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Aus Geldsorgen nimmt der Schriftsteller Pallmann ein Stipendium an - dafür soll er in Verdun einen Text über die dortigen Gedenkstätten schreiben. Mit auf die Reise kommt seine Tochter Anna, ein Kind aus einer früheren, längst zerbrochenen Beziehung. Auf der Reise wird schnell deutlich, dass Annas Vorstellung von Urlaub mit Vati am Meer nicht nur mit den Recherchearbeiten von Pallmann auf den Schlachtfeldern Verduns kollidiert. Doch vor der bizarren Kulisse aus Schützengräben und Kraterlandschaften spannt sich schließlich ein zartes Band der Vertrautheit zwischen Vater und Tochter …
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Seitenzahl: 438
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Arwed Vogel wurde 1965 geboren und wuchs im Umland von München auf. Er studierte Kulturwissenschaften in München und London und ist seit 1985 als Dozent für Literatur und Kreatives Schreiben tätig. Er unterrichtet an der Ludwig-Maximilians-Universität und anderen Bildungseinrichtungen. Neben der Veröffentlichung zahlreicher Erzählungen erschien 2003 sein erster Roman »Die Haut der Steine«, zuletzt eine Reihe von Jugendnovellen. Vogel ist Mitbegründer verschiedener Literaturzeitschriften sowie des Münchner Literaturbüros und erhielt diverse Auszeichnungen für sein literarisches Schaffen und Engagement. Er lebt in München und Wartenberg.
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:www.allitera.de
Die Recherchen zu diesem Roman wurden gefördert durch die »Internationalen Maßnahmen des Auswärtigen Amtes 2003«.
September 2016 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2016 Buch&media GmbH, München Printed in Germany · isbn 978-3-86906-881-7
Gewidmet meinen Eltern
P allmann blickte sich um. Er war stolz, dass Anna hinter ihm saß.
Aber das hätte er nie zugegeben. Zumindest gegenüber Sabine nicht. Pallmann vergewisserte sich: Ja, Anna war wirklich im Wagen. Es war seine erste Reise mit ihr. Mit ihr allein. Es war Nachmittag und sie fuhren gleich los. Seltsames Gefühl. Dabei hatte er sich tagelang dagegen gewehrt. Endlos lange Gedankenketten. Ob er das überhaupt wollte oder nicht oder unter welchen Bedingungen. Ob man ihm das zumuten könne und ob es gut für Anna wäre. All diese Gedanken waren nicht nur sinnlos gewesen, denn er hatte es nicht ändern können, sie waren überflüssig, denn auf einmal spürte er, dass es vielleicht gut war. Für ihn. Auch für Anna. Und schließlich gab Anna der Reise den Anschein von Normalität. Sie hatte eine Sonnenbrille mit Blumenmuster auf. Er lächelte ihr zu – nur kurz, Sabine stand neben dem Wagen.
»Es ist noch kein Krieg«, sagte Pallmann, »mach dir nicht so viele Sorgen.«
Er spielte mit den Fingern am Schlüssel, der bereits im Zündschloss steckte.
»Und wenn es Krieg gibt«, fügte er hinzu, »wird er woanders stattfinden. «
Der Schatten der Hauswand war über die Hälfte der Straße gezogen, langsam hatte sich die dunkle Fläche ausgebreitet. Wenn Sabine – nein, Sabine war nicht schuld. Schuld war Annas Mutter, die zwei Stunden zu spät gekommen war. Zwei Stunden, die ihm jetzt fehlten.
Man muss doch nicht alles immer noch schwerer machen, dachte er. Sabine neben dem Wagen, die Arme verschränkt; er sah nicht genau, ob sie weinte, aber er hielt es für möglich. Anna in ihrem Kindersitz sprach kein Wort. Als sich Annas Mutter verabschiedet hatte, war Pallmann unter einem Vorwand in die Wohnung gelaufen. Das war nicht nett, Sabine mit Annas Mutter auf der Straße zurückzulassen, aber er wollte auf jeden Fall einen Streit vor der Abfahrt verhindern. Vom Fenster hatte er alles beobachtet. Er hatte genau hingesehen.
Sabine konnte das: daneben stehen als ob sie nicht da sei. Sie musste sich nicht einmal abwenden, um nicht mehr wahrgenommen zu werden. Dann musste er auf die Straße, um den Kindersitz zu montieren. Er hätte ihn auf dem Beifahrersitz befestigt, Annas Mutter aber hatte darauf bestanden, dass Anna hinter ihm saß. Dann hatte sie ihr noch einmal zugewinkt und war wortlos gegangen.
Man sollte Abschiede abschaffen, dachte Pallmann. Dann merkte er, dass er die Lippen aufeinander presste.
Sabine bückte sich zum offenen Beifahrerfenster und strich mit der Hand dünne Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Jetzt aber«, sagte sie, »sonst werde ich noch trauriger.«
In ihren Augen standen tatsächlich Tränen. Er hob die Hand, die vom Zündschlüssel aufs Bein gesunken war, und winkte.
»Wir kommen zurück«, sagte er, als gäbe es daran Zweifel, und versuchte zu lächeln.
»Warum weint Sabine?«, fragte Anna und Pallmann überlegte, was er sagen sollte. Fünf Tage, es sind doch nur fünf Tage.
»Weil wir uns so lang nicht sehen«, sagte er dann.
Aber es half nichts. Er konnte Sabine nicht weinen sehen und schon gar nicht vor Anna. Seine Finger an Sabines Gesicht. Ihre Hand, die nach seiner griff, sie aber nicht zu fassen bekam. Er versuchte noch, seine Tränen wegzublinzeln.
»Jetzt weinen schon zwei«, stellte Anna aus ihrem Kindersitz heraus fest.
Da drehte er den Zündschlüssel im Schloss und fuhr langsam die Straße herunter, vergaß fast zu winken. Erst, als er im Rückspiegel Anna sah, die Sabine winkte, merkte Pallmann, was er vergessen hatte. Aber er fuhr langsam genug, und da er nach wenigen Metern an einer roten Ampel schon wieder stehen bleiben musste, drehte er sich doch noch um, sah Sabine auf der Straße und winkte kraftvoll und ein wenig übertrieben zurück.
Den Wagen hatte ihm ein Freund für die Reise geliehen. Ein Wagen, so groß, dass man zur Not auch mit zurückgelegten Sitzen halbwegs bequem in ihm übernachten konnte.
Pallmann hatte sorgfältig gepackt und während der zwei Stunden, die er auf Anna warten musste, alles immer wieder kontrolliert: die Landkarten, Stifte, Papier, das Notizheft, die Internet-Ausdrucke, Kurzbeschreibungen. Den Koffer hatte er unter Sabines staunenden Augen zweimal geöffnet, durchgeschaut, ob er alles dabei hatte: Unterwäsche, Socken, robuste Pullover, denen das Unterholz wenig anhaben konnte, Jeans, Feste Schuhe, Wanderschuhe. Wenn es sein musste ließ sich mit ihnen auch schnell laufen. Zwei Hemden für etwaige Hotels. Ein kleiner Koffer, den er überallhin mitnehmen konnte. Ob das ausreichte? Er wusste es nicht. Aber das wusste man ja nie.
Der Wagen fuhr langsam am Rand der Altstadt vorbei Richtung Langer Straße. Straßencafés mit Sonnenschirmen über Tische und Stühle gespannt. Als sei noch hoher Sommer.
Trotzdem. Etwas nagte in ihm. Nicht nur das schlechte Gewissen wegen Anna. Der Abschied von Sabine, das war wohl vorbei, wenn er auf die Autobahn fuhr. Nein, es war das Gefühl, dass er nicht genug getan hatte. Dass er nicht alle Möglichkeiten der Vorbereitung ausgeschöpft hatte. Eine merkwürdige unruhige Angst, seine Aufgabe nicht zu erfüllen. Die er so gut kannte, weil sie in ihn immer überfiel, wenn er das Haus verließ. Dieses Gefühl verstörte ihn, bis er begriff, dass es nur wieder diese Angst war. Wenn er das merkte, beruhigte er sich. Nicht genug getan zu haben. Konnte man denn überhaupt noch genug tun? War nicht alles so angewachsen und tat sich nicht hinter jeder erledigten Aufgabe eine neue auf, die unumgänglich mit zu erledigen war, wollte man nicht Gefahr laufen zu scheitern?
Er versuchte sich zu beruhigen: schließlich hatte er auch anderes zu tun gehabt. Die Seminararbeiten, Korrekturen, Planungsunterlagen, zweifache Ausfertigung, per Brief und per Mail, damit nichts schief ging. Früher hatte er nicht so korrekt gearbeitet.
Annas Koffer hatte ihre Mutter gepackt. Hoffentlich kam Anna damit zurecht. Von Sabine kam die Tüte mit belegten Brötchen und Süßigkeiten für die Fahrt. Die Kuscheltiere standen schon ausgepackt neben ihr, damit sie auch etwas sahen. Regenkleidung – hatte er für sich Regenkleidung dabei?
»Setz doch die Sonnenbrille ab«, sagte Pallmann, den Blick im Rückspiegel.
»Eine Sonnenbrille braucht man im Urlaub«, antwortete Anna und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Hat Mama gesagt.«
Im Urlaub, echote Pallmann, ließ die Seitenscheibe herunterfahren und legte seinen Arm auf die Fahrertür. Die Leute draußen, nicht viel jünger als er – Sonnenbrillen ins Haar gesteckt, die Röcke nach oben geschoben, um die Beine in der letzten Sonne noch ein wenig zu bräunen, als sei völliger Frieden; auf den Tischen standen hohe Gläser mit Strohhalmen und Schaum über dem Kaffee.
Er versuchte die Sitzenden einen neidvollen Gedanken lang zu verachten, gab aber schnell auf, da er lieber zwischen ihnen gesessen hätte, mit ausgestreckten Beinen statt hier im Auto so viele Stunden. Aber es half nichts. Was man auch tat, später bereute man doch, nicht etwas anderes getan zu haben. Er zog den Arm zurück ins Auto. Es war ja immerhin ein Auftrag, der ihn zu dieser Reise zwang.
Ein Auftrag, seit Langem der erste Auftrag. Der Wagen stand jetzt wieder an einer roten Ampel und man konnte Pallmann den Kopf schütteln sehen. Er wollte nicht bereuen, was er tat. Er wollte nur das tun, was ihm wichtig war. Aber was war wichtig? Die Antwort kannte er. Doch sie half ihm nicht. Er hatte siebenhundertvierundachtzig Kilometer vor sich. Sieben Stunden, zehn Minuten nach Berechnung des Routenplaners. Pallmann fuhr selten lange Strecken, und wenn er in einer anderen Stadt zu tun hatte, nahm er den Zug. Sein Freund hatte ihm das Auto wahrscheinlich aus Mitleid geliehen. Oder wegen Anna. Ohne Auto wäre das Ganze sowieso nicht zu machen gewesen.
Ach Anna, dachte er. Wir müssen das Beste draus machen. Obwohl es eigentlich Wahnsinn war. Allein die Umstände, die erste Nacht im Auto auf der Anfahrt, und was dann kam. Aber, und das betonte er für sich in Gedanken noch einmal, es war nicht seine Schuld. Er hätte das aus eigenen Stücken nicht getan. Er musste deswegen auch kein schlechtes Gewissen haben. Obwohl er gelogen hatte. Aber was half das. Er war unterwegs in ein Niemandsland, und Anna saß auf dem Rücksitz mit einer Tüte Süßigkeiten und Kuscheltieren. Und er saß am Steuer und fragte sich, was man siebenhundert Kilometer mit einem Kind reden sollte, das man eigentlich nicht kennt.
Das Stipendium diente der Förderung der kulturellen Beziehungen innerhalb der Regionen und sollte in seiner Breitenwirkung die touristische Bedeutung betonen und verbessern. Dabei sollten vernachlässigte Aspekte des Geschehens, die der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, im Vordergrund stehen.
Niemandsland. Niemandsland, in dem er niemanden kannte. Nicht einmal jemanden, der schon dort gewesen war. Nur einen französischen Studienkollegen, der ihm das Hotel empfohlen hatte. »Alles okay, Anna?« fragte er nach hinten, ohne sich umzusehen.
Von der B1 am Südkreuz auf die A 39, am Dreieck Salzgitter auf die A 7, bei Hattenbach auf die A 5 und dann immer weiter Richtung Süden an Frankfurt westlich vorbei, nach Westen, immer weiter nach Westen. So einfach hatten es die Soldaten nicht gehabt. Oder doch? Sie mussten sich ja nicht darum kümmern, wie sie dorthin kamen. Sie mussten nur das tun, was man ihnen sagte.
Auf der Autobahn, nachdem er getankt hatte, einfach nur fahren durfte, lag auch der Abschied von Sabine hinter ihm, lagen diese vermeidbaren Abschiedsschmerzen so weit zurück, er musste nicht mehr an sie denken, nicht mehr daran, sie nicht mehr sehen zu können. Dann war er ruhiger, dann wurde es selbstverständlich, dass Anna hinter ihm saß.
Ich bin bald zurück, tröstete er sich – es war ja nur ein kleiner Auftrag, den er zu erledigen hatte. Kein Vergleich mit der Biografie, an der er seit vier Jahren arbeitete. Vier Jahre, in denen er in den Archiven suchte, Zeitzeugen befragte, sogar eine Halbschwester ausfindig gemacht hatte, die allerdings wenige Wochen vor dem vereinbarten Termin verstorben war. Er wollte gar nicht durchrechnen, wie viel Zeit er damit verbracht hatte. Aber er hatte nicht aufgegeben. Er hatte begriffen, dass hinter dieser unbedeutenden akademischen Karriere, die er beschrieb, sich Lügen und Hoffnungen zusammenbanden, das mehr als nur dieses kleine persönliche Schicksal zeigte, wenn man das Bündel aufschnürte. Andere beschäftigten sich mit Goethe oder Barthes. Er beschäftigte sich mit einem akademischen Rat und seiner Affäre mit einer vermutlich jüdischen Tänzerin, den Auswirkungen, den Reaktionen des Universitätsbetriebs. Na ja. Zu einer anderen Zeit hätte Bendrick die Affäre auch schaden können. Vielleicht sogar heute noch, dachte Pallmann. Aber das war nicht sein Thema.
Am Anfang hatte er noch gemeint, er könnte sich mit der Arbeit über Bendrick habilitieren oder es könnte ihm zumindest helfen, sich zu profilieren. Aber als er Kollegen davon erzählte, bemerkte er wenig Begeisterung. Anfangs erschrocken von der Missachtung stellte er bald fest, dass sie ihm gleichgültig wurde, je länger er sich mit seinem akademischen Rat beschäftigte. Von Sabine mal abgesehen. Aber auch sie schüttelte den Kopf. Zeitverschwendung, sagte sie, du stehst dir ja selbst im Weg.
Das hatte ihn so wütend gemacht, dass er aus der Wohnung gelaufen war, zwei Stunden durch die Stadt. Vielleicht weil er selbst nicht genau wusste, warum er über Bendrick schrieb. Was ihn an dieser doch sehr durchschnittlichen Figur nicht losließ. Dass er sich nicht gefügt hatte, ausgebrochen war, die Liebe über seine Karriere gestellt hatte. Dann vielleicht eher, dass er sich das Leben genommen hatte. Diese letzte Konsequenz, zu der er fähig war, mit der er seinem Scheitern ein Ende setzte. Dieses Moment, keine Hoffnung mehr zu haben. Dass er bereit war, aufzugeben. Vielleicht versuchte Pallmann nur dieses Moment zu begreifen.
Vielleicht, dachte Pallmann, war es das erste Mal, dass es ihm nicht um sich ging.
Wenn er die Arbeit aufgab, würde Bendrick ein zweites Mal sterben. Und er hätte aufgegeben wie Bendrick. Auch eine Art Tod.
Plötzlich wäre er am liebsten umgekehrt. Nie war genug Zeit, nie konnte er tun, was er wirklich wollte, was wichtig war, ihm wichtig vorkam. Das wollte er sich nicht verzeihen. Dass er sich mit Dingen beschäftigte, die nicht produktiv waren, mit dem, was er für produktiv hielt. Geld verdienen gehörte nicht dazu. Seltsam, dass das so wenige Menschen merkten.
Immerhin konnte bei diesem Auftrag nichts schief gehen. Zwei Tage hatte er, um das Terrain zu erkunden. Zwei weitere, um zu schreiben. Fünfzehn bis dreißig Seiten. Fünfzehn Seiten, die sich dann schneller füllten, als es ihm lieb war. Er kannte das doch. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Das einzige Problem war Anna. Dass er das erste Mal mit ihr unterwegs war und nicht wusste, wie sie reagieren würde. Und dass er sie angelogen hatte. Dass ihm nichts übrig geblieben war, als sie anzulügen. Dass er keinen Widerstand geleistet hatte. Dass er zu dem ganzen Unglück im Endeffekt beigetragen hatte.
Er hört noch ihre Stimme beim Telefonieren: »Ans Meer. An den Strand?«
Er hört sich sagen: »Genau. Nur wir allein. Zu zweit.«
»Versprochen?«
»Versprochen. Wenn noch Zeit ist. Versprochen.«
Versprochen ist versprochen. War das eine Lüge? Nein, es war keine, entschied Pallmann. Er hatte Anna nichts anderes sagen können. Man hatte ihm keine Wahl gelassen. Weder Anna noch ihre Mutter. Und Sabine – Sabine hatte ihm auch nicht geholfen.
Pallmann blinkte, fuhr auf die Autobahn.
Er hörte noch Annas jubelnde Stimme: »Ich darf mit Papa ans Meer.« Daran durfte er gar nicht denken. Und auch an Annas Mutter nicht. Sonst würde er wieder wütend und das wollte er nicht. Nichts war so schlimm wie eine Wut, die man nicht loswurde. Er beschleunigte, um einen Lastwagen zu überholen. Wenn man sich anstrengte, musste man sich nicht ärgern. Das war bei allem so. Hatte er das von seinen Eltern? Wahrscheinlich nicht. Seine Eltern hatten darauf bestanden, sich aufregen zu dürfen, wann sie wollten. Das war einfach nur schrecklich gewesen. Pallmann versuchte seine Arbeit zu tun, unauffällig, unaufgeregt. So würde er es auch diesmal halten, auch wenn er keine große Lust dazu hatte.
Versprochen ist versprochen. Er blickte kurz in den Rückspiegel, Anna spähte aus dem Fenster, als tauche hinter den Hügeln gleich das Meer auf.
Es war wenig Verkehr. Weite Felder, rechts kam bis an den Seitenstreifen Wald heran. Pallmann drehte das Radio an und schaltete die Sender durch. Verkehrsfunk, das Wetter, Nachrichten. Pallmann hörte die ruhige Stimme einer Frau, Nachrichten ohne besondere Betonung, keine Sondersendung nach all den Schlagzeilen, nichts. Der Krieg hatte offenbar noch nicht begonnen, zumindest nicht richtig oder er hatte begonnen und sie sagten es nicht oder wussten es nicht, auf jeden Fall war nichts davon zu hören. Vielleicht wurde es auch kein Krieg, vielleicht ging es vorbei, ohne dass etwas passierte.
Anna saß still hinter ihm und Pallmann war dankbar dafür, dass er seine Gedanken kreisen lassen konnte. Sabine zu Hause und in seinem Kopf ihre Ängste. Was, wenn Kabul, wenn die Russen oder die Iraner … Die haben doch genug Rechnungen offen, hörte er sie. Natürlich hatte Sabine recht: Er hätte Anna nicht mitnehmen dürfen. In der Situation und in dem Gebiet. Aber wer weiß, ob es nicht doch für sie gut ist, hatte er in Sabines Kopfschütteln hinein gesagt. Sie sah etwas Neues, endlich erlebte sie etwas, mehr als ihre Mutter ihr geben konnte oder wollte. Sie hätte dieses Jahr schon in der Schule sein können, aber ihre Mutter wollte das nicht. Er hatte das hingenommen, als er es erfuhr, er konnte es nicht ändern. Es war ihm auch nicht wichtig, im Gegenteil, er hatte gemerkt, dass er sich mit dieser Frage nicht beschäftigen wollte, sofort überfielen ihn Erinnerungen an seine Schulzeit. Die Bilder tauchten wieder auf. Wie er auf den hellen harten Stühlen saß, nicht zuhörte, sich wegträumte. Wie er sich vorstellte, wie ein Amokläufer die Tür aufriss und zu schießen begann, wie eine Explosion das Gebäude einbrechen ließ, wie ein Flugzeug sich als großer dunkler Schatten wie der Wundervogel näherte, von dem sie in einem Gedicht gelesen hatten. Seltsam, dass ihm dieser Wundervogel bis heute im Gedächtnis geblieben war.
Weit ist es bis zum Meer. Zwei Tage und eine Nacht, so viele Kilometer. Das kann man sich nicht vorstellen. Tausend Kilometer weit und noch mehr und dazwischen die Hügel, die Gräben und Minenkrater und Granattrichter, die Toten. Aber versprochen ist versprochen.
Er hatte sich überrumpeln lassen. Mit jedem Kilometer, den die Entfernung zu den Ereignissen letzter Woche wuchs, erkannte er deutlicher, was eigentlich geschehen war. Ja, er hatte sich überrumpeln lassen. Er hatte gezögert. Nicht gleich entschieden genug gehandelt. Aber er wäre nicht ans Telefon gegangen, wenn er vorher gewusst hätte, dass Annas Mutter anrief. Er musste sich abgewöhnen, abzuheben, wenn keine Nummer zu sehen war.
Andererseits, vielleicht wollte er es ja, dass es so kam, wie es gekommen war. Ohne dass er es gemerkt hätte. Wie hätte er es auch merken sollen. Als er ihre Stimme hörte – er hatte das immer noch nicht abgelegt, er konnte ihre Stimme noch immer nicht ertragen –, fiel er in dieselbe Starre zurück, die haltlose, schwebende Wut breitete sich in ihm aus, wie damals, bei ihrer Trennung. Pallmann konnte sich jetzt im Wagen nicht mehr erinnern, wie das Gespräch begonnen hatte. Vielleicht hatte er ihr nicht zugehört, die Worte an sich vorbeifließen lassen. Seine Stimme hörte er noch: »Ich bin nicht da«, hatte er gesagt, aber zu leise oder eben zu zögernd. Es geht halt nicht anders, hatte sie gesagt, diesmal geht's nicht anders. Nimm sie mit. Immer muss ich mich nach dir richten. Oder überleg dir was anderes.
Und das war genau das, was dieser schwebenden Wut recht gab und alle Überlegungen auslöschte – er war schon dabei, den Hörer auf die Gabel zu knallen, zögerte nur noch, ohne zu wissen warum, als er die Worte vernahm: »Ich geb' dir Anna.« Und während er noch hörte, wie Annas Mutter den Hörer ablegte, wie sich Schritte erst entfernten, dann wieder näherten; da konnte er nicht mehr auflegen, wartete darauf, dass Annas Mutter nach Anna rief, hörte stattdessen ein Flüstern, nicht weit entfernt, sondern ganz nah am Hörer – es war, dachte Pallmann, irgendwie seltsam, als hätte es etwas zu bedeuten, aber wahrscheinlich bedeutete es einfach nichts – Pallmann starrte auf die Fahrbahn, auf den durchbrochenen Strich links von ihm.
»Gibt es mehr Bäume oder Menschen?«, fragte Anna. Pallmann hing noch in seinen Erinnerungen.
»Ich glaub Bäume«, sagte sie dann. »Ich zähl mal«, sagte sie, »zwei Menschen im Auto und draußen der Wald.«
Sie sah hinaus.
»Eins, zwei, drei, vier, sechs …«
Pallmann musste lächeln. Schade, dass Anna nicht neben ihm saß. Er hatte als Kind auch Bäume gezählt. Und Autos. Wie viele sie überholten. Von wie vielen sie überholt wurden. Zwischen Braunschweig und Dänemark. Über die Alpen im Winter, im Sommer durch die Ebene. Und Stunden, bis endlich das Meer auftauchte. Aber er durfte nicht laut zählen. Seine Mutter sagte, hör' auf, Papa muss sich konzentrieren … Sein Vater schwieg und so wusste Pallmann nicht, ob es ihn wirklich störte. Woher nahm sich seine Mutter das Recht, zu glauben, dass zählen seinen Vater störte? Sie wollte nicht, dass er zählte. Seinem Vater war es vermutlich egal. Also schrieb Pallmann auf, wie viele Autos er zählte; und nur manchmal hatte er zu fragen gewagt, wie man vierhundertachtzig schreibt. Er war nie mit seinem Vater allein unterwegs gewesen, hatte ihn nie für sich gehabt. Er hatte hinter den Eltern gesessen, hatte hinausgeschaut, hätte die Landschaft auf eine endlose Papierbahn zeichnen wollen, die ganze Landschaft. Nicht nur ein Bild, sondern die ganze Landschaft wie sie am Autofenster, aus dem er hinaussah, vorbei gezogen wurde. Die ganze Fahrt auf einem Bild. Die ganze Welt. In einer Rolle unter dem Bett, neben den Rollen mit den früheren Fahrten, sodass er jederzeit nachschauen konnte, was sich seit dem Jahr zuvor geändert hatte.
All diese Warnungen, all die Bedenken. Vor allem von Sabine. Natürlich hatte sie in vielem recht. Aber doch nicht, dass ein Krieg kam. Heute begann man doch nicht einfach so einen Krieg. Nach zwei Tagen hatte er sich auf einmal gefreut, mit Anna fahren zu dürfen. Auf einmal erfüllte ihn die Vorstellung mit Anna allein unterwegs zu sein mit einem Glücksgefühl, mit dem er nicht gerechnet hatte. Davon erzählte er nichts. Sabine erzählte er nichts, da er ihr kaum erklären konnte, dass er froh war, ohne sie mit Anna allein unterwegs zu sein. Und Annas Mutter ebenfalls nicht, da die Gefahr bestand, dass sie ihm dann die Freude vermiesen wollte, weil sie auf Anna gründete, ihrem Kind, das nur ihr Freude bereiten durfte, wie sie wohl meinte. So stellte er sich das zumindest vor.
Anna hinter ihm schwieg. Hatte aufgegeben oder zählte ebenfalls leise. Er hätte mitzählen sollen, dachte er. Aber es musste ja auch nicht sein. Jetzt war sie da, hinter ihm – und nur, weil er nicht gleich aufgelegt hatte. Weil er überlegt hatte, wie lange er sie nicht mehr gesehen hat.
»Ich muss zu dir«, hatte Anna gesagt. Wie lange war sie nicht mehr bei ihm gewesen? Vier, sechs oder acht Wochen, oder waren es doch nur drei; er war noch nicht fertig mit Nachrechnen, als Anna ihre Mutter fragte: »Wo musst du hin?« Die Stimme von Annas Mutter, weiter entfernt jetzt und ganz nah Annas Versuch, das im selben Tonfall nachzusprechen, leise Stimmen, die er kaum verstand, und dann wieder Anna, die schüchtern sagte: »Nach Paris oder so.«
Danach hatte er im Flur gestanden. Auf Sabines Frage, was los sei, hatte Pallmann gesagt, er sei nicht sicher, ob er einen Fehler gemacht hatte.
»Typisch. Dass du dich nicht gegen so etwas wehren kannst.« Sie schüttelte den Kopf.
Aber als sie fragte, ob er sich nicht schäme, sich immer wieder vorführen zu lassen, antwortete er, dass Anna immerhin sein Kind sei.
Nicht, dass sie mitfahren wolle, hatte Sabine gesagt, das sei ihr erstens zu gefährlich und zweitens wüsste sie wirklich nicht, was sie da solle. Aber dass er das Kind mitnehmen wolle, und zwar nicht, weil Pallmann oder Anna selbst das wollten, sondern allein Annas Mutter das wolle, der es eben so in den Kram passe, das verstünde sie nicht. Sie würde ihr Kind nicht jemandem mitgeben, der keine Erfahrung mit Kindern hat. Der womöglich gar nicht richtig aufzupassen weiß. Der etwas anderes im Kopf hat und sich um das Kind gar nicht kümmern kann. Aber das habe er, Pallmann, wahrscheinlich gar nicht gesagt, mutmaßte Sabine, sie jedenfalls verstehe das nicht und habe dafür auch kein Verständnis, auch für ihn nicht, da er immerhin einen Auftrag zu erledigen hätte.
Pallmann saß ihr gegenüber in der kleinen Küche und fragte sich, während die Wörter an ihn hinprasselten, warum immer alles so schwierig sein musste. Dass Annas Mutter rücksichtslos gegenüber jedem ihre Interessen durchsetzte, das hatte sie doch schon bei der Trennung von Pallmann gezeigt. Dass das Kind ohne Vater aufwuchs, war ihr genauso gleichgültig wie die Frage, ob Anna bei ihm auf dieser Reise gut aufgehoben war. Klar war dieses Verhalten seltsam, argumentierte er schwach, deswegen sei er ja mit Sabine zusammen. Weil sie anders war als Annas Mutter. Aber während er das sagte, merkte er, dass es nicht stimmte, was er da redete und er schwieg und dachte noch, dass es doch nicht wichtig war, sich gegen Annas Mutter durchzusetzen.
»Wahrscheinlich hat sie diesen Film gesehen«, schimpfte Sabine.
»Welchen Film?«, fragte Pallmann.
Aber er begriff es ja selbst nicht, dass er demjenigen gegenüber, den er am meisten verabscheute, dass er gegen den keine Kraft hatte. »Ich habe immer um Anna gekämpft«, sagte Pallmann, aber Sabine schüttelte den Kopf: »Man kann um kein Kind kämpfen.« Er müsse sich ändern und wenn er das endlich begreife, dann könne er es auch. Ändern, dachte Pallmann, wie soll man etwas ändern können, wenn der andere macht, was er will? Er verstand ja auch nicht, warum er das mit dem Meer gesagt hatte. Vielleicht wollte er Annas Mutter ärgern. Ja, genau, dachte er dann, während er an Sabine vorbei sah, das war es. Er wollte sich keine Blöße geben. Vielleicht. Er wusste nur, dass er es nicht gesagt hatte, weil er Anna mitnehmen wollte.
Und weil ihm Anna leid tat. Vielleicht. Und weil er doch nicht schon wieder sagen konnte, es gehe nicht, er könne außerdem mit ihr nichts anfangen. Aber er verschwieg seine Gedanken an diesem Abend, damit sich Sabine nicht noch mehr aufregte, sich beruhigte und er an diesem Abend vor der Abfahrt keinen Streit wollte. Aber als er dann neben Sabine im Bett lag, dachte er nur an die Worte, die er zu Anna gesagt hatte, damit das Kind ihn am Telefon nicht schweigen hören musste: Wenn noch Zeit ist, fahren wir ans Meer. Er hatte es gesagt, dachte er, und schloss die Augen, um endlich einschlafen zu können, er hatte es gesagt und er wusste, dass ein Kind nichts vergisst.
Man muss das Beste daraus machen, dachte Pallmann und blickte in die vorbeiziehenden Wälder. Am Sonntag hatte die Einschiffung der Truppenkontingente begonnen, das bedeutete noch gar nichts. Und selbst wenn. Was sollte ihnen passieren? Sabine übertrieb. Nicht einmal Annas Mutter machte sich darüber Sorgen. Er hätte früher merken müssen, dass sie einen neuen Freund hatte. Das ging doch schon den ganzen Sommer, dass sie öfter anrief. Du musst Anna nehmen. Ich bin nächste Woche nicht da. Ich will auch mal ins Kino. Es sind doch Sommerferien. Ich bin nicht da. Kümmere dich um sie. Endlich mal.
Und als sie vorhin Anna gebracht hatte – Ermahnungen, die wohl ihr Gewissen beruhigen sollten, dass sie ihm Anna mitgab. Dass du jeden Tag anrufst. Ich möchte immer wissen, wo Anna ist. Pallmann sah, wie sich Anna zu ihr umgeblickt hatte. Wir sind doch am Meer, Mama. Und während er zum Auto ging und die Mutter nichts mehr hörte‚ sagte er leise, wie zu sich selbst: »Wenn noch Zeit ist«, und Anna blieb stehen und schaute ihn an. »Du hast es versprochen«, rief sie.
Pallmann schloss die Augen und stellte sich einen Augenblick vor, was man sah, wenn man in ihr Auto blickte: Einen Fahrer, vermutlich den Vater und auf der Rückbank ein Kind, das Gepäck hinten. Dem Fahrer sah man nicht an, wohin er fuhr. Eine Frau auf dem Beifahrersitz fehlte. Das konnte verschiedene Gründe haben. Man musste nicht gleich die ganze Geschichte interpretieren. Heute waren immer mehr Väter mit ihren Kindern allein unterwegs. Von außen gesehen war das ganz unverfänglich.
Pallmann hatte nach dem Telefongespräch auf der Landkarte das Meer gesucht. Es war weniger weit als anfangs vermutet. Es gab eine Straße direkt dorthin. In einem halben Tag konnte er dort sein. Vielleicht, dachte er, fand er wirklich noch Zeit. Wenn es ihm gelang, alles so vorzubereiten, dass sich der Text zu Hause schreiben ließ, dann konnte er sein Versprechen einlösen. Mit Anna ans Meer fahren. Sie konnten an den Klippen das Auto parken, im Auto schlafen und morgens hinaus an den Strand: Vor dem Frühstück noch mit nackten Füßen im Sand und Muscheln suchen und kleine gläserne Wellen um die Füße, draußen der Horizont im Nebel, und darüber gestrichen das Möwengeschrei, das sich an den Felsen bricht. Das wäre schön, endlich etwas, was schön wäre, dachte Pallmann.
Er hatte es noch geschafft, den Schreibtisch leerzuarbeiten. Alle Briefe, alle Termine, alles hatte er erledigt. Sein Kopf war frei, nichts störte. Zuversicht gischtete in ihm hoch. Er drückte aufs Gas, überholte einen Laster und zwei Wohnmobile, Holländer, die auch die leichten Steigungen nicht hochkamen. Er würde sich nicht von seiner Arbeit abbringen lassen. Das war mit Anna nicht anders.
»Hier bin ich mit Mama auch gefahren«, sagte Anna plötzlich.
»Schön«, antwortete Pallmann knapp, um nicht an Annas Mutter denken zu müssen. Er würde näher als sonst an die Dinge herangehen. Noch konzentrierter arbeiten. Wenn Anna störte, konnte er sie im Auto lassen. Oder im Hotel. Was wahrscheinlich wegen der Minen und Blindgänger sowieso besser war. Aber warum sollte das Kind stören? Anna war einfach bei ihm.
Einen genauen Plan hatte Pallmann für die vier Tage nicht entwickelt. Er hatte begonnen zu lesen, hatte einen Stapel Bücher auf seinen Schreibtisch getürmt, Landkarten darüber gelegt, sodass die Bücher wieder verschwanden. Der Briefwechsel von Dr. Bendrick mit einem Züricher Professor über die Möglichkeit auszuwandern, den er aus einem Nachlass zur Verfügung gestellt bekommen hatte und den er nicht nur bearbeiten musste, sondern auch wollte, hatte ihm keine Wahl gelassen, als die Reisevorbereitungen auf wenige Tage zu beschränken. Er hatte versucht, das Beste daraus zu machen und sich gesagt, dass es vielleicht besser war, nur eine ungefähre Vorstellung von dem, was ihn dort erwartete, zu entwickeln. Eine Ausrede, die er sich zweieinhalb Wochen geglaubt hatte, bis er feststellen musste, dass in dem Bücherstapel, den er beim Einpacken der Landkarten wieder entdeckte, sich ein Titel befand, der nichts anderes zum Inhalt hatte, als das, was er sich vage vorgestellt hatte. Nun war es genau das, was ihn unsicher werden ließ. Vielleicht hätte er doch planen sollen. Da war es aber zu spät, um die Ausrede vergessen zu machen. Unsicherheit breitete sich in ihm aus, er musste sie aufhalten, bevor sie sich seiner ganz bemächtigen konnte. Er half sich, indem er sich vor sich selbst entschuldigte, dass man eben nicht alles und zugleich tun konnte, auch wenn einen das quälte. Immer wieder las er dafür den Text, auf den es schließlich ankam, den er kurz vor der Abfahrt als letztes von seinem Schreibtisch genommen hatte.
Es war doch alles ganz klar. Es stand alles da. Er musste etwas finden, was nicht alle wussten, was also nicht in den einschlägigen Publikationen stand. Da er nicht wusste, was in diesen Publikationen stand, musste er eben einfach etwas finden, was nicht in diesen Abhandlungen stehen konnte. Dafür bekam er das Geld. Keine schlechte Aufgabe, fand Pallmann. Dennoch: Es gab keinen Grund sich zu freuen. Geld verdienen verzögerte alles. Die Biografie zum Beispiel. Ganz zu schweigen von den eigenen Ideen, die er hatte, was hatte er nicht alles für Geschichten im Kopf gehabt. Manchmal tauchten sie auf, die alten Ideen, als warteten sie geduldig darauf, real zu werden.
Er war hineingeraten, wie sie alle irgendwann hineingeraten waren. Er hatte das nie gewollt, aber sich gefügt: tagelang alles Mögliche erledigen, Arbeiten annehmen, um anderen zu zeigen, dass er sich anstrengte, dass er wirklich etwas tat, Geld verdienen, um nicht zu denen zu gehören, die nicht einmal Geld verdienten – natürlich kannst du Schriftsteller werden, hatte sein Vater gesagt, aber du weißt, was das bedeutet. Anna und die Unterhaltszahlungen verschärften die Situation. Dafür konnte er nichts und Anna schon gar nichts, aber es war die Realität. Er konnte nicht nur Geld verdienen, er musste es nun. Seine Träume, seine Projekte, seine Zukunft. Hättest ja aufpassen können – das wenigstens hatte sein Vater nicht gesagt.
Der Lehrauftrag in Braunschweig, ein Kontakt seines Doktorvaters. Eigentlich wollte er nicht nach Braunschweig. Er wollte nach Berlin. Aber seltsamerweise brachte er es nicht über sich, nach Berlin zu gehen. Sich dort eine Wohnung zu nehmen, so zu tun, als sei man bereits Autor und lebte seit den düsteren achtziger Jahren dort.
»Mir ist kalt«, hörte er auf einmal Annas Stimme.
»Gleich«, sagte Pallmann, »ich muss noch kurz nachdenken.«
Warum war er nicht nach Berlin gegangen, es wäre so einfach gewesen. Vielleicht wegen Sabine und natürlich wegen Anna, er hätte jedes Wochenende hierher fahren können, seine Eltern hätten ihm geholfen, eine Zeitlang. Es wäre gegangen, aber wozu. Nur weil so viele, die Schriftsteller werden wollten, dorthin gingen? Das war doch schrecklich. Lauter Kneipen, in denen Schriftsteller vor ihren Blöcken oder Laptops saßen. Die in den Discount-Supermärkten beim Bezahlen versuchten die Fingerkuppen der Kassiererinnen aus Einsamkeit zu berühren. Nein, eine lächerliche Vorstellung. Aber es war etwas anderes und er wusste es. Er hatte ganz einfach Angst gehabt in dieser Menge an Menschen unterzugehen, die sich mit Sozialhilfe und Gelegenheitsjob über Wasser hielten. Er hatte Angst, dass ihm nichts einfiel, dass andere schneller waren, dass er in dieser Gesellschaft verkrampft nur noch versuchte, das zu schreiben, was ankam. Lauter unnötige Ängste, dachte er bitter, jetzt gab es kein Dorthin.
»Mir ist kalt«, rief Anna nun deutlich lauter und zerstreut schaltete Pallmann die Lüftung an, blies warme Luft in den Fond.
Und was hätte er vorzuweisen gehabt. Der Verlag, der seinen Erzählband drucken wollte, war so groß, dass er aufgekauft wurde. Beim Umzug nach Berlin ging angeblich das Manuskript verloren, aber es hätte sowieso, ließ man ihn wissen, nicht in die Linie gepasst, und als er zwei Monate später noch einmal anrief, war sein Name dort niemandem mehr bekannt, sein Lektor, hieß es, sei nun Redakteur einer Online-Zeitung in Hamburg.
»Hallo«, rief Anna.
»Anna, was ist denn?«, fragte Pallmann gereizt.
»Es zieht.«
»Was heißt, es zieht?«
»Die Luft!«
Pallmann schaltete die Lüftung aus. Da merkte er, dass Anna mit den Füßen gegen den Beifahrersitz trat.
»Was soll das?«, zischte er.
»Mir ist langweilig«, rief Anna.
»Aber mir nicht«, Pallmann versuchte ruhig zu bleiben, »lass mich zu Ende denken. Iss ein paar Süßigkeiten. Wir sind bald da.«
»Wann sind wir da?«, fragte Anna.
»Gleich«, sagte Pallmann und versuchte zu lächeln.
Rezensionen hatte er geschrieben, für die Braunschweiger Nachrichten, den Mittellandkanal-Boten. Die Einführungsveranstaltung am Lehrstuhl, Grundkurs Wissenschaftliches Arbeiten, du hast ein Kind, schau, dass du erstmal dein Leben hinkriegst, dann kannst du dich der Kunst widmen. Schöner Rat, nein, Papa, ich müsste erst mal habilitieren, aber dann ging es ja weiter: der Kontakt zum NDR, wöchentlich die Fragen für das Bücherquiz, keine leichte Aufgabe, haben Sie schon mal an Drehbuch gedacht, Regionalkrimi, Heide, Heidschnucken und plattdeutsche Moorleichen, das müsste doch gehen. Klar, hatte Pallmann gesagt, aber nicht daran geglaubt und Lust hatte er auch keine, die Fragen für das Bücherquiz, wann sollte er dann Krimis schreiben, zwei Jahre vergingen, versäumt zwischen Dozentenversammlungen immerhin, das Bücherquiz ernährte ihn zur Hälfte, ließ man Sabines Dreiviertelfinanzierung der gemeinsamen Wohnung außer acht, ohne die er nicht einmal Unterhalt zahlen konnte.
Anna begann laut zu singen, ein Kinderlied, das er nicht kannte, ihn aber an etwas erinnerte.
»Muss das sein?«, fragte er etwas leiser.
»Ja«, sagte Anna, »ich darf ja nicht reden.«
Gleich bin ich für dich da, dachte Pallmann, nur noch zu Ende denken, herauskommen aus den Gedanken. Er musste sich mit ihnen versöhnen, wenn er für Anna da sein wollte.
Vielleicht war das Stipendium doch eine Chance. Vielleicht hatte er Glück, einen glücklichen Moment zumindest, das Thema interessierte ihn doch, das hatte er gleich gemerkt. Es kam nicht darauf an, was man tat, sondern wie.
»Dazu sollen vernachlässigte Aspekte des Geschehens, die der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, im Vordergrund stehen.«
Krieg, dachte Pallmann, es gab nichts, was er mehr verabscheute. Auch wenn er noch keinen erlebt hatte. Die Vorstellung, dass eine Gruppe von Menschen in vollem Bewusstsein irgendwohin fuhr, um jemand anderen zu töten und es auch als legitim und richtig empfand, war so absurd, wie es absurd war, an einen Ort zu gehen, an dem andere darauf warteten, einen zu töten. Ob Terroristen oder nicht, das war doch gleich. Unbegreiflich, dass jetzt, wo so viele, und sogar deutsche Soldaten für Kabul versprochen worden waren, kein Aufschrei durchs Land ging. Wahrscheinlich hatte er nur deswegen in den letzten Wochen so oft vor dem Fernseher gesessen, hatte Nachrichten zur halben Stunde verfolgt, durch die Programme geschaltet, weil er darauf wartete, dass endlich so etwas passierte. Meldungen, Sondersendungen, Interviews. Kannst du auch was anderes sehen, hatte Sabine freundlich gefragt. Er hatte ihr die Fernbedienung gereicht, sich an den Schreibtisch gesetzt, in Internetausdrucken geblättert und war doch eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer zurückgelaufen, um zu sehen, ob Sabine noch da saß. Wie oft zeigten sie die Szene. Warum so oft und warum konnte er nicht wegsehen? Weil es so oft gezeigt wurde oder war es umgekehrt? Immer wieder die Flugzeuge, der Feuerball, die Glut. Wie muss man sich fühlen? Wenn man darin sitzt, wenn es gleich vorbei ist. Es war widerlich daran zu denken und dennoch: Er konnte nicht wegsehen. Und er merkte, dass er gar nicht wollte, dass das Ganze nicht geschehen war, dass es ihm vielleicht sogar fehlen könnte. Er schüttelte den Kopf. Weniger über sich, als über die Tatsache, dass er diesen Gedanken formulieren konnte und kehrte in sein Zimmer zurück, um der Gefahr zu entgehen, Sabine davon zu erzählen.
Am Schreibtisch starrte er auf die Internetausdrucke mit den wackligen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Ausgerechnet Verdun. Seltsame Überschneidung. Zufall. Aber es war ja etwas ganz anderes. Schlacht der Hölle. Mythos Verdun. Ausbluten. Ein Krieg der Systeme. Geburt der Moderne. Was immer das sein sollte. Er horchte in sich, ob er ähnliches empfand, wie vor dem Fernseher soeben. Aber er konnte feststellen, dass er das beim Betrachten der Fotos nicht fühlte.
Wird schon klappen, dachte er, sah sich halb um und sah Anna ins Gesicht um ihren schokoladenverschmierten Mund.
»Wenn du brav bist«, sagte Pallmann, »fahren wir ans Meer.«
»Ja«, rief Anna, »und bis wir ankommen, singen wir.«
Auf der Windschutzscheibe platzten Insekten, kleine rote und gelbe Flecken sprenkelten das Glas, winzige Flügel zitterten im Fahrtwind. Pallmann hielt die Geschwindigkeit.
Anna schien endlich zu schlafen. Er konnte das von vorne nicht genau erkennen, aber Anna war still und das war die Hauptsache. Schon mindestens eine halbe Stunde herrschte Ruhe. Es war fast, als sei er allein. Erinnerungen an Gesichter und Ereignisse stiegen auf und verschwanden, er wollte sie nicht festhalten; im Gegenteil. Er spürte, wie sie mit jeder Viertelstunde schwächer wurden – selbst Annas Mutter verblasste zu einem dünnen Schemen.
Draußen Wälder. Bäume. Felder. Immer wieder Felder. Warum sah in diesem Land alles gleich aus. Die Straßenrandmarkierungen, weiße Striche, die unter dem Wagen wegliefen, die gleichen Kirchtürme, Dörfer, Provinzstädte, Bahnhöfe, ein Haufen von Häusern. Kein Wunder, wenn man beim Fahren einschlief. Und hinter den Fassaden die immer gleichen Szenen, das konnte man sich vorstellen, wenn man wollte. Also lieber nicht. Aber dort wo er hinfuhr, fuhr er zum ersten Mal hin, Sabine hatte ja recht, ganz ungefährlich war es nicht, aber wenn man sich an Regeln hielt … Er konzentrierte seinen Blick wieder auf die Umgebung. Alles war friedlich. Diese leichte Unruhe, die in ihm schwelte, warum?
Was so ein Kind wohl denkt, dachte er dann, um sich abzulenken.
»Das Stipendium dient der Förderung der kulturellen Beziehungen innerhalb der Regionen und soll in seiner Breitenwirkung die touristische Bedeutung betonen und verbessern. Dabei sollen vernachlässigte Aspekte des Geschehens, die der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, im Vordergrund stehen. Dazu dient der Text von mindestens dreißig Seiten, der zwei Monate nach der Rückkehr in dreifacher Ausfertigung einzusenden ist.«
Was Anna wohl dachte? Wahrscheinlich daran, wie sie über den Strand zum Wasser laufen und eintauchen wird. Aber Anna war noch gar nicht am Meer gewesen, ihre Mutter hatte sie nie mitgenommen. War sie überhaupt mit Anna allein weggefahren, hatte sie ihr überhaupt etwas gezeigt, er wusste es nicht, und es konnte ihm gleichgültig sein, doch dann ärgerte es ihn, dass er es nicht wirklich wusste: Ob Anna schon am Meer gewesen war. Annas Mutter erzählte nichts. Er würde also Anna fragen, dachte er, nein, er würde es nicht, dachte er dann sofort, einen größeren Fehler konnte er wohl kaum begehen, er würde nichts fragen, was Annas Mutter betraf. Und nichts antworten. Möglichst wenig über die Vergangenheit reden. Das Nötigste nur. Doch er durfte sich keine Hoffnungen machen, was bitter war, aber er konnte nichts dagegen tun. Anna würde nach ihrer Mutter verlangen und er würde die Mutter anrufen und sagen: Anna will nicht bei mir bleiben, sie weint die ganze Zeit, und dann … Ja, das war bitter und er fragte sich, ob er nicht doch etwas dagegen tun konnte. Andererseits – wenn es so kam, dann war er das Problem los, vielleicht war das besser, Anna musste nicht leiden, er konnte seinen Text schreiben – ans Meer konnte er noch mit ihr fahren, wenn sie älter war.
Die Ausschreibung hatte Sabine in einer pfälzischen Regionalzeitung entdeckt, ein kleiner Artikel am Rand, immerhin mit einer Telefonnummer versehen und dem Datum des Anmeldeschlusses. Er konnte jetzt gar nicht mehr sagen, warum er sich beworben hatte. Vielleicht wegen Sabine. Sie hatte es gefunden. Um nicht dazustehen als einer, der Chancen nicht nutzte. Das Geld, eine erstaunlich hohe Summe. Ein Reisekostenzuschuss und nach Abgabe des fertigen Textes noch mal, eine Summe, von der er einige Monate leben konnte. Er war selbst erstaunt, wie einfach es ging. Im Februar mit ausführlichem Lebenslauf beantragt, im März bewilligt, im April die Unterlagen erhalten; eine kleine Feier, ein Glas Sekt mit Sabine, die strahlte, als hätte sie den Preis gewonnen. Im Mai dann der Brief an den Verband, wann er reisen würde, später August, Mitte oder Ende September, wenn es nicht mehr so heiß und noch nicht kalt war; da wusste er noch nicht, dass er Anna mitnehmen musste.
Es war ein Versuch. Es war der Versuch, zu dem eigenen Kind eine Beziehung aufzubauen. Am Meer wäre das ohne Weiteres möglich gewesen. So war es ein fragwürdiger Versuch. Aber vielleicht, wenn er Dinge zeigte, die sie nicht kannte. Vielleicht ließ sie sich mitreißen. In ihrem Kopf mussten doch auch Bilder entstehen. Nicht nur vom Strand. Seine erste Reise ans Meer. Häuser auf grünen Metallstelzen am Strand, unter denen bei Sturm unten das Wasser durchlief. Wie alt war er gewesen? Pallmann drehte das Radio an, aber er ertrug schon nach wenigen Tönen die Musik nicht. Er schaltete aus, sah seinen Vater, wie er vor ihm zum Meer ging. Kleine Fische in einem Sandgraben, den er geschaufelt hatte. Der Horizont von aufgeschütteten Felsen unterbrochen. Der Flughafen, die Landebahn. Die leuchtenden Fenster der Flugzeuge in der Dämmerung, wenn sie zur Startbahn rollten. Was konnte er bieten? Granattrichter, zerschossene Gesichter. Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Filmsequenzen, in denen Soldaten von Maschinengewehrfeuer umgemäht wurden. Was vergab er sich, warum hatte er nicht auf eine bessere Gelegenheit gewartet? Was konnte er tun? Der Tag morgen war für Anna reserviert. Nur für sie.
Pallmann lenkte das Auto von der Überholspur zurück, bremste hinter einem Lastwagen ab. Er blickte an den Seiten des Lasters vorbei zu den Hügeln, auf die Waldfetzen zwischen den Feldern und Dörfern, die in dem Augenblick, in dem er sie wahrnahm, für ihn schon wieder fort waren, spurlos vorüber, nicht mehr erinnerbar. Hinter diesen flachen Hügeln waren andere Hügel und irgendwann kamen andere Dörfer und Waldstücke und so fort bis zur französischen Grenze und immer weiter. Kaum vorstellbar, dass man wegen so einer Landschaft Krieg führte.
»Windräder, schau«, hörte er Annas Stimme und erschrak, weil er doch geglaubt hatte, sie schliefe. »Schau da«, wiederholte sie, schriller als vorher.
Er wollte nicht schauen, schon gar nicht, wenn sie so schrie, lehnte sich aber dennoch zum Beifahrersitz hinüber, um die Windräder zu sehen: scharf schnitten sie über den Hügel, gleißten über der Waldlinie, die sich nach Norden streckte. Dass es hier jetzt Windräder gab. Er richtete sich wieder auf, sah nach vorn. Windräder, dachte er und begann erneut in seine Gedanken zu tauchen, versuchte die Stelle wiederzufinden, an der seine Gedanken unterbrochen worden waren, er fand sie nicht mehr. Er drehte am Rückspiegel, um Annas Gesicht einzufangen und lächelte hilflos, als er ihren mit Zuckerhimbeeren rot verschmierten Mund sah. Ob er was sagen sollte zu ihrem Mund, lieber fragte er, ob sie wüsste, wozu Windräder da seien.
»Für den Wind«, antwortete Anna ohne zu zögern, »weißt du das nicht?«
»Doch, doch«, sagte er langsam, »ich wollte nur wissen, ob du auch …« begann er, schwieg dann aber, weil er sich kindisch vorkam.
»Hast du schon alles gegessen?«, fragte er.
»Nur zwei«, sagte Anna.
»Nur zwei«, wiederholte er und sah auf die Straße, »dann ist gut.«
»Weißt du das nicht?«, fragte Anna noch mal.
Diese ganzen Gedanken. Alle wegen ihrer Mutter. Nichts konnte einfach sein. Alles musste bedacht sein, hatte seine Schwerkraft. Immer ein Wenn, immer ein Aber. Kein Wunder, dass er sich zurückgezogen hatte. Und morgen würde sie unterwegs sein, mit ihrem Freund Richtung Paris. Er konnte froh sein, wenn er ihr nicht auf der Autobahn begegnete. Nein, er fuhr morgen Landstraße, keine Gefahr. Das letzte Mal war er in Paris mit Annas Mutter gewesen. Seitdem hatte er es nicht mehr geschafft. Das Paris seiner Erinnerung blieb so in ihrer Hand. Ja, dachte er, er wäre jetzt auch gern in Paris, allein oder mit Sabine. Oder mit Anna und Sabine. Er schob die Blende nach unten, da die Sonne schon tief stand, sie stach in seine Augen.
132
Schau Anna, hätte er fast gesagt.
»Schau«, sagte Anna, als kurz vor ihnen ein Flugzeug über die Autobahn glitt. Mit einem Blick nach oben versuchte er dem silbernen Leib nachzusehen, aber nur noch ein Schatten querte vor ihm die Fahrbahn, erstaunlich langsam, so langsam, dass er ihn deutlich wahrnahm.
Flugzeuge, dachte er. Ungetüme. Wunderwerkzeug. Verrückt, dass es tatsächlich funktionierte. Dass so ein Ding fliegen konnte. Aufsteigen in die Sonne, abstürzen zur Flammenwolke, die Türme, Pfeil und Schatten. Drei Wochen war das her.
Verrückt, dachte er.
»Noch eins«, rief Anna. Links rollte eine Maschine die Landebahn entlang.
»Ich möchte auch fliegen«, sagte Anna jetzt leiser, »die Mama …« sagte sie, aber dann verflog ihre Stimme in einem Murmeln, das er nicht verstand.
Ihre Mutter. Er hatte das ganze letzte Jahr versucht, nicht an sie zu denken. Im Januar war Anna noch einen Nachmittag bei ihm gewesen und dann … Dann hatte er gearbeitet und es wurde Ostern und Anna hatte nicht angerufen und er hatte sich bemüht, nicht an sie zu denken und wenn er schon an Anna dachte, dann nur an Anna, auf keinen Fall an ihre Mutter, auf keinen Fall an ihre gemeinsame Zeit, ihren Körper. Es war ihm sogar gelungen, sich ihr Gesicht nicht mehr vorstellen zu können. Wenn sie ihm in den Sinn kam, hatte er sofort an etwas anderes gedacht. Es war erstaunlich, wie gut das funktionierte.
Aber jetzt sah er sie wieder vor sich. Wie sie auf ihn zuging, mit ihren hackigen Schritten. Er schloss kurz die Augen. Es lag an Anna, eindeutig an Annas Anwesenheit, dass er wieder an sie denken musste. Und er merkte, wie hier die Erinnerungen immer deutlicher wurden, er sie nicht mehr abwehren konnte. Die Nacht in Wien. Diese letzte Nacht in Wien, dieses Wochenende, er hatte zugestimmt, auch damals hatte er zugestimmt. Bis heute begriff er nicht, warum sie das gewollt hatte. Sie waren zu dem Zeitpunkt schon getrennt, sie hatte sich von ihm getrennt, noch vor der Geburt. Und Monate nach der Trennung wollte sie, dass er mit ihr und Anna ein Wochenende in Wien verbrachte. Als ob sie ihm eine letzte Chance geben wollte. Als ob sie noch einmal hätten zusammenfinden können.
Zwei Nächte im Zelt. Irgendwo auf einem Campingplatz bei Mödling. Das Kind in der Mitte, schon fast ein Jahr alt, die erste Nacht, die er mit ihr verbrachte, Anna, eine kleine atmende Mauer, unüberwindbar. Wenn er näher zu Anna rückte, kam er auch der Mutter näher. Das wollte er nicht, also blieb er liegen, auf seiner Seite, direkt an der kalten Zeltwand, die im Wind flackerte. Schlaflos lag er mit geschlossenen Augen abgewendet, wie hatte er Annas Mutter gehasst. Zwei Nächte lang. Dafür, dass sie ihn in ihre Nähe zwang, dass er ihr nicht entkam, dass sie ihm zeigte, wie verbunden sie mit dem Kind war. Aber tagsüber war es ihm gelungen, freundlich zu bleiben. Auch wenn er völlig übermüdet zurückkam, es war, die Nächte abgezogen, ein kleiner Sieg für ihn herausgesprungen. Denn während er ihr lächelnd in einem Gasthaus gegenüber saß, wusste er zum ersten Mal, dass es unwiderruflich zu Ende war. Dass er nicht mehr zu ihrer Wohnung gehen würde, dass er nicht mehr anrief, dass er einfach versuchte zu vergessen, was gewesen war. Ein Vierteljahr lang hörte er nichts von ihr. Da begann er zu üben, nicht mehr an sie zu denken.
Er lernte Sabine kennen. Sabine lenkte ihn ab, aber manchmal erinnerte er sich durch sie wieder an Annas Mutter. Ist irgendwas, fragte Sabine, wenn er grimmig aufblickte, ohne es selbst zu merken. Im Winter, Monate später, rief Annas Mutter an und fragte, warum er sich nicht melde, Anna sei krank und wolle mit ihm sprechen.
»Ich habe eine Freundin«, sagte er und bereute seine Worte bereits, weil sie wie eine halbe Niederlage klangen und weil er das merkte, während er noch sprach, misslang ihm der nächste Satz noch gründlicher. Er wollte sagen, such dir einen anderen, entweder oder – aber das war ihm erst hinterher klar geworden. Stattdessen sagte er und konnte es nicht mehr rückgängig machen: »Ich kann mich nicht länger um Anna kümmern.«
Annas Mutter sagte nichts und weil das ganz entgegen ihrer Gewohnheit war, glaubte er, nachdem er aufgelegt hatte, an einen Punktgewinn. Aber er hatte sich getäuscht.
Das Autobahnkreuz mit Baustelle. Die richtige Auffahrt lag zwischen wild verzweigten Fahrspuren. Er musste sich jetzt konzentrieren.
»Kann ich CD hören?«, fragte Anna einmal.
»Was für eine CD?«, fragte Pallmann alarmiert.
»Kinder-CD«, sagte Anna, »Baby Born und Benjamin Blümchen.«
»Hab ich nicht«, sagte Pallmann. Die Titel erschreckten ihn, unter denen er sich erst nichts, dann nur etwas vorstellen konnte, was jeden Gedanken aus seinem Kopf vertrieb.
»Aber ich«, sagte Anna, »hab's dabei. Wenn mir langweilig ist, hat Mama gesagt.«
Natürlich, dachte er.
»Sie glaubt, dass es mit mir langweilig ist?«
»Du denkst ja immer nur nach.«
»Ist Nachdenken schlimm?«, fragte er.
»Ich will CD«, Anna trat mit den Füßen gegen den Sitz.
»Hör bitte auf«, sagte Pallmann, »das Auto gehört nicht mir.«
»CD, CD, CD«, quengelte Anna unerbittlich weiter.
Das gibt's doch nicht, dachte Pallmann, warum musste das sein. Ganz ruhig, dachte er, sie ist ein Kind.
»Anna«, rief er langgezogen und bemüht freundlich nach hinten. Aber er spürte, dass er wütend war. Etwas war in ihn hineingeschossen, völlig übertrieben. Er schüttelte den Kopf, nahm die CD, die Anna aus ihrer Tasche geholt hatte und schob sie in den CD-Player.
Dann hör du deine CD, dachte er, blickte wieder nach vorne, stellte die Lautsprecher so leise, dass es kaum zu hören war.
Langsam beruhigte er sich. Vielleicht war es auch gut so. Sie hörte ihre CDs und er konnte nachdenken. Er ignorierte die Musik, stellte sich vor, wie er abends am Schreibtisch eines Hotels saß, wie er am Tag mit Anna an der Hand einen Waldweg entlangging. Gab es dort überhaupt etwas, was noch nicht alle kannten? Was, wenn er nichts fand? Was sollte er dann schreiben? Wenn am Ende der Text, den er trotzdem mühsam zusammenschrieb, mangels Substanz nicht akzeptiert wurde? Er sah die dickbäuchigen Männer des Tourismusverbands unschlüssig zusammensitzen, die Blicke auf das Manuskript gerichtet. War das das Schlimmste, was passieren konnte? Ja, dachte Pallmann, das war das Schlimmste. Dass sie den Text ablehnten. Aber er würde all seine Kraft in die Arbeit legen. Vielleicht war es auch schwieriger als gedacht, vielleicht waren schon andere vor ihm gescheitert. Vielleicht deshalb die hohe Geldsumme. Wenige Kilometer waren es noch bis Karlsruhe, weitere Baustellen, ein wenig unübersichtlich, gelbe Markierungen, verschwenkte Fahrbahn. Pallmann blieb rechts, wäre fast auf die Ausleitungsspur geraten, zog den Wagen ruckartig nach links, erschrak. Er hatte nicht darauf geachtet, ob da jemand fuhr. Konzentrier dich auf den Verkehr, ermahnte er sich.
»Lauter«, rief Anna, »ich hör nichts.«
»Jetzt nicht«, sagte Pallmann.
»Ich hör aber nichts«, rief Anna.
»Jetzt nicht«, wiederholte er etwas, nur etwas lauter.
»Ich hör nichts«, wiederholte Anna, auch etwas lauter.
»Wenn du ans Meer willst, gib Ruhe.«
»Du hast es versprochen.«
»Ja«, sagte Pallmann, »ein Fehler, wir kommen noch nirgendwo hin.«
Im Rückspiegel sah er ihren Schmollmund, sah wieder nach vorn.
Baustellen. Wie lang war er hier schon nicht mehr gefahren. Das Gefälle der Autobahn erstaunlich steil. Wenn er auf der Überholspur an den Lastwagen vorbeizog, blendete ihn die Sonne im Rückspiegel, sie stand direkt über der Hügelkette hinter ihm. Erst als er nach seiner Sonnenbrille zu suchen begann, im Ablagefach kramte – erst als er die Augen zusammenkniff, um nicht die Richtung zu verlieren, ohne es zu merken so langsam fuhr, dass ein Laster links mit dunklem wütendem Hupen an ihm vorbeizog und er das Steuer nach rechts riss, erst da merkte er, dass er in die falsche Richtung fuhr. Richtung Osten. Er fluchte. Die nächste Ausfahrt, wo er umkehren konnte, war noch Kilometer entfernt. Kurz durchglühte ihn der Gedanke daran, nach Hause zu fahren, gleich aufzugeben, in drei Stunden wäre alles erledigt. Anna bei ihrer Mutter abgegeben. Seine Bücher lesen. An seinen Vorträgen arbeiten. Nicht im Auto schlafen, sondern neben Sabine.
»Lauter«, rief Anna von hinten.