ihr heraus, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. Sarah zündet sich an ihrer Kerze eine Zigarette an.

»Bisschen spät, wenn du mich fragst«, sagt sie zu Ana, bekommt aber keine Antwort. Sarah lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, schlägt die Beine übereinander und sieht nacheinander die anderen Frauen an, doch keine erwidert ihren Blick.

Kaysha Jackson – die Journalistin – springt plötzlich von ihrem Stuhl auf und verschwindet nach nebenan auf die Toilette, aus der kurz darauf ein Würgen und Platschen zu hören ist. Ein paar Minuten später kommt sie bleich und mit Flecken von Erbrochenem auf dem Pullover zurück. Sarah nimmt ihre Hand, und sie verschränken die Finger, braune Haut mit weißer Haut, die im sepiagetönten Halbdunkel kaum zu unterscheiden sind.

Josie, die Jüngste unter ihnen und außerdem schwanger, beginnt zu weinen. Ihr blasses Gesicht ist fleckig und verquollen.

»Wo ist der Rest von ihm?«, fragt sie mit brüchiger Stimme.

»Wissen wir nicht, Schätzchen.« Maureen beugt sich vor und legt ihr die Hand auf den Arm.

»Eine von uns weiß es sehr wohl.« Sarah schnippt ihren Zigarettenstummel auf den Boden und drückt ihn mit dem Stiefel in den Teppich. Wieder sieht sie ihn an, sieht ihm in die Augen. Es ist lange her, seit sie ihn zuletzt gesehen hat, und noch länger, seit sie mit ihm zusammen in diesem Zimmer war. Sein Aussehen hat sich verändert, und ihre Gefühle haben es auch. Damals liebte sie ihn.

Sein Haar ist länger als damals, sie stehen ihm buchstäblich zu Berge, als hätte ihn jemand daran hergezerrt. Gut möglich, dass es genauso war. Er sieht dünner aus als damals, seine Nase ist eingedrückt und gebrochen, und die untere Hälfte seines Gesichts ist mit verkrustetem Blut beschmiert. Sie stellt sich vor, wie es ihm aus dem Mund geschossen ist, vielleicht in jenem Moment, als er eine letzte witzige Bemerkung zu machen versuchte. Zu ihrer Zeit war er grundsätzlich glatt rasiert gewesen, jetzt hat er einen kurzen Bart, der dicht um Mund und Kinn steht, an der Kehle ausdünnt und abrupt dort aufhört, wo es der Hals auch tut.

Der Rest von ihm fehlt.

 

Die Frauen befinden sich in einem billigen Hotel am Stadtrand, in einer Suite im obersten Stock, einstmals einem der besten Zimmer im Haus, das inzwischen aber nur noch als Lagerkammer für kaputtes Inventar dient. Unter dem Fenster lösen sich Kartons mit längst vergessenen Fundsachen in ihre Bestandteile auf, und an einer Wand lehnt eine zusammengesackte Matratze.

»Bekennt sich jemand schuldig?«, fragt Sarah.

Niemand antwortet ihr.

»Wir waren noch nicht bereit«, fährt sie fort.

»Bereit?«, fragt Kaysha. »Wir hatten noch nicht mal einen Beschluss gefasst.«

»Bei so was hätte ich auf keinen Fall zugestimmt«, faucht Olive, eine Weiße in ihren Fünfzigern. Sie hat graues, zu einem Bob geschnittenes Haar, das sie alle paar Minuten glatt streicht und hinter die Ohren hakt. Sie bekreuzigt sich mit den Fingerspitzen und schließt kurz die Augen.

»Wissen wir, Olive«, sagt Sarah. Sarah ist Mitte zwanzig und ungewöhnlich blass unter ihrem wilden, schweren schwarzen Haarschopf. Ihren Hals ziert ein Tattoo, eine Rose, und sie trägt eine Lederjacke. Sarah spricht mit dem hiesigen Akzent, aber er klingt bei ihr weniger natürlich als bei den anderen, die Vokale sind weniger flach, so als würde sie ihre Herkunft verleugnen wollen.

»Also, ich glaube, wir haben alle jemand Bestimmten unter Verdacht«, sagt Olive, den Blick fest auf Sarah gerichtet.

»Immerhin hast du es vorgeschlagen«, sagt Maureen zu Sarah und tupft sich mit einem Taschentuch die feuchten Augen.

»Ich weiß, was ich vorgeschlagen habe«, sagt Sarah. Sie zieht einen Flachmann aus ihrem Stiefel und nimmt einen Schluck.

Olive nickt zu Sarahs Flachmann hin. »Wahrscheinlich warst du betrunken, als du es getan hast. Vielleicht erinnerst du dich nicht mal.«

Sarah öffnet den Mund, um ihr etwas zu entgegnen.

»Aufhören«, kommt Sadia ihr zuvor. »Streit können wir jetzt wirklich nicht brauchen. Wir hatten Glück, dass keine früher gekommen ist.«

Als die Frauen vor fünfzehn Minuten eingetroffen waren, hatten sie den Kopf mit einem Kopfkissenbezug vorgefunden. Alle hatten sich auf ihre üblichen Plätze gesetzt, alle hatten stirnrunzelnd auf den improvisierten Altar in der Mitte des Raumes gestarrt. Keine hatte etwas gesagt, bis Josie nach einer Weile gefragt hatte, was unter dem Kissenbezug sei. Als keine geantwortet hatte, war Sarah aufgestanden und hatte mit ausgreifender Geste und einem Augenrollen den Bezug nach oben gezogen, wobei ihre Augen noch größer wurden, als sie sah, was sich darunter verborgen hatte. Ein paar unter den Frauen hatten aufgeschrien.

»Das kannst nur du gewesen sein«, fährt Sadia fort und nickt dabei zu Kaysha hin. Sadia hält ein Babyfon in der Hand und trommelt mit den Fingern auf das Plastik, maskiert ihr Entsetzen mit Ärger und Ungeduld. Sadia hat tiefbraune Haut und ein ebenmäßiges Gesicht, weiße Zähne und lange Wimpern. In einem anderen Leben hätte sie ein Model oder ein Filmstar sein können, nicht die Witwe eines toten Wissenschaftlers. »Schließlich hast du das alles arrangiert. Du hast als Einzige alle unsere Handynummern.«

»Mir ist klar, wie das aussehen muss«, sagt Kaysha. »Aber ich war es nicht.«

Früher am Abend hatten alle Frauen eine Nachricht von einer unbekannten Nummer zugeschickt bekommen: Treffen am üblichen Ort, 19 Uhr. Ein Notfall. Kayshas Nachrichten lasen sich ganz ähnlich, allerdings hat sie noch nie ein Notfalltreffen einberufen.

»Woher hätte irgendwer unsere Handynummern haben sollen? Irgendjemand muss über uns Bescheid wissen«, sagt Maureen. Sie fächelt sich mit einer Broschüre aus ihrer Handtasche Luft zu.

»Du hast behauptet, unsere Infos wären bei dir sicher.« Sadia sieht Kaysha an, die die Stirn runzelt.

»Das sind sie auch, schau her.« Kaysha zieht einen Reißverschluss innen in ihrer Jacke auf und tastet in der Tasche nach dem Zettel, auf dem sie vor Monaten alle Nummern notiert hatte. Der Zettel ist nicht mehr da, und sie kann ihr Erschrecken nicht verbergen. Sie sieht Sarah an, mit der sie zusammenlebt. Sarah zuckt mit den Achseln.

»Du hast sie verloren?«, fragt Olive.

Ana bekreuzigt sich, immer noch auf den Knien, und steht dann auf. Sie ist groß und mit ihren dunklen Haaren und der goldbraunen Haut eine klassische Schönheit.

»Telefonnummern lassen sich auf verschiedene Weise herausfinden«, sagt sie und lässt sich neben Sadia in einen Sessel sinken.

Ein paar Minuten schweigen alle. Das Babyfon knistert.

»Ich kann nicht glauben, dass du die Kleine mitgebracht hast«, sagt Sarah zu Sadia und leert ihren Flachmann, bevor sie ihn wieder in den Stiefelschaft schiebt. Sie zündet sich die nächste Zigarette an.

»Ich hatte ja keine Ahnung, was mich hier erwartet.«

»Wo ist sie?«

»Nebenan. Sie war seit vier Uhr früh wach, sie wird also eine Weile schlafen.«

»Du bist vielleicht eine Mutter.«

»Fang nicht damit an, Sarah«, mischt sich Kaysha ein. Sie ist Anfang dreißig, sieht aber jünger aus, und trägt einen schwarzen Anzug. Ihr Blick huscht gehetzt durch den Raum, als wollte sie auf keinen Fall noch einmal den Kopf ansehen.

»Können wir ihn bitte wieder zudecken?« Josie hält den Blick gesenkt. Über ihren runden Bauch spannt sich ein Paillettenkleid, und der Glitter auf ihren Wangen funkelt im Kerzenschein. Sie wollte gerade mit ein paar Freundinnen feiern gehen, als sie die Nachricht bekam.

Sarah hebt den Kissenbezug vom Boden auf und streift ihn wieder über den Kopf. Der Kopf wird zwar nicht komplett abgedeckt, aber Sarah stellt sicher, dass er wenigstens von Josies Platz aus nicht zu sehen ist. Als sie sich wieder setzt, starrt sie ein Auge durch ein Loch im Stoff an.

»Ist noch jemand der Meinung, dass wir allmählich die Polizei rufen sollten?«, fragt Olive mit energisch vorgerecktem Kinn und sieht reihum die anderen an. Ein samtweiches Flüstern geht bei dem Wort Polizei durch den Raum.

»Wenn du wirklich die Cops rufen wolltest, hättest du das längst getan«, sagt Sarah.

»Ich finde auch, dass wir sie rufen sollten«, sagt Maureen. Eine Schweißperle kullert unter ihrem Haar hervor, an ihrer Schläfe entlang und über ihre Wange bis unter das weiche Kinn.

»Damit wir wegen gemeinschaftlichen Mordes verhaftet werden?«, fragt Sarah. »Ein Superplan, Aye.«

Kaysha massiert sich mit den Fingerspitzen die Stirn. »Wir können das hinbiegen, wir müssen nur geschickt vorgehen.«

»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, fragt Sarah.

»Zuerst einmal die da aufheben«, sagt Ana und deutet auf die Zigarettenstummel zu Sarahs Füßen. »Das sind Spuren.«

»Wie in aller Welt sollte jemand die zu mir zurückverfolgen?«

»Wir dürfen einfach kein Risiko eingehen«, erklärt Ana. »Zuerst einmal brauchen wir Bleichmittel.«

2

Kaysha31. Dezember 1999

Sarah Smiths Haus liegt weit außerhalb, noch hinter den Vorstädten und Vororten und Dörfern, ganz allein draußen im Nirgendwo. Wenn sich dort die Dunkelheit herabsenkt, tut sie es eilig und radikal, und dann klebt sie wie schwarzer Sirup an den Gräsern und Bäumen, um dem Mond Platz zu machen. Er steht wie eine strahlende Sichel am Himmel, als Kaysha den Wagen in den letzten Minuten des alten Jahrtausends vor der Haustür zum Stehen bringt.

Sie bleiben lange im Auto sitzen und schauen hinauf zu den Sternen. Sarah zeichnet mit der Fingerspitze Sternbilder an den beschlagenen Teil der Windschutzscheibe. Kaysha folgt dem Fingernagel ihrer Freundin und denkt dabei an das Blut, das darunter klebt.

»Es erscheint fast belanglos, wenn du bedenkst, wie groß das Universum ist, oder?«, fragt Sarah.

»Nein«, widerspricht Kaysha.

»Was meinst du, wer es war?«, fragt Sarah. Kaysha sieht sie vielsagend an, und Sarah legt den Kopf schief. »Ich war’s nicht.«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Ich wette, es war die Ehefrau. Es ist immer die Ehefrau.«

»Vielleicht«, sagt Kaysha. Sadia hätte guten Grund gehabt, ihn umzubringen, aber den hatten sie alle.

»Was wird aus der Kleinen, wenn sie es wirklich war?«, fragt Sarah.

Kaysha streckt stumm die Hand aus und drückt Sarahs Arm. Sarah schaut wieder hinauf zu den Sternen.

»Hoffentlich war es nicht Sadia«, sagt Sarah leise, dann zieht sie die Stiefel aus und verschwindet im Haus. Ein paar Minuten später kommt sie mit einer Flasche Whisky und einer Decke zurück, und sie ziehen sich beide aus. Sie häufen ihre Sachen auf den Rost eines Grills, der seit ihrer ersten gemeinsamen Woche neben der Haustür steht und immer noch mit verbranntem Fett verklebt ist. Er rostet schon. Sarah gießt einen Teil des Whiskys über die bleichefleckigen Kleider und zündet sie an. Die Frauen kuscheln sich unter der Decke aneinander, Haut an Haut, und wechseln sich mit der Whiskyflasche ab, während die Flammen ihre Hände wärmen. Die kalte Nacht betäubt sie, und das ist ihnen nur recht.

Am Horizont steigen Raketen auf, und Kayshas Handy läutet. Ihre Mutter wünscht ihr ein schönes neues Jahr; sie hört Kaysha an, dass etwas nicht stimmt, obwohl Kaysha sich alle Mühe gibt, fröhlich zu klingen. Kaysha verspricht ihr, dass sie ihr beim nächsten Treffen alles erklären wird, dann verabschiedet sie sich, und Sarah und sie gehen ins Haus, wo Sarah weitertrinkt und Kaysha den zeitlichen Ablauf auszuarbeiten beginnt.

3

3. Januar 2000Nova

Es ist Montag, aber die Stadt ist bei Sonnenaufgang noch still. Die Erwachsenen mummeln sich in ihre schweren Decken und genießen ein letztes Mal Ausschlafen in den Weihnachtsferien, während die Kinder zum Frühstück die Dosen mit den Süßigkeiten leeren. Das Licht gähnt sich blass wie Pfirsichhaut in den Himmel, und der Fluss spiegelt es in gelbroten Wellen, die gegen die schlammigen Ufer lecken. Die sechs berühmten Brücken sind erleuchtet, jede einzelne, und ihre schärfer werdenden Schatten recken sich über das Wasser. Der glitzernde Nachtfrost schmilzt langsam auf den Gasbetonsteinen und auf den verlassenen Kränen der Baustellen am Kai, wo alles für die Aufrichtung der siebten Brücke vorbereitet wird.

Detective Inspector Nova Stokoe wurde durch einen Anruf wegen eines Leichenfunds aus dem Schlaf gerissen und steuert nun, eine halbe Stunde später, ihren Ford Escort auf einen Parkplatz nahe den Docks. Das dreistöckige Backsteingebäude aus den Sechzigern wirkt wie ein Fremdkörper zwischen den Lagerhäusern, die rundum in die Höhe gewachsen sind. Grasbüschel bohren sich durch die Risse im Asphalt, und leere Blumenkübel hängen an dem Wintergarten vor der Hausfront. Auf einem verblichenen Schild steht Towneley Arms Hotel.

Zwei Streifenwagen und ein Mannschaftswagen des CSI-Teams stehen schon auf dem Parkplatz, darum wirft Nova noch einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Um ihr Kinn ringeln sich die roten, noch nach der Nacht zerwühlten Locken, und sie versucht sie ein paar Sekunden lang in Form zu bringen, bevor sie sich geschlagen gibt. Ihre Sommersprossen heben sich deutlicher als üblich von der blassen Haut ab. Sie hat den Abend in einem der Keller-Pubs abseits der Hauptstraße verbracht, war erst um vier Uhr zu Hause und hätte heute Morgen eindeutig noch nicht fahren dürfen. Sie schluckt zwei Paracetamol, um dem Kater vorzubeugen, und steigt aus.

Während sie auf das Hotel zugeht, klappert ein Mann mit einem Servierwagen voller Kartons über den Parkplatz. Er grinst, und ein Goldzahn blitzt in der Sonne auf.

»Wollen Sie hier rein?«, fragt sie und hält ihm die Tür auf.

Er zwinkert ihr im Vorbeigehen zu, begrüßt einen alten Mann an der Rezeption mit einem »Morgen« und verschwindet durch einen Bogen am anderen Ende des Raumes, ohne die Antwort abzuwarten. Nova lässt an der Rezeption ihre Marke aufblitzen, doch der Mann dahinter ist damit beschäftigt, seinen Kaffee mit Whisky aufzufüllen. Seine Hände zittern.

»Ganz oben, Mädel«, sagt er schließlich mit schwerem Dialekt und nickt nach rechts zu einer Treppe hin. »Oberster Stock. Aber Achtung, ist kein schöner Anblick nich.«

»Hab ’nen Magen aus Stahl, Mann«, erklärt Nova ihm und geht nach oben. Der oberste Stock ist mit Polizeiband abgesperrt.

PC Ella McDonald steht neben einer offenen Tür, den Hut in der Hand und mit einem Gesichtsausdruck, der Nova nur zu vertraut ist.

»Tausend Dank, dass du mich gestern Abend versetzt hast«, sagt Ella leise, aber nicht leise genug. Nova blickt über Ellas Schulter.

»Hast du schon die Angestellten befragt?«

»Warst du mit wem unterwegs?«

»Was ist mit den Gästen? Irgendwelche Aussagen von denen?«

»Bitch!«, flüstert Ella. Sie schiebt sich an Nova vorbei, die ihr nachsieht, zu müde, um ein schlechtes Gewissen zu haben.

Quer über den Korridor liegen Weihnachtsbaumkugeln verstreut, und Nova schiebt ein paar davon mit dem Schuh beiseite, bevor sie das Zimmer betritt. Drei weiße Overalls sind damit beschäftigt, Fingerabdrücke zu nehmen. Ein Scheinwerfer erhellt ihren Arbeitsbereich. Auf einem Tisch steht der Kopf eines Mannes, der restliche Körper ist nirgendwo zu sehen. Im Zimmer stinkt es nach Bleiche und Verwesung, und sie drückt einen Finger unter ihre Nasenlöcher, ehe sie näher tritt.

»Wurde der Leichnam schon weggebracht?«, fragt sie einen der Kriminaltechniker und sieht sich gleichzeitig nach einer Kreidesilhouette um.

»Sieht nicht so aus, als wäre er je hier gewesen.« Er zuckt mit den Achseln.

Der Kopf balanciert auf einem aufgeschlagenen Buch auf mehreren Hotelbibeln, die auf einem Nachttisch in der Zimmermitte aufgestapelt wurden. Flüssigkeit ist aus dem Hals in das Papier gesickert, sodass Nova nur ein paar Worte am Seitenrand entziffern kann, aber Nova erkennt an dem braunen Ledereinband, dass es ebenfalls eine Bibel ist.

»Können Sie die Seitenzahl notieren, wenn Sie den Kopf wegnehmen?«

»Aye, ich schreib’s in den Bericht«, sagt er. »Ich hab aber schon einen Blick drauf geworfen, und ich glaub … wo es aufgeschlagen ist und nach den paar Worten, die ich lesen konnte, müsste es die Seite mit Levitikus 2:19 sein.«

Nova zieht die Schultern hoch, und der Kriminaltechniker schmunzelt.

»Sie war’n nicht auf der katholischen Schule, wie?« Es ist eigentlich keine Frage, trotzdem schüttelt sie den Kopf. »Die Stelle kennen Sie trotzdem. Levitikus 2:19 ist die mit Auge um Auge. Ich werd’s überprüfen, wenn Sie den Kopf wegnehmen, aber ich bin mir ziemlich sicher. Mein Dad hatte früher eine Schwäche für die Stelle.«

»Rache«, sagt sie. Das mit der Seite könnte auch Zufall sein, aber es erscheint ihr unwahrscheinlich. Es sieht nach einem Rachemord aus. Sie fragt sich, womit er so etwas verdient hat.

»Würde ich auch vermuten«, sagt der Kriminaltechniker.

»Du bist ein echt hässlicher Vogel, was?«, sagt sie zu dem Kopf und beugt sich vor. Sie hat schon stärker verweste Leichen gesehen, aber keine so interessante wie die hier. Der Mund steht leicht offen, und in der Mundhöhle kringeln sich Maden. Aus den Augenhöhlen und Nasenlöchern tritt brauner Schaum, aber abgesehen davon ist die Haut grau, als wäre jegliche Farbe daraus gesickert. Er hat keine auffälligen Merkmale – weiße Hautfarbe, männlich, dunkelblondes Haar, kurzer Bart, keine Tätowierungen, keine Narben. Nicht einmal ein Ohrloch. Die Nase scheint gebrochen, aber abgesehen davon wirkt es nicht so, als wäre er vor dem Tod verprügelt worden. Sie geht in die Hocke und inspiziert den Hals. Vertrocknete, zersetzte Fleischfasern erstrecken sich auf die Buchseiten. Definitiv nicht mit einem sauberen Hieb abgetrennt. »Was meinen Sie, wie lange er hier schon liegt?«

Der Kriminaltechniker zuckt mit den Achseln. »Schwer zu sagen. Das Fenster stand offen, und es war kalt, das hat wahrscheinlich alles ein bisschen verlangsamt. Achtundvierzig Stunden, wenn ich schätzen müsste.«

»Mmh. Einen Führerschein hatte er nicht dabei, nehme ich an?«

Der Kriminaltechniker schnaubt. »Wo hätte er den denn haben sollen? In seiner Nase?«

»Dann werde ich wohl auf den Gebissabdruck warten müssen.«

Nova tritt zurück und betrachtet die Wand hinter dem Kopf. Der Tatortfotograf lichtet gerade ein großes, rundes Siegel ab, das jemand auf die Tapete geschmiert hat. Es hat gut fünfzig Zentimeter Durchmesser und stellt eine zusammengerollte Schlange dar, die von kruden Symbolen umgeben ist. Nova hängt schon seit Wochen in dem Kult-Fall fest, eine Strafmaßnahme ihrer Vorgesetzten nach der Sache mit den Frauen in Gosforth. Das Siegel taucht neuerdings überall in der Region auf, mal in einer Seitenstraße im Stadtzentrum, mal an einem Reihenhaus auf dem Land, regelmäßig begleitet von einer blutigen Opfergabe. Gewöhnlich ist es ein gestohlenes Nutztier – eine Ziege oder ein Huhn –, aber erst neulich war auch eine Schlange dabei.

Kurz vor Weihnachten hatte Nova einen Tipp bekommen und war daraufhin auf das Penshaw Monument gestiegen – die Antwort Nordenglands auf die Athener Akropolis –, wo jemand das Siegel auf die Pflastersteine geschmiert hatte. Wie üblich standen rundum die geschmolzenen Überreste mehrerer Kerzen, aber die Schlange im Zentrum des Siegels war irritierenderweise echt. Jemand hatte den Kadaver einer burmesischen Python – wie sie später erfuhr – zusammengerollt und die Runen um sie herum mit dem Blut der Schlange gezeichnet.

Nova tritt näher an das Siegel. Sie hat es während ihrer Ermittlungen eingehend studiert und erkennt auf den ersten Blick, dass das hier nicht authentisch ist. Eine billige Imitation, die nicht mit Blut, sondern mit blauer Farbe ausgeführt wurde. Sie ist nicht schlecht gemacht, gut genug, um einen durchschnittlichen Betrachter irrezuführen, offensichtlich sogar die Polizisten, die das Zeichen wiedererkannt haben, aber nicht Nova. Die Runen sind bedeutungsloses Gekritzel, und die Schlange blickt in die falsche Richtung. Dies ist das Werk von jemandem, der das Siegel irgendwann in der Zeitung oder an einer Straßenecke gesehen und es aus dem Gedächtnis nachgezeichnet hat. Ein Versuch, die Ermittlungen in die falsche Richtung zu lenken.

Nova fragt sich, wer dem Kult wohl einen Mord in die Schuhe schieben will: womöglich ein konkurrierender Kult oder eine Gang. Vielleicht auch ein Auftragskiller mit Hang zur Dramatik. So oder so hat Nova nicht die Absicht, irgendwem zu verraten, dass das Siegel nicht authentisch ist, denn dieser Mordfall ist schon jetzt unvergleichlich interessanter als ein paar geopferte Nutztiere; das hier könnte ihre Chance sein, sich mit der DCI gut zu stellen.

 

Als Nora wieder hinuntergeht, hockt der alte Mann immer noch hinter seiner Rezeption, Kaffee trinkend und über einem Kreuzworträtsel brütend. Er sieht sie über die Brille hinweg an.

»Alles in Ordnung, Mädel?«, fragt er und klemmt den Stift hinters Ohr.

»Hat schon jemand Ihre Aussage aufgenommen?«

»Aye, erst vor fünf Minuten. Grad ist meine bessere Hälfte drin.«

»Haben Sie den Kopf gefunden?«

»Nee, ich nich.« Er lacht kurz. »Das war Jeffa, unser Barmann. Gary Jeffries. Wollt’ den Weihnachtsbaum nach oben bringen, oder was weiß ich. Hab den Schrei bis hier gehört.«

»Wo ist Mr Jeffries jetzt?«

»Hab ihn mit einer Flasche Sherry in die Küche gesetzt. Schreckhaftes Seelchen, unser Gary«, sagt er und deutet auf den Bogen am anderen Ende des Raumes. Darüber steht auf einem Schild Aufenthaltsraum/Speisesaal. »Da durch und dann durch die silberne Tür, Mädel.«

»Danke. Kann ich eine Kopie der Gästeliste von den letzten zwei Wochen bekommen?«

»Aye, kein Ding«, sagt er. »Aber im Büro nehmen sie gerade die Aussagen auf, drum kann ich erst später rein.«

»Perfekt«, sagt Nova und macht sich auf den Weg zur Küche. Eine Handvoll Gäste sitzt verstreut im Speisesaal und unterhält sich gedämpft.

»Verzeihung«, sagt ein Mann, als Nova auf die Küche zusteuert. Er schnippt mit den Fingern. »Arbeiten Sie hier? Wann gibt es endlich Frühstück?«

Nova ignoriert ihn und verschwindet durch die silberne Doppeltür. Mit siebzehn wurde sie aus einem italienischen Restaurant hier in der Stadt gefeuert, nachdem sie einem Gast einen Teller Carbonara über den Kopf gekippt hatte, weil er sie mit einem Fingerschnippen an den Tisch beordert hatte. Als wäre sie ein Hund.

Ein großer, dünner Mann sitzt auf einem Barhocker an einer stählernen Kochinsel, die fast die ganze Küche einnimmt. Drum herum stehen Kühlschränke und Regale voller Plastikbehälter mit verschiedenen Zutaten. Der Mann sieht sie aus geröteten Augen an, als sie hereinkommt. Seine Finger sind fest um eine Flasche Sherry geschlossen. Er hickst.

»Heute Morgen fällt das Frühstück aus, Liebes«, sagt er.

Nova zeigt ihm ihre Marke. »Mr Jeffries? Ich bin Detective Inspector Nova Stokoe«, sagt sie. »Wie fühlen Sie sich?«

»Ahhh«, antwortet er mit bebenden Lippen. Tränen rollen ihm über die Wangen, und er deckt sein Gesicht ab.

Nova sieht sich nach einem Wasserkocher um. »Kann ich Ihnen einen Tee machen?«

»Geht schon, Liebes«, sagt er und gießt einen Schuss Sherry in die Blumenmustertasse vor ihm. Tränen hängen bebend an seinen Wimpern.

»Wann haben Sie die Überreste entdeckt, Mr Jeffries?«

Gary schnieft. »Da war’s noch dunkel. Zu dunkel, um irgendwas zu erkennen, jedenfalls zuerst. Da drin gibt’s kein Licht.«

Nova wartet ab, ob noch mehr kommt.

»Aber es hat ziemlich gestunken, als ich die Tür aufgemacht hab! Ohne diesen Gestank wär ich wahrscheinlich direkt in ihn reingelaufen. Übel. Ich hab im ersten Moment gedacht, da ist ein Vogel reingeflogen und krepiert. Eigentlich geht nie jemand da hoch. Und ich wollte auf keinen Fall reintreten. In den toten Vogel. Also hab ich mich umgedreht, die Tür festgeklemmt und das Licht im Gang angemacht«, sagt er. Er atmet tief aus, ehe er weiterspricht. »Und dann hab ich ihn gesehen. Und losgebrüllt.«

»Eine ganz normale Reaktion«, sagt Nova. »Haben Sie das Zimmer betreten?«

»Einen Scheiß hab ich«, sagt er mit einem Schnauben, aus dem ein Schluchzen wird. Er wischt sich über die Augen. »Ich hab die Tür wieder zugemacht und bin runtergerannt.«

»Ist Ihnen in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Er schüttelt den Kopf, zieht die Mundwinkel nach unten. »Glaub nicht. Nichts, was hängen geblieben wäre.«

»Keine zweifelhaften Gäste?«

»Wir haben keine anderen, Detective.«

»Gut, Mr Jeffries. Danke für Ihre Zeit.« Nova steht auf, zieht ihre Jacke gerade und gibt ihm ihre Visitenkarte. »Melden Sie sich, falls Ihnen noch irgendwas einfällt.«

Gerade als sie die Tür öffnen will, sagt er noch etwas: »Ich habe tatsächlich eine Frau bemerkt, die sich, keine Ahnung, merkwürdig benommen hat. Ums Hotel rumgeschlichen ist.«

»Was für eine Frau?«

Die Küchentür schwingt auf, und der Unsympath aus dem Speisesaal platzt mit rot angelaufenem Gesicht herein.

»Wo bleibt das Frühstück, Herrgott noch mal?«, schnauzt er Nova an.

»Wie Sie bestimmt bereits gemerkt haben, Sir, wird hier in einem Gewaltverbrechen ermittelt. Die Polizei ist gerade dabei, die Angestellten und Gäste zu befragen, darum bitten wir um Ihre Geduld und Ihre Kooperation«, antwortet Nova ruhig.

»Also, es ist doch nicht zu viel verlangt, ein paar Frühstücksflocken rauszustellen, oder?«, poltert er. »Wie heißen Sie?«

Nova zieht lächelnd ihre Marke aus der Tasche. »Detective Inspector Nova Stokoe.«

Der Mann erbleicht und schnalzt kurz mit der Zunge, bevor er in den Speisesaal verschwindet. Nova wendet sich wieder Gary zu, der blind auf die Tür starrt.

»Was wollten Sie mir gerade über diese Frau erzählen?«, fragt sie.

Er blinzelt und schüttelt den Kopf. »Weiß ich nicht mehr.«

»Gerade haben Sie es noch gewusst.«

»Es ist mir einfach entfallen – ich weiß wirklich nicht mehr, was ich gerade sagen wollte.«

Nova runzelt die Stirn. »Ich komme mit Sicherheit noch mal her. Falls Ihnen irgendwas einfällt, schreiben Sie es auf.«

 

Zu dem alten Mann hinter der Empfangstheke hat sich eine grauhaarige Frau gesellt, vermutlich seine Ehefrau. Ihr dünner Pony klebt an ihrer verschwitzten Stirn, und zwischen ihren nikotingelben Fingerspitzen qualmt eine Zigarette.

Die Frau händigt Nova ein paar fotokopierte Seiten aus. »Das Gästebuch, Liebes.«

»Danke. Gibt es hier irgendwo Überwachungskameras?«, fragt Nova und sieht sich gleichzeitig in der Lobby um, die genauso heruntergekommen wirkt wie das restliche Gebäude.

Die Frau schüttelt den Kopf. »Nein. So vornehm sind wir nicht. Was soll hier schon geklaut werden?«

»Vielleicht sollten Sie sich überlegen, welche anzuschaffen.«

»Tja, ich schätze, das werden wir wohl müssen«, sagt sie.

 

Als Nova wieder ins Freie tritt, ist die Sonne endgültig aufgegangen. Sie muss sich auch draußen umsehen, und ihr ist klar, dass bald die Presse auftauchen wird, also muss sie sich beeilen. Sie geht um das Gebäude herum, wo es einen zweiten, kleinen Parkplatz gibt, der von der Straße nicht einzusehen ist. Hier stehen mehr Autos als vorne. Das Towneley Arms ist die Art von Hotel, in das Geschäftsleute mit ihren Geliebten gehen; und die möchten nicht, dass ihre Autos gesehen werden. Sie fragt sich, ob der Alte die Zimmer unter der Hand auch stundenweise vermietet – in dem Fall stünden sowieso nicht alle Namen auf der Gästeliste. Sie braucht Aufnahmen aus einer Überwachungskamera.

Ansonsten gibt es auf der Rückseite wenig mehr als eine Brandschutztür und eine vermooste, mit Vorhängeschloss gesicherte Kellerluke zu sehen, darum kehrt Nova zur Vorderfront zurück und nimmt die umliegenden Gebäude in Augenschein. Direkt gegenüber dem Hotel befindet sich ein Gebrauchtwagenhandel mit zahlreichen klobigen Kameras, aber die sind ausschließlich auf die Verkaufsräume und den Vorplatz gerichtet. Nova überquert die Straße und inspiziert das Gebäude neben dem Gebrauchtwagenhandel. Eine Art Lagerhaus, aber ohne sichtbare Kameras. Die umliegenden Bauten sehen alle ähnlich aus, durch die Bank heruntergekommen, einige anscheinend leer, andere offenbar in Gebrauch, aber nirgendwo sieht sie eine Kamera, die erfassen könnte, wer im Hotel ein und aus geht.

Gerade als Nova zurückgehen will, entdeckt sie einen Mann, der zwischen den Gebäuden steht und sie beobachtet. Es ist der Lieferant aus dem Hotel. Er raucht, aber sobald er sieht, dass sie ihn entdeckt hat, lässt er die Zigarette fallen und verzieht sich in das Gebäude hinter ihm. Nova geht darauf zu. Der Gewerbebau liegt versteckt hinter dem Autohaus, aber eine Ecke ragt gerade weit genug vor, um vom Hotelparkplatz aus sichtbar zu sein. Während sie sich nähert, fängt sich ein Sonnenstrahl in einer winzigen Scheibe oben an der Wellblechfassade, direkt unterhalb der Regenrinne. Eine Kamera. Sie zielt so auffällig auf das Towneley Arms, dass das kein Zufall sein kann.

Ein Schild mit der Aufschrift RJ Meats hängt über dem Eingang, und Nova klopft an. Fast sofort geht die Tür auf, und der Lieferant steht ihr gegenüber.

»Was?«, fragt er.

»Hallo«, sagt Nova und zeigt ihm ihre Marke. »Ich habe Sie heute Morgen im Hotel gesehen und würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«

»Ich arbeite da nicht. Ich bring denen nur das Fleisch.« Er lehnt sich in den Türrahmen und zündet sich die nächste Zigarette an.

»Ist das Ihre … Fabrik?«

Der Mann legt den Kopf schief. »Ich bin Mitbesitzer.«

»Mir ist aufgefallen, dass Sie eine Kamera haben, die auf das Hotel gerichtet ist.«

»Mhm.«

»Warum?«

Der Mann zuckt mit den Achseln. »Security.«

»Die können drüben keine eigenen Kameras installieren?«

»Von hier aus ist der Winkel besser.«

»Kann ich mir die Aufnahmen ansehen?«

Der Mann mustert sie, drückt dann an der Wand die Zigarette aus und steckt sich den Stummel hinters Ohr. Er macht einen Schritt zurück und winkt Nova mit einer Kopfbewegung herein.

Der Innenraum wird von vereinzelten Hängeleuchten erhellt. Einige Bereiche werden mit starken Strahlern ausgeleuchtet, der Rest bleibt im Halbdunkel. An der Wand am anderen Ende hängen tote Schweine am Haken. Eine Handvoll Menschen in Plastikschutzanzügen arbeitet an einem Fließband, einige stopfen Fleischbrocken – mitsamt Knochen und Sehnen – in das Maul einer Maschine, andere portionieren die am anderen Ende herausquellende pinke Masse und verpacken sie. Es stinkt fast noch schlimmer als bei der Leiche oben.

Der Mann führt Nova in ein enges, aber aufgeräumtes Büro. An den Wänden reihen sich Aktenschränke, und an der Wand über dem Schreibtisch hängen drei Fernseher, die Aufnahmen aus den verschiedenen Kameras zeigen. Auf dem rechten Bildschirm ist der Eingang zum Towneley Arms zu sehen. Das Bild wurde definitiv so nah herangezoomt wie möglich, und die Qualität ist zwar nicht grandios, aber auch nicht unterirdisch.

»Bitte sehr«, sagt er und deutet auf den Bildschirm.

»Ich hätte gern die Bänder der letzten vierzehn Tage.«

Der Mann sieht sie nur an, und Nova braucht eine Sekunde, ehe sie bemerkt, dass er die Hand ausgestreckt hat und mit dem Daumen über Zeige- und Mittelfinger reibt. Sie lacht.

»Na schön«, sagt er und schaltet achselzuckend den Fernseher aus. »Ich glaube, wir haben die Bänder nicht mehr. Sind wohl verloren gegangen.«

»Wenn Sie mir die Bänder aushändigen, frage ich nicht nach, wieso Sie überhaupt den Hoteleingang filmen.«

Er starrt sie ausdruckslos an.

»Und ich werde so tun, als hätte ich das da nicht gesehen.« Sie nickt zu einem Beutel mit weißem Pulver auf dem Schreibtisch hin.

»Also meinetwegen«, sagt er und wendet sich den Regalen mit beschrifteten Bändern zu, um nach den richtigen zu suchen.

Nova schaut sich um. An einer Wand hängt ein Pin-up-Kalender aus dem letzten Jahr mit dem Juni-Bild. Eine Blondine liegt oben ohne auf einer Gartenbank, umgeben von Blumen und Vögeln. Jemand hat eine Sprechblase mit den Worten GEILE TITTEN auf das Bild gekritzelt.

 

Nova rekelt sich und hält das Band an. Sie hat bisher die Aufnahmen aus den drei Tagen vor Neujahr kontrolliert und dabei absolut nichts entdeckt, was erwähnenswert gewesen wäre. Auf den Bändern sind nur Angestellte zu sehen, die zum Rauchen vor die Tür treten, außerdem hin und wieder Liebespärchen, die zu einem nachmittäglichen Stelldichein hinter dem Hotel parken und durch den Eingang huschen. Sie steht auf, um sich Tee zu machen, und setzt sich danach wieder an den Schreibtisch, die Füße auf die Ecke gestützt. In dem ausgebauten Speicher über dem Polizeirevier stehen dicht an dicht acht Schreibtische, seit eine Überschwemmung vor drei Jahren den ersten Stock unbenutzbar gemacht hat. Der Polizeipräsidentin scheint regelmäßig das Geld auszugehen, bevor sie dazu kommt, die Büros zu renovieren, darum kauern die Detectives wie die Fledermäuse an ihren Schreibtischen unter den dunklen Dachbalken.

»Kaffee?«, fragt Paul Cleary im Aufstehen. Paul wurde im September zum DI befördert, und seither findet Nova ihn unausstehlich. Sie haben zur selben Zeit bei der Polizei angefangen, aber Nova kletterte die Leiter schneller hoch als er, und sie weiß, dass er es ihr immer verübelt hat, wenn sie jeden ihr übertragenen Fall löste und darum vor ihm befördert wurde. Einmal hat sie gehört, wie er einem Kollegen zuflüsterte, dass sie nur so schnell die Karriereleiter hochklettert, weil sie eine Frau sei und sich das in der Presse gut machen würde, und hat das mit einem Lachen abgetan. Sie wurde befördert, weil sie richtig gut in ihrem Job ist oder es wenigstens war.

»Zwei Zucker«, sagt Nova, ohne von ihrem Bildschirm aufzusehen. Nach ein paar Minuten stellt Paul einen Becher vor ihr ab. Sie spürt, wie er über ihre Schulter auf ihren Bildschirm schaut.

»Kein Kreuzworträtsel heute?«, fragt er näselnd.

Nova verspannt sich. »Mein Fall wurde gerade wesentlich interessanter«, sagt sie.

»Hab ich gehört, hab ich gehört«, sagt Paul. Er beugt sich vor und raunt ihr zu: »Ganz unter uns, Mädchen, es überrascht mich, dass die DCI dich nicht abgezogen hat.«

Nova dreht sich aufbrausend um. Jeder weiß von ihrem letzten großen Fall. Paul kehrt lächelnd an seinen Schreibtisch zurück, und Nova unterdrückt den Drang, ihm ein »Fick dich!« hinterherzurufen. Sie sollte im Moment möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Inzwischen ist das Band beim Silvesterabend um kurz nach sieben angekommen. Die Gäste der Silvesterparty trudeln ein, aber es ist niemand dabei, der besonders auffällig gewesen wäre, niemand mit einer großen Tasche beispielsweise. Nova nimmt gerade einen Schluck Tee, als eine Frau über den Bildschirm eilt. Die Frau sieht sich kurz um und verschwindet durch die Hoteltür. Nova spult zurück, und die Frau marschiert ein zweites Mal über den Bildschirm. Das Band ist zu körnig, als dass man einzelne Gesichtszüge ausmachen könnte, aber Nova kennt diesen Gang, diesen Körper nur zu gut. Um das Gesicht der Frau doch noch erkennen zu können, rückt Nova so nah mit der Nase an den Bildschirm, dass ihr die statische Spannung in der Nase kitzelt, aber sie ist sich sicher.

Kaysha Jackson würde sie überall wiedererkennen.

4

Kaysha3. Januar 2000

Kaysha sitzt im Sessel und schaut Sarah beim Schlafen zu. Als sie vor wenigen Minuten ins Haus zurückkam, ging Sarahs Atem so flach, dass Kaysha kurz die Hand vor ihren Mund hielt, um sich zu vergewissern, dass sie noch lebt. Es ist das erste Mal seit Neujahr, dass Sarah tief und fest schläft, und Kaysha wird sie nicht aufwecken, nicht einmal, um ihr zu sagen, dass ihr Plan aufgegangen ist – sie hat von ihrem Auto aus beobachtet, wie die Polizei, der Gerichtsmediziner und die Kriminaltechniker noch vor Sonnenaufgang im Hotel verschwanden. Und eine Weile danach Nova Stokoe.

 

Sie konnte die Gruppe am Silvesterabend nur mit Mühe überzeugen, Jamies Kopf dort zu lassen, wo sie ihn gefunden hatten. Die anderen wollten ihn fast alle im Nirgendwo abladen und vergraben oder ihn verbrennen, ihn in einem See versenken oder ein Boot mieten und damit aufs Meer fahren, danach alle Spuren im Zimmer beseitigen, immer in der Hoffnung, dass der restliche Leichnam, wo er auch liegen mochte, nie gefunden würde. Sie meinten, dass Jamies Verschwinden ein, zwei Wochen lang Schlagzeilen machen würde, bevor man ihn vergaß, und dass Sadia möglicherweise kurzfristig unter Verdacht stehen würde, weil die Ehefrau grundsätzlich zuerst verdächtigt wird. Aber alle würden der Polizei erzählen, wie glücklich, wie glückselig die beiden gewesen waren, was für ein perfektes Paar, sodass sie hoffentlich nicht im Gefängnis landen würde. Kaysha fragte sich, ob Sadia ihn tatsächlich umgebracht hatte. Es erschien wenig wahrscheinlich, weil sie immer so ausgeglichen wirkte, aber wenn jemand seine Mitmenschen zum Mord treiben konnte, dann Jamie Spellman.

Kaysha hörte die Frauen tuschelnd beratschlagen, wie sie den Kopf am besten loswurden, aber das durfte sie nicht zulassen. Es war zu riskant, irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Sie musste sich blitzschnell etwas zurechtlegen, einen Punkt an den nächsten fügen, den anderen ihren Plan erklären, während sie noch daran feilte.

Als Journalistin gehört es zu Kayshas Job, andere unbemerkt zu beobachten, kleinste Informationsbrocken zusammenzufügen und eine Geschichte daraus zu weben, und sie ist eine gute Journalistin. Wenn sie nicht arbeitet, beobachtet sie am liebsten Menschen, die sie nicht beobachten sollte. Und Jamie Spellman hat sie länger beobachtet als jeden anderen. Sie hat auch die anderen Frauen beobachtet, bevor sie eine nach der anderen angesprochen hat. Sie hat Nova beobachtet, seit sie sich getrennt haben, und daher weiß sie, dass Nova zurzeit in einer Serie von Tieropfern ermittelt, die überall in der Stadt abgehalten und jeweils von einem Siegel mit einer zusammengerollten Schlange und mehreren Runen begleitet werden. Kaysha hat auch das beobachtet und weiß, dass eine Gang von jungen Mädchen hinter den makabren Opferritualen steckt. Hätten Kaysha und Nova noch miteinander gesprochen, hätte sie Nova einen Tipp gegeben, aber sie reden nicht mehr miteinander, und so hat Kaysha amüsiert beobachtet, wie die Mädchen Nova immer wieder entwischt sind.

Die Frauen im Hotelzimmer vertrauen Kaysha mehr als einander, denn sie war diejenige, die alle zusammengetrommelt hat. Soweit Kaysha feststellen konnte, waren es die Frauen, denen Jamie am schlimmsten mitgespielt hatte. Sie hatte nach Menschen gesucht, die ihn um jeden Preis hinter Gitter bringen wollten. Sie hätte nie geglaubt, dass es zu einem Mord kommen könnte, und begriff beim Anblick von Jamies abgetrenntem Kopf sofort, dass jede im Raum dafür infrage käme. Sie wusste, dass alle Grund genug gehabt hätten.

Sie erläuterte den anderen ihren Plan, verschwieg dabei aber, dass sie und Nova früher ein Paar waren, sondern stellte es so hin, als wären sie nur Bekannte, die ab und zu unappetitliche Informationen austauschten. Falls sie erreichen konnten, dass Nova den Fall übernahm, erklärte Kaysha den anderen, würden sie nicht im Dunkeln tappen, sondern könnten genau verfolgen, wie die Ermittlungen vorankamen. Zudem würde Kaysha ihre Freundin Nova auf eine falsche Fährte locken, sie von den Frauen weglotsen können.

Nachdem die anderen, wenn auch zögerlich, Kayshas Plan zugestimmt hatten, zeichnete sie mit einem Topf klebriger blauer Farbe und einem steifen Pinsel, die sie unter einem Stapel Abdeckfolien fanden, das Siegel an die Wand hinter Jamies Kopf. Nachdem der Kult sein Siegel grundsätzlich in Rot zeichnet, würde Nova mit Sicherheit stutzig werden. Zusätzlich zeichnete Kaysha einige der Symbole spiegelverkehrt oder auf dem Kopf stehend. Sie musste erreichen, dass Nova zum Tatort gerufen wurde und dass sie den Fall übernahm, aber Nova sollte wissen, dass dies nicht das Werk der Mädchengang war, falls sie je auf deren Spur kommen sollte. Kaysha ist klar, dass ihr Plan riskant ist, und sie weiß, dass sie nicht sämtliche Eventualitäten berücksichtigen konnte, aber sie hatte keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie zeichnete das Siegel, sie säuberten gemeinsam den Raum, und alles andere würde sie später regeln.

 

Nachdem der Kopf gefunden wurde, muss sie sich nun auf zwei Dinge konzentrieren. Zuerst und vor allem anderen muss sie Nova erneut verführen. Und dann muss sie herausfinden, welche der Frauen Jamie tatsächlich getötet hat – damit Kaysha ihr helfen kann, alle Spuren zu beseitigen.

5

Olive3. Januar 2000

Olive Farrugia war ein ungeplantes Kind gewesen. Ihre Mutter hatte das letzte ihrer drei Kinder fünfzehn Jahre zuvor bekommen und irgendwann erleichtert festgestellt, dass ihre Regel ausgesetzt hatte. Wurde auch Zeit, hatte sie gedacht und das Thema damit abgehakt. Ihren runder werdenden Bauch schrieb sie der Bäckerei um die Ecke zu, und so bekam sie einen gehörigen Schrecken, als plötzlich ihre Fruchtblase platzte, nachdem sie eine Niereninfektion vermutet und den ganzen Tag mit Schmerzen auf dem Sofa gelegen hatte. Fünfzehn Minuten später half Edie, die frisch verheiratet und selbst schwanger war, ihrer Mutter, ein winziges Baby zu entbinden.

Die ersten beiden Monate wuchs das Baby in einer Glaskiste im Krankenhaus heran. Ihr ältester Bruder Ted fand, es sehe aus wie die letzte Olive unten im Glas, die keiner mehr herausfischen wollte. Seine Mutter schlug ihn tadelnd auf den Arm, aber der Name blieb hängen.

Olive entwickelte sich zu einem dünnen und kränklichen Kind mit mausbraunen Zöpfen, die ihr bis zur Taille reichten, sowie einem chronischen Schnupfen. Sie brachte nie die Geduld auf, Freundinnen zu finden. Selbst ihre Nichte Louisa, die nur dreiundzwanzig Tage nach ihr geboren wurde, ging ihr auf die Nerven. Olive liebte ihre Mutter, dachte sich aber nicht viel dabei, wenn sie das Frühstück mit einem blauen Auge oder geschwollenem Kinn servierte. Olives Dad war ein Trinker und meist nett zu Olive, solange er nüchtern war, dem Olive aber lieber aus dem Weg ging, wenn er getrunken hatte. Olive begriff nicht, warum ihre Mutter das nie gelernt hatte, und dachte in ihrer kindlichen Logik, dass ihre Mutter selbst schuld war, wenn sie immer wieder in Daddys Faust lief.

Eines Abends, Olive war inzwischen acht, kam ihr Dad früher als üblich aus dem Pub. Er schickte Olive ins Bett, und sie antwortete, sie würde gleich gehen, sie wolle nur noch ein Glas Milch trinken, wobei sie den Kühlschrank öffnete. Ab ins Bett, verfluchte Scheiße!, befahl er noch mal, und ehe Olive auch nur den Kühlschrank schließen konnte, hatte er sie schon am Kragen und am Hosenboden gepackt und die Treppe hinaufgeschleudert. Nach den ersten fünf Stufen machte die Treppe einen Knick um neunzig Grad, und ihr Vater hatte Olive so fest geworfen, dass sie mit dem Kopf gegen die Wand krachte. Olive kullerte die fünf Stufen wieder hinunter und übergab sich unter den entsetzten Schreien ihrer Mutter auf dem Küchenboden, während ihr Vater aus dem Haus stürmte. In dieser Nacht durfte Olive nicht einschlafen. Ihre Mutter rieb ihren Kopf mit Essig ein und hielt sie bis zum Morgen wach. Nachdem Olive den ersten Schock überwunden hatte, erfüllte sie ein rasender Zorn. Immer wieder dachte sie: Wäre er nur tot, wäre er nur tot.

Und eine Woche später war er es.

Olives Vater hatte sich zu Tode getrunken, und nur kurz darauf wurde ihre Mutter krank und folgte ihm auf den Friedhof. Olive blieb die ersten Wochen bei Edie, wo sie in Louisas Bett schlief, mit dem Kopf zu Louisas Füßen, aber Edie hatte gerade erst Zwillinge zur Welt gebracht und weder den Platz noch das Geld, ihre Schwester aufzunehmen, und so landete Olive bei ihrer Tante Sue. Sue war die jüngste Schwester ihres Vaters und zu Geld gekommen, indem sie nacheinander zwei sehr alte Männer geheiratet und nach deren Tod das Erbe eingestrichen hatte. Der zweite Ehemann starb schon zwei Wochen nach der Hochzeit, bei der Olive Brautjungfer gewesen war, und Tante Sue bezeichnete das als Riesenglück. Sie lebte in Tynemouth in einem der eleganten Reihenhäuser am Meer, gar nicht zu vergleichen mit der engen Behausung, in der Olive aufgewachsen war. Das Haus hatte vier Stockwerke und sieben Schlafzimmer, weshalb Sue oft vorgeschlagen wurde, die Räume doch mit Mietern oder eigenen Kindern zu füllen, aber darauf ließ sie sich nicht ein. Es gefiel ihr, Platz zu haben, und Olive gefiel es auch.

Olive vermisste ihre Mutter, trotzdem mochte sie das Leben bei ihrer Tante. Sue war freundlich, aber streng, und sie ging sonntags zum Gottesdienst, was bedeutete, dass auch Olive sonntags zum Gottesdienst ging. Bis dahin war Olive nie in der Kirche gewesen, höchstens zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Allerdings hatte sie heimlich gebetet, wenn sie sich hilflos gefühlt hatte. Olive hatte dafür gebetet, dass ihr Vater bestraft würde, was sich erfüllt hatte, und dass ihre Mutter gesund wurde, was sich nicht erfüllt hatte, und so kam es, dass sie Gott für rachedurstig hielt. Sie stellte fest, dass es ihr in der Kirche gefiel. Ihr gefielen die festen religiösen Regeln, die Gebote und Verbote, die Vorstellung, dass die Sünder bestraft und den Reuigen vergeben wurde. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand Olive problemlos Freunde, und schon bald stieg sie unter den Kindern ihrer Gemeinde zur Anführerin auf und veranstaltete Gebetskreise und Bibelstudiengruppen, bei denen sie mit ihrer schrillen Stimme die anderen zum Verstummen und zum Zuhören brachte. Die Kinder wussten, dass sie sich benehmen mussten, wenn Olive dabei war, denn sie hatte keine Skrupel, den Erwachsenen oder auch dem Pfarrer jeden Unfug zu melden. Sie sah es gern, wenn jemand seine verdiente Strafe bekam.

Olive liebte auch das Kirchengebäude. Sie liebte es, wenn die Sonne während der Messe durch die Buntglasfenster schien und die ganze Gemeinde blau oder rot färbte, und sie liebte die handgeschnitzte Kanzel, die Hunderte von Jahren alt war. Am meisten aber liebte sie an ihrer Kirche die grauen Steinbögen, die das Gebäude wie Rippen aufrechterhielten, denn sie erinnerten sie an den einzigen Familienurlaub, den sie je mit ihren Eltern gemacht hatte. Damals waren sie übers Wochenende nach Whitby gefahren, waren über die Hafenpromenade spaziert und hatten Fish and Chips gegessen, während über ihnen die Möwen kreisten. Sie hatte so lange gequengelt, bis sie einen Eselsritt am Strand spendiert bekommen hatte, aber schon Sekunden nach dem Losreiten losgeheult, weil das Tier so wild geschaukelt hatte. Ihr Dad hatte ihr von hinten auf die Beine geschlagen, weil sie sein Geld zum Fenster rausgeworfen hatte.

Am letzten Tag waren sie die hundert Stufen zur Abtei hochgestiegen, um von oben über die Stadt zu schauen, und hatten zugesehen, wie sich unter dem Walknochenbogen ein Paar trauen ließ. Olive hatte ein kribbelndes Verlangen gespürt, als sie den adretten Bräutigam und das im Wind flatternde Kleid der Braut gesehen hatte, und insgeheim gehofft, dass sie eines Tages auch in so romantischer Umgebung heiraten würde. Als sie Jahre später Alonso kennenlernte und unter den ähnlich geformten Bögen ihrer Kirche heiratete, erinnerte sie sich an die Trauung auf der Klippe und wusste, sie tat das Richtige.

 

Olive sitzt allein in der Kirche. Sie trägt immer noch ihren Ehering, dessen Zwilling tief vergraben auf dem Friedhof liegt, am Finger ihres toten Ehemanns. In der Kirche ist es kaum wärmer als draußen auf der Straße. Die Gemeinde schrumpft seit Jahren, weil sich immer mehr Menschen von Gott abwenden, und so haben auch die Spenden abgenommen. Inzwischen wird die Heizung nur noch während des Gottesdienstes aufgedreht. Olive sieht ihren Atem. Vor ein paar Wochen wurde mit einem Stein ein Fenster eingeworfen, das noch nicht gerichtet ist, und jetzt werden Schneeflocken durch das Loch hereingetrieben. Zu allem Unglück war es ihr Lieblingsfenster – Johannes der Täufer.

Seit drei Tagen sitzt Olive inzwischen in der Kirche, außer während der Stunden, in denen sie sich nach Hause schleppt, wo sie dann schlaflos im Bett liegt. Sie sitzt auf ihrem Stammplatz – in der vordersten Reihe, als könnte sie Gott näher sein, wenn sie nur der Kanzel näher ist. Hier hat sie Jamie zum ersten Mal gesehen, und ihr Blick wandert die Bank entlang. Sie kann ihn beinahe wieder dort sitzen sehen, wie vor vielen Jahren, in seinem zu großen Anzug und mit einem Anflug von Rosazea, der sich auf seine blassen Wangen stahl wie Erdbeersirup durch frische Sahne.

»Immer noch hier, Olive?« Vater Paul setzt sich neben sie. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er noch da ist, hat aber nicht mehr die Kraft, sich zu erschrecken. Er legt eine Hand auf ihre Schulter. »Gibt es etwas, worüber Sie sprechen möchten? Ich weiß, dass es um diese Zeit immer besonders schwer ist.«

Sie macht ein zerfurchtes Gesicht und legt die Hände davor. Er massiert ihren Rücken. Er glaubt, sie würde um ihre Familie trauern, wie immer um diese Jahreszeit, aber ihre Gedanken kommen nicht von Jamie los. Wieder peinigen sie Schuldgefühle, blitzt Kims anklagender Blick vor ihr auf, hört sie das Seil auf dem Speicher knarren, und mit den Schuldgefühlen kommt wie immer glühende Scham.

»Ich bringe Sie nach Hause«, sagt Vater Paul. Seine Stimme ist tief und ruhig. Sie besänftigt sie jedes Mal. Sie sieht auf, nickt und lässt ihre Augen eine Sekunde über sein lang gezogenes Gesicht wandern. Er ist seit fast zwanzig Jahren hier Pfarrer – länger, als sie in der Gemeinde ist –, und er ist der Mensch, der ihr nach all ihren Verlusten am ehesten ein Freund ist. Er kannte Jamie und er kannte seinen Großvater – der ebenfalls Pfarrer war. Jamie gehört schon lang nicht mehr der Gemeinde an, aber sie weiß, dass auch Vater Paul um ihn trauern wird, wenn die Nachricht erst in der Welt ist.

Während sie nebeneinander durch die leeren Straßen wandern, überlegt sie, ob sie die Beichte ablegen soll. Sie überlegt, ob sie ihm die Wahrheit über Kim erzählen soll. Sie überlegt, ob sie ihm von dem Kopf und den Frauen und dem Hotelzimmer erzählen soll. Sie möchte ihm gern erklären, dass sie nicht dazugehört hat, jedenfalls nicht richtig – dass sie die anderen nur im Auge behalten wollte. Sie möchte sich so gern jemandem öffnen. Als sie bei ihr zu Hause ankommen, tätschelt er ihr zum Abschied noch einmal den Arm, und sie schließt ihre Haustür, verriegelt sie, ohne einen Ton gesagt zu haben, wieder allein.

6

Nova3. Januar 2000

Nova war zweiundzwanzig, als sie zum ersten Mal nach der Scheidung ihrer Eltern Weihnachten feierten, und sie und ihr Bruder hatten ihre Mom gleich morgens in ihrem neuen Heim besucht. Die kleine Wohnung war zwar heruntergekommen und modrig, aber mit glitzernden Flatterbändern und Kunststoffgirlanden im Stechpalmenmuster geschmückt. In einer Ecke des Wohnzimmers hatte ein dürrer, aber echter Weihnachtsbaum über einem Stapel bunt verpackter Geschenke Wache gehalten. Es hatte nach Lebkuchen gerochen, und alles war zwar fremd, aber gleichzeitig auch vertraut gewesen. Nach dem Austausch von Geschenken, einem frühen Mittagessen mit einem Hackbraten und ein paar leicht schwermütigen Gesängen unter der musikalischen Begleitung von Weihnachten mit den Schlümpfen – einer Kassette, die Novas Bruder ihr als Gag geschenkt hatte – waren sie schließlich weitergewandert zu einem abendlichen Weihnachtsmahl bei ihrem Dad, während ihre Mutter allein zurückgeblieben war und ihnen mit tränenverhangenen Augen versichert hatte, dass alles in bester Ordnung sei.

Ihr Vater hatte das Geld für den besseren Anwalt gehabt und darum das Haus behalten, genau wie das Geschirr, sämtliche Möbel und in einem spektakulär kleinlichen Absatz der Scheidungsvereinbarung auch die Kartons mit den Christbaumkugeln und dem Weihnachtsschmuck, die seine Frau über viele Jahre hinweg gesammelt hatte. Sie hatten für niemanden einen Wert außer für Novas Mutter; sie waren ihre persönliche Erinnerung daran, wo sie als Familie gewesen waren und was sie alles unternommen hatten. In der brütenden Sommerhitze in Benidorm genau wie auf Kos, überall hatte sie einen schlampig lackierten Weihnachtsmann mit dem Namen der Hotelanlage aufgetrieben. Manchmal in voller roter Montur, manchmal nur in pelzbesetzter Badehose, aber sie hatte ihn jedes Mal gefunden. Novas Dad hatte argumentiert, der Schmuck müsse im Haus bleiben, weil er ihn beim ersten Nach-Scheidungs-Weihnachtsfest aufhängen und das Haus schmücken wollte, damit es für die Kinder aussah wie immer, obwohl beide schon erwachsen waren. Er hatte Nova versprochen, dass er ein Weihnachtsmahl vorbereiten würde, was seinen Worten zufolge ohnehin immer seine Aufgabe gewesen war, und dass er das Haus für ihre Ankunft um Punkt ein Uhr herrichten würde, doch als sie ankamen, war es im Wohnzimmer dunkel und trostlos, und der unverarbeitete Truthahn lag noch mit sämtlichen Innereien auf der Küchentheke. Ihr Vater hatte etwas von Überstunden an Heiligabend gegrummelt, und dass er keine Zeit gehabt hätte, sich mit Tannenbäumen und Truthähnen rumzuschlagen. Er hatte ihnen auch keine Geschenke besorgt, sondern jeweils einen verknitterten Zwanziger in eine Weihnachtskarte gesteckt, die mit einem knappen Alles Liebe Dad beschriftet war.

Im Lauf der Zeit war er weicher geworden. Von Jahr zu Jahr hatte er sich mehr Mühe gegeben, hatte den Truthahn zubereitet, den Christmas-Pudding flambiert und den verstaubten alten Kunststoffbaum aufgestellt. Widerwillig hatte er zugelassen, dass Nova den Weihnachtsschmuck zu ihrer Mutter brachte, und ein paar neue Christbaumkugeln gekauft. Seit diesem ersten traurigen Jahr hatte er ihnen immer ein Geschenk besorgt, meist etwas lähmend Praktisches aus den Sonderangebotskörben in seinem Discounter, oft etwas fürs Auto oder ein Küchengerät, das Nova genau einmal verwendete, bevor es oben auf dem Küchenschrank verstaubte. Dieses Jahr war es nicht anders gewesen; er hatte Nova eine metallbeschichtete Frostschutzmatte für die Windschutzscheibe und eine anständige Flasche Whisky überreicht, begleitet von dem Kommentar: »Soll scheißkalt werden über Neujahr, Kleines.«Nova verdrehte die Augen, bemerkte aber vor der Heimfahrt am Abend Eisblumen auf ihrem Auto und spannte zu Hause tatsächlich die Matte über die Scheibe.

Die Schutzmatte war wirklich praktisch, aber vier Tage später vergaß sie, die Ecken in den vorderen Seitenscheiben festzuklemmen, und am nächsten Morgen war die Matte weg. Während der letzten Tage hat sie sich stattdessen mit alten Zeitungen beholfen, eine der vielen Ausgaben des Chronicle vom Rücksitz ihres Wagens, die sie nach der Heimfahrt über die Windschutzscheibe breitet, um sie am nächsten Morgen frostüberzogen wieder abzulösen.

An dem Tag, an dem der Kopf entdeckt wird, ist es nicht anders. Sie setzt rückwärts in die schmale Gasse hinter ihrer Wohnung und manövriert den Wagen auf den Fleck, der nach dem unausgesprochenen Gesetz der Straße ihr persönlicher Stellplatz ist, steigt dann aus und deckt die Scheibe mit Monate alten Nachrichten ab, bevor sie erschöpft ins Bett fällt. Auch wenn der Morgen interessanter war als üblich, hat sie den Rest des Tages damit zugebracht, stundenlang Vermisstendateien zu durchforsten sowie Überwachungsbänder anzuschauen, wobei eine frühere Freundin auf dem Weg ins Hotel das einzig nennenswerte Ergebnis war. Könnte Zufall sein, aber das glaubt sie nicht. Kaysha ist immer als Erste zur Stelle, wenn es irgendwo Ärger gibt.

Nova ist hundemüde, aber sie braucht ewig, um einzuschlafen, und wacht am nächsten Morgen vierzig Minuten zu spät auf, weshalb sie mit der Zahnbürste im Mund die Treppe hinunterstürmt. Draußen kommt sie auf dem Eis ins Rutschen und kann sich gerade noch auf den Beinen halten. Erst als sie im Auto sitzt und den Motor angelassen hat, merkt sie, dass sie vergessen hat, die Zeitungsseiten abzulösen. Sie schnaubt über ihre Blödheit und blickt auf die Artikel hinter der Scheibe, während sie mit einer Hand die Tür öffnet. Neben einem Artikel über irgendeine Preisverleihung sticht, halb hinter einer anderen Seite verborgen, ein Gesicht heraus. Es ist seins.

7

Ana4. Januar 2000

Wie immer ist Ana nach dem Reinigungstrupp die Erste im Gebäude. Die Stille wird nur vom Geklapper ihrer Absätze auf dem Linoleum durchbrochen, und dann von dem Zischen des eingeschalteten Durchlauferhitzers und dem Brodeln des Wasserkochers im Pausenraum. Dies ist ihre liebste Tageszeit. Sie liebt die Stille am frühen Morgen, darum steht sie jeden Tag vor Sonnenaufgang auf und überlässt es Tom, sich mit dem morgendlichen Chaos, den umgekippten Cornflakes-Schalen und unauffindbaren Turnschuhen herumzuschlagen, wofür sie im Gegenzug das abendliche Zubettbringen übernimmt.

Sie lehnt sich mit ihrem Kaffee auf der Bank zurück und genießt die Stille. Es ist der erste Arbeitstag nach den Weihnachtsfeiertagen, und noch hängen die festgepinnten Girlanden an den Wänden, die ansonsten nur mit verblichenen Gesundheits- und Sicherheitstipps, einem uralten Werbeposter für die Slimming World und hier und da mit einem uralten Spritzer Suppe dekoriert sind. Ana war im Jahr vor ihrer Heirat ein paarmal bei Slimming World, auch wenn es ihr nicht ums Abnehmen ging. Sie hoffte, dass sie in den Kirchen und Gemeindezentren, in denen die Abende stattfanden, auf Frauen treffen würde, die wussten, wie es sich anfühlt, wenn dir der eigene Körper nicht passt, Frauen, unter denen sie vielleicht Freundinnen finden würde. Anfangs fand sie die Teilnehmerinnen durchaus aufgeschlossen, wenn auch ein bisschen aufdringlich, doch nachdem sie mehrmals ohne ausgefülltes Ernährungstagebuch erschienen war oder schon wieder vergessen hatte, welche Tage welche Farbe hatten, wandte sich die Clique schnell wieder von ihr ab.