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Callum lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht siehst du ja etwas, was den anderen all die Jahre entgangen ist.« Die letzten Sommerferien vor dem Abitur verbringt Noah Baker im schottischen Dunfermline bei seiner Verwandtschaft. Fernab der Heimat soll er seine Insomnie kurieren. In dem dunklen Wald hinter der Siedlung entdeckt Noah ein altes Haus. Die halbverfallenen Mauern ziehen ihn in ihren Bann, flüstern seinen Namen. Als er durch die düsteren Räume streift, trifft er auf einen eigenartigen Jungen. Callum scheint einiges über das Anwesen zu wissen, und noch mehr zu verschweigen. Dabei verfolgen Callums blaue Augen Noah bis in seine Träume. Was ist tatsächlich auf Lockwood Manor passiert? Warum warnen ihn alle davor, es zu betreten? Gemeinsam wollen sie das Geheimnis lüften. Doch jeder Schritt in Richtung der Wahrheit ist einer auf den Abgrund zu.
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Seitenzahl: 488
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LENA HOOGEN
ROMAN
TEIL EINS DER HAUNTED-SOULS REIHE
2. Auflage
© 2024 Lena Hoogen
www.lenahoogen.de
Lektorat: Katrin Weißenböck (www.lektorat-heimathafen.at)
Coverdesign von: Sedef Turhan
Korrektorat: Franziska Unterbusch
Cover Font „Troemys“ by BlackCatMedia via Creative Market
ISBN Softcover: 978-3-384-12367-1
ISBN Hardcover: 978-3-384-12368-8
ISBN E-Book: 978-3-384-12369-5
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
INHALTSWARNUNG
Liebe*r Leser*innen,
dieses Buch behandelt ernste Themen, die euch potenziell persönlich belasten könnten.
Falls ihr euch von bestimmten Themen besonders angesprochen fühlt, schaut gerne am Ende des Buches, auf der vorletzten Seite, in die genaue Auflistung der Themen, da sie die Handlung spoilern.
Für diejenigen unter euch, deren Träume sich manchmal zu groß anfühlen, um jemals wahr zu werden.
Hört niemals damit auf an sie zu glauben.
Cover
Titelblatt
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Traum I
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Traum II
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Traum III
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Traum IV
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Traum V
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Traum VI
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Traum VII
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
DANKSAGUNG
INHALTSWARNUNG
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Titelblatt
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Prolog
INHALTSWARNUNG
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Prolog
Mitten im Wald steht ein Haus.
Es ist weder verborgen noch verschlossen. Geduldig steht es seit jeher dort und wartet.
Ein Haus, das schon viel gesehen und noch mehr gehört hat. Es hätte euch eine Menge zu erzählen, wenn ihr den Mut habt, euer Ohr an die morschen Wände zu legen und mit angehaltenem Atem zu warten.
Hört, was unter dem federleichten Trappeln der Mäuse in den Mauern liegt. Lauscht dem stillen Flüstern der Wände, das in eure Ohren dringt und langsam euren Verstand verdreht. Dem Wispern der Steine, deren grauenvolle Melodie euch erschaudern lässt. Hört die stummen Schreie der Vergangenheit.
Denn das Haus vergisst seine Vergangenheit niemals.
Geschichten über rauschende Feste und vergnügte Tänze, die auf den maroden Böden gefeiert wurden, bis die Fliesen entzweibrachen. Über grandiose, erlesene Musik und ausgelassenes Gelächter, das durch die Räume schallte, dabei die Luft mit reinster Freude erfüllte. Über Schreie und Wut, scharfe Worte gesagt im Affekt, um sie als tödliche Waffen zu verwenden. Über geflüsterte Versprechungen, die heimlich hinter sicher verschlossenen Türen gegeben wurden.
Geschichten über Stimmen, die fröhlich über die Flure hallten, nur um dann plötzlich zu verstummen.
Geschichten für die Ewigkeit, eingebrannt in Stein und Holz. In Mauer und Boden. In Luft und Erde.
Mitten im Wald steht ein Haus.
Ein Haus, das jeder kennt, der dort wohnt. Denn man erzählt sich immer noch Geschichten – nur hinter vorgehaltener Hand. Nicht über die rauschenden Feste, sondern über die Bewohner. Geschichten über alte Familien, deren Knochen schon lange zum Verrotten unter der Erde liegen. Über Tote, die nicht mehr existieren, weil niemand sie mehr kennt. Über Namen, verloren im Staub der Vergangenheit. Erinnerungen verfälscht und verbogen.
Es sind Geschichten über Kinder.
Tief im Wald steht ein Haus.
Und niemand – wirklich niemand – geht jemals dort hinein.
Kapitel 1
Die Uhr ging fünf Minuten vor.
Er ärgerte sich maßlos über diese Kleinigkeit. Denn jedes Mal, wenn er dachte, er dürfte wieder gehen, musste er noch weitere fünf Minuten durchhalten. Es wunderte ihn, dass es überhaupt eine Uhr in einem Therapieraum gab. War es nicht der Sinn dieser Räume, dass man sie hier vergessen sollte? Sich nicht von der Zeit unter Druck gesetzt fühlte, um seinen gefangenen Gedanken freien Lauf zu lassen. Zudem war das nervenzehrende Ticken schon nach wenigen Minuten kaum erträglich in der vorherrschenden Stille. Während er sich in dem Zimmer umsah, stieß er auf immer mehr Dinge, die ihm missfielen.
Erstens war da dieser Fleck auf der rechten Armlehne seines Sessels, dessen Ursprung er immer noch nicht klären konnte. Er schimmerte in einem grässlichen Rotbraun. Es könnte sowohl tief in den Stoff eingesickerte Schokolade als auch lange getrocknetes Blut sein. Das machte ihn verrückt und zwang ihn dazu, ausschließlich die linke Armlehne zu benutzen – eine weitere Sitzgelegenheit gab es nicht.
Zweitens war es diese Wandfarbe. Andere Menschen, die in diesem Raum saßen, würden es vielleicht als fröhliches Sonnenblumengelb oder als leichtes Kanariengelb bezeichnen, wärmende Sonnenstrahlen in Pigmenten festgehalten. Für den Jungen war die Wand Pissgelb. Von oben bis unten. Es ekelte ihn regelrecht, sie anzusehen.
Dann war da noch der Schreibtisch der Therapeutin. Das reinste, pure Chaos. Akten stapelten sich in einem instabilen Turm, der bei dem kleinsten Windhauch in sich zusammenzufallen drohte. Eine Sammlung von bunten Notizbüchern stapelte sich neben den Akten. Gut gehütete Gedanken, hektisch niedergeschrieben und für immer vergessen. Die Schreibtischunterlage war übersät mit ringförmigen Kaffeeflecken in verschiedenen Größen. Jeder wusste, dass dieser Schreibtisch eine Reflexion ihrer Persönlichkeit war, so wie jeder andere Schreibtisch auf der Welt. Dieser Frau vor ihm war es anscheinend egal, was die Leute über sie dachten. Das brachte den Jungen gleich zu seinem letzten Punkt: Er hatte keine Geduld mehr für ihre Geduld. Der Junge kniff die Augen zusammen und rieb sich mit einer Hand über die Wange.
Sein Knie wippte in einem gleichbleibenden Rhythmus zu einem Lied, das nur er hören konnte. Seit zehn Minuten studierte sie das kleine, zerknitterte Heft, das sie in der Hand hielt. Das Heft, das mit seiner eigenen unsauberen Handschrift gefüllt war. Auch die hatte sich über die letzten Monate hinweg verändert, war von geraden parallelen Druckbuchstaben zu etwas geworden, das ein Grundschüler besser hinbekommen hätte.
»Das sieht sehr besorgniserregend aus, Noah«, sagte sie, als sie endlich fertig damit war, die wenigen Notizen zu lesen, die er dort hinterlassen hatte. Es gab nicht viel, was er notieren konnte. Sie griff nach ihrem Tablet und öffnete darauf eine App, die mit der Uhr verbunden war, die er seit einer Woche ununterbrochen trug.
Noah ärgerte sich darüber, dass er selbst ein Tagebuch führen sollte, wenn seine Smartwatch diese Aufgabe viel besser erledigen konnte. Präziser. Erschreckender. Minutengenau. Doch sie dokumentierte nichts, was er nicht schon wusste.
»Das hätte ich Ihnen auch vorher sagen können.«
Dr Alicia Lane sah von dem Tablet auf und konzentrierte sich wieder auf ihren Patienten. Dabei schob sie ihre Brille zurück in ihre dichten, krausen, braunen Haare. Sie waren immer zu einem unordentlichen Knoten auf ihrem Kopf zusammengefasst, der es unmöglich machte, zu sagen, wie lang sie waren. Sie waren nur ein paar Nuancen dunkler als ihre Haut. Noah konnte nicht einschätzen, wie alt sie war. Das war ihm schon immer schwergefallen. Die Falten, die sich in ihre Augenwinkel gruben, konnten auch vom Lachen stammen. Aber er mochte, dass sie immer farbenfrohe Kleidung trug, statt des klinisch weißen gestärkten Hemdes seines Therapeuten aus Deutschland. Er würde nur niemals zugeben, dass er irgendetwas an dieser Frau mochte, die ihn hier quälte.
»Wann ist es so schlimm geworden?«
Noah dachte lang über diese Frage nach. Die letzten Monate verschwammen zu einer einzigen undefinierbaren Masse. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann es nicht schlimm gewesen war. Wieder rieb er sich mit der Hand über das Gesicht. Er ließ seinen Blick zu der Seite des Zimmers wandern, an der sich drei bodentiefe Fenster befanden. Vorgegaukelte Freiheit. Hinter den durchscheinenden, weißen Gardinen konnte man die Häuser der Vorstadt erkennen, die hier alle gleich aussahen. Wie eine Stadt aus Bauklötzen. Eines der Fenster war gekippt und ließ die warme, stickige Luft von draußen und leises Vogelzwitschern in den kühlen Raum.
»Was weiß ich«, erwiderte er patzig. Der genaue Zeitpunkt fiel ihm nicht mehr ein.
»Was für Medikamente nimmst du im Moment?«, fragte Dr Lane, ohne sich an seinem schroffen Tonfall zu stören. Sie nahm seine Akte von dem Beistelltisch, auf der auch ihre Kaffeetasse stand. Die Tasse wackelte dabei gefährlich, etwas von der hellbraunen Flüssigkeit schwappte auf den Tisch und würde dort für den nächsten Fleck sorgen. In diesem Raum roch es immer nach dem Gesöff. Früher hatte Noah den vollmundigen, einzigartigen Duft von frisch gemahlenem Kaffee geliebt. Jetzt brachte er ihn nur noch zum Würgen.
»Nur noch Trimipramin und Doxepin.«
Und das auch nur, weil sich sein Körper inzwischen daran gewöhnt hatte – nicht etwa, weil sie besonders viel halfen. Er war zu jung für solche Medikamente. Die Dosierung, die sie seinem Körper zutrauten, zu schwach.
Die Therapeutin sah sich mit gerunzelter Stirn die Liste der Tabletten an, die er schon in verschiedenen Kombinationen ausprobiert hatte. Alle hatten ihm nur kurzzeitig Linderung verschafft. Sie kannte sich mit dieser nervenzehrenden Krankheit bestens aus. Doch normalerweise waren die Menschen, die zu ihr kamen, mehr als doppelt so alt wie der Junge, der nun vor ihr auf dem Stuhl saß.
Dr Lane sah von der Akte auf, direkt in Noahs grünlich braune Augen, der völlig verkrampft in dem Sessel lehnte.
»Und die helfen dir?«
Er zuckte mit der Schulter. »Drei Stunden sind nicht viel, aber es könnte auch schlimmer sein.«
Sie sah wieder auf die App, die deutlich zeigte, dass es oft auch weniger waren. Dann legte die Therapeutin Tablet und Akte beiseite und lehnte sich zurück. Sie nahm die Brille wieder aus ihren Haaren und spielte abwesend mit den Bügeln. »Ich werde mit deinen Eltern darüber sprechen, ob wir die Dosierung vielleicht doch erhöhen. Ich habe auch sehr gute Erfahrungen mit dieser Kombination gemacht.«
Noah seufzte genervt und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Beinah hätte er auch noch die Augen verdreht, doch das kam ihm zu dramatisch vor. »Ich bin volljährig.«
»Ja, seit ungefähr drei Wochen. Also lass mich das bitte mit deinen Eltern abklären.« Sie lächelte ihn beruhigend an. Ihr Lächeln war wirklich einnehmend. Alles in ihrem leicht rundlichen Gesicht strahlte dabei mit – der Mund, die Augen, ihre Wangen, sogar die Nase. »Nur ein kurzes Telefonat.«
»Was immer Sie wollen.«
Die Therapeutin schlug ihre Beine übereinander und faltete die Hände über dem Knie. »Aufgrund deines Alters werde ich es erst mal etwas anders probieren, als ich normalerweise vorgehe.« Noah versuchte, ihr in die Augen zu sehen, doch sein Blick glitt immer wieder zu anderen Dingen ab. Den Bildern an der gelben Wand, dem Bücherregal, das an der hinteren Wand stand, dem Fleck auf seiner Armlehne.
»Wir werden leichten Druck auf deinen Körper ausüben. Die fremde Umgebung, das ungewohnte Klima, ein neuer Schlafplatz – das alles wird deinen Körper ganz schön durcheinanderbringen.«
In der letzten Woche hatte es zumindest keine fördernde Wirkung auf Noah gehabt – ganz im Gegenteil.
»Ich möchte, dass du dir einen geregelten Tagesablauf schaffst. Schließlich hast du Ferien. Schau, was du machen kannst. Jeden Tag zur selben Zeit aufstehen und frühstücken, im Haushalt helfen, Zeit mit deiner Verwandtschaft verbringen. Ich möchte, dass du Sport machst. Viel davon. Du kannst die Einheiten gerne über den Tag verteilen, aber fang diese Woche mit einer Stunde an und geh nächste Woche auf zwei hoch. Was du machst, ist mir egal, es soll dir ja Spaß machen. Aber ungeachtet dessen, was du sonst tust: Bevor du abends ins Bett gehst, solltest du eine halbe Stunde Yoga oder Meditation einplanen.«
Noahs Augen wurden immer größer, je länger sie redete. Ganz am Anfang seiner Therapie hatten sie es einmal auf diese Art probiert, doch damals war er noch nicht kooperativ gewesen. Hatte das mit dem Sport nicht so ernst genommen, wie er es sollte. Inzwischen hatte Noah keine Wahl mehr. Er konnte sich nur gerade nicht vorstellen, dass sein Körper das noch schaffte.
»Den Rest kennst du. Kein Nikotin, Zucker, Koffein und Alkohol nach fünfzehn Uhr. Tagsüber nicht schlafen. Abends heiß baden …« Dr Lane bemerkte Noahs genervtes Gesicht und lächelte wieder. »Da erzähle ich dir ja nichts Neues.«
Noah sah aus dem Fenster, statt sich auf die Therapeutin zu konzentrieren. Ein Auto fuhr an der Praxis vorbei und bog ein paar Häuser weiter in eine Auffahrt ein. Die Gardine bauschte sich wie eine kleine Wolke im sanften Wind. Sicher wollte die Therapeutin nur das Beste für ihn, doch er hatte einfach keine Lust mehr, ihr noch weiter zuzuhören. Sein Kopf war voll.
Er war so unendlich müde.
Welch Ironie.
»Führe das Tagebuch bitte weiter. Wenn du deine anderen Gedanken auch darin aufschreiben möchtest, darfst du das natürlich gerne tun. Wenn sich dein Zustand durch diese neuen Maßnahmen mehr als drei Tage hintereinander verschlechtern sollte, dann lass sie bitte wieder fallen.«
Damit reichte sie ihm das Notizbuch. Er nahm es ihr mit klammen Fingern ab und rollte es zusammen, um es gleich in seine hintere Hosentasche zu stecken.
»Wird gemacht.«
Dr Lane betrachtete das eingerollte Heft mit Missfallen, sagte aber nichts dazu. Stattdessen reichte sie ihm ihre Hand zum Abschied. »Komm gut nach Hause, Noah. Bis zum nächsten Mal.«
Er nickte ihr zu und verließ eilig die Praxis.
Wenigstens wünschte sie ihm nicht eine gute Nacht.
Am Abend saß er nur mit seiner Tante am Esstisch.
Die schottische Verwandtschaft eignete sich ausgezeichnet für einen geregelten Tagesablauf. Sie legte viel Wert darauf, dass zumindest einmal am Tag alle gemeinsam aßen. Es gab feste Zeiten für Frühstück und Abendessen, an die sich jedes Familienmitglied hielt.
In der letzten Woche hatten sie sich alle wieder aneinander gewöhnen müssen. Er kannte Tante Larna, Onkel Gavan, seinen Cousin Kerr und seine Cousine Hailey, seit er laufen gelernt hat. Sie waren hier schon oft zum Urlaub gewesen, als Noah noch kleiner war. Der letzte Besuch lag jedoch bereits mehrere Jahre zurück. Die Kinder hatten sich in dieser Zeit verändert. Auch wenn sie eine Familie waren, kannten sie sich kaum noch. Noah war diesmal allein hierhergekommen und würde viel länger bleiben. Außerdem war es kein Urlaub, der ihn an diesen Ort brachte. Die Stimmung war letzte Woche sehr gedämpft gewesen. Noah versuchte anzukommen, ohne gleichzeitig zu viel mit seiner Anwesenheit durcheinander zu bringen. Obwohl er in dem kleinen Reihenhaus willkommen war, fühlte er sich nicht danach. Alles roch fremd, aber doch vertraut. Als hätte man das Waschmittel geändert.
An schlechten Tagen hatte er Probleme, den Gesprächen seiner Verwandten zu folgen. Dabei war Englisch genauso seine Muttersprache wie Deutsch.
Bisher war er viel allein unterwegs gewesen, hatte sich am nahegelegenen See entspannt oder war durch den Wald spaziert, der in unmittelbarer Nähe des Hauses lag. Noah hatte sich die malerische Stadt angesehen, die sich verschlafen unter den Strahlen der Mittagssonne erhob und einen mittelalterlichen Charme verströmte.
Er hatte seiner Tante zwar letzte Woche schon mehrfach versichert, dass sie nicht anders kochen brauchte, solange er da war, aber sie war kaum zu bremsen, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Tante Larna hatte sicher mehr über seine Krankheit im Internet recherchiert als er selbst. Dabei aß Noah nur noch wie ein Spatz. Seine Tabletten verdarben ihm den Appetit, wie so vieles andere. Deshalb hatte er in den letzten Monaten bedenklich abgenommen. Er bestand aus so vielen scharfen Kanten, dass ihn sein eigenes Spiegelbild manchmal erschreckte.
Die restliche Familie war heute bei einem Fußballspiel der örtlichen Mannschaft. Seine Verwandten hatten ihn gefragt, ob er sie begleiten wolle, doch aus Fußball hatte er sich noch nie viel gemacht. Außerdem war Noahs Laune nach diesem Tag ziemlich unterdurchschnittlich. Dabei war er seit Wochen gleichbleibend schlecht gelaunt.
So musste er nur die neugierigen Fragen seiner Tante beantworten, die er möglichst harmlos ausfallen ließ. Sie wollte alles über Dr Lane wissen, ihre Methoden und seine Gedanken dazu. Sie würde später sicherlich seiner Mutter berichten, was er gesagt hatte. Noah wählte seine Antworten mit Bedacht, da er seine Mum zu Hause in Deutschland nicht verunsichern wollte. Sie hatte ihn vor lauter Sorge sowieso schon kaum allein gehen lassen.
Wenn sie auch nur einmal hörte, dass es ihrem kleinen Jungen schlechter ging, wäre das sicher unvorteilhaft für ihre eigene Gesundheit.
Noah verbrachte den ganzen Abend mit seiner Tante auf dem Sofa vor dem Fernseher, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Er war kein Mensch, der viele Bücher las. Noah zockte gern, aber die Konsolen hatte er zu Hause gelassen. Nur seinen Laptop hatte er mitgebracht, doch der war zu alt, um darauf Spiele zu spielen. Er wusste, dass das grelle Licht der Bildschirme nicht förderlich war, doch mit irgendwas musste er seine Zeit verbringen.
Um zehn schaltete Tante Larna den Fernseher aus, um ins Bett zu gehen. Sie wünschte ihm eine gute Nacht und verschwand im Bad.
Nachdem sie fertig war, badete Noah und meditierte dann pflichtbewusst – auch wenn es vielleicht nur eine viertel Stunde war. Vor zwölf brauchte er sich gar nicht ins Bett legen. Noah war auch zuvor nie früher schlafen gegangen.
Er stand mitten im Zimmer und betrachtete das schmale Bett vor sich.
Zugegeben, in einem fremden Bett zu liegen, mit fremder Bettwäsche, die nach einem anderen Waschmittel roch, war sehr merkwürdig für ihn gewesen. Die Matratze war ungewöhnlich hart für ihn, die Decke viel zu schwer für die heißen Temperaturen. Darum hatte er sie gleich wieder von sich geworfen. Das Laken fühlte sich kratzig auf seiner nackten Haut an.
Dennoch legte er sich jeden Abend erneut hinein. Mit der schwachen, zerbrechlichen Hoffnung, dass diese Nacht anders ablaufen würde als die davor – oder die davor. Oder die davor.
Wenn er sich ins Bett legte, schaltete sein Körper in einen seltsamen Zustand. Es war nicht so, wie es bei den meisten Menschen ablief. Man dachte noch nach, sortierte die wirbelnden Gedanken im Kopf, die einen bisher nicht losgelassen hatten. Schloss dann die Augen und ließ sich von der bleiernen Müdigkeit, die den Körper langsam lähmte, in den erholsamen Schlaf ziehen.
Nein, sobald Noah im Bett lag, war die Müdigkeit schlagartig weg. Er wusste genau, wie erschöpft er war. Wie er sich durch den Tag schleppen musste, ohne versehentlich einzuschlafen. Doch das Gefühl war nicht mehr da, sobald er sich entspannte. Die Ruhe und die Dunkelheit brachten seinen Körper nicht dazu, in den Schlafzustand zu gleiten. Die Augen fielen ihm nicht zu, seine Muskeln wurden nicht schwerer, als sie sich schon den ganzen Tag anfühlten. Noah konnte nur im Bett liegen und darauf hoffen, dass es bald passierte. Er war seinem Körper hilflos ausgeliefert. Es half, wenn er sich Ohrstöpsel einsetzte und eine Schlafmaske aufzog. Sich von allen äußeren Reizen abwandte, die ihn vom Einschlafen ablenken konnten. Dennoch dauerte es eine Ewigkeit, bis er einschlief. Seine Uhr verzeichnete seine Schlafphase oft erst drei Stunden, nachdem er ins Bett gegangen war.
Einige grausam kurze Stunden voller wirrer bunter Träume später, war er dann wieder wach.
Die Müdigkeit, die ihn den ganzen Tag über in ihren scharfen Klauen hatte, war wie weggeblasen. Als hätte er sich drei Energydrinks intravenös eingeführt. Sein Herz raste in seiner Brust. Er war schweißgebadet, wie jedes Mal, wenn er aus dem Schlaf hochschreckte. Wenn er direkt aus der Traumwelt gerissen und in den wahren Albtraum geschleudert wurde. Nach dieser einen Phase, die viel zu schnell vorbei war, um erholsam zu sein, bekam er die restliche Nacht keinen weiteren Schlaf mehr. Selbst, wenn er jetzt eine von den Zolpidem nahm. Noah riss sich frustriert die Maske von den Augen und starrte an die Decke, während sich sein Puls allmählich beruhigte. Jemand hatte vor vielen Jahren in diesem Zimmer Leuchtsterne an die Decke geklebt. Die meisten von ihnen erhellten die Dunkelheit schon lange nicht mehr. Die Sterne, die über Noahs Schlaf wachen sollten, schienen ihn immer wieder auszulachen, weil er nicht einmal so etwas Einfaches konnte wie schlafen.
Er blieb nicht liegen und probierte erneut einzuschlafen. In diesem Moment hatte er kein Bedürfnis mehr nach Erholung. Sein kaputter Körper gaukelte ihm vor, vollkommen ausgeruht zu sein. Als wäre er ausgeschlafen nach acht Stunden aufgewacht. Doch seine grausame, ehrliche Uhr zeigte ihm an, dass er gerade mal zwei Stunden geschafft hatte. Sie leuchtete die hässlichen Zahlen in den dunklen Raum hinein, als sei sie auch noch stolz darauf. Zwei.
Es hatte mit fünf Stunden angefangen.
Noah hatte schon immer wenig Schlaf gebraucht, war eine echte Nachteule. Er funktionierte den ganzen Tag, wenn er nur sechs Stunden schlief. Er zockte lieber bis spät in die Nacht, anstatt pünktlich ins Bett zu gehen. Darum hatte Noah sich anfangs nichts dabei gedacht, dass er nach fünf Stunden erwachte, jedoch genauso fit schien wie nach sechs oder acht.
Doch schon nach zwei Wochen machte sich der Schlafmangel bemerkbar. Noah war zunehmend unkonzentriert und tagsüber ständig müde. Er nickte wiederholt im Unterricht ein, ohne es mitzubekommen. Seine Lehrer ermahnten ihn immer öfter. Abends stellte er fest, dass ihm ganze Stücke seines Tages fehlten.
Dann begannen auch die Probleme mit dem Einschlafen. Die Wochen vergingen. Der Schlaf wurde unruhiger. Nachts wachte er mehrmals auf, um immer schlechter wieder einzuschlafen. Bis es irgendwann gar nicht mehr funktionierte.
Aus fünf Stunden wurden vier – aus vier Stunden wurden drei.
Und das seit fünf Monaten.
Wenn du nachts nur noch drei Stunden schläfst, verlierst du irgendwann den Verstand.
Kapitel 2
Sein ganzer Körper ächzte von der Anstrengung.
Gestern hatte er es nicht einmal zehn Minuten am Stück geschafft zu joggen, ohne Seitenstechen zu bekommen. Zu sagen, er wäre außer Form, kratzte nicht einmal an der Oberfläche der peinlichen Wahrheit. Noahs Körper hatte ihn in den letzten Monaten auf mehr als nur eine Art verraten. Diese hier würde er einfach mit auf die lange Liste schreiben.
Wieder musste Noah anhalten und die Arme über seinen Kopf heben, um dem bestialischen Schmerz in seiner rechten Seite entgegenzuwirken. Sein Atem rasselte in seiner Brust, als wäre er seit seiner Geburt Kettenraucher. Er fand seinen Laufrhythmus nicht. Alles in ihm schien irgendwie durcheinander, wie eine menschliche Disharmonie. Er war nie ein besonders guter Sportler gewesen, doch eine halbe Stunde durch den Wald joggen war nie ein Problem.
Innerlich verfluchte er seinen Körper für diese Tortur, als er sich wieder in Bewegung setzte.
Noah war bewusst früh unterwegs. Er wollte so wenig fremden Menschen wie möglich begegnen. Auch im Haus war noch niemand wach gewesen, als er sich fertig gemacht hatte, die Schuhe zugeschnürt und nach ein paar Dehnübungen losgelaufen war. Noah vermied es, mit jemandem zu reden, bevor er richtig ansprechbar war. Wach war er zwar immer, aber bis nach dem Frühstück sollte man ihn besser in Ruhe lassen.
Das Waldstück lag direkt hinter der Siedlung, in der das Haus seiner Verwandten stand. Townhill bestand zu großen Teilen aus jungen Familien. Sie alle zog es in den Sommerferien jedoch an den See oder andere nahegelegene Ziele. Der Wald wurde von den meisten Anwohnern gemieden. Auch seine Tante hatte ihn mit einem skeptischen Blick angesehen, als er ihr davon erzählte. Noah merkte, dass sie etwas sagen wollte, doch sie behielt ihre Worte letztendlich für sich. Ließ ihn nicht an ihren Gedanken teilhaben.
Jetzt, gegen sechs Uhr am Morgen, lag der Wald vollkommen verlassen da. Die Nadelbäume rechts und links des Weges wuchsen meterhoch in den Himmel und verdeckten sein zartblaues Zelt komplett. Dadurch war es noch recht dunkel am Waldboden. Ein leichter Wind kämpfte sich durch die Baumkronen und brachte sie zum Rauschen, als wäre er am Meer. Unten waren die Tannen fast komplett kahl, nur kleine, tote Äste klammerten sich noch verzweifelt an den Stamm. Die Rinde war gesprungen und rissig wie trockene Erde. In dem fahlen Sonnenlicht sahen sie eher schwarz aus als braun. Schatten, die sich umeinanderwanden. Das Unterholz war kaum bewachsen, sodass man normalerweise sehr weit in den Wald hineinsehen konnte. Einer der Bäume, an denen er vorbeikam, war schon vor Jahren umgestürzt und lehnte sich Hilfe suchend gegen seinen Nachbarn.
Die Luft war frisch und erfüllt von den Versprechungen des neuen Tages. Es roch nach dem kurzen Regen, der letzte Nacht viel zu wenig Erleichterung gebracht hatte. Petrichor. Nach Moos und Tannennadeln, die den Weg zu seinen Füßen bedeckten und in ein sanftes Bett verwandelten. Süßlich schwer nach der Balance zwischen Leben und Tod.
Zwischen den Tannen stand noch leichter Nebel, doch Noah kannte den Weg bereits, der einmal durch das Waldstück führte und ihn wieder an seiner Siedlung ausspucken würde. Sein Atem war bei Weitem nicht das einzige Geräusch in diesem Wald, aber es war das lauteste.
Die restlichen Vögel hielten sich noch versteckt, waren selbst noch nicht ausgeschlafen. Doch Klänge gab es immer im Wald. Überall knackten Äste und raschelten Büsche. Die Melodie des Lebens.
Der Junge, der zu Füßen der Vögel durch den Wald lief, war auch nicht ausgeschlafen.
Schon seit sehr langer Zeit nicht mehr.
Den Lauf am frühen Morgen hielt Noah für eine gute Idee. Es half, dem Körper zu zeigen, dass er jetzt etwas leisten musste, dass jetzt der Tag begann, dass die Nacht vorbei war. Außerdem half die Bewegung dabei, den Frust der nächsten verlorenen Nacht loszuwerden. Der Wald eignete sich so gut dafür, weil die Runde ziemlich genau eine halbe Stunde dauerte, wenn man sie in einem Stück schaffte.
Noah hatte extra keine Musik mitgenommen, um sich ganz auf seinen Körper konzentrieren zu können. Nur seine eigenen federnden Schritte auf dem nadelbedeckten Kiesweg und sein keuchender Atem folgen ihm. Seine Muskeln, die sich mehr anstrengen mussten, als er vermutet hatte.
Nur selten kam ihm jemand mit einem Hund entgegen, die schon eine frühe Runde gingen und ihn freundlich grüßten. Der Junge musste sich noch daran gewöhnen, dass hier jeder einen freundlich anlächelte. Ob man sich nun kannte oder nicht. Solche Dinge war er aus seiner Heimat nicht gewohnt. Dort war jeder froh, wenn er für sich allein war.
Noah joggte um eine Kurve und plötzlich war da ein Mann, der ihm entgegenkam. Als dieser den Jungen in einiger Entfernung vor sich bemerkte, hob er die Hand und lächelte. Noah erwiderte den Gruß jedoch nicht.
Stattdessen drehte er abrupt ab und lief geradewegs in den Wald hinein.
Er konnte nichts dagegen tun, dass seine Füße ihn eilig in eine andere Richtung trieben. Sein Kopf war wie leergefegt und gleichzeitig waren da tausend Dinge, die ihn blendeten. Worte, Bilder, Gedanken. Nichts, was er richtig greifen konnte. Wirre Fetzen, die sich nicht wieder zusammensetzen ließen. Nur Chaos in seinem Kopf, das sich nicht kontrollieren ließ. Doch über allem das Gefühl von tiefgreifender Angst. Es klammerte sich um sein Herz, seine Muskeln, trieb sie noch weiter an. Schatten in seinem Blickfeld nahmen ihm die Sicht und die Orientierung. Alles konzentrierte sich darauf, von diesem Ort wegzukommen.
Die Äste knackten wie Knochen unter seinen Füßen, während er immer weiter in den Wald hineinlief. Seine Umgebung flog in braunen und grünen Schlieren an ihm vorbei. Er rannte an Stämmen, Bächen und Hügeln vorbei, noch tiefer in den Wald.
Erst, als er über einen Stein stolperte und sich nur mit Mühe fing, kam er wieder zu sich. Noah war völlig außer Atem. Schweißtropfen liefen ihm die Schläfen hinab, verschwanden in dem Ausschnitt seines Shirts. Er musste sich an einem Stamm anlehnen und erst einmal zu Atem kommen. Die Rinde fühlte sich kühl und rau unter seinen Händen an. Dabei sah er hinauf zu den Baumkronen und entdeckte ein Loch über sich, das den blauen Himmel dahinter freigab. Sonne fiel bereits durch die Öffnung und malte ihre ersten Muster auf den Waldboden.
Er drehte sich einmal um sich selbst, auf der Suche nach etwas, an dem er sich orientieren konnte. Und noch einmal – langsamer diesmal.
Doch da war nur der Wald.
Nur die Tannen, die sich unendlich oft aneinanderreihten und jedes Stück Wald gleich aussehen ließen. Ein Gefängnis aus Holz und Erde. Sie flüsterten seinen Namen im Wind, süß wie eine Versprechung.
Noah. Noah.
Er versuchte, sich davon nicht verwirren zu lassen, doch Gänsehaut kroch über seine Arme und ließ ihn frösteln. Der Nebel hatte sich inzwischen aufgelöst, dennoch konnte der Junge nichts finden, das er wiedererkannte. In jeder Richtung nichts als Bäume. Noah sah zum Himmel, probierte anhand der Sonne zu sagen, wo die Siedlung lag, aber auch das war nur eine Vermutung. Etwas, mit dem sein Gehirn ihn beruhigen wollte.
Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich weich und lebendig an, eine bunte Mischung aus Gelb und Grün. Nachdem er ein paar unsichere Schritte in eine Richtung gelaufen war, hörte er ganz leise das Plätschern von Wasser.
Noah blieb stehen und versuchte das Geräusch besser zu lokalisieren. Er wusste, dass ein Bach nicht weit der Siedlung verlief, doch nicht, ob es der einzige war, der sich durch diesen Wald wand, oder ob ihn dieser zu einem ganz anderen Ort führen würde. Es war jedoch die beste Spur, der er folgen konnte.
Der Bach lag schon bald vor ihm. Ein kleines, fröhlich fließendes Gewässer, bei dem er locker von einem Ufer zum anderen springen konnte. Selbst wenn er hineinfiel, würde das Wasser gerade einmal bis zu seinen Knien reichen. Laub wurde an seiner Oberfläche an ihm vorbei getragen. Er überlegte krampfhaft, in welche Richtung der Bach bei der Siedlung plätscherte. Aber es wollte ihm einfach nicht einfallen. Erst war er sich sicher, dass er vom Wald wegfloss, dann, dass er in den Wald hineinfloss.
Noah seufzte laut, das Geräusch klang fremd in der menschenleeren Umgebung. Und doch seufzten die Bäume mit ihm.
Er beschloss, einfach dem Lauf des Wassers zu folgen. Er hielt den Blick dennoch auf den Wald gerichtet. Immer auf der Suche nach etwas anderem als Bäumen, das ihm helfen konnte, nach Hause zu finden. Zum Haus seines Onkels.
Dann sah er in der Ferne etwas zwischen den Bäumen aufblitzen. Zuerst glaubte er, sich geirrt zu haben, aber als er weiter ging, sah er es wieder.
Ein Gebäude?
Er lief los, vorsichtiger dieses Mal, geradewegs auf das zu, was sich zwischen den Bäumen verbarg. Äste knackten warnend unter seinen verlorenen Schritten. Den Bach hatte er schon wieder vollkommen vergessen und hinter sich gelassen, wie eine ferne Erinnerung. Der Wind frischte auf und rauschte durch die Kronen der Bäume. Kurz hatte der Junge das Gefühl, sie würden ihm mehr als nur seinen Namen zuflüstern.
Warnungen. Versprechen.
Vor ihm schälte sich ein Haus aus dem Wald. Ein ziemlich großes Haus. Eher ein Anwesen, das ihm bei keinem seiner vorherigen Spaziergänge bisher aufgefallen war.
Das Gebäude war aus hellem, gelblichem Stein gebaut. Hölzerne Fensterläden verschlossen die hohen, oben abgerundeten Fenster. Es war alt und in keinem guten Zustand. Zwei Etagen mit spitzen Dächern obenauf, die einige Löcher aufwiesen.
Was auch immer das für ein Haus war, nach der Richtung würde er hier niemanden fragen können. Es war sicher nicht bewohnt, wenn es halb verfallen war.
Neugierig ging er weiter um das Gebäude herum. Er wusste nicht, ob er an der Vorder- oder der Rückseite des Hauses war. Es war ein beeindruckender Bau. Etwas, das er bisher eher in den Serien gesehen hatte, die sich seine Mutter gern ansah. Historische Dramen voller Intrigen und Geheimnisse.
Dann hörte der Junge hinter sich ein lautes Knacken. Erschrocken fuhr er bei dem Geräusch herum, ballte automatisch seine Hände zu Fäusten. Ein wenig tiefer im Wald fuhr jemand mit seinem Mountainbike an ihm vorbei. So interessant dieses baufällige Haus auch war, so sehr es nach ihm zu rufen schien, dieser Mensch war der erste, den er in der ganzen Zeit gesehen hatte. Noah drehte sich um und rief so laut er konnte.
Glücklicherweise hörte die Frau ihn und blieb sofort stehen. Verwirrt sah sie ihn an, als er nach dem kurzen Sprint keuchend bei ihr zu stehen kam.
»Verzeihung«, sagte er, während er sich die verschwitzten Haare aus der Stirn strich. »Ich bin neu hier und habe mich irgendwie verlaufen und kein Handy dabei. Ich muss zurück nach Townhill.«
»Townhill …«, sagte die Radfahrerin nachdenklich und sah sich einmal um. Dann erhellte sich ihr Gesicht, als sie sich an etwas erinnerte. »Ah! Hier in der Nähe fließt irgendwo ein Bach. Dem musst du einfach nur stromaufwärts folgen. Soll ich dich dorthin bringen?«
Der Junge musste beinah lachen, dass er zwar instinktiv die richtige Idee gehabt, das Glück aber nicht auf seiner Seite gewesen war. Er wäre dem richtigen Bach in die komplett falsche Richtung gefolgt. Wenn er sich nur daran hätte erinnern können, wohin der Bach in der Siedlung floss. Jetzt, wo die Frau es erwähnte, war das Bild ganz klar vor Augen. Wie die Blätter darauf an ihm vorbeigeschwommen waren, als er neben dem Bach hergelaufen war.
Langsam drehte er sich einmal im Kreis und versuchte, das Gewässer hinter sich wieder zu finden. Doch er war so von diesem Haus abgelenkt gewesen, dass er schon vergessen hatte, wo er lag.
Mit hängenden Schultern wandte er sich an die Frau. »Das wäre sehr nett.«
Sie lachte herzlich, während sie von ihrem Fahrrad abstieg. Die Bäume warfen das Lachen zu ihr zurück, als würde es von ihrer Rinde abprallen. »Keine Sorge. Hier sieht wirklich alles gleich aus. Darum lässt auch niemand seine Kinder alleine in den Wald.«
Zusammen setzten sie sich erneut in Bewegung. Das Fahrrad gab protestierende Laute von sich, als es von nun an über den unebenen Boden geschoben wurde, statt darüber zu rasen. Noah sah die Frau verwirrt an. »Sind hier wirklich Kinder verschwunden?«
Ihr Blick wanderte durch den Wald, doch sie fokussierte nichts Bestimmtes. War mit ihren Gedanken an einem weit entfernten Ort. Zu einer anderen Zeit. »Zu oft.«
Das war alles, was sie dazu sagen würde, da war sich der Junge sicher. Sie presste die Lippen zusammen und sah geradeaus. Ignorierte die fragende Miene des jungen Mannes neben sich. Er betrachtete die Ansammlung von schwarzbraunen Stämmen. Gelegentlich schien die Sonne durch das Blätterdach und bildete leuchtende Teiche auf dem Boden. Jetzt, wo sich der Nebel verzogen hatte und die Vögel ihr Tageswerk aufgenommen hatten, kam ihm dieser Ort nicht sonderlich gefährlich vor.
Auf der anderen Seite hatte auch er sich gerade hier verirrt. Seinen nicht vorhandenen Orientierungssinn in dieser neuen Umgebung konnte man durchaus mit dem eines Kindes vergleichen.
Schon bald drang das beruhigende Plätschern des Baches an Noahs Ohren. Sie blieben am Ufer stehen und die Frau zeigte sicherheitshalber noch einmal flussaufwärts. »Du kannst ihm einfach immer folgen.«
»Danke sehr«, antwortete Noah leicht beschämt, weil er sich so hilflos vorkam. Wer konnte sagen, wann und wie er ohne fremde Hilfe zum Haus seines Onkels gefunden hätte?
Doch die Frau lächelte herzlich, setzte sich bereits auf den Sattel ihres Rades. »Kein Problem. Nimm nächstes Mal einfach dein Handy mit.«
»Das werde ich.« In diesem Moment schwor er sich, hier nie wieder ohne sein rettendes Smartphone aus dem Haus zu gehen. Das blöde Gerät hätte ihn ganz einfach vor dieser ganzen Peinlichkeit bewahren können. Wenn er dazu noch Musik gehört hätte, hätte Noah sich vor diesem Fremden auch nicht so erschrocken.
Nachdem er zwei Schritte in Richtung der neuen Heimat gelaufen war, fiel Noah plötzlich etwas ein.
»Ach so, da war …«
Doch die Frau auf dem Rad war schon zu weit entfernt. Nur noch ein dunkler Schemen zwischen den Bäumen.
Ob seine Familie wohl wusste, was es mit dem Gebäude auf sich hatte, dass dort mitten im Wald stand?
Traum I
Es ist kalt.
Um mich herum ist nichts als Wasser. Ich drehe den Kopf in sämtliche Richtungen – alle zeigen mir dasselbe Bild. Kein Land, kein Wald, kein Boot. Das kalte Wasser schwappt mir bis zur Taille, verursacht eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper. Auf meiner nackten Haut richten sich die Haare langsam auf. Die Luft riecht abgestanden, geradezu verrottet. Um mich herum geht kein Wind. Alles steht still.
Außer dem leisen Geräusch des Wassers an meiner Haut gibt es nichts.
Die glatte, nasse Oberfläche spiegelt den endlosen grauen Himmel wider, sodass beides zu einer einzigen glitzernden Masse verschmilzt. Ich kann nicht sagen, wo das Wasser aufhört und der Himmel anfängt. Beides scheint endlos zu sein.
Von mir gibt es jedoch kein Spiegelbild. Keinen Zwilling auf der anderen Seite des Wassers, der mich nachahmt. Nichts, das mir meine Existenz bescheinigt. Nur der Anblick meiner blassen Haut, wenn ich an mir herabsehe. Haut, durch die ich die Bögen meiner Rippen zählen kann.
Wenn ich mich bewegen würde, könnten die sanften Wellen auf der Wasseroberfläche diese trügerische Spiegelung unterbrechen. Dann würde ich deutlicher erkennen, dass das Wasser nicht grau ist, sondern nahezu schwarz.
Doch das kann ich nicht.
Meine Arme liegen an den Seiten meines Körpers an und lassen sich nicht bewegen. So, als wären sie an ihm festgebunden. Nicht einmal den kleinen Finger kann ich rühren. Das Wasser ist jedoch so dunkel, dass ich nicht unter die Oberfläche sehen kann.
Als wäre es kein Wasser, sondern flüssige Finsternis, die mich umgibt. Ein grenzenloses tiefes Nichts unter mir, das nach mir ruft.
Dann spüre ich Unterwasser eine Bewegung an meinen Beinen. Es ist mehr eine Regung des aufgewirbelten Wassers, das mich trifft.
Ich schlucke meine Unsicherheit hinunter und versuche mich zu beruhigen. Hier kann mir nichts passieren, schließlich stehe ich mit den Füßen auf dem Grund. Auch wenn ich ihn nicht unter meinen Sohlen fühlen kann. Meine Beine sind halb erfroren von der kalten Dunkelheit, die sie umgibt. Doch wenn ich nicht stehen würde, wäre ich schon längst untergegangen.
Wieder die Bewegung, diesmal an meinen Füßen.
In stummer Erwartung schlägt mein Herz immer schneller in meiner Brust.
Dann ist wirklich etwas an meinen Zehen.
Eiskalt und glitschig fährt es über meine Haut und wandert immer weiter meinen Knöchel hinauf. Ich zucke überrascht zusammen, als kurz darauf an meinem anderen Fuß auch etwas ist. Ein Schauder fährt mir eisig den Rücken hinab. Ich will wegrennen. Aber so sehr ich mich auch bemühe, außer meinem Kopf bewegt sich mein Körper keinen Millimeter.
So bin ich dazu gezwungen, es über mich ergehen zu lassen. Es still auszuhalten. Das erste Unbekannte ist an meinem Knie angekommen und jetzt merke ich, was es ist.
Hände.
Ich kann eindeutig die einzelnen eisigen Finger spüren, die an meinem Bein weiter hochwandern, während an meinen Füßen schon wieder neue sind. Kaltes Grauen überkommt mich und lähmt meine Gedanken. Es werden immer mehr. Sie sind so unglaublich frostig auf meiner Haut, lassen mich überrascht nach Luft schnappen.
Die Wasseroberfläche gerät um mich herum plötzlich in Bewegung. Sanfte Wellen bilden sich durch die Strömungen unter der Oberfläche. Sie verwandeln den ruhigen, stillen Spiegel in einen dunklen Wirbel. Zusammen mit der Regung bemerke ich jetzt auch den Geruch des Wassers, der sich in meine Nase beißt. Modrig und faulig, so unangenehm, dass mir sofort übel davon wird. Angestrengt versuche ich, nicht durch die Nase zu atmen.
Unmittelbar vor mir brechen weiße Finger durch die schwarze Wasseroberfläche. Erst nur zwei, dann folgen auch die restlichen, bis eine ganze Hand aus dem Wasser ragt. Die Haut ist bleich, bläulich und aufgequollen. Die Fingernägel schwarz oder sie haben sich bereits ganz abgelöst. Das finstere Nass tropft von ihr herunter. Das Platschen der Tropfen auf der ansonsten stillen Oberfläche klingt laut und ungewohnt. Langsam kommt sie immer mehr in meine Richtung, je weiter sie aus dem Wasser hervorschaut. Neben ihr taucht noch eine weitere Hand auf, bei der bereits ganze Finger abgefault sind. Als ich kurz den Kopf drehe, bemerke ich sie überall um mich herum. Bleiche, tote Hände, die auf mich zukommen.
Ich versuche mich zu erinnern, wie man atmet. Schnelle, abgehakte Atemzüge, mehr schaffe ich nicht. Nicht genug, um mein Gehirn mit genügend Sauerstoff zu versorgen.
Die Hände sind inzwischen an meinem Bauch angekommen und schieben sich nun auch durch die Wasseroberfläche. Eingerissene Fingernägel kratzen wie kleine Messer über meine Haut. Sie wandern meine Brust und meinen Rücken herauf, meine Arme entlang bis zu meinen Schultern. Die viel zu langen Arme legen sich auf meinen Körper wie Schlingen, während sie sich weiter nach oben vorarbeiten. Nur das Plätschern des Wassers ist zu hören.
Überall sind Hände. Sie krallen sich haltsuchend in meine Haut. Winden sich wie ein Seil um meinen Körper. Ich höre auf zu atmen, während mein Herz viel zu schnell schlägt.
Dann sind sie an meinem Hals. Kalte, leblose Finger.
Wandern weiter hinauf in mein Gesicht. Galle steigt mir den Hals herauf, doch ich schlucke sie hinunter. Ich versuche sie abzuschütteln, indem ich meinen Kopf hektisch umher schwenke. Aber sie lassen nicht von mir ab. Ich will schreien, doch dann sind die Hände an meinem Mund. Schnell presse ich meine Lippen fest aufeinander, schließe ängstlich meine Augen. Angestrengt atme ich durch die Nase weiter.
Die kalten glitschigen Finger sind überall in meinem Gesicht. In meinen Haaren, in meinen Ohren. Der Geruch des Brackwassers und des verwesenden Fleisches um mich herum treibt mir die Tränen in die Augen.
Panik überkommt mich, lässt meinen Puls noch weiter in die Höhe schnellen, meine Innereien sich zusammenziehen. Der Instinkt übernimmt die Kontrolle, aber auch so kann ich mich nicht bewegen.
Ich muss hier weg!
Meine Muskeln zittern vor Anstrengung, ohne dass sie sich einen Millimeter bewegt hätten.
Die Hände krallen sich an mir fest. Ziehen an meinen Haaren, bis sie sie ausreißen. Sie kratzen über meine Haut mit ihren widerlichen Nägeln und ritzen Spuren hinein. Sie halten sich an mir fest, während sie mich langsam nach unten ziehen. In die Tiefe. Ein verzweifelter Laut kämpft sich meinen Hals herauf, doch es klingt gedämpft, weil inzwischen auch Hände über meinem Mund liegen. Über meinen Augen, über meiner Nase. Bis ich keine Luft mehr bekomme.
Ich will das nicht! Aber eine Chance zu entkommen gibt es nicht.
Sie ziehen mich immer weiter hinab. Das Wasser reicht mir inzwischen bis zur Brust. Die Hände krallen sich weiter an mir fest, haben sich um meine Füße geschlossen.
Dann ist das Wasser an meinem Kinn, schwappt mir über die Lippen.
Ein letztes Mal sauge ich wertvollen Sauerstoff durch meine Nase in meinen Körper, bevor auch die unter die Oberfläche gezogen wird.
Auf der anderen Seite des Spiegels ist alles still.
Still und kalt.
Kein Geräusch dringt an meine Ohren. Wider aller Vernunft öffne ich vorsichtig ein Auge, doch da ist nur Weiß und Schwarz.
Die vielen Hände, die unter der Oberfläche noch weißer erscheinen, als wären sie aus Porzellan. Dahinter ist alles unendlich schwarz. Ich erkenne kein Ende in dieser Tiefe, werde immer weiter nach unten gezogen. Die matten Sonnenstrahlen, die sich durch die Wasseroberfläche kämpfen, entfernen sich rasant von mir. Sie liegt jetzt wieder still über mir, wie eine Wand. Als hätte ich niemals dort gestanden und sie durchbrochen. Unendlich weit entfernt.
Die wenige Luft, die sich noch in meinen Lungen befindet, wird schnell knapp. Mein Körper schreit mich an, ihn atmen zu lassen.
Und ich erfülle ihm diesen Wunsch.
Nur, dass statt des sehnsüchtig erwarteten Sauerstoffes verrottetes Wasser in meinen Mund eindringt, als ich ihn öffne. Wasser, das meine Lungen füllt, als ich es schlucke.
Fasziniert schaue ich zu, wie die Luftblasen über mir zur Oberfläche steigen. Kleine runde Beweise meines Lebens. Wie lang sie brauchen, bis sie dort ankommen.
Und wie dann keine mehr nachkommen.
Ich schließe die Augen, während sich meine Lungen schmerzhaft gegen die Feuchtigkeit wehren, die dort nicht hingehört. Die sich verbreitet, als ich noch mehr Finsternis schlucke.
Und dann lasse ich mich einfach sinken.
Kapitel 3
Langsam band Noah die Schnürsenkel seiner Laufschuhe zu.
Der Morgen war vergangen, ohne dass er eine Gelegenheit gehabt hatte, laufen zu gehen. Nachdem er letzte Nacht schweißgebadet aus diesem grauenhaften Albtraum hochgeschreckt war, war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen. Er brauchte fast zehn Minuten, bis er seine Lungen davon überzeugen konnte, dass er nicht wirklich ertrank. Sie hatten sich so lange dagegen gesperrt, ihre Funktion wieder richtig aufzunehmen, dass ihm kurz schwarz vor Augen geworden war. Selbst dann hatte er immer noch das Gefühl, diese Hände überall auf seinem Körper zu spüren.
Am Morgen war er erneut bei Dr Lane gewesen. Sie hatte sich in der Zwischenzeit mit seinen Eltern in Verbindung gesetzt, wegen der Medikamente. Obwohl er sich in der letzten Sitzung noch so darüber aufgeregt hatte, war es ihm nur recht, dass er bei diesem Gespräch nicht dabei gewesen war. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass seine Mutter die Ärztin mit hunderten Fragen bombardierte. Passend zu ihren hundert Sorgen, die ihre Stimme immer schriller werden ließen.
Dabei war Noah sich selbst nicht sicher, ob es notwendig war, die Dosis zu erhöhen. Denn trotz dieses fürchterlichen Albtraums hatte er in der vergangenen Nacht fast fünf Stunden geschlafen. Und in der davor waren es beinah sechs.
Noah war schockiert, wie wenig seinem Körper diese zusätzliche Portion Schlaf half. Er sah die Stundenzahl auf dem Protokoll seiner Uhr, doch er fühlte sich nicht besser als nach einer Nacht mit nur drei.
»Das sollte nicht so sein, oder?«
Dr Lane hatte ihn mit einem aufmunternden Lächeln angesehen. »Keine Sorge. Dein Körper ist schon so lange auf Entzug, dass ihm ein oder zwei Tage mehr Energie keine Linderung bringen. Aber wenn wir das auf eine ganze Woche erweitern können, verspreche ich dir, merkst du den ersten Unterschied.«
Sie war höchst erfreut, dass ihre Methode Wirkung zeigte. Ihr Dutt wippte auf ihrem Kopf hin und her, als sie etwas vom Schreibtisch holte. Die gute Laune dieser Frau färbte langsam, aber sicher auch auf den Jungen ab.
Noah wusste nicht, ob es wirklich an der neuen Umgebung lag. Er wollte nicht, dass es so war. Denn wie sollte er dann zu Hause weitermachen, wenn die sechs Wochen um waren, die er hier verbringen würde? Den Sport konnte er problemlos beibehalten, aber was, wenn es wirklich nur daran lag, dass hier alles neu für ihn war?
Dennoch entschieden sie sich beide gemeinsam dafür, die Medikamentendosis vorerst nicht zu erhöhen. Auch wenn er die Erlaubnis seiner Eltern hatte.
Darum zog Noah direkt nach der Sitzung bei Dr Lane wieder los, um joggen zu gehen. Wenn er nur sechs Wochen hatte, um den verlorenen Schlaf der letzten Monate nachzuholen, dann würde er diese Zeit nutzen. Bevor sein verräterischer Körper in seiner vertrauten Umgebung erneut seinen alten Gewohnheiten verfiel. Ihm graute davor, dass dies – wie so oft in den letzten Monaten – nur eine kurzzeitige Verbesserung war.
Es war früher Nachmittag, als Noah dieses Mal losging. Seit seiner ersten Joggingrunde im Wald war er nicht wieder von dem Weg abgewichen, den er kannte, und der ihn sicher zurück zum Haus seines Onkels führte. Schon nach einigen Minuten lief ihm der Schweiß über die Stirn in seine Augen. Es war drückend heiß geworden. Auch wenn der dichte Wald ihm Schatten spendete und die Sonne nur gelegentlich ihre volle Kraft auf seinen Kopf entladen konnte. Die Luft war warm und trocken, brannte bereits nach wenigen Metern in seiner Kehle. Selbst um diese Uhrzeit begegnete er kaum anderen Menschen. Dafür war der Wald um einiges lebendiger. Unzählige Vögel sangen ihr Lied um ihn herum, jedes davon forderte seine Aufmerksamkeit für sich ein. Der Wald stimmte sein Lied allein für Noah an. Der Wind war stark und ließ die Blätter rauschen, und doch kühlte er kaum seine Haut. Noah bahnte sich seinen Weg durch die Stämme.
Die Runde brachte Noah ohne Zwischenfälle hinter sich, auch wenn er kurz vor dem Ende glaubte, er würde jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Sein Körper hatte noch zu wenig Energie. Er stand auf dem Waldweg, die Hände auf den Knien abgestützt, kam langsam wieder zu Atem. Er war vollkommen verschwitzt. Unangenehm klebte ihm das Laufshirt am Körper, als wäre es mit seiner Haut verschmolzen.
Das Plätschern des Baches drang an seine Ohren. Noah setzte seinen Weg fort, in der Hoffnung, seine Hände in das kühle Nass zu tauchen.
Der Bach war hier breiter, wurde hinter der Siedlung noch größer, sodass man auch mit einem Boot darauf fahren konnte. Er mündete schließlich in den See, der um diese Uhrzeit sicherlich hoffnungslos überfüllt war. Noah seufzte wohlig, als er sich hinhockte und seine Hände in das frische, kalte Wasser tunkte. Steine glitzerten auf dem Grund des Baches in der Sonne. Gelegentlich sah er sogar einen kleinen Fisch von Ufer zu Ufer huschen. Er beugte sich tiefer hinab, um etwas Wasser über sein Gesicht rinnen zu lassen. Für einen Moment wollte der Traum ihn erneut mit sich hinabziehen, als das kühle Nass von seinem Kinn tropfte. Er wartete darauf, dass eine Hand aus dem Wasser schnellte und ihn mit sich hinunterzog. Doch der Junge schüttelte das bedrückende Gefühl schnell wieder ab.
Er stand auf, um zum Haus seines Onkels zu gehen.
Dann kam Wind auf und in der Ferne rief laut und schrill ein Vogel, den er noch nie gehört hatte. Noah folgte dem Geräusch, das von einem Ort kam, der entlang des Flusslaufs lag. Erneut dachte er an das Haus, das er zufällig im Wald entdeckt hatte. Er hatte in den letzten Tagen öfter daran denken müssen – öfter, als ihm lieb war.
Seine Verwandten hatte er dennoch nicht nach dem Gebäude gefragt.
Irgendetwas hielt ihn davon ab, es zu erwähnen. Genauso, wie jetzt etwas in ihm drängte, dem Fluss zu folgen, bis er es erneut sehen würde. Er hatte genug Zeit, das Gebäude zu erkunden. Herauszufinden, was es damit auf sich hatte.
Bevor er sich dafür oder dagegen entschied, bewegten sich seine Füße bereits von allein. Zielstrebig folgten sie dem Flusslauf. Immer und immer weiter durch den dichten, hellen Wald.
Der Junge war sich sicher, dass er schon längst die Mauer zwischen den Bäumen hätte sehen müssen. Der Rückweg war ihm vor ein paar Tagen nicht so lang vorgekommen. Gerade, als er enttäuscht wieder umdrehen wollte, um sein erstes Abenteuer für gescheitert zu erklären, sah er es erneut: gelbliches Gestein zwischen den dunklen Stämmen.
Dieses Mal ließ er sich Zeit, als er darauf zulief.
Der massive Bau ragte hoch vor ihm auf, als er an den Rand des Waldes kam und auf die Lichtung trat, auf der das Haus stand. Er ging langsam einmal darum herum, bis er an der Vorderseite angekommen war.
Vor dem Gebäude gab es zwei breite runde Steintreppen, die ein paar Stufen hinab zu einem großen ovalen Kiesplatz führten. Jede Stufe hatte eine andere Höhe als die davor, was ihn beinah zum Stolpern brachte. Am Ende dieses Platzes war ein drei Meter hohes, halb verrostetes Metalltor, von zwei Steinpfeilern eingefasst, das aufwendige Verzierungen aufwies. Es war mit einer Kette verschlossen, die eindeutig neueren Ursprungs war als das Tor. Rechts und links von dem Tor führte eine hohe alte Steinmauer um das Gebäude herum, die offensichtlich irgendwo einfach endete. Ansonsten wäre er nicht so einfach auf das Gelände gelangt.
Als Noah auf dem Platz stand, knirschten die Steine unter seinen Schuhen aufgeregt. Er drehte sich zu dem Haus um, das er jetzt ganz betrachten konnte.
Es war ein herrschaftliches Gebäude.
Die Tür, die direkt in der Mitte des Gebäudes lag, war höher als normalerweise und hatte zwei Flügel. Sie bestand aus tiefbraunem Holz, so dunkel, dass sie beinah schwarz war. Auch sie war vor vielen Jahren bestimmt einmal ein Kunstwerk gewesen. Doch jetzt war das Holz an vielen Stellen abgesplittert, wurmlöchrig und morsch. Sie stand dort wie ein gieriges Maul – hungrig nach Gästen und Menschen, die sie hindurchlassen konnte.
Rechts und links der Tür erstreckte sich symmetrisch der restliche Bau. Die Ecken des Hauses waren aus nahezu gleich großen Steinen gebaut, die übereinander lagen und wie eine Umrahmung aussahen. Dazwischen war das Haus verputzt. Aber der Putz und auch die Kantsteine waren bröckelig und lösten sich an vielen Stellen ab. Noah zählte fünf der hohen, oben abgerundeten Fenster, die im gleichen Abstand nebeneinander lagen. Darüber in der zweiten Etage noch einmal genau so viele. Die Fensterläden waren alle geschlossen, außer dort, wo sie schon abgefallen waren. Viele hingen schief in den alten und verrosteten Scharnieren. Gaben heimliche Blicke frei auf das, was womöglich hinter diesen Scheiben liegen mochte. Die Finsternis, die dahinter hervorblitzte, weckte Noahs Interesse.
Was war nur mit diesem Anwesen passiert?
Warum war es so heruntergekommen?
Das Gebäude sah aus, als hätte es rechts und links später einen Anbau erhalten. Denn der mittlere Teil des Hauses hatte ein durchgehendes flaches Dach mit ehemals grauen Schindeln, die inzwischen alle von Moos bedeckt waren. Teilweise fehlten ganze Ziegel und rissen schwarze Löcher in die Oberfläche. Während rechts und links ein separates Dach auf dem Teil des Gebäudes lag, in dem es sogar eine kleine Luke gab.
Zwischen den Dächern ragten zwei Schornsteine in die Luft. Ihre Spitzen waren rußgeschwärzt.
Direkt über der dunklen Eingangstür gab es in der Etage darüber auch zwei Fenster. Eines davon war von den Fensterläden verdeckt, bei dem anderen fehlte einer.
Der viel zu neugierige Junge ging die Treppenstufen wieder hinauf, um sich das Gebäude noch einmal von Nahem ansehen zu können. Um zu schauen, ob er vielleicht diese Tür öffnen konnte. Denn das Bedürfnis, diesen Ort zu erforschen, wurde immer dringender. Es zog an ihm wie ein Magnet. Er konnte sich kaum dagegen wehren.
Da hielt er plötzlich inne.
Oben an dem Fenster, das vollkommen ohne Schutz da lag, stand eine Silhouette.
Noah hielt die Luft an, während er nichts anderes tun konnte, als wie paralysiert auf dieses Fenster zu starren, ob seine Augen ihm vielleicht einen Streich spielten. Doch je länger er hinsah, desto sicherer war er, eine Person vor dem schwarzen Hintergrund zu erkennen. Gänsehaut breitete sich trotz der hohen Temperaturen auf seinen Armen aus. Er konnte den Blick der anderen Person auf sich spüren wie eine unsichtbare Berührung. Als sie sich hinter dem Fenster bewegte, hielt Noah es nicht mehr aus. Die Anspannung, die seinen Körper in ihren Fängen gehalten hatte, löste sich mit einem Mal.
Er rannte erneut in den Wald hinein. Er rannte, bis er den Bach wiederfand und rannte immer noch, als er bei dem Haus seines Onkels ankam. Sein Atem hallte ihm in den Ohren wider.
Noah wollte nicht wissen, wer – was – da hinter dem Fenster gestanden hatte.
Er ging direkt unter die Dusche und stellte sie auf eiskalt. Erst dann, während das Wasser auf seine Haut traf wie kleine Nadeln und er überrascht nach Luft schnappte, konnte er dieses schleimige Gefühl abschütteln, beobachtet zu werden.
Beim Abendessen saß er mit seiner ganzen Verwandtschaft zusammen.