Widerstand der Wirklichkeit - Stefan Zweig - E-Book

Widerstand der Wirklichkeit E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Nach neun Jahren der Trennung steht sich ein liebendes Paar erstmals wieder gegenüber. Die plötzliche Gegenwart des sehnsüchtig Vermissten, bald von Alltagsverrichtungen Verdrängten wird zu einer Reise in die Vergangenheit, in die Erinnerung der gemeinsamen Zeit. Doch kann eine Liebe den ersten Weltkrieg und ein Leben auf verschiedenen Kontinenten überstehen? In seinen Erzählungen spürt Stefan Zweig mit psychologischem Feingefühl den geheimen Wünschen und Leidenschaften seiner Figuren nach, und erzählt fast zärtlich von den Veränderungen, die die Zeit im Menschen anrichtet.

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Stefan Zweig

Widerstand der Wirklichkeit

Fischer e-books

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Widerstand der Wirklichkeit

»Da bist du!« Mit ausgestreckten, beinahe ausgebreiteten Armen ging er ihr entgegen. »Da bist du«, wiederholte er noch einmal und die Stimme stieg die immer hellere Skala auf von Überraschung zu Beglückung, indes zärtlicher Blick die geliebte Gestalt umfing. »Ich hatte schon gefürchtet, du würdest nicht kommen!«

»Wirklich, so wenig Vertrauen hast du zu mir?« Aber nur die Lippe spielte lächelnd mit diesem leichten Vorwurf: von den Augensternen, den klar erhellten, strahlte blaue Zuversicht.

»Nein, nicht das, ich habe nicht gezweifelt – was ist denn verläßlicher in dieser Welt als dein Wort? Aber, denk’ dir, wie töricht! – nachmittags plötzlich, ganz unvermutet, ich weiß nicht warum, packte mich mit einmal ein Krampf sinnloser Angst, es könnte dir etwas zugestoßen sein. Ich wollte dir telegrafieren, ich wollte zu dir hin, und jetzt, wie die Uhr vorrückte und ich dich noch immer nicht sah, riß mich’s durch, wir könnten einander noch einmal versäumen. Aber Gottlob, jetzt bist du da –«

»Ja – jetzt bin ich da«, lächelte sie, wieder strahlte der Stern aus tiefem Augenblau. »Jetzt bin ich da und bin bereit. Wollen wir gehen?«

»Ja, gehen wir!« wiederholten unbewußt die Lippen. Aber der reglose Leib rührte keinen Schritt, immer und immer wieder umfing zärtlicher Blick das Unglaubhafte ihrer Gegenwart. Über ihnen, rechts und links klirrten die Geleise des Frankfurter Hauptbahnhofes von schütterndem Eisen und Glas, Pfiffe schnitten scharf in den Tumult der durchrauchten Halle, auf zwanzig Tafeln stand befehlshaberisch je eine Zeit mit Stunden und Minuten, indes er mitten im Quirl strömender Menschen nur sie als einzig Vorhandenes fühlte, zeitentwandt, raumentwandt in einer merkwürdigen Trance leidenschaftlicher Benommenheit. Schließlich mußte sie mahnen »Es ist höchste Zeit, Ludwig, wir haben noch keine Billette.« Da erst löste sich sein verhafteter Blick, voll zärtlicher Ehrfurcht nahm er ihren Arm.

Der Abendexpress nach Heidelberg war ungewohnt stark besetzt. Enttäuscht in ihrer Erwartung, dank der Billette Erster Klasse miteinander allein zu sein, nahmen sie nach vergeblicher Umschau schließlich mit einem Abteil vorlieb, wo nur ein einzelner grauer Herr halb schlafend in der Ecke lehnte. Schon freuten sie sich, vorgenießend, vertrauten Gespräches, da, knapp vor dem Abfahrtspfiff, stapften noch drei Herren mit dicken Aktentaschen keuchend ins Coupé, Rechtsanwälte offenbar und von eben erst beendetem Prozesse dermaßen erregt, daß ihre prasselnde Diskussion jede Möglichkeit anderen Gesprächs vollkommen niederschlug. So blieben die beiden resigniert einander gegenüber, ohne ein Wort zu versuchen. Und nur wenn einer von ihnen den Blick aufhob, sah er, dunkelwolkig überflogen vom ungewissen Lampenschatten, den zärtlichen Blick des andern sich liebend zugewandt.

 

Mit lockerem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Das Räderrattern dämpfte und zerschlug das rechtsanwältliche Gespräch zu bloßem Geräusch. Dann aber wurde aus Stoß und Schüttern allmählich rhythmisches Schwanken, stählerne Wiege schaukelte in Träumerei. Und während unten knatternde Räder unsichtbar in ein Vorwärts liefen, jedem anders zuerfüllt, schwebten die Gedanken der beiden träumerisch ins Vergangene zurück.

Sie waren einander vor mehr als neun Jahren zum erstenmal begegnet und, seitdem getrennt durch undurchstoßbare Ferne, fühlten sie nun mit vervielfachter Gewalt dies wieder erste wortlose Nah-Beisammensein. Mein Gott, wie lange, wie weiträumig das war, neun Jahre, viertausend Tage, viertausend Nächte bis zu diesem Tage, bis zu dieser Nacht! Wieviel Zeit, wieviel verlorene Zeit, und doch sprang ein einziger Gedanke in einer Sekunde zurück zum Anfang des Anfangs. Wie war es nur? Genau entsann er sich: als Dreiundzwanzigjähriger war er zum erstenmal in ihr Haus gekommen, scharf schon die Lippe gekerbt unter dem sanften Flaum jungen Bartes. Vorzeitig losgerungen von einer durch Armut gedemütigten Kindheit, aufgewachsen an Freitischen, sich durchfrettend als Hauslehrer und Nachhelfer, verbittert vor der Zeit durch Entbehrung und kümmerliches Brot. Tagsüber die Pfennige scharrend für Bücher, nachts mit ermüdeten und krampfig gespannten Nerven dem Studium folgend, hatte er als Erster die chemischen Studien absolviert und, besonders empfohlen von seinem Ordinarius, war er zu dem berühmten Geheimrat G., dem Leiter der großen Fabrik bei Frankfurt am Main gekommen. Dort teilte man ihm zunächst subalterne Arbeiten im Laboratorium zu, aber bald des zähen Ernstes dieses jungen Menschen gewahr, der mit der ganzen gestauten Kraft eines fanatischen Zielwillens sich tief in die Arbeit schraubte, begann sich der Geheimrat für ihn besonders zu interessieren. Probeweise teilte er ihm immer verantwortlichere Arbeit zu, die jener, die Möglichkeit des Entkommens aus dem Kellergewölbe der Armut erkennend, gierig ergriff. Je mehr Arbeit man ihm auflud, desto energischer reckte sich sein Wille: so wurde er in kürzester Frist aus einem dutzendmäßigen Gehilfen der Adlatus wohlbehüteter Experimente, der »junge Freund«, wie ihn der Geheimrat schließlich wohlwollend zu benennen liebte. Denn ohne daß er [es] wußte, beobachtete ihn hinter [der] Tapetentür des Chefzimmers ein prüfender Blick auf höhere Eignung, und indes der Ehrgeizige blindwütig Tägliches zu bewältigen meinte, ordnete ihm der fast immer unsichtbare Vorgesetzte schon höhere Zukunft zu. Durch eine sehr schmerzhafte Ischias häufig zu Haus, oftmals sogar ans Bett gefesselt, spähte seit Jahren der alternde Mann nach einem unbedingt verläßlichen und geistig zureichendem Privatsekretär, mit dem er die geheimsten Patente und die in notwendiger Verschwiegenheit ausgeführten Versuche besprechen konnte: endlich schien er gefunden. Eines Tages trat der Geheimrat an den Erstaunten mit dem unerwarteten Vorschlag heran, ob er nicht, um ihm näher zur Hand zu sein, sein möbliertes Zimmer in der Vorstadt aufgeben und in ihrer geräumigen Villa als Privatsekretär Wohnung nehmen wolle. Der junge Mann war erstaunt von so unerwartetem Vorschlage, noch erstaunter aber der Geheimrat, als jener nach eintägiger Überlegungsfrist den ehrenvollen Vorschlag rundweg ablehnte, die nackte Weigerung ziemlich unbeholfen hinter schlottrigen Ausflüchten verbergend. Eminent als Gelehrter, war doch in seelischen Dingen der Geheimrat nicht erfahren genug, um den wahren Grund dieser Weigerung zu erraten, und vielleicht sich selbst gestand der Trotzige sein letztes Gefühl nicht ein. Und dies war nichts anderes als ein krampfig verbogener Stolz, die verwundete Scham einer in bitterster Armut verbrachten Kindheit. Als Hauslehrer in parvenühaften beleidigenden Häusern der Reichen aufgewachsen, ein namenlos amphibisches Wesen zwischen Diener und Hausgenossen, dabei und auch nicht dabei, Zierstück wie die Magnolien am Tische, die man aufstellte und abräumte nach Bedarf, hatte er die Seele randvoll von Haß gegen die Oberen und ihre Sphäre, die schweren wuchtigen Möbel, die vollen üppigen Zimmer, die übermäßig fülligen Mahlzeiten, all dies Reichliche, daran er nur als Geduldeter Anteil nahm. Alles hatte er dort erlebt, die Beleidigungen frecher Kinder und das noch beleidigendere Mitleid der Hausfrau, wenn sie ihm am Monatsende ein paar Noten hinstreifte, die höhnisch ironischen Blicke der immer gegen den höher Dienenden grausamen Mägde, wenn er mit seinem plumpen Holzkoffer in ein neues Haus angerückt kam und den einzigen Anzug, die grau zerstopfte Wäsche, diese untrügbaren Zeichen seiner Armut, in einem geliehenen Kasten verstauen mußte. Nein, nie mehr, hatte er sich’s geschworen, nie mehr in fremdes Haus, nie mehr in den Reichtum zurück, ehe er ihm nicht selber gehörte, nie mehr sich ausspähen lassen in seiner Dürftigkeit und blessiert durch unedel dargebotene Geschenke. Nie mehr, nie mehr. Nach außen deckte ja jetzt der Doktortitel, ein billiger, aber doch undurchdringlicher Mantel, die Niedrigkeit seiner Stellung, im Büro verhüllte die Leistung die schwärende Wunde seiner geschändeten, von Armut und Almosen vereiterten Jugend: nein, für kein Geld mehr wollte er diese Handvoll Freiheit verkaufen, diese Undurchdringlichkeit seines Lebens. Und darum lehnte er die ehrende Einladung, auf die Gefahr hin seine Karriere zu verderben, mit ausflüchtender Begründung ab.