Whispering Pages - Lena Hoogen - E-Book
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Whispering Pages E-Book

Lena Hoogen

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Beschreibung

Kannst du etwas finden, das nicht gefunden werden will? Eigentlich ist Liam Walker nach Glasgow gezogen, um sich für eine Universität zu entscheiden. Stattdessen verbringt er seine Zeit lieber in der Dunnet Library, versteckt sich zwischen den Regalen, obwohl er den Büchern nichts abgewinnen kann. Dafür begegnet er dort einem jungen Mann, der umso faszinierender ist. Kieran sorgt schnell dafür, dass Liam seine ursprünglichen Pläne vergisst. Er sucht schon seit Langem nach einem speziellen Buch, das nicht in der Bibliothek verzeichnet ist – bis Liam ihm seine Hilfe anbietet. Die alten Bücher flüstern ihm ohnehin heimlich zu. Doch dann beginnen Angestellte einer nach dem anderen zu verschwinden. Liam wird klar, dass zwischen den hohen Regalen der Dunnet Library mehr als nur Schatten lauern…

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Seitenzahl: 487

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LENA HOOGEN

DARK URBAN FANTASY

TEIL ZWEI DER HAUNTED-SOULS REIHE

© 2024 Lena Hoogen

www.lenahoogen.de

Lektorat: Katrin Weißenböck (www.lektorat-heimathafen.at)

Coverdesign und Innengestaltung von: Lena Hoogen

Korrektorat: Marie Heisterkamp

Cover Font „Troemys“ by BlackCatMedia via Creative Market

Kapitel-Illustration „Nebel“ via freepik.com

ISBN Softcover: 978-3-384-12711-2

ISBN Hardcover: 978-3-384-12712-9

ISBN E-Book: 987-3-384-12713-6

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg,

Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

INHALTSWARNUNG

Liebe Lesende,

dieses Buch behandelt ernste Themen, die euch potenziell persönlich belasten könnten.

Falls ihr euch von bestimmten Themen besonders angesprochen fühlt, schaut gerne am Ende des Buches, auf der vorletzten Seite, in die genaue Auflistung der Themen, da sie die Handlung spoilern.

Für all die Heldinnen und Helden unter uns,

die keine sind.

Prolog

Seid willkommen an diesem Ort voller Wunder.

Einem Ort, an dem epische Schlachten toben und an dem gleichzeitig ewiger Frieden herrscht. Einem Ort, der sowohl in der Wüste als auch im tiefsten Wald liegt. Einem Ort, an dem alles möglich scheint, was du dir nicht einmal vorstellen kannst. Einem Ort, an dem jede Sprache gesprochen wird und dennoch niemand redet. Einem Ort voller Stimmen und lieblicher Musik, wenn du das Flüstern der Seiten hören kannst.

Wenn du hören kannst, wie die Geschichten nach dir rufen. Wie sie dich stumm in ihren Bann aus Wörtern und Papier ziehen wollen. Wie sie sich stillschweigend nach dir verzehren. Wie sie dich umwickeln und nie wieder loslassen wollen.

Gib ihrem Flehen nach.

Strecke deine Hände aus und verliere dich in den endlosen Seiten. Lausche ihrem Seufzen, wenn du sie nach Ewigkeiten Wort für Wort wieder zum Leben erweckst. Nur du vermagst, ihren Sinn zu erfüllen. Nur du kannst aus leblosen Buchstaben gewaltige Bilder entstehen lassen. Aus einem Gedanken ganze Welten erschaffen.

Denn du bist an einem Ort voller Wunder.

Voller toter Menschen und verlorener Vergangenheit. Umgeben von Verzweifelten, die nicht vergessen werden wollen. Belagert von Menschen und Monstern, Heiligen und Helden. Umzingelt von ungeduldigem Papier. Von Vermessenheit und falschem Ruhm. Sie drängen sich dir auf, verlangen deine Aufmerksamkeit, wollen, dass du nur ihre Geschichte kennst.

Manche dieser Geschichten entsprechen der Wahrheit. Die meisten – niedergeschrieben von Menschenhand – sind mit Vorsicht zu genießen. Sie enthalten verdrehte Sagen und polierte Berichte. Wörter zensiert und beschönigt. Denn dieselbe Geschichte wird niemals gleich erzählt. Und die Wahrheit ist immer auf der Seite des Siegers.

Andere wiederum sind vollkommene Fiktion. Wilde Träume und Hirngespinste eines einzelnen Menschen, der überheblich genug ist, sie für wichtig zu erachten. So wichtig, dass sie für die Nachwelt festgehalten wurden. Und doch scheinen sie eine schönere Welt zu sein als manche Wahrheit. Erdachte fremde Welten, denen man sich eher zugehörig fühlt als der Eigenen.

Andere von ihnen klingen wie ein fiebriger Albtraum und entsprechen doch der Wahrheit. Verfasst als grausame Warnung für die ahnungslose Nachwelt. Tödliche Worte, die einen nicht wirklich verletzen können, auch wenn sie einen zu Tränen rühren. Verliere dich nicht in der barbarischen Vergangenheit, aber lerne aus ihr.

Wieder andere werden sorgfältig vor den Augen der Allgemeinheit versteckt. Weggesperrt hinter dicken Mauern und vielen Schlössern. Verborgen in gläsernen Käfigen. Verfasst in Sprachen so alt, dass sie längst vergessen wurden. Sie rufen mit fremden Zungen nach dir. Rütteln an ihren Käfigen und kratzen verzweifelt an die Scheiben.

Sie alle sind für immer gefangen an diesem wunderbaren Ort der Geschichten. Ohne die Aussicht, ihn jemals zu verlassen. Bis zu dem Tag, an dem sie zu Staub zerfallen. Ihre Historie für immer vergessen.

Lass deine Finger über das Papier gleiten, um dich für eine der endlosen Möglichkeiten zu entscheiden. Doch pass auf, dass du dich nicht an den Lügen schneidest. Lass dich von dem dunklen Wispern verführen.

Es zeigt dir dein nächstes Kapitel.

Wie lautet deine Wahl?

Kapitel 1

Er schlenderte ziellos durch den Saal. Einen Ort, den er in den letzten Wochen so oft besucht hatte, dass er ihn auswendig kannte. Jeder Weg und jeder Gang, der sich zwischen den Regalen vor ihm auftat, war vertraut. Dabei waren sie alle gefüllt mit Büchern, mit denen Liam noch nie viel anfangen konnte. Von oben bis unten gefüllt mit Papier und Buchstaben, die zu entziffern er zu müde war.

Die alten Regale, die nach Harz und Politur rochen, hielten ihn, ohne zu murren, wenn er jemanden zum Anlehnen brauchte. Wenn draußen alles zu viel wurde und er diese Dinge hinter sich lassen wollte. Wenn sich seine Gedanken unendlich im Kreis drehten. Dann kam er hierher, wo niemand ihn erkannte, obwohl er so oft hier war, dass er keinen Angestellten mehr fragen musste, wenn er etwas suchte. Wo er in der Masse der Anonymität verschwinden konnte.

Dabei hatte Liam hier noch nie etwas Bestimmtes gesucht.

Er ließ sich durch die Reihen der Regale treiben wie ein Boot auf einem ruhigen See. Sie wiesen ihm den Weg, ohne ihn zu etwas zu drängen. Was auf andere Menschen wie ein Labyrinth wirkte, waren für ihn vertraute Wendungen und Pfade. Er strich auf Hüfthöhe über den Regalboden neben sich. Der Lack war glatt und kühl, ohne zu quietschen. Niemals hatte er danach Staub an den Fingern gehabt, dabei sah er auch nie jemanden putzen.

Wo würde es ihn heute hintreiben?

Seine Füße trugen ihn weiter, fort von den Regalen im Erdgeschoss. Dort, wo sich die meisten Menschen aufhielten und die Bücher kaum älter als zwei Jahre waren. Den meisten modernen Genres konnte Liam nicht viel abgewinnen. Alle Bücher, die er aus dieser Abteilung in seinen Händen gehalten hatte, klangen genau wie die anderen, nur mit neuen Namen für die Figuren, die die Schreibenden darin tanzen ließen.

Das stetige Murmeln der Menschen verschwand schnell, sobald er die Treppe hinaufging. Kaum eine Seele war hier auf den langen Fluren noch anzutreffen. Schwarz-weiße Fliesen bildeten ein Schachbrettmuster auf dem Boden. An manchen Tagen wurde ihm davon übel. Dabei waren die Räume hinter den großen Türen im zweiten Stock die schönsten des ganzen Gebäudes. Das dunkle Holz der meterhohen Regale, die ihn umgaben, glänzte stolz im schwachen Deckenlicht. Als hätten sie sich nur für ihn schick gemacht. Die Bücher, die darauf standen, waren ledergebunden und mit goldenen Verzierungen an den Ecken. Es roch nach Staub und alten Erinnerungen. Liam atmete den inzwischen vertrauten Geruch tief ein.

Doch er ging weiter, tiefer in den Raum hinein. Als wüsste er, wonach er suchte.

Hinter dem nächsten Regal lag ein Erker. Die schmalen, hohen Scheiben darin zu einem Halbrund arrangiert. Unter den Scheiben war eine Bank in das Halbrund gebaut worden, die dazu einlud, sich mit seinem neuesten Fund dort niederzulassen. Liam trat näher an die Fenster heran, die erst anderthalb Meter über seinem Kopf endeten. Sie setzten sich aus vielen kleineren Scheiben zusammen. Der Ausblick, der sich ihm bot, war jedoch noch trister als der Inhalt der Bücher. Ein nicht endendes Meer aus Häusern und Straßen, Regen, der Pfützen bildete, und Wolken, die alles einrahmten. Die Welt war getaucht in ein Meer aus Grau. Den einzigen Farbklecks erzeugten die Autos und bunten Regenschirme, die sich unter ihm bewegten.

Liam liebte den Regen. An Regentagen musste er sich keine Ausrede überlegen, warum er den Tag lieber drinnen verbrachte, statt durch die zahlreichen Parks der Stadt zu spazieren. Er betrachtete die Tropfen, die in ihrem unverwechselbaren Rhythmus an die Scheibe schlugen und sich mit anderen zu einem größeren Rinnsal verbanden. Er legte seinen Finger auf die Scheibe und folgte der Spur, die sie hinterließen.

Licht drang von draußen trotz der Fenster kaum herein. Die Sonne hatte keine Chance, die Stadt durch diese Wolkendecke zu erhellen. Glasgow war eine interessante Stadt, voller versteckter Geschichte, die heute jedoch mit ihren Reizen geizte. Liam hatte noch einiges zu entdecken.

Er konnte ein Seufzen nicht unterdrücken, als er seine eigene Reflexion in der Scheibe erkannte. Das Gesicht darin war unverändert, ein Wust halblanger, rotbrauner Haare auf seinem Kopf, der an den Seiten dringend einen Schnitt verdient hatte. Im trüben Licht von draußen war das Rot seiner Haare kaum erkennbar. Darunter lag eine große, runde Brille mit einem hölzernen Gestell, die er so liebte. Die blauen Augen dahinter blitzten ihn fragend an. Die schmale Nase mit der kleinen Narbe direkt unter dem Brillengestell auf dem Nasenrücken, die niemand außer ihm bemerkte. Das kantige Gesicht, das ihm gerade sehr gelegen kam. Alles sah aus wie immer. Nur das ansteckende Lächeln voller Zähne, das die Menschen so an ihm mochten, zu dem musste er sich zwingen. Und mit dem, was er in der Scheibe sah, wirkte er wie ein Fremder. Selbst sein liebster blau weißer Ringelpullover konnte die einzelnen Teile nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfügen.

Zwei vergessene Bücher lagen auf der Bank. Das braune Leder speckig von den unzähligen Händen, durch die sie schon gewandert waren. Er hob eines davon auf und las den Titel – zumindest versuchte er es, bis er merkte, dass es sich um eine andere Sprache handelte.

Italienisch? Spanisch?

Das sah für ihn alles gleich aus. Dennoch blätterte er durch die vergilbten Seiten, immer auf der Suche nach Illustrationen, die sich vielleicht zwischen den endlosen Buchstaben versteckten. Für die konnte Liam sich mehr erwärmen als den immer gleichen Text, der schon nach wenigen Seiten vor seinen Augen verschwamm. Uralte Kupferstiche, Bilder von Heiligen und Ikonen. Szenen von Ereignissen, die er nicht kannte. Er fuhr mit dem Finger über die schmalen schwarzen Linien, die nur zusammen ihren Zweck erfüllten. Im Grunde unterschieden sich Gemälde nicht von Büchern. Bei beiden waren ihre Einzelteile sinnlos. Ein einzelner Strich so ausdruckslos wie ein einzelner Satz.

Vorsichtig klappte Liam das Buch wieder zu und legte es zu seinem vergessenen Freund. Vielleicht erinnerte sich der Lesende noch daran, dass er sie hier liegen gelassen hatte. Oder jemand war einfach zu faul gewesen, sie wegzuräumen.

Liam löste sich von dem Erker und ging weiter durch den großen Raum. Schon hinter den nächsten Regalreihen, die sich wie eine Wand vor ihm erhob, hielt er erneut inne und zuckte zusammen. Ein junger Mann stand vor einem der Regale, der erste Mensch, dem er an diesem Tag hier begegnete. Da der Fremde jedoch in das Buch vertieft war, das er in der Hand hielt, bemerkte er ihn gar nicht. Liam eilte weiter zur nächsten Regalreihe. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass sein Blick noch einmal zu dem Fremden zurückkehrte, bevor er von den Regalen verdeckt wurde.

Hier kam erneut ein Erker zum Vorschein. Er glich dem vorherigen, und es würden noch zwei weitere folgen, bis der lange Raum sein Ende fand. Auf der anderen Seite des Raumes fehlten diese schönen Nischen, da sie nur an der Außenwand platziert waren. Meistens fand er sie leer vor, wenn Liam hier war. Nur selten verirrte sich jemand in diesen Teil der Bibliothek, in dem ein Großteil der Bücher so alt war, dass man nicht einmal das Englisch darin ohne weiteres entziffern konnte.

Die Regale standen weiter hinten im Raum enger zusammen, bildeten schmalere Gänge, als wollte man verhindern, dass die Menschen ihren Weg zurückfanden. Auch er verlor sich gerne hier hinten, wo niemand ihn ansprach. Hier hinten, wo das Licht kaum mehr die Flure erhellte.

Er trat in einen der leeren Gänge. Das Regal neben ihm warf lange Schatten auf den Boden. Und während er versuchte, auf der Linie zwischen Licht und Schatten zu balancieren, bewegte sie sich unter seinen Füßen – tanzte mit ihm. Mit riesigen Augen starrte er auf die Dunkelheit zu seinen Füßen und blieb wie angewurzelt stehen. Aber der Schatten blieb, wie das Licht ihn geformt hatte.

Liam lachte nervös und setzte seinen Weg fort. Sicher hatte nur das alte Regal gewackelt. Sein Herz schlug dennoch zu laut.

Er ging noch ein Stück weiter, bis er sich sicher war, dass die anderen Menschen den weiten Weg bis in diese Ecke nicht auf sich nehmen würden. Dann endlich war er allein. Nur er, diese schweigsamen Bücher und seine Gedanken, die sich unermüdlich in seinem Kopf im Kreis drehten.

Liam lehnte seine Stirn gegen das kühle Holz der Regale. Sein Körper fühlte sich plötzlich zu schwer an, um ihn noch allein zu tragen. Zu schwer, um sich weiter zu bewegen. Liam schloss seine müden Augen. Er wollte schlafen, fand es jedoch nicht angebracht, das in einer Bibliothek zu tun.

Nachts wälzte er sich dafür zu oft lang in seinen Laken, ohne dass der Schlaf kam.

Ein Seufzen entfuhr ihm.

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit zuckte Liam zusammen. Er wirbelte zu der Stimme hinter ihm herum. Ein Mann stand vor ihm, so groß, dass er den Kopf in den Nacken legen musste, um in sein Gesicht blicken zu können. So groß, dass er kaum eine Leiter brauchte, um die höchsten Regale zu erreichen. Halblanges braunes Haar stand auf seinem Kopf in etliche Richtungen ab. Darunter lagen trübe blaue Augen hinter schmalen Brillengläsern. Das Lächeln auf den dünnen Lippen war zu angestrengt, um ehrlich zu sein. Es war zu spitz, um freundlich zu wirken. Liam wich einen Schritt zurück, bis das Regal in seinen Rücken drückte.

Dann bemerkte er das Namensschild an der Tasche seines karierten Hemdes, das ihn als Mitarbeiter der Bibliothek auswies. Mr Bennett. Kein Vorname.

»Sie sehen etwas verloren aus.« Das Lächeln verrutschte noch weiter.

»Danke, ich …« Liam stellte sich wieder gerade hin und richtete seinen Pullover. »Ich suche eigentlich nichts Bestimmtes.«

Mr Bennett nickte mit einem verständnisvollen Lächeln. »Dabei findet man immer die besten Dinge.«

Liam schob die Brille auf seiner Nase ein Stück nach oben. Sein Blick huschte zu den Büchern. Er wusste nicht einmal, in welcher Abteilung er hier war. »Vielleicht.«

»Sind Sie denn schon Mitglied der Bibliothek? Ich habe Sie jetzt schon öfter hier gesehen. Aber niemals ein Buch mit nach Hause nehmen sehen.«

Sein Herz geriet aus dem Takt. Es überschlug sich bei diesen Worten, brachte das Blut in seinen Ohren zum Rauschen. Doch er ließ sich nichts davon anmerken, sondern setzte sein übliches Lächeln auf. »Nein, vielen Dank. Ich glaube, das lohnt sich nicht für mich. Ich bin nicht mehr lang in der Stadt.«

Der Mann musterte ihn zu lang. »Das ist aber schade. Sie wirken, als würden Sie sich hier sehr wohlfühlen.«

»Das stimmt.« Seine Wangen schmerzten bereits vom Lächeln. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich trotzdem wiederkomme. Auch ohne einen Ausweis.«

»Natürlich nicht. Die Bibliothek steht für jeden offen, der Bücher und ihr Wissen mag.«

Er trat einen weiteren Schritt auf Liam zu, aber nur, um eines der Bücher, die er bei sich trug, neben ihm in dem Regal einzusortieren. Danach nickte er ihm zu und drehte sich um.

Liam blieb allein mit seinem rasenden Herzen zurück.

Kapitel 2

Liam ließ sich durch die zahlreichen Menschen treiben. Es war Samstag und dementsprechend voller als an den anderen Tagen der Woche. Der einzige Tag, an dem er sich hier nicht mehr so wohlfühlte. Dabei bedeuteten mehr Besucher nicht automatisch, dass er beobachtet wurde. Er wurde nicht einmal beachtet, in der sich stetig bewegenden Masse. Sie schwammen um ihn herum wie ein Fischschwarm. Er hatte nicht erwartet, dass sich so viele von ihnen in eine Bibliothek verirrten. Aber jeder hatte nur Augen für die auf Papier gedruckten Worte. Worte, die ihnen mehr gaben, als Menschen es im Alltag ausdrücken konnten. Sie waren nicht hier, weil sie neue Bekanntschaften machen wollten.

So viele Leben, so viele Geschichten, so viele Wege umgaben ihn hier, dennoch wusste Liam nicht, was er tun sollte. So viele Ratgeber und Vorbilder, Wegweiser und Pioniere es hier auch gab, er fühlte sich allein. Er hielt inne, während die restlichen Menschen sich um ihn herum weiterbewegten. Er lächelte und schüttelte über sich selbst den Kopf.

Nein.

Er war genau dort, wo er sein wollte.

Jemand rempelte ihn von hinten an. Er schaffte es, sein Gleichgewicht zu halten, ohne vollends zu Boden zu gehen. Das würde nur unnötige Aufmerksamkeit auf ihn ziehen. Doch sobald er sich wieder aufrichtete, war niemand da, von dem er eine Entschuldigung verlangen konnte. Nur gesichtslose Fremde, die einfach weitergingen, ohne etwas von dem Vorfall bemerkt zu haben. Liam rieb sich die Schulter.

Hier im Erdgeschoss waren einfach zu viele Menschen. Darum griff er wahllos in das Regal mit den Bestsellern, das vor ihm stand, und machte sich mit seiner heutigen Beute auf den Weg. Man wurde seltener angesprochen, wenn man mit einem Buch unterwegs war. Liam ging außen an den verwirrend angeordneten Regalen vorbei, bis er zu dem Treppenhaus kam, das ihn in seinen Lesesaal führte. Er musste zwei Etagen nach oben.

Auf der Treppe zur ersten Etage kamen ihm etliche Menschen entgegen, die sicher aus dem Café kamen. Dort war Liam noch nie gewesen. Er liebte zwar Süßes und Backwaren, aber er hatte nicht genug Geld für solch einen Luxus. Darum brachte er sich besser nicht in Versuchung. Wenn sich der verführerische Duft einmal in seiner Nase festsetzte, konnte er sich nur schwer zurückhalten.

Liam eilte auch den zweiten Treppenabsatz hinauf. Hier bemerkte man nichts mehr von dem alten Charme des Bauwerks, da diese Treppen und Räume nachträglich eingefügt worden waren. Das Licht war viel zu spärlich für ein ganzes Treppenhaus. Dadurch zogen sich eigenartige Schatten über die Stufen und Wände, die ein drückendes Gefühl in seinem Magen hinterließen. Sein Nacken kribbelte unangenehm, sobald er an der letzten Stufe ankam und sich nach links wandte, um den großen Saal am Ende des Flures zu betreten. Dieser kurze Gang war nichts weiter als ein Durchgangszimmer ohne eigenen Inhalt. Etliche Türen darin führten in andere Teile der Bibliothek. Dennoch wollte er nur zu dieser einen.

Es handelte sich um eine große hölzerne Doppeltür, die über dem Eingang mit alten Schnitzereien geschmückt war. Dunkles Holz, das im schwachen Licht beinahe schwarz wirkte. Doch es bewegte sich immer nur eine der zwei Hälften, wenn er dagegen drückte. An manchen Tagen stand sie einladend offen, an anderen nicht. Liam hatte noch kein System dahinter entdeckt.

Sobald seine Hände auf das polierte Holz trafen, legte sich das unangenehme Kribbeln in seinem Nacken. Stattdessen überkam ihn Ruhe. Eine Ruhe, die das nervöse Summen seiner Muskeln dämpfte.

Die Scharniere der Tür quietschten leicht, während er sie öffnete, als würde die Tür ihn begrüßen. Der Raum dahinter lag in vertrautem Halbdunkel. Direkt vor ihm standen zwei hohe Regalreihen, die sich weit nach rechts und links erstreckten und einen Gang in der Mitte bildeten. Sie waren mindestens drei Meter hoch, an jedem fand man eine Leiter, um an die oberen Bretter zu gelangen. Wenn man sich hier nicht auskannte, konnte man die schönen Fenster und Erker an der linken Seite des Raumes leicht übersehen, die hinter diesen Regalen versteckt lagen. Die Decke erstreckte sich in endloser Entfernung über ihm. Liam konnte nicht einschätzen, wie hoch sie wirklich war. Sie war in der Mitte spitz zulaufend und mit großen Fensterflächen ausgestattet, die mehr Licht hineinließen. Heute malten die Sonnenstrahlen ihr einzigartiges Bild in die Luft. Auch wenn kaum jemand sich die Zeit nahm, einen Blick nach oben zu werfen.

Liam ging den Mittelgang entlang, bis er die ersten beiden Regalreihen hinter sich gelassen hatte. Niemand stand dort, um nach etwas zu suchen. Dabei war dieser Teil der Bibliothek so viel schöner als der Eingangsbereich. Nach der zweiten Reihe bog er nach links ab.

Ein neuer Tag zwischen den unendlichen Geschichten, die ihn umgaben. Ein weiterer Tag, an dem er keine von ihnen lesen würde. An dem er sich weigerte, den Sinn dieses Ortes zu verstehen.

Er ging weiter, bis die hohen Regale endeten. Dahinter verlief ein weiterer Gang, der den einen Bereich voller Regale von dem nächsten trennte. Während er seine Hand über das kühle Holz gleiten ließ, hörte er ein Flüstern.

Liam blieb verunsichert stehen und legte den Kopf schief. Doch er hörte es ganz deutlich, auch wenn es nur ein Hauch war. Jemand murmelte vor sich hin. Leise Worte, die nur für bestimmte Ohren gedacht waren. Es war ein vertrauter Ton, da viele Menschen sich hier nur im Flüsterton unterhielten, als wäre es verboten, normal miteinander zu sprechen. Manche schienen regelrecht den Atem anzuhalten, während sie hier waren. Langsam ging Liam um das Ende des Regals herum und linste um die Ecke, dort war jedoch keine Menschenseele. Er drehte sich sogar einmal im Kreis. Dennoch sah Liam niemanden, der hier vorbeigelaufen sein könnte. Sobald er sich wieder darauf konzentrierte, war auch das Flüstern fort.

Seine Augenbrauen schoben sich verwirrt zusammen und er rückte die Brille höher auf seine Nase. Zögernd setzte er sich erneut in Bewegung, nicht ohne einen letzten Blick zurückzuwerfen. Vielleicht waren doch mehr Menschen hier, als Liam angenommen hatte.

Er betrachtete die ledernen Soldaten, die brav nebeneinander im Regal standen. Nur selten nahm er eines der Bücher heraus. Und auch dann blätterte er nur darin herum, ohne den Inhalt zu erfassen. So wie das Buch, das er in den Händen hielt. Später würde er es wieder an seinen Platz legen. Sein Kopf war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um den Sinn der Worte zu entziffern.

Zu voll mit Fragen, auf die er keine Antwort wusste.

Zu sehr versteift darauf, eine Lösung zu finden.

Jedoch nicht so sehr, dass ihm die Silhouette entgangen wäre, die im Erker auf der Bank saß. Sein Herz stockte und flatterte im nächsten Moment aufgeregt wie ein kleiner Vogel. Es wurde schlimmer, als er bemerkte, dass es derselbe Typ war, dem er bereits vor ein paar Tagen über den Weg gelaufen war. Von dem er den Blick nicht hatte abwenden können.

Ein Buch lag offen auf seinem Schoß, die eine Hand blätterte abwesend in den Seiten. Die andere hatte er auf der Lehne abgestützt, um sein Kinn darauf zu betten. Seine dunklen Haare hingen ihm beim Lesen ins Gesicht, sodass Liam nicht mehr davon erkennen konnte als den Bogen einer schmalen Nase. Dabei hatte er beim letzten Mal schon zu lang auf den Rücken des Fremden gestarrt.

Und ohne dass er seinen Beinen einen Befehl dazu gegeben hatte, machten sie sich bereits auf den Weg zum Erker. Die Hand, die den Kopf des Fremden stützte, sank nun ebenfalls auf das Buch in seinem Schoß. Dann hob er den Kopf. Liam kollidierte auf seinem Weg erneut mit etwas.

Nur verlor nicht er den Halt dabei. Etwas griff nach seinem Arm, krallte sich in seine Kleidung. Jemand zog an ihm, damit er nicht stürzte. Liam hielt die Person fest, um das Gewicht auszugleichen, das er zusätzlich stemmen musste.

Erst nachdem sie beide auf sicheren Füßen standen, betrachtete er den Menschen vor sich, der ihm nur bis zur Brust reichte. Eine ältere Dame hielt sich verzweifelt an ihm fest. Die kurzen grauen Haare waren in geordneten Wellen auf ihrem Kopf drapiert, die auch der Zusammenstoß nicht durcheinandergebracht hatte. Ihre Augen waren schreckgeweitet, ihre Hand um seinen Arm verkrampft. »Du liebe Güte!«

»Es tut mir so leid.« Liam war einfach in sie hineingerannt. Das war überhaupt nicht seine Art. So gedankenlos lief er sonst nicht durch die Gegend. Er schluckte seine Scham hinunter.

Die Dame richtete lächelnd den Ärmel ihrer Bluse. »Ist alles gut gegangen, Junge.«

»Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?« Er versuchte, sie von allen Seiten zu betrachten, aber sie hielt ihn an seiner Hand zurück. Ihr penetrantes blumiges Parfüm kratzte Liam in der Nase. Es war viel zu süß, als hätte sie in Bonbons gebadet.

»Ja doch, Jungchen. Alles noch dran. Ich bin nicht aus Porzellan.« Sie rollte mit den Augen, aber es war mit einem Schmunzeln verbunden.

»Ich muss mich trotzdem entschuldigen. Das war sehr unaufmerksam von mir.« Liam trat einen Schritt vor und hob die Jacke auf, die sie fallen gelassen hatte. Der braun karierte Blazer war mit einem leuchtend violetten Futter versehen, das in den Augen stach. Sie nahm ihn entgegen und legte ihn sich über den Arm. Dann sah sie zu Liam auf.

»Dass du das einsiehst, ist genug. Sei einfach in Zukunft vorsichtiger.« Mehr Falten bildeten sich in ihren Augenwinkeln, sobald sie lächelte. Jede dieser Runzeln erzählte ihm eine unausgesprochene Geschichte. Sie legte eine Hand auf Liams Arm und drückte ihn kräftig. »Bis zum nächsten Mal.«

Sie redete, als würden sie sich schon seit ewigen Zeiten kennen, und Liam hätte sie bloß vergessen. Er sah der Frau mit gerunzelter Stirn hinterher, bis sie hinter einem Regal verschwand. Ihre Schritte waren zügig, als wüsste sie, wohin sie wollte. Die flachen Absätze ihrer Schuhe verursachten auf dem Holzboden ein lautes Geräusch. Wie konnte ihm das entgangen sein?

Dann erinnerte Liam sich jedoch, warum er gerade noch abgelenkt gewesen war. Die Aufregung wallte erneut durch seine Adern, während er sich mit angehaltenem Atem dem Erker zuwandte.

Doch die Bank war leer.

Die Sonne schien direkt durch die Fenster, als wolle sie ihn verhöhnen. Liam überwand die kurze Distanz bis zu der Bank und entließ die angestaute Luft mit einem Seufzen.

Ein einsames Buch lag auf dem abgenutzten Lederpolster. Er hob es auf und drehte es langsam um. Obwohl es alt war und Zeichnungen den Umschlag zierten, konnte er den Titel problemlos lesen. Es war eine Sammlung keltischer Märchen.

Liam runzelte die Stirn, sobald er durch das Buch blätterte. Wunderschön illustrierte Seiten erzählten dort die grausamsten Geschichten. Es war ähnlich zu dem Buch, aus dem seine Großmutter ihnen früher vorgelesen hatte. Damals, als er noch Angst vor solchen Geschichten gehabt hatte.

Nun gab es andere Dinge, vor denen er sich fürchtete.

Dennoch stellte Liam das Buch, einem plötzlichen Impuls folgend, absichtlich an einen Platz, an dem nur er es bei seinem nächsten Besuch wiederfinden würde.

Kapitel 3

Sobald er die Tür öffnete, trafen die verschiedensten Gerüche auf seine Nase, allem voran die süßliche Note von Tomaten. Aber auch Duftnoten, die er gar nicht einordnen konnte. Alles zusammen vermischte sich zu etwas, das ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Liam schloss die Tür leise hinter sich und hängte seinen Schlüssel an einen der bunten Haken, die direkt neben der Tür an der Wand befestigt waren. Es war eine seltsame Mischung aus verbogenen Kleiderbügeln, alten Türknäufen und antiken Haken. Sogar eine krumme Gabel war dabei.

Direkt daneben reichte ein Baumstamm vom Boden bis zur Decke, an dessen abgesägten Ästen er seine Jacke aufhängte. Die Wand war gemustert mit hellgrünen und weißen breiten Streifen, die ihn direkt bis ins Wohnzimmer führten. Dabei ging Liam an vielen Jahren Geschichte vorbei, festgehalten auf Fotos, Zeichnungen und Bildern, die eindeutig aus Kinderhand stammten. Die unterschiedlichsten Menschen waren darauf zu sehen. Kaum einen davon kannte Liam. Jedes Bild steckte in einem anderen Rahmen, wurde anders befestigt. Andere waren nur mit einer Reißzwecke direkt in die Wand gepinnt worden. Wie immer zauberte diese Wand ein Lächeln auf sein Gesicht.

Er folgte dem leckeren Geruch und den Geräuschen bis in die Küche. Die Tür war nur angelehnt, darum öffnete Liam sie noch ein Stück mehr.

»Nimm nicht so viel Chili!«

Eine dunkle Stimme lachte zur Antwort. »Warum? Bist du zu schwach dafür?«

Ein Mädchen in einem viel zu großen blauen Pullover und schwarzen Jogginghosen stemmte ihre Hände in die kräftigen Hüften. »Ich nicht, aber du kochst für drei.«

Auf ihrem Kopf türmte sich ein enormer Berg feuerroter Dreadlocks. Sie sahen unangenehm schwer aus, aber anscheinend wogen sie nichts. An ihren Füßen trug sie flauschige Socken mit Katzenmotiven, von denen einer an der Hacke ein Loch hatte.

Der Typ, der am Herd stand, drehte sich zu ihr um und seufzte genervt. »Ach ja.«

Er war ein gutes Stück größer als Liam und hatte breite Schultern. Alles steckte in gutsitzender, teurer Kleidung. Seine Haut war dunkel, was einen starken Kontrast zu der bleichen Hautfarbe des Mädchens bildete. Genau wie seine raspelkurzen schwarzen Haare.

Überhaupt waren die beiden ein ziemlich eigenartiges Paar.

»Ich kann scharf essen«, antwortete Liam leise und öffnete die Tür ganz.

Florence drehte sich mit einem Strahlen zu ihm um. Ihr rundliches Gesicht passte zu ihrem weichen Körper. Und da war ein Piercing in der Mitte ihrer Unterlippe, eines in ihrer Nase und eines in ihrer Zunge. Mal abgesehen von den ganzen Ringen und Steckern in ihren Ohren. Sie rutschte auf ihren Socken über die Fliesen zu Liam herüber und krachte in ihn hinein. »Liam! Willkommen zurück.«

Bevor er ihre Umarmung erwidern konnte, vibrierte sein Smartphone in der hinteren Hosentasche. Liam stoppte. Denn wenn Florence direkt vor ihm stand, konnte niemand anderes ihn anrufen. Sein Herz geriet ins Stottern, während er das Gerät behutsam aus der Tasche zog. Beinahe wäre es ihm aus den klammen Fingern gerutscht, sobald er den Namen darauf las.

Nein …

Das Gerät in seiner Hand gab endlich Ruhe. Dennoch ging sein Atem stoßweise, während er es mit fahrigen Fingern wieder in die Hosentasche steckte.

»Alles okay?«

Ihre Arme schlangen sich wie selbstverständlich um seine Taille. Sie war zu klein, um seine Schultern zu erreichen. Er erwiderte die Umarmung ungelenk, vor allem mit Otis im Raum. Brachte dann wieder Ordnung in seinen wirren Kopf und lächelte. »Ja, danke. Ich kann euch helfen.«

Florence musterte ihn ein letztes Mal, entließ ihn dann aus ihrem Klammergriff und hob die Schultern. »Wir dürfen nicht. Ich habe auch schon gefragt.«

Otis schwang den Kochlöffel wie einen Knüppel in ihre Richtung. »Ihr habt sowieso keine Ahnung vom Kochen.« Er sah böse drein, doch ein Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. Und mit Florences rot weiß gepunkteter Kochschürze, die er sich umgebunden hatte, kam er auch nicht sonderlich autoritär rüber.

Seine Mitbewohnerin legte sich eine Hand auf ihr Herz. »Wäre ich eine alte Hausfrau, wäre ich sicherlich sehr verletzt.«

»Wie hast du dich nur vorher ernährt?« Otis schüttelte den Kopf.

»In der Uni Mensa.« Sie zwinkerte Liam zu. Die beiden gingen zur Glasgow University, studierten sogar dasselbe Fach. Florence war für das Studium extra aus England hergezogen. Darum hatte sie wahrscheinlich so viele Fotos ihrer Familie im Flur. Zwei jüngere Schwestern und zwei glückliche Eltern unterstützten sie aus der Ferne. Zu Liams Glück hatten sie hier vor Kurzem die Miete für die Wohnung erhöht, sodass Florence sich spontan einen Mitbewohner suchen musste.

Liam glaubte manchmal nicht, wie viel Glück er mit Florence hatte.

Dass sie keine Fragen gestellt hatte, als er mit nichts als einem Rucksack vor der Tür stand. Auch wenn sie alles, was sie wissen musste, von seinem Gesicht ablesen konnte. Beinahe verblasste Geschichten, die sich ohne Worte erzählen ließen.

Otis verzog angewidert sein Gesicht. »Wie du das so lang ausgehalten hast.«

»Hey.« Mit wenigen Schritten hatte Florence die Küche durchquert und stieß Otis mit der Hüfte an. »Sei nicht so gemein. Da gibt es wirklich gutes Essen.«

Er sah sie bloß mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie kicherte zur Antwort und schlang ihren Arm um seine Taille. »Ich bin vielleicht einfach nicht so anspruchsvoll wie du.«

Schnell brachte Otis den Kochlöffel außer Reichweite, damit nichts von der Soße auf Florence landete. Er ließ ihn zurück in den Topf sinken, der auf dem Herd vor sich hin blubberte.

»Dann wird sich das hoffentlich bald ändern.«

Sie grinste ihn von unten an und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um ihm einen federleichten Kuss zu geben. Dafür musste Otis sich jedoch zusätzlich noch herunterbeugen und er ließ sie einen quälenden Augenblick warten. Die beiden waren Liam in der kurzen Zeit sehr ans Herz gewachsen, aber nicht so, dass er sich das angucken musste.

»Ich geh schon mal den Tisch decken.« Liam schnappte sich Besteck und einen Stapel Teller – mehr als sie eigentlich brauchten – um den Raum so schnell wie möglich wieder verlassen zu können.

Der Esstisch stand im Wohnzimmer, das der Küche direkt gegenüber lag. Bevor Liam sein Geschirr darauf verteilen konnte, musste er ihn von all den Dingen befreien, die den ganzen Tag über darauf gelegen hatten. Neue und alte Post, angefangene Bastelprojekte von Florence, Otis’ Kopfhörer und mehr Fotos, die gerahmt und aufgehangen werden wollten. Liam machte sich nicht die Mühe, sie wegzuräumen, da sie nach dem Essen ohnehin erneut dort landen würden. Er formte lediglich einen großen Haufen und schob alles an die Seite, sodass er gerade genug Platz für drei Teller hatte.

Hinter ihm in der Küche lachten die beiden laut, während er das Besteck sortierte, das er blind aus der Schublade gefischt hatte. Da waren eindeutig zu viele Messer und zu wenig Gabeln. Aber vielleicht brauchten sie ja bloß einen Löffel. Unschlüssig legte Liam einfach von allem etwas neben die Teller.

Dann wurde bereits einer der Stühle zurückgezogen und Florence ließ sich darauf nieder. Sie stellte eine große Schüssel mit Reis neben ihrem Teller ab. Ihr folgte unmittelbar Otis, der gleich den ganzen Topf mitbrachte. Wenn der auch noch auf den Tisch passen sollte, würde es eng werden. Irgendwie schafften sie es, dass nichts vom Tisch fiel, während Otis ihn abstellte.

Was auch immer er da gekocht hatte, es sah nicht besonders gut aus. Es musste sich um eine Art Eintopf handeln, denn die verschiedenen Bestandteile schwammen in einer dickflüssigen braunen Soße. Nur dass man von den einzelnen Komponenten nicht mehr viel erkennen konnte. Alles verschwand in diesem Braun.

Es roch genauso fantastisch wie beim Betreten der Wohnung.

»Danke, dass du für uns gekocht hast«, sagte Liam, nachdem Otis ihm Reis und Eintopf auf den Teller gehäuft hatte. Die Portion war viel zu groß, aber er würde sich nicht beschweren. Als Liams Blick von seinem Essen zurück zu dem Jungen wanderte, sah dieser ihn mit einem frustrierten Ausdruck an. Seine Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. Eine Falte bildete sich zwischen seinen zusammengeschobenen Brauen.

Im Gegensatz zu seiner Mitbewohnerin konnte Otis ihn nicht wirklich leiden. Und Liam konnte es ihm nicht verübeln. Er schob die Brille auf seiner Nase wieder nach oben.

Florence drückte mit ihrem Finger auf die Stelle an Otis’ Stirn, bis sie sich glättete. »Schau nicht so finster. Das war ein Dankeschön. Und jetzt reich mir entweder die Kelle oder pack mir auch was auf den Teller. Ich verhungere sonst jeden Augenblick.«

Otis seufzte und füllte den Teller seiner Freundin mit einer gleich großen Portion, bevor er sich zuletzt bediente. »Lasst uns essen.«

Florence hatte bereits den ersten Löffel verschlungen und seufzte wohlig. »Okay. Ich trage dich offiziell für den Küchendienst ein.«

Mit dem Löffel im Mund konnte Otis nicht mehr als Schmunzeln. Sobald Liam den ersten Bissen dieses unansehnlichen Eintopfs aß, war er sicher, dass er seinen Teller doch leeren würde. So viele Aromen tanzten in seinem Mund, eine Mischung aus der perfekten Schärfe, einer seltsam süßen Note und dem Geschmack des gekochten Fleisches und Gemüses. Seine angespannten Schultern sackten nach unten, während er seinen Löffel mit Nachschub füllte.

Eine Weile aßen sie in einvernehmlicher Stille, nur das Klirren des Bestecks war zu hören. Als sie satt waren, lehnte Florence sich zurück und sah ihn an. »Und? Was hast du heute Schönes gemacht?«

Für die beiden hatte das Semester schon vor einem Monat wieder begonnen. Sie studierten zusammen Sozial- und Gesellschaftspolitik, was sich im ersten Moment langweilig anhörte. Sie hatten beide satt, wie es momentan in der Welt lief, und wollten etwas verändern. Sie waren jetzt im dritten Semester. Und obwohl das Studium anstrengend war und sie viel dafür tun mussten, erzählten sie regelmäßig mit leuchtenden Augen davon. Bei diesem Blick sammelte sich jedes Mal ein gemeiner Neid in Liams Magen.

Anfangs hatte er sich hauptsächlich in der Wohnung aufgehalten, weil er zu viel Angst vor allem anderen hatte. Nach zwei Wochen war ihm die Decke bereits auf den Kopf gefallen. Darum hatte er nach einem Ort gesucht, an dem er möglichst ungestört war, und dennoch etwas tun konnte.

»Ich war in der Bibliothek.«

Otis rollte mit den Augen, wofür er von Florence unter dem Tisch einen Tritt bekam.

»Du musst Bücher wirklich lieben«, antwortete Florence mit einem breiten Lächeln.

Ja … Nein. Nicht wirklich.

»Es ist wirklich schön dort.« Dafür musste Liam nicht einmal auf eine Lüge zurückgreifen.

»Du gehst immer zur Dunnet Library, richtig?«

Liam verschluckte sich beinahe an seinem Essen. »Richtig.«

»Die ist wirklich schön«, sagte sie und schwelgte in Erinnerungen. »Wir haben halt diese riesige Bibliothek auf dem Campus, da geht man natürlich kaum noch woanders hin. Aber hübsch ist die sicher nicht. So eine Uni und dann diese Bibliothek.« Kichernd schüttelte sie den Kopf.

»Musst du dich nicht auch langsam für eine Uni entscheiden?«, fragte Otis Liam, ohne auf Florences Kommentar einzugehen. »Bist du nicht dafür hergekommen?«

Liam sah auf seinen leeren Teller. Das Essen schien sich in seinem Magen in Steine zu verwandeln. Die scharfen Kanten schnitten in seine Innereien. Doch Liam setzte ein Lächeln auf und nickte. »Ich habe mir auch schon einige angesehen. Aber ich bin noch etwas überfordert mit dem Angebot.«

Liam war mit allem überfordert.

Otis nickte verständnisvoll. »Ja, das Angebot heutzutage ist wirklich überwältigend. Frag uns gerne, wenn du irgendwas wissen willst.«

Florence nickte ebenfalls mit vollem Mund.

So ein schlaues Köpfchen wie diese beiden hier war er nicht. Und alles, was weiter in der Zukunft lag als der morgige Tag, war ein einziges schwarzes Loch.

Kapitel 4

Das Buch lag bei Liams nächstem Besuch in der Bibliothek noch genau an der Stelle, an der es versteckt hatte. Bei dem Anblick machte sein Herz einen freudigen Hüpfer. Wer konnte sagen, ob er es sonst jemals wiedergefunden hätte. Liam zog das dunkelgrüne Buch aus dem Regal und betrachtete die Illustrationen auf dem Buchdeckel. Wie sich die feinen Linien umeinanderwanden. Nicht wertvoll genug, um mit Gold verziert zu werden, nicht alt genug, um in Leder gebunden zu sein, und doch wunderschön.

Es war ein dickes Buch. Da es sich um keltische Märchen handelte, waren auch Geschichten darin, die man heute eher in Irland und Großbritannien kannte. Das Buch seiner Großmutter hatte nur schottische Märchen enthalten.

Vorsichtig klappte Liam den Deckel auf und blätterte vor bis zum Inhaltsverzeichnis. Die meisten Namen gaben nicht viel über ihren schaurigen Inhalt preis. Aber am Ende jeder Geschichte war meistens jemand tot. Von garstigen Elfen in einen tiefen Wald geführt oder von wunderschönen Stimmen ins Wasser gelockt. Schatten, die darauf warten, dich im Dunkeln zu verschlingen. Der Tod lauerte in diesen Geschichten hinter jeder Ecke.

Die Version seiner Großmutter war schon deutlich kinderfreundlicher gewesen. Dennoch hatten einige davon sich tief in sein Gedächtnis gebrannt, wie die Geschichte der zwei Schwestern, von denen man heutzutage sogar noch ein Lied singt.

Vielleicht hätte man ihm in der Kindheit nicht die Geschichte vorlesen sollen, in der ein Junge seine Mutter belügt. In der er zum Dieb wird, anstatt einen richtigen Beruf zu erlernen, nur um dann seinen Meister zu töten, sobald sie genug Geld zusammen gestohlen hatten. Und das war gerade mal die Hälfte des schaurigen Märchens über diesen absolut ruchlosen Dieb.

Ein kalter Schauer fuhr Liam bei der Erinnerung an diese Geschichte über den Rücken. Es war, als würde die Stimme seiner Großmutter in seinem Kopf widerhallen. Um sich davon abzulenken, blätterte er ziellos weiter. Blieb eher an den Illustrationen hängen, die in regelmäßigen Abständen wichtige Szenen der Geschichten darstellten. Menschen, Brownies, Elfen, Kobolde. All die Dinge waren darauf zu sehen, an die er während seiner Kindheit geglaubt hatte. Wesen, an deren Existenz viele in diesem Land noch glaubten. Kaum ein Land war so voller alter Magie wie diese Inseln, auf denen er lebte. Auch wenn man lang versucht hatte, diesen Glauben durch einen anderen zu ersetzen.

»Ich glaube, das hatte ich hier letztens liegen gelassen.«

Liam zuckte bei der Stimme zusammen, die plötzlich hinter ihm erklang. Wie ertappt klappte er das Buch zu und drehte sich mit wild schlagendem Herzen zu der Person um. Es war der Typ, den er hier vor ein paar Tagen beobachtet hatte. Wegen dem er beinahe diese alte Frau umgerannt hatte.

Er trug erneut ein weißes Hemd, mit einer anderen ungemütlich formellen Hose. So eine mit einer Bügelfalte vorn, aus steifem, braunem Stoff. Die Arme hatte er locker vor der Brust verschränkt. Und er war ein ganzes Stück größer im Vergleich zu Liam, sodass er den Kopf heben musste, um in sein Gesicht sehen zu können.

Das dunkle Haar hing ihm in die Stirn, reichte bis zu seinen Brauen – nicht ganz schwarz, zu dunkel für braun. Auf seinen schmalen Lippen lag ein beinahe spöttisches Grinsen. Und in dem Licht, das von den Erkerfenstern auf sein Gesicht fiel, dachte Liam für einen Moment, seine Augen hätten die Farbe von Bernstein. Aber sobald er einmal blinzelte, waren sie doch nur hellbraun. Die Sonne, die durch die Fenster fiel, erleuchtete seine Schulter und malte harte Kanten in sein Gesicht. Liams Puls kam während der Betrachtung des Fremden nicht ein bisschen zur Ruhe.

»Ich habe mich schon gefragt, wohin es verschwunden ist.«

Er senkte seinen Blick zu dem Buch, das Liam umklammerte. Die Stimme dieses jungen Mannes floss in seine Ohren wie flüssige Schokolade – samtweich und dunkel. Liam hielt die Märchensammlung wie ein Schild vor seine Brust. Als er bemerkte, wie angespannt er war, zwang er sich zur Ruhe. Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass er sein Gegenüber nicht mit offenem Mund anstarrte. Liam atmete einmal tief durch, bevor er seine Stimme wiederfand.

»Ich, ähm …« Na, das funktionierte ja ganz wunderbar. Liam drehte sich halb zu dem Regal um und deutete auf nichts Bestimmtes. »Ich habe es hier gefunden.«

»Gefunden.« Er hob eine seiner Brauen leicht. Fragend. Wissend. »Aber wenn du es lesen wolltest, kannst du es gern haben.« Liam hielt das Buch in seinen Händen und streckte sie dann dem Fremden entgegen. Er war sich sicher, dass seine verschwitzten Hände Abdrücke auf dem Umschlag hinterlassen hatten.

Sein Gegenüber betrachtete das dunkelgrüne Buch misstrauisch, bevor er seine Hand bedächtig um die andere Hälfte legte. »Danke.«

Liam ließ einen Augenblick zu früh los, sodass es dem anderen Jungen beinahe aus der Hand gefallen wäre. Aber er bekam es zu fassen, bevor es zu Boden fallen konnte.

»Das wollte ich nicht«, sagte Liam schnell. Wann war er nur so tollpatschig geworden? »Tut mir leid.«

Der Fremde lächelte bloß, hielt das Buch in die Höhe. »Ist doch alles gut gegangen.«

»Bist du nicht ein bisschen alt für Märchen?« Er wusste nicht, woher diese Worte gekommen waren. Nun standen sie zwischen ihnen, füllten den leeren Raum und tanzten mit dem Staub durch die Luft. Liam hätte sie am liebsten zurück in seinen Mund gesteckt. Hitze kroch in seine Wangen, die er zu ignorieren versuchte. Dabei konnte er nicht einmal einschätzen, wie alt der junge Mann vor ihm überhaupt war. Sicherlich älter als er.

Die seltsamen Augen des Fremden blitzten ihn belustigt an. »Ist man jemals zu alt für Märchen?«

Jetzt war es an Liam, die Arme zu verschränken. Er wiegte den Kopf hin und her. »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Außerdem basieren die meisten Bücher auf irgendwelchen Märchen.« Er klappte das Buch auf, bis er ebenfalls am Inhaltsverzeichnis angelangt war. »Dann wären wir ja für alles zu alt.«

Wenn Liam mehr lesen würde, hätte er das vielleicht bestätigen können. Dass auch Schreibende sich eine alte Vorlage nahmen, um daraus etwas Neues zu formen. Die Geschichten wiederholten sich seit Ewigkeiten. Lediglich einige Komponenten veränderten sich, Sichtweisen änderten sich, Werte verschoben sich. Liam sah sich lieber die Filme oder Serien dazu an, doch auch die blieben selten in seinem Kopf hängen.

Er beobachtete, wie die Augen des Fremden über die einzelnen Zeilen wanderten, bis sie bei einer bestimmten stehen blieben. Liam konnte nicht genau erkennen, welche es war.

»Und welches ist dein liebstes?«

Seine Augen wanderten den ganzen Weg wieder nach oben, bis sie sich in Liams bohrten. Er grinste. »Rate.«

Liam lachte und trat unter dem intensiven Blick einen Schritt rückwärts. »Wie soll ich das wissen? Ich weiß nicht einmal, wie viele da genau drinstehen. Außerdem kenne ich dich nicht einmal.«

Er hatte keine Zeit gehabt, das gesamte Inhaltsverzeichnis zu lesen, bevor er unterbrochen wurde. Zu sehr war er in seinen Erinnerungen gefangen gewesen.

Sein Gegenüber klappte das Buch erneut zu und hielt Liam seine rechte Hand hin. »Kieran.«

Liam wunderte sich über diese seltsame Geste. Gab man sich heute noch die Hand? Doch sie ergab in Verbindung mit dem längst aus der Mode gekommenen Namen und seiner steifen Kleidung ein interessantes Gesamtbild. Zu interessant, um nicht darauf einzugehen. Es war immer noch alles sicher.

Darum legte er seine Hand in die des Fremden. Finger schlossen sich warm und weich um seine eigenen, während Liam beinahe vergaß, dass er selbst einen Namen hatte. Oder dass man Sauerstoff zum Überleben brauchte. »Ich bin Liam.«

»Freut mich, Liam.« Das Lächeln verschwand nicht eine Sekunde aus Kierans Gesicht.

Er wusste nicht, wie lang solche Aktionen gewöhnlich dauerten. Seine Handschüttelprotokolle waren nicht besonders zahlreich. Sicherlich sollte man einen Fremden nicht ewig berühren. Auch wenn Kieran keine Anstalten machte, dass es ihm unangenehm war, löste Liam sich wieder von seiner Hand und wusste plötzlich nicht mehr, was man normalerweise mit ihnen tat. Sie kamen ihm nutzlos vor, wie sie einfach an seiner Seite hingen, darum verschränkte er sie schnell wieder.

»Mich auch.«

Gott, er war der peinlichste Mensch auf dem ganzen Planeten.

Kieran legte das Märchenbuch auf den Tisch, der zwischen den Regalen stand, und lehnte sich dann gegen die Tischkante. »Aber mein Lieblingsmärchen musst du trotzdem erraten.«

»Sicher, gib mir nur etwas mehr Zeit zum Überlegen«, erwiderte Liam siegessicher.

Kieran sah auf sein Handgelenk, obwohl er keine Uhr trug. »Wie lang?«

Das brachte Liam zum Lachen. Er taumelte einen weiteren Schritt nach hinten und stieß mit der Schulter gegen das Regal. »Na, ein bisschen mehr Zeit musst du mir schon einräumen.«

Er warf einen schnellen Blick über die Schulter, ob er versehentlich etwas umgeworfen hatte. Die Bücher standen immer noch in Reih und Glied. Unverwüstlich durch den Halt, den ihre Nachbarn ihnen gaben. Doch wenn man einen Teil aus diesem Gefüge entfernte, konnte es schwerwiegende Folgen haben.

»Dich findet man also öfter hier?«

Liam wandte sich abrupt zu der Stimme um. Den Satz, den er spontan erwidern wollte, schluckte er wieder hinunter. Stattdessen bremste er die aufkeimende Euphorie und hob entspannt eine Schulter. »Vielleicht. Es ist eigentlich nett hier. Und du? Bist du öfter hier?«

Dass die Attraktivität dieser Bibliothek gerade um ein Vielfaches zugenommen hatte, war ein Gedanke ganz für ihn allein. Einen, den er schnell zu den anderen steckte, an die er nicht mehr denken sollte. Denn bei jeder zufälligen Begegnung mit dem Fremden hatte Liam seine Augen kaum von ihm lösen können. Und dabei ging es nicht um sein Aussehen – irgendetwas an diesem Menschen hatte jedes Mal dafür gesorgt, dass Liams Blick sich wie magnetisch in seine Richtung wandte. Als würde Kieran eine Aura umgeben, die er zwar nicht sehen, aber wahrnehmen konnte. Nur dass Liam sich bisher nicht eingestehen wollte, wie oft er in den letzten zwei Wochen schon im Vorbeigehen auf diesen Rücken gestarrt hatte.

Kieran sah nachdenklich auf das Buch vor sich. Für einen Moment dachte Liam, seine Frage hatte ihn in Verlegenheit gebracht. Er beantwortete sie dennoch mit einem Seufzen.

»Ich bin öfter hier, als ich gerne würde.«

Liam zog die Brauen zusammen. »Arbeitest du hier?«

War ihm bei all den Begegnungen sein Namensschild nicht aufgefallen? Das würde Liam nach dem heutigen Tag nicht mehr wundern.

Diesmal war es an Kieran, zu lachen. Es war so laut, dass sich irgendwo jemand auffällig räusperte. Das hier war immer noch eine Bibliothek. Schnell versuchte Kieran, sich wieder zu beruhigen. Seine hellbraunen Augen blitzten vergnügt. »Nein, glaub mir. Niemand möchte, dass ich hier arbeite.«

Einer der Angestellten trat wie bestellt hinter dem Regal hervor. Es war derselbe Mann, der ihn vor ein paar Tagen zu einer Mitgliedschaft überreden wollte. Er lächelte Liam zu, aber das Lächeln gefror, sobald er Kieran erkannte.

»Wenn ich um Ruhe bitten dürfte.«

Liam nickte eifrig, die Hitze sammelte sich in seinen Wangen. Bisher hatte er nicht einen Laut in dieser Bibliothek von sich gegeben, außer seiner Entschuldigung für die alte Dame.

Kieran presste seine Lippen zusammen und nickte. Sobald der Bibliothekar mit unverständlichem Murmeln hinter dem Regal verschwand, verdrehte er die Augen.

Und Liam musste sich zusammenreißen, nicht gleich wieder loszuprusten.

Dann vibrierte auch noch das Handy in seiner Hosentasche. Ohne Eile zog er es aus seiner Hosentasche, versuchte zu verbergen, wie seine Finger dabei zitterten. Aber es war Florence.

Während Liam den Anruf entgegennahm, drehte er sich von Kieran weg. »Ja?«

»Liam? Hast du vielleicht Zeit, mir beim Einkaufen zu helfen?«

Er atmete den Druck, der sich in seiner Brust aufgebaut hatte, weg und setzte dafür ein Lächeln auf. »Kein Problem. Ich komme sofort.«

Sie seufzte erleichtert. »Hast was bei mir gut! Bis gleich.«

Liam legte auf und drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln um. »Tja, heute werde ich wohl nicht mehr dein Lieblingsmärchen erraten.«

Kieran hob das Märchenbuch vom Tisch und schlug es erneut auf. Doch sein Blick lag unverwandt auf Liam. »Dann bei unserem nächsten Treffen.«

Die Schatten, die sich schon am Tag zwischen den Regalen wanden, regierten nun. Sie wanden sich auf den Böden wie Schlangen. Nur selten erreichte das Licht der Sterne, das durch die schmutzigen Oberlichter fiel, die hölzernen Regale, die tief unter ihnen standen.

Die Bücher und all ihre Geschichten – so aufregend sie auch waren – schlummerten bei Nacht. Sie warteten friedlich darauf, träumten davon, dass jemand nach ihnen griff. Dass sie am nächsten Tag die Möglichkeit bekamen, erneut zum Leben erweckt zu werden. Ihr kümmerliches Werk einem weiteren Menschen zu zeigen, der es am nächsten Tag bereits wieder vergessen hatte.

Die Gänge, die schon am Tage spärlich besucht waren, lagen nun gänzlich verlassen da. Die Türen waren fest verschlossen, versagten jeglichen Besuch. Verwandelten den Ort, an dem jeder willkommen war, in ein stummes Gefängnis.

Die Nacht war zu spät und der Tag zu früh. Eine Zeit, die zwischen beidem existierte, und gleichzeitig gar nicht.

Eine gespenstische Stille herrschte in der Bibliothek. Selbst das stetige Flüstern verstummte in diesen Stunden. Sie legte sich über alle Räume wie ein dichter Nebel, den man nicht durchdringen konnte. Unnatürlich still, als würden selbst die Bücher den Atem anhalten. Als würden sie sich verraten, wenn sie weiterhin im Dunkeln miteinander flüsterten. Als würde etwas Fürchterliches geschehen, wenn jemand sie entdeckte.

Denn tief in der Nacht herrschten andere Gesetze.

In der Nacht regierten andere Wesen.

Des Nachts drangen kaum hörbare Laute aus dem Keller. Lautlose Schreie und jämmerliches Wehklagen. Sie rüttelten an ihren schweren Ketten, schlugen dumpf gegen die Scheiben. Wisperten Flüche in Sprachen, die niemand mehr verstand. Keiner würde sie befreien. Weil niemand sie hörte.

Inmitten dieser Stille, die jeder Mensch als friedlich bezeichnet hätte, regte sich die Luft.

Aus den Schatten eines Regals erhob sich ein Schemen. Formlos baute er sich auf, wuchs allmählich heran, gewann an Volumen und Substanz, bis er schon bald über die enormen Regale hinwegsehen konnte. Der Schatten war dunkler gegenüber den anderen, die ihn umgaben. Schwärzer als die Nacht selbst. Ohne Kontur und Gestalt, und doch hatte er zwei Augen.

Dabei benötigte er sie nicht, um sehen zu können.

Die Schatten waren seine Augen, seine Ohren, seine Sinne und sein Körper. Er war überall dort, wo sie auch waren. Er konnte sie in der ganzen Bibliothek spüren, wie sie sich auf jeder Etage ausbreiteten, alles bedeckten und ihre Umrisse bis zu Unkenntlichkeit verwischten.

Der Schemen bewegte sich durch den Saal, als würde er etwas suchen. Seine zahlreichen schattenhaften Arme strichen über die Regale, über den Boden, die Dielen, ohne dass sich darin etwas bewegte. Einige der Bücher, die auf dem Boden standen, klappten auf, wurden von einem zarten Wind durchgeblättert, der durch die Seiten strich. Einzelne Seiten lösten sich aus dem alten Buch und stoben davon.

Die Blätter flogen durch den Raum, einem Tanz folgend, den niemand kannte, außer ihnen, bis sie unbeachtet und kraftlos wieder auf den Boden glitten. Vielleicht für immer unter den anderen Regalen verloren.

Aber es war nicht da.

Dabei konnte er es spüren.

Der Schatten wanderte ruhelos durch den Saal. Den einzigen Ort, den er kannte. Denn obwohl die Türen zum Saal weit offen standen, kam er nicht heraus. Sein Reich war begrenzt – ein kümmerlicher Raum für etwas so unfassbar Großes wie seine mächtige Existenz.

Dumme, dumme Menschlein.

Er grummelte bedrohlich – ein Geräusch wie nahender Donner rollte durch den Saal.

Der Schatten füllte den ganzen Raum mit seiner Finsternis. Sie kroch in jede Ecke und floss in jeden Spalt. Füllte jeden Winkel seines verkümmerten Reichs aus. Und hinterließ nur seine endlose Leere.

Er konnte nicht finden, was er suchte, konnte nicht haben, was er wollte.

Konnte nicht fassen, was es nicht gab.

Er war so mächtig und doch so schwach.

Kapitel 5

Es war nicht so, dass Liam gleich am nächsten Tag erneut in die Bibliothek ging, weil er erwartete, dort jemand Bestimmten zu treffen.

Sein Weg führte ihn zufällig von der Wohnung geradewegs zu dem riesigen, sandsteinfarbenen Gebäude. Es ragte schon aus der Ferne in die Höhe und wies ihm den Weg.

Hohe, schmale Fenster zierten die äußeren Wände, an denen er vorbeiging. Sie quetschten sich zwischen die Fassade, die mit waagerecht verlegten Steinen bedeckt war, deren Linien ein Muster ergaben. Darüber war eine niedrige Mauer, die zu einem Gang in der oberen Etage führte, der einmal um das ganze Gebäude herum führte. Nur dass man ihn nicht betreten durfte. In den oberen Etagen wölbten sich die Erker nach außen, bildeten die Ausbuchtungen, in die er sich innen gerne niederließ.

Er ging zur Vorderseite der Bibliothek. Säulen standen hier statt der Erker nebeneinander, die eher einen dekorativen Zweck erfüllten. Die Kanten des Gebäudes, die zur Straße zeigten, waren von Moos bedeckt. Ein grüner Film, der sich langsam unvermeidlich ausbreitete.

Darüber, ganz an der Kante zum Dach, ragten steinerne Mauern in die Höhe, die das Gebäude erneut umrundeten.

Es wirkte dreckig und alt. Herrschaftlich und übertrieben, mit all den unnötigen prunkvollen Verzierungen. Die Fenster sahen von außen dunkel und verlassen aus. Nichts deutete darauf hin, dass Menschen hier ein und aus gingen.

Die Bibliothek nahm die ganze Breite des Häuserblocks ein. Wie viel genau konnte Liam nicht sagen, aber sie war riesig.

Das charakteristische Halbrund, auf dem das kupferne Kuppeldach ruhte, erhob sich vor ihm. Mehr Säulen waren daran angebracht, die oben und unten verziert waren. Die Fenster dazwischen schmal und hoch. In goldenen Buchstaben stand der Name der Bibliothek an den halbrunden Mauern. The Dunnet Library.

Über der Eingangstür, am Balkon in der ersten Etage, war eine steinerne Figur. Sie saß dort, als würde sie über jeden wachen, der die Bibliothek betreten wollte.

Schmiedeeiserne Tore waren im Eingangsbereich zur Seite gezogen worden. Sie waren voller Ranken und Blätter, alles bereits schwarz angelaufen. Die Tür dahinter aus Holz, und so schwer, dass Liam bei seinem ersten Besuch dachte, sie wäre zu.

Er schlenderte vollkommen zufällig durch die Tür in diesen Saal. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Er spulte die Worte in seinem Kopf ab, während er dem Mann am Empfang zulächelte, der ihn ebenfalls wiedererkannte. Und auch, als er die runden Steintreppen nach oben in die zweite Etage stieg, die direkt über dem Eingang lag. Alte Gemälde hingen in jeder Etage an der Wand, von Menschen, die Liam nicht interessierten. Die prunkvollen Goldrahmen glänzten stolz, ohne dass sie beachtet wurden.

Auch das von innen verzierte Kuppeldach wurde heute mit keinem Blick gewürdigt. Liam war dafür an anderen Tagen stehen geblieben, um staunend die Decke zu betrachten. Ein Anblick, der zu detailreich war, um ihn anderen in schnöden Worten zu beschreiben.

Liam eilte weiter, bis er die Tür zu der Halle öffnete, die zu seiner Zuflucht geworden war. Der Griff, der mit verziertem Holz verkleidet war, fühlte sich warm in seiner Hand an. Heute schien die Sonne durch die zahlreichen Fenster auf der linken Seite des Raumes. Das Licht tauchte alles in eine magische Stimmung. Der Staub tanzte glitzernd vor ihm in der Luft. Einzelne Sonnenstrahlen durchbrachen den halben Raum und malten helle Streifen auf den Boden.

Liam wanderte gemächlich zwischen den Regalen entlang, um zur linken Hälfte des Saals zu gelangen. Der Boden bestand hier oben aus einem alten Parkett, das in komplizierten Mustern auf dem Boden verlegt war, im Gegensatz zu den Steinfliesen im Erdgeschoss. Dadurch wirkte der Saal viel einladender, beinahe wie ein Wohnzimmer.

Da hörte Liam es erneut. Das Flüstern.

Erst glaubte er, sich geirrt zu haben, doch dann drang es ein weiteres Mal in seine Ohren. Er blieb stehen und legte den Kopf schief, während er sich konzentrierte. Das säuselnde Geräusch war kaum hörbar und unverständlich. Er zog seine Augenbrauen zusammen, denn es klang nicht wie eine einzelne Stimme, sondern nach mehreren.

Er trat einen Schritt auf das Regal zu und das Wispern wurde minimal lauter. Nicht mehr als das Rauschen der Buchseiten im Wind. Bloß gab es hier keinen Wind, der dieses Rascheln verursachen könnte. Während er weiterlief, um am Ende des Ganges einen Blick auf die andere Seite des Regals zu werfen, wurde das Flüstern wieder leiser. Aber auf der anderen Seite des Regals stand niemand. Nicht mal ein einzelner Mensch, der vielleicht mit sich selbst geredet hatte.

Gerade als Liam weiter in den Gang hinein ging, betrat eine andere Person ihn von der anderen Seite. Eine kleine Person, die ihm seltsam bekannt vorkam.

Sie betrachtete konzentriert die Bücher auf ihrer Höhe, bevor sie ebenfalls bemerkte, dass noch ein Mensch außer ihr hier war. Sie legte den Kopf in den Nacken und spitzte die knallroten Lippen. »So sieht man sich wieder, Jungchen.«

Eigentlich wollte er so schnell wie möglich zu ihrem Treffpunkt – der eigentlich kein Treffpunkt war, da sie nicht einmal einen vereinbart hatten. Geschweige denn eine Zeit. Doch er konnte auch diese alte Dame nicht einfach stehen lassen. Darum überwand er die letzten Meter bis zu ihr und setzte sein strahlendes Lächeln auf. »Allerdings. Und heute, ohne jemanden zu verletzen.«

Bei ihrer heutigen Kombination aus sonnengelber Rüschenbluse und einer braunkarierten schmalen Hose hätte Liam am liebsten die Augen zusammengekniffen. Er lächelte tapfer weiter.

Sie lachte über seine Bemerkung, wobei sich ihre in Form geföhnte Frisur nicht einen Millimeter bewegte. Sie hatte eine enorme Ausstrahlung dafür, dass sie nicht einmal einen Meter sechzig groß war. »Es ist ja zum Glück niemand zu Schaden gekommen. Ich bin im übrigen Celeste Anderson.« Dabei legte sie die Hand auf ihr Herz und neigte ganz leicht den Kopf.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Anderson. Ich heiße Liam.« Er biss sich auf die Zunge, um die Worte zu stoppen, die versehentlich über seine Lippen kommen wollten.

»Liam. Ein schöner Name.«

»Ja, meine-«, er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter, »meine Mutter war wohl sehr stur, was diesen Namen anging.«

»Dann ist sie eine kluge Frau.«

Liam lächelte weiter, bevor er sich den Regalen zuwandte. »Kann ich Ihnen irgendwas von oben anreichen?«