Wie aus dem Zankapfel die Einbeere wurde - Bernd Hertling - E-Book

Wie aus dem Zankapfel die Einbeere wurde E-Book

Bernd Hertling

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Beschreibung

Bernd Hertling studierte Altertumswissenschaften, bevor er sich der Naturheilkunde zuwandte. Jetzt ist er seit 25 Jahren in eigener Praxis als Heilpraktiker tätig. Sein Wissen über die Heilpflanzen gibt er in Kräuterwanderungen und Vorträgen weiter. Darüber hinaus ist der Autor Dozent für Phytotherapie an der renommierten Joseph-Angerer-Fachschule für Naturheilweisen des Heilpraktikerverbandes Bayern (FDH). Im Bayerischen Fernsehen ist Bernd Hertling regelmäßig als Experte für Phytotherapie zu Gast. Was hat es mit den Namen unserer (Heil-)Pflanzen auf sich? Zwölf Besuchsfahrten zu Göttern und Helden des klassischen Altertums geben erstaunliche Einblicke, wie eng Heilpflanzen und ihre Namen mit der griechischen Antike verwoben sind. Dabei kommen bekannte Gestalten wie etwa der Held des Trojanischen Krieges, Achilleus, als Patron der Schafgarbe oder weniger bekannte Schauergestalten, wie die Lamia als Prototyp aller Lippenblütler zu Wort. Vor den Augen des Lesers entstehen lebendige Brücken zum tieferen Verständnis zahlreicher (Heil-)Pflanzen, wobei auch das unterhaltsame Element nicht zu kurz kommt. „Ich bin seit langem nicht mehr auf so originelle Art und Weise zugleich belehrt und unterhalten worden.“ Schrieb Herbert Rosendorfer über dieses Buch in einem persönlichen Brief an den Autor. „Ein Buch eines Humanisten, wie man es selber gerne geschrieben hätte.“ Prof. Christian Czygan Zeitschrift für Phytotherapie

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Einleitung

Die Pflanze, als das Einfach-Da-Seiende

Was sind Namen?

Der Mythos als das Ewigbewegliche

Die Götter der Hellenen – es menschelt!

Prolog: Der Zankapfel oder Paris und der Preis der Schönheit

Erster Besuch: Gaia, die Mutter, – oder was den Papst erdet

Geum urbanum

– Benediktenkraut oder Nelkenwurz

Fraxinus excelsior

– oder das kurze Leben der Eschenmänner

Nymphaea ssp.

– oder Wenn Liebe zur Obsession wird

Hat die Narzisse ein Echo?

Zweiter Besuch: Hades und Persephone – oder die Untere Sonne

Wer war Hades?

Lamium ssp.

– Die verschlingende Geburtshelferin

Der Raub der Grünen Jungfrau

Hypericum

– Tröster in der Finsternis der Seele

Iris germanica

– Die Botin fürs Grobe oder Die Schutzgöttin der Augendiagnostiker

Punica granatum

– Der Durstlöscher als Falle

Mentha

– Die Unschuld vom Lande beim Boss der Unterwelt

Dritter Besuch: Heras weiter Mantel – Alchemilla

Die infernalische Triade der Moiren

Belladonna

– Das Glanzauge der Todesmoire

Die fruchtbare Jungfrau

Lilium candidum

– die Blüte der Jungfrauen

Die Geburt des Hephaistos – oder Kunstfertigkeit als Produkt von Keuschheit und Wut

Alchemilla

– Perlenbecher der Fruchtbarkeit

Alchemilla in der Naturheilkunde

Vierter Besuch: Venus und Mars harmonieren oder Die weichen Seiten eines Helden

Achillea millefolium

– Schafgarbe

Die Rache des Schmiedes oder Kann denn Liebe Sünde sein?

Cypripedium calceolus

-Gesundheitslatschen für Aphrodite?

Wie Achilleus zu seiner Ferse kam oder Die weichen Seiten des stahlharten Helden

Fünfter Besuch: Am Hof des Königs von Smyrna – oder die beleidigte Liebesgöttin

Die Liebe der spröden Myrrha

Der schöne Adonis

Adonis vernalis

– Adonisröschen

Sechster Besuch: Das Licht des Himmels

Weihrauch als Geschenk des Helios an Götter und Menschen

Helios und Leukothoë

Helianthus annuus

Siebenter Besuch: Die Höhle des Kentauren

Namensgebung und Verwechslungsgefahren

Kentauren, gibt es die?

Woher kamen die Kentauren?

Asklepios, der erste Arzt

Asclepias tuberosa L.

– Schwalbenwurz / Knollige Seidenpflanze

Der Frevel des Asklepios

Wiedererweckung von den Toten oder Die erste Reanimation?

Woher hat die Myrte ihr Öl?

Herakles – Gigantenbezwinger und Hundswürger

Heracleum giganteum et al.

– Die tödlichen Pfeile des Herakles

Die Giganten

Heracleum sphondylium

– Wiesenbärenklau für die Kaninchen

Die Äpfel der Hesperiden

Kerberos, der Höllenhund, weint!

Die Familie der

Apocynaceae

– Beispiele für Pharmaka

Das Selbstopfer Cheirons

Der Tod des Herakles

Achter Besuch: Ein Ausflug zum Orakel von Delphi

Paeonia

-Pfingstrose – oder Apollon siegt über den Drachen

Hyoscyamus niger

– Apollinariskraut als Orakelkatalysator

Die Hyazinthe -Wappenblume der Sportler

Neunter Besuch: In den Wäldern der großen Göttin Artemis – oder

Et in Arcadia ego!

Actaea spicata

– das unrühmliche Ende eines wilden Jägers

Die Herrin der Wälder als jungfräuliche Beschützerin der Mütter

Artemisia vulgaris

und ihre Schwestern Absinthium, Abrotanum, Dracunculus

Allium ursinum

– Bärlauch als frisches Grün für Meister Petz

Heras Rache, oder wie aus der Schönsten eine Bärin wurde

Zehnter Besuch: Auf der Akropolis von Athen oder Das flüssige Gold des Altertums

Oleastrum vulgare

– die Nymphen lästert niemand ungestraft

Elfter Besuch: Die Zauberin und ihre Opfer – Unterwegs mit dem berühmtesten Mediterraneumstouristen aller Zeiten

Sind Männer Schweine?

Interludium I)

Circea lutetiana

– Hexenkraut

Skylla – die unvollständige Transfiguration

Interludium II)

Scilla maritima

– Meerzwiebel

In Kirkes Zaubergarten

Odysseus’ Abschied von Kirke

Zwölfter Besuch: Dionysos und sein Gefolge zieht vorbei

Hedera helix

– Efeu als Bekränzung des Rauschgottes

Campanula thyrsoides

– Strauß-Glockenblume, das blühende Szepter

Bryonia cretica

– Zaunrübe

Exodos des Dionysos

Literaturliste:

Widmung:

D.M.

Meines Großvaters

Dr. med. Georg Kellerer (1889–1977)

Humanist der alten Schule, der mir das Interesse für die Kultur der

Antike zugleich mit der Liebe für die uns umgebende Natur in aller

Vielfalt der Erscheinung nahebrachte.

Einleitung

Laßt Phantasie mit allen ihren Chören,

Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft,

Doch merkt es wohl, nicht ohne Narrheit hören!

Johann Wolfgang von Goethe1

Ein anderer Dichter, Horaz, dichtete vor etwa 2 000 Jahren: „Aut prodesse volunt, aut delectare poetae“ – Die Dichter wollen nutzen oder ergötzen. Hier wurde also streng zwischen der leichten Muse und den hehren Werken der Tragödiendichter und der Epenschreiber differenziert. Doch wie dem als Motto vorangestellten Zitat zu entnehmen ist, muss es nicht zwingend erforderlich sein, diese Trennung in alle Ewigkeit aufrechtzuerhalten. So tragisch manche Geschichte auch sein mag, und die Mythen der Antike sind tragisch in des Wortes bester Bedeutung2, findet sich oftmals auch in ihnen ein Schuss Komik. Und ein Mann wie Shakespeare, um nur eines der prominentesten Beispiele zu nennen, ging mit den antiken Tragödienstoffen oftmals recht freizügig und frivol um. Und selbst, um beim anfänglich gewählten Beispiel zu bleiben, der Faust, Inbegriff deutscher Dichtung und Kultur, kommt, aller Tragik zutrotz, nicht ohne gelegentliche Bosheiten aus und ist voller satirischer Seitenhiebe.

Wieso findet sich hier, als Auftakt zu einem Buch über Mythen und Pflanzen, ein Zitat aus einem Theaterstück?

Wie wir noch sehen werden, können wir die Geschehnisse in der Natur, die steten und unsteten Abläufe des Lebens, von Stirb und Werde, durchaus als Theater auffassen. Kein Geringerer als Carl von Linné, von dem in diesem Buch noch oft die Rede sein wird, bezeichnete das Ganze schlichtweg als Theatrum naturae, als Theater der Natur – und als er daran ging, das Monumentalgebäude seines Systema naturae, sein Ordnungssystem der Naturreiche zu errichten, war er sich wohl bewusst, wie rasch eine rein auf Abstrakta beruhende Terminologie zur Erschöpfung, allerdings nicht so sehr des Gegenstandes als der Benutzer, führen würde. Und dieser scheinbar so staubtrockene zopf-perückige Stubengelehrte entpuppt sich als ein Mensch voller Gefühl und Leidenschaft, voller Liebe zu seinem Sujet- und nicht zuletzt als ein Mann nicht nur von Esprit, sondern auch voller Humor. Theaterdirektor, Regisseur und Akteur in einem stellte er eine zugleich feststehende, nachvollziehbare, logische Ordnung vor, die aber andererseits voller Handlung und geschäftigem Treiben ist, an dem er selbst als eifriger Freilandbotaniker und Naturforscher in des Wortes bester Bedeutung teilnimmt. Betrachten wir dieses System mit den Augen seines Schöpfers, werden wir, wenn nicht überall, so doch häufig Gelegenheit finden, Motive der antiken Mythologie wiederzufinden, die sich mit geringem Phantasieaufwand vor unserem geistigen Auge lebhaft in Szene setzen lassen. Vor allem die „Metamorphosen“ Ovids, die sicher auch ihre Schwächen haben, da er als Römer der frühen Kaiserzeit gewissermaßen die griechische Antike neu erfand, sind uns trotzdem diesbezüglich eine schier unerschöpfliche Fundgrube.

Bereits der Verweis auf diese Quelle macht deutlich, dass sich das Buch mit den Mythen der griechischen Antike beschäftigen wird. Auf die Mythen anderer Völker, wie etwa der Germanen, oder der gegenwärtig wieder sehr en vogue gekommenen Kelten, kann leider nicht eingegangen werden. Und selbst bei dieser Beschränkung kann im vorgegebenen Rahmen eben nur eine Auswahl Aufnahme finden, so dass der Autor Geschichten zweifelhaften Ursprungs nicht berücksichtigt und sich, bei aller Freiheit, vor allzu gewagten Spekulationen hütet. So manches berühmte Gewächs, wie das „Moly“-Kraut der Odyssee, kommt nun mal ausschließlich im Mythos vor und lässt sich in die heutige Flora nicht zweifelsfrei einordnen. Es ist nicht auszuschließen, dass Hermes es nach erfolgreichem Gebrauch durch den Helden wieder zum Olymp entführt hat, weshalb sich der Autor versagte, es bestimmen zu wollen. Doch die Auswirkungen dieser sagenhaften Pflanze werden in angemessener Form beschrieben.

Die Pflanze, als das Einfach-Da-Seiende

Im Griechischen bedeutet tò Phýton3 „das Gewachsene, Erzeugte, das Gebilde“, und ist verwandt mit dem Nomen hè Phýsis und dem Verbum phýo, ich wachse, werde. Jetzt könnte man also sagen, Physis heisst „Die Natur“, was nicht falsch ist, aber genaugenommen haben wir im Deutschen kein adaequates Wort zur Erklärung und müssen bereits auf ein lateinisches Lehnwort4 zurückgreifen. Hinter Physis verbirgt sich aber auch Physik. Doch wenn von Physik gesprochen wird, dann denken wir ja mit mehr oder weniger ausgeprägtem Grauen an unsere Schulzeit und an Formeln, Boyle-Mariottsches Gesetz und dergleichen zurück – wobei das Griechische Physis aber nicht nur jene wissenschaftlich zu erforschende Natur meint, sondern nicht zuletzt den erfahrbaren, den Menschen ausmachenden und ihn gleichermaßen umgebenden Kosmos. Kosmos nun ganz im Sinne von im-Sein-gewordene-Ordnung, in der alles Leben seinen Platz hat. Das, was die Griechen mit „Pflanze“ meinen, ist ein nicht wegzudenkender Teil des „Einfach-so-Seienden, Sie-Umgebenden“, das, was wir heute mit dem Begriff „Umwelt“ versehen. Für die Griechen war also das Vorhandensein insbesondere der Pflanzenwelt so selbstverständlich wie nur möglich. To phýton ist das Gewachsene, das einfach nur da ist. Das deutsche Wort „Gewächs“ bedeutet dasselbe und kommt als Übersetzung der bezeichneten Sache am nächsten. Die Perfektform des Verbums, pephyka5, bedeutet wörtlich: Ich bin von Natur aus! Ein klares Bekenntnis übrigens des griechischen Menschen zu seinem individuellen Geworden-Sein. Also allein schon die etymologische Untersuchung legt ein deutliches Zeugnis ab von der Vorstellung der Griechen vom Grün, draußen in der Botanik: Da wächst also etwas ganz von alleine.

Die Römer, die zunächst über Jahrhunderte hinweg die bekannte Welt mithilfe ihrer unschlagbaren Legionen dominierten, sie jedoch dabei unter ein eher sanftes, mildes Joch der Toleranz zwangen, hinterließen, nachdem sie auf der Leiter der Zivilisation auf der obersten Stufe stehend durch sämtliche Sprossen hindurchgebrochen waren, Ruinen aus Stein und mit dem Latein eine intakte Sprache, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Lingua franca der Wissenschaft7 blieb. Man könnte nun sagen, die Römer hätten sich an ihren Bezwingern, den Germanen, postum gerächt, indem sie deren Nachkommen auf Menschengedenken hinaus mit dem Erlernen dieser nur scheinbar toten Sprache piesackten. Doch nicht genug damit, die Griechen bereits waren mit ihren römischen Bezwingern ähnlich verfahren, und nötigten ihnen, gerade in Zusammenhang mit Wissenschaft und Bildung, einen nicht unerklecklichen Tribut griechischer Lehnwörter auf. Und so nimmt es nicht Wunder, dass es in den nachfolgenden Seiten von griechischen Eigennamen und Begriffen wimmelt und so manches scheinbar lateinische Wort sich als griechischen Ursprungs entpuppt.

Was sind Namen?

Für uns Menschen des christlichen Abendlandes gelten im Prinzip morgenländische Mythen, wenn es um die Entstehung der Welt geht. Wie das vonstatten ging, dürfte ja allgemein bekannt sein und ist im Ersten Buch Mose, Genesis, nachzulesen.

Bekanntlich betraute Gott Adam mit der vornehmsten Aufgabe, die im Paradies möglich war, nämlich allen Geschöpfen einen Namen zu geben. Und anders als eine andere Bibelstelle behauptet, sind Namen nicht Schall und Rauch, schon gar nicht, wenn man selbst etwas benennt. Der Begründer der Tiefenpsychologie, C. G. Jung, macht dies deutlich, wenn er sagt, „Was wir nicht mit einem Namen versehen können, ist für unser Bewusstsein nicht erfahrbar, ist nicht zur Gänze wirklich. Für unsere psychische Realität ist ein Ding, das nicht benannt werden kann, nicht erschaffen!“8 So erschafft Gott die Welt und versieht sie mit Dinglichkeiten und Lebewesen, indem er sie erstmals ausspricht.9

Bevor ich etwas benennen kann, muss ich es jedoch kennen. Was ich kennenlerne, mache ich mir dabei vertraut und was ich mir vertraut mache, dafür trage ich auch Verantwortung. Adam hat also die Aufgabe, sich der Geschöpfe anzunehmen, sich um sie zu kümmern. Er übernimmt hier also die Rolle des Paten, der, überspitzt gesagt, den namenlosen Wesen erst zur eigentlichen Identität verhilft. Mit seiner Hilfe treten sie aus den Nebeln der Namenlosigkeit ins klare Licht der Erkennbarkeit. Was dies bedeutet, mag sich der Leser an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Sie gehen durch die anonyme Masse der dahinhetzenden Einkaufswütigen in der Fußgängerzone einer Großstadt – und begegnen dort wider Erwarten einem Bekannten, oder es widerfährt Ihnen die Erscheinung eines via TV bekannten Gesichtes eines „Prominenten“. So etwas merkt man sich. Das bleibt im Gedächtnis. So wie dem Menschen mit Sinn für seine belebte Umgebung die einzelnen Tier- und Pflanzenarten, auf die er im Laufe eines Spaziergangs stößt, im Gedächtnis bleiben. Wer einen Weg öfters geht, kennt dann zumindest die „prominenten“ Bäume und Sträucher entlang seiner Strecke, er wird aufmerksam auf Veränderungen, erfreut sich im Frühling an ihrem Blühen, im Sommer am Grünen und im Herbst an ihrem Fruchten und er wird traurig oder zornig, wenn sie von uneinfühlsamer Hand geschändet, verstümmelt oder einfach beseitigt werden. Kurz gesagt, er fühlt sich verantwortlich für das, was er kennt. Ein Baum, der vor unserer Zeit gefällt wurde, war für uns nicht existent, und niemand betrauert wirklich die Katastrophe der Dinosaurier, doch der dem verantwortungsbewussten Adam von Gott anvertraute Garten ist Objekt seiner Aufmerksamkeit und Sorge. Wenn wir nun als Nachfahren Adams meinen, im Namen Gottes oder schlimmer noch, Christi, zu handeln, indem wir die Welt in eine Wüste verwandeln, sollten wir uns bewusst sein, dass wir hier einen groben Etikettenschwindel begehen. Das in diesem Zusammenhang oft überstrapazierte Gebot Gottes an Adam, sich die Welt untertan zu machen, mag wohl ein Herrschaftsauftrag sein, doch ist zu fragen, ob er seinem Stellvertreter allen Ernstes befahl, er solle sich wie ein Despot aufführen?

Der Mythos als das Ewigbewegliche

„Ewiges ist nicht auf Erden, als der Wandel, als die Flucht.“

Hermann Hesse

Anders als der gläubige Christ in seiner „von prähistorischem Grundbewusstsein einer Stetigkeit im Sein“10 geprägten Gedankenwelt findet sich der antike Mensch in einer historischen, also gewordenen und weiter werdenden Welt, die er nur bedingt als das Werk seiner Gottheiten ansehen kann. In der „Kosmogonie“11, dem Welt-Entstehungsmythos der Hellenen, gab es keine Schöpfung aus dem Nichts! Die Götter fanden die materielle Welt, wenngleich als noch ungeordnetes Chaos, vor, und sahen sich mit dem Auftrag konfrontiert, sie schöpferisch umzugestalten und zu einem Raum für alles Lebendige zu machen, den Kosmos12 also zu ordnen. Allerdings ist dann weiter auch nie die Rede davon, ob die Götter und wenn ja, welche(r), für die Erschaffung von Fauna und Flora zuständig gewesen wären. Wir werden Persephone nicht als die Schöpferin der Pflanzen kennenlernen, sondern nur als die Hüterin des grünenden Kleides der Erde. Dieser, als Gaia – Gè, die schlichtweg auch wieder nur fruchtbar ist, kommt als Bereiterin des Nährbodens ebenfalls kein genuin kreatives Potenzial zu. Interessant wird es für die antiken Dichter und Denker eigentlich erst wieder in dem Moment, als der Mensch die Bühne betritt. Folgt man den Leitmotiven der Mythentradition, ist er Geschöpf des Titanen Prometheus, eines Exponenten jenes urweltlichen, von den Olympiern besiegten und in der Herrschaft über die Welt abgelösten Göttergeschlechtes. Aus welchem Motiv auch immer formt der Titan Puppen aus Lehm und bittet dann die Götter, diesen seinen Puppen Odem, Lebenshauch also, einzuflößen, um sie somit zu Komplizen bei der Menschheitsentstehung zu machen. Anschließend versorgt er seine darbenden Schützlinge noch mit Feuer, das er kurzerhand dem Sonnengott stiehlt. Die Tatsache, dass die frierenden, auf Rohkost angewiesenen darbenden Menschen die Gabe dieses Diebesguts nicht sofort entrüstet zurückweisen, erweckt den Argwohn der seligen Olympier. Wie wir später noch sehen werden, nicht völlig zu unrecht, was die Götter denn auch nötigt, gelegentlich korrigierend ins Weltgeschehen einzugreifen. Bleibt anzumerken, dass ein Funke jenes Verdachts, der in der frühchristlichen Gnosis allenthalben geäußert wird, der Mensch könnte vielleicht doch nicht das Geschöpf Gottes, sondern eines anderen, hier nicht näher benannten Lichtbringers13 sein, sich vermutlich aus der Bekanntschaft mit dem griechischen Menschheitsentstehungsmythos herleitet. Andererseits werden die armen Geschöpfe des Prometheus aber auch immer wieder zu Objekten der emotionalen Äußerungen der Götter, und diese schämen sich nicht, ihre internen oder auch nur intrapsychischen Probleme an den Menschen abzureagieren. Da ihnen menschliche Regungen nicht fremd sind, verfolgen sie die Geschöpfe des Titanen mit ihrer Rachsucht, ihrem Neid, Zorn und nicht zuletzt ihrer Begehrlichkeit.

Wenn noch im 16. Jahrhundert die Kirche ihre Schwierigkeiten mit Galileos Entdeckung der Jupitermonde und ihren Bewegungen hatte, lag das in erster Linie an der Vorstellung, die Erde als Ort der Schöpfung und des Erlösungswerks sei Mittelpunkt des Universums und sie sei von Anfang an immer dieselbe gewesen. Was allerdings große christliche Denker, wie Augustinus, nicht daran hinderte, in völliger Übereinstimmung mit den Alten Griechen, die Welt mit dem Attribut vergreist zu belegen! Nach Galileo und vor der Erschütterung des Schuld-und-Sünde-Postulats durch die Entdeckung des Unbewussten durch Freud, traf sie dann der Schock der Entdeckungen der Palaeontologie: Alles Geschöpfliche, auch der Mensch sei Teil einer nie stillstehenden Entwicklung. So bekräftigte die Wissenschaft von der „Vorwelt“ das Weltbild der Antike. Nicht nur das wissenschaftliche, denn schon der Pythagoreer Aristarchos von Samos hatte behauptet, die Erde sei eine Kugel und bewege sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Allen voran natürlich erzählten die Mythen des Altertums von ständig sich verändernden Lebensformen. Neues konnte entstehen, Götter nahmen beliebige Gestalten an, zeugten in diesen Gestalten mit Menschen und anderen Lebensformen Nachkommen, die dadurch ein Sowohl-als-auch-sein erhielten. Dabei machten sie, auch wenn sie nicht die Herren über die Natur waren, auch die Götter sind Gesetzen unterworfen, vor den Naturreichgrenzen nicht halt: Aus Mensch wird Pflanze oder Tier, in schlimmen Fällen auch Mineral, was zahlreiche Sagen, die mit der Versteinerung von Frevlern enden, belegen. Im Rahmen dieser Metamorphosen fällt auf, dass Verwandlungen in Tiere meist Strafcharakter haben, die Metamorphose zur Pflanze jedoch oft als Rettung im letzten Augenblick oder als Gnadenerweis erfolgt. Wurde ein Heros „in die Sterne versetzt“, kreierte Zeus also eine neue Konstellation, galt dies natürlich als besondere Auszeichnung, wie ja auch bei uns die Heiligen gleich „in den Himmel“ kommen…

Die Hellenen hatten offenbar einen wesentlich distanzierteren Bezug zu der Welt der Erscheinungen, welchen sie ein stetes Werden und Vergehen attestierten, allerdings ohne dabei auf Kohärenz zu verzichten. Selbst eine Nymphe, deren Gestalt sich in Wasser auflöst, lebt in der Quelle weiter und bleibt ihrem Wesen nach erhalten und sogar physisch greifbar. Eine Ver-nichtung im Wortsinne gibt es nicht! Natürlich stehen die Griechen damit nicht alleine in der Geistesgeschichte, auch den anderen indogermanischen Völkern war die Unstetheit der Erscheinung sowie die Gewissheit einer wie auch immer veränderten Fortexistenz selbstverständlich.14

Aber, so selbstverständlich diese Gedanken und Vorstellungen auch gewesen sein mochten, immerhin gestand man ihnen Tradierungswert zu, dass heißt, sie wurden immer wieder erzählt und schließlich, mit Aufkommen der Schrift, sogar festgehalten. Oben schon erwähnte ich die historische Betrachtungsweise der Hellenen, die immer nach dem „Woher“ fragen und immer die Hintergründe für ein Faktum genauestens eruieren wolle. Dieses Bewusstsein von der Welt als Geschichte15 macht die Hellenen offener für Veränderung und Wechsel von Paradigmata.

Nicht zuletzt erfuhr auch Goethe, dieser in seiner geistigen Beweglichkeit einmalige Neuheide, gerade beim Studium „der Alten“ seine großen Erleuchtungen, was das Wesen der Welt als ein „Stirb und Werde“ und seine Ideen in Hinsicht auf die Ausdifferenzierung zahlreicher Arten aus einer Urpflanze betrifft. Noch in den letzten Zeilen seiner Faustdichtung bringt er ja seine Überzeugung vom Werden und Vergehen in Systole und Diastole zum Ausdruck, wenn es heißt „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.“. Und nicht umsonst betitelte er sein Hauptwerk aus dem Bereich der Botanik auch mit „Die Metamorphose der Pflanzen.“16 Der schillernde Geist Goethes bekannte sich als Natur-Forscher, nicht als Wissenschaftler! Seine oberste Intention war das Begreifen, verbunden mit der Fähigkeit zum Staunen, fern allen Herrschaftsanspruchs des Wissenschaftlers, der hinter den Erscheinungen nach Gesetzmäßigkeiten sucht, die er zu bändigen und sich dienstbar zu machen gedenkt.

Auch wenn Linné, vielleicht auch nur um einen Eklat mit der Kirche zu vermeiden, dem Credo, die Vielfalt und Differenziertheit alles Lebendigen sei Resultat eines einmaligen Schöpfungsaktes, nicht abschwor und Goethes Auffassung vom Werden der Artenvielfalt aus einer quasi archetypischen „Urpflanze“ verwarf, sah er sich später genötigt, diese Aussage zu korrigieren. Es widerspreche nicht Gottes Allmacht, wenn er zulasse, dass sich aus der Schöpfungsvielfalt Neues weiterentwickle. Dabei postulierte er eine Fortentwicklung von einfach zu spezifisch, wie es später ja Darwin schlüssig nachwies.

Anders als es das durch und durch anthropozentrische Christentum will, erkennt der Hellene, dass das Rätsel der Welt dem Menschen höchstens auf dem Wege des Verstandes, der Vernunft, zugänglich sein mag, sie selbst jedoch nicht auf ihn hin konzipiert ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund aber ist die Physis in der Fülle ihrer Ganzheit, ihrer Unbegrenztheit, nicht mit Hilfe sinnlicher Erfahrung erschließbar. Parmenides17 nannte diese Fülle das apeiron, das Unerfahrbare! Insofern gibt es hier durchaus auch Übereinstimmungen zwischen dem christlichen Weltbild und der Haltung des antiken Menschen zum Kosmos, doch der wesentliche Unterschied bleibt: Hier eine Schöpfung in der sich ein einziger Gott offenbart, indem er, und das ist nun absolut revolutionär für die durchaus vieles gewohnte Antike, sich als Mensch unter Menschen inkarniert, als solcher leidet und sogar die letzte Schwelle der Sterblichkeit überschreitet. Dort die Vielfalt der Erscheinungen, in welchen die Götter sich bestens verbergen oder auch offenbaren können. Dieses Weltbild des Mythos, das, wie wir noch sehen werden, eine gewisse Beliebigkeit nicht ausschließt, musste den ernsten Philosophen natürlich ein Dorn im Auge sein. So kritisierte Xenophanes18 die Götterwelt der Mythen als unmoralisch, da sie alle Gesetze, die sie den Menschen angeblich zuerst gegeben hatte, permanent verletzte, was beweise, dass die Gesetze von den Menschen gemacht sind und nicht auf die Götter zurückgehen. Ja, dass im Gegenteil die Götter nach den Abbildern der Menschen erdacht und geformt seien. Doch an die Spitze der „Mythologenfresser“ setzt sich Platon, indem er die Mythendichter als Schwindler und Betrüger beschimpft. Allerdings tut er ihnen hierin schwer Unrecht, da er ihre Intentionen fehlinterpretiert. Schließlich liegt das Wesen des Mythos nicht darin, die Welt, wie sie wirklich ist, zu erklären und kann über eine Interpretation der bestehenden Welt nicht hinausgehen! So gesehen ist auch der Begriff Mythologie ein innerer Widerspruch, da es nicht um eine wissenschaftlich nachprüfbare „Lehre vom Mythos“, sondern höchstens um eine Lehre aus dem Mythos geht, wir also in Anlehnung an eine gängige These aus der Theologie, besser vom „Reden über den Mythos“ sprechen sollten. Nichtsdestotrotz möchten wir hier neben der Skepsis durchaus nicht den Blick aufs Ganze verlieren und Wagners These vom „jederzeit wahren und bei dichtester Gedrängtheit für alle Zeiten unerschöpflichen Mythos“19 durchaus anerkennen.

Was für den Inhalt gilt, gilt erst recht für die Form: Auch die Mythen selbst wurden beliebig oft umgeändert und zu jeder der sogenannten „Sagen des klassischen Altertums“ gibt es mannigfache Lesarten und Varianten, so dass es kindisch erscheinen mag, wenn ein Rhapsode sich zu der Behauptung verstiege, eine Version des Mythos „XY“ sei „falsch“. Er legte mit dieser Behauptung nur Zeugnis davon ab, dass er das Wesen des Mythos nicht begriffen hätte: Es gibt keine endgültige Redaktion eines Mythos, keine einzig wahre Ausgabe letzter Hand, denn der Mythos ist immer Kind des Augenblicks, wie jedem Menschen der Mythos des eigenen Lebens ein sich beständig erneuernder und in vielen Farben schillernder ist. So ist ja auch ein Großteil dessen, was wir als Geschichte empfinden, bei rechtem Lichte betrachtet, eigentlich Mythos20.

Der begnadete ungarische Mythenforscher Karl Kerényi erweckt in seinen Büchern deshalb auch immer mehrere Versionen zum Leben, wobei er auch darlegt, dass es regional bedingte Unterschiede gibt, welchen er niemals ihre Berechtigung abspricht.

Auch wenn in diesem Buch mit manchem Mythos etwas freier umgegangen wird, versteigen wir uns trotzdem nicht soweit, eine fußballspielende Hera-Chera ein Haus demolieren zu lassen, oder eine sechsspurige Autobahn zum Sparta des Menelaos21 zu legen, aber auch das wäre wahr – im Sinne des Mythos.

Die Götter der Hellenen – es menschelt!

Will man heute eine zeitgemäße Darstellung geben, die sich Pflanzen und antike Götterwelt zum Thema nimmt, gilt es vor allem, nicht in den heroisierenden oder romantisierenden Stil der vergangenen Jahrhunderte abzugleiten. Bei allem Respekt vor den antiken Göttern, die nicht so schlicht und einfach dargestellt waren, wie wir sie immer imaginieren, der vertraut-freundschaftliche Umgang mit ihnen, wie ihn die „Lustige Person“ nahelegt22, erscheint mir am ehesten stimmig zu sein. Und das nicht nur, weil man „immer nur Neues“ schaffen möchte, wie weiland Richard Wagner von seinen Theaterleuten verlangte, sondern, weil neueste Erkenntnisse die alten Götter in neuem Licht erstrahlen lassen. Wer also immer noch am schalen Zeuge klebt, und sich weder innerlich noch äußerlich von den schlicht-weißen Marmorgötzen verabschieden kann, dem sei eine Reise nach München oder zumindest der Erwerb des Kataloges einer Ausstellung der dortigen Glyptothek dringend empfohlen.

Unter dem Titel „Die Bunten Götter“, fand hier zugleich eine Ent- wie auch Neuverzauberung statt. Da war nichts von stiller Einfalt und edler Größe zu ahnen, da vollzog sich pralles, man ist versucht zu schreiben, Menschen-Leben. Oder, wie es Rudolf Herfurtner in seinem einmaligen Kinderbuch „Tims wunderbare Sternenreise“ ausdrückt: „Götter sind auch nur Menschen!“

Befasst man sich mit den ersten Denkmälern der abendländischen Literatur, Homers Ilias und die Odyssee, dann ist dort noch alles voller Götter, die ständig ins Geschehen aktiv eingreifen, oder zumindest den Helden, wenn sie Übermenschliches leisten sollen, den nötigen Mut und die Zuversicht eingeben, sie aber auch mit Irrtum und Verblendung schlagen, wollen sie ihr Verderben. Quer durch die antike Dichtung täuschen, tricksen und lügen die Götter, wenn es darum geht, ein ihnen missliebiges Menschenwesen zu Fall zu bringen. Homer lässt dies noch ohne moralische Entrüstung geschehen, doch schon der zweite Dichter, Hesiod, beklagt sich über himmelschreiendes Unrecht, das die Götter ungesühnt geschehen lassen. Die klassischen Tragödienschreiber Aischylos, Sophokles und Euripides appellieren dreihundert Jahre später an die positiven Eigenschaften der Götter und lassen sie notfalls als Deus ex machina auftreten. Allerdings nun, anders als bei Homer, höchstens, um eine verfahrene Situation zu retten, oder wenn es besonders hart hergeht, wenn der Mensch sich vergisst und glaubt, er sei selbst ein Gott. Derartige Verfehlungen, der Grieche hat dafür das Wort Hybris, werden dann als Sünde wider den Geist gnadenlos verfolgt. Oftmals macht die Nemesis nicht Halt bis ins dritte Glied! Frei nach der Devise: Wie sollte denn je aus dem Blut (= den Genen) eines Frevlers ein guter Mensch entstehen23?

Wie schon erwähnt, sind den griechischen Philosophen die Göttergestalten ein wahrer Graus, was vor allem dann in den Werken Platons zum Ausdruck gebracht wird, wo er dem Theos, dem einzigen wahren und guten Gott der Philosophie die Daimones, eben die polymorphe Vielgestaltigkeit einer minderen Götterwelt des Mythos gegenüberstellt. Indem sie in ihrer Leidenschaftlichkeit und oftmals auch Maßlosigkeit den Rahmen der Moral sprengen, können sie den sie verehrenden Menschen nicht gerade als Vorbild dienen. Und wenn, dann höchstens als schlechtes, könnte man einen der ihren, Momos, den kleinen immerzu nörgelnden Gott des Tadels, zitieren. Auch die Philosophen der Stoa wandten sich von den Göttern ab und postulierten Pflicht und Moral als oberste Instanzen menschlichen Handelns. Wohl nahmen sie göttliche Wesenheiten als wirksam an, doch kann man sie, wenn man so will, durchaus als Atheisten einstufen. Der vielgeschmähte Epikur, der, ohne dass wir jetzt spitzfindig sein wollen, alles andere als ein Epikureer war, trat ein für Werte wie Freundschaft, Leben und Leben lassen und Erkenntnis als Genuss. Den Genuss als Selbstzweck zu verfolgen, ihn vor allem sinnlich erleben zu wollen, wie ihm böswillig oder aus Unkenntnis unterstellt wird, lehnte er ab. Doch fühlte er sich von den Göttern verlassen, sah in ihnen weltferne, weltfremde Wesenheiten, die ihrem eigenen Gutdünken nach „lebten“ und sich weder für die Menschen interessierten, noch in deren Leben eingriffen.

Goethe bringt diese Haltung auf den Punkt, wenn er dichtet:

„Ich dich ehren? Wofür?

Hast du die Schmerzen gelindert

Je, des Beladnen?

Hast du die Tränen gestillet,

Je, des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet,

Die allmächtige Zeit

Und das ewige Schicksal,

Meine Herrn und deine?

Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen

In Wüsten fliehen,

weil nicht alle Blütenträume reiften?24

Hier hadert zwar der Schöpfer der Menschen, der Titan Prometheus, mit Zeus, doch bringt er stellvertretend das Los seiner Geschöpfe auf den Punkt. Im Grunde ist es den Göttern hübsch gleichgültig, was andernorts geschieht – so lange sie, als Bayer ist man versucht zu sagen, „ihre Ruhe haben“. Sowohl Epikur als auch die Stoiker lehnten es ab, ernsthaft an ein Eingreifen der Götter zu denken. Und während die Philosophen der Stoa ihnen obenhin noch opferte, um mit der Religion des Volkes nicht ins Gehege zu kommen, schotteten sich die Epikureer in ihren Gärten ab und lästerten, so im Verborgenen25, die Götter gingen sie nichts an, alles Sein hänge ab von Zufall und Notwendigkeit26. Doch diese innere Distanz der Gebildeten zu den Göttern wuchs sogar noch im Laufe der Zeit, und so konnte die Philosophie des Neuplatonismus in der ausgehenden Antike so weit gehen, Göttergestalten mit Lastern gleichzusetzen. Durch schlaglichtartige Hervorkehrung ihrer Schattenseiten waren aus den lichten Göttergestalten wüste Dämonen geworden. So galt zum Beispiel der Kriegsgott Ares nicht mehr als Inbegriff von Tugend27, Mut und der Kampfesbewährung, sondern mutierte zum Dämon der willkürlichen Gewalt und der blindwütigen Zerstörungswut. Und aus den Glanzpunkten des Nachthimmels, jenen den Göttern eigenen Sternen, den Planeten, wurden Läuterungsorte für die Seelen der Verstorbenen. Um bei Ares/Mars zu bleiben: Im Roten Planeten sah man die Läuterungsstätte für die Sünden und Vergehen, die in Zorn und Raserei begangen worden waren, der damalige Mediziner hätte gesagt, die unter dem dominierenden Einfluß der gelben Galle als Körpersaft des cholerischen Temperaments standen. Auch die drei anderen Hauptplaneten, Venus (Aphrodite), Jupiter (Zeus) und Saturn (Kronos) galten dergestalt als Läuterungsorte für die entsprechenden Laster und Reinigungsstätten der Seelen bei ihrem Aufstieg ins Licht.

Wenn bereits die griechischen Denker ihre Götter nicht immer ganz ernstgenommen hatten, so fehlte der aufgeklärten Jugend der klassischen Zeit oftmals völlig der Respekt und man machte sich einen Jux daraus, überlieferte Opferrituale zum mehr oder weniger sportlichen Spiel (man denke hier eher an einen Kneipen-„Sport“ wie Dartwerfen, als an den Waffenlauf in Olympia) umzufunktionieren, ja zu pervertieren. Ausgehend vom Trankopfer wurde aus flachen Weinkelchen, den Kalyces, die Neige entweder auf ein metallenes Ziel geschlenzt, welches beim Treffer ein klingendes Geräusch verursachte, oder es wurde eine Art Weinweitwurfwettbewerb daraus. Dieses, Kottabos genannte, Spiel erfreute sich großer Beliebtheit und wandelte sich im Laufe der Zeit auch völlig, so dass sein eigentlich kultischer Ursprung oftmals gar nicht mehr bewusst war, man also nicht durchwegs eine gewollte Gotteslästerung darin sehen muss. Diese Verballhornung des Weinopfers galt in der klassischen Periode als Zeichen unabhängiger Geisteshaltung, wobei die Spieler eine Anzeige wegen Gotteslästerung riskierten28.

Doch von der eher biederen Moral der Athener Rats- und Gerichtsherren sollte man eben nicht durchdrungen sein, will man sich nun, mehr als zweitausendfünfhundert Jahre post festum den griechischen Göttern annähern. Wenn wir uns aufmachen, sie zu besuchen, wollen wir ihnen nicht in klassizistisch sauertöpfischer Manier begegnen, indem wir sie als jene höheren Wesen betrachten, deren mythologische Tradierung nur mit Glace-Handschuhen angefasst werden darf, denn dann kann es uns leicht passieren, dass wir sie nicht treffen.

Was nun die Schreibweise betrifft, bieten wir, auch wenn es vielleicht ein wenig ungewohnt erscheinen mag, eine der ursprünglichen möglichst nahe Transkription, immer mit dem Original in Anmerkung. Wohin unbekümmerte Transkripitionsformen führen können, lässt sich aus folgendem Beispiel gut ersehen: Ein iberischer Partisan namens Pîran wurde von einem griechischen Historiker zu „Peri“ umgetauft, woraus schließlich ein römischer Kompilator, der den Namen übersetzte, „Ultra“ machte. Dass Gott Völker, die er zu verderben beliebt, zuerst sprachlich verwirrt, kennen wir aus der Geschichte mit dem Turmbau zu Babel. Heutzutage erledigen das selbsternannte Profis, selbstredend ohne göttliche Eingebungen. Zuerst beschert uns eine Mafia von Werbetextern und Journalisten die Sprachverwirrung: Aus Deutsch und Englisch wird ein schreckliches Wirrwarr namens Denglisch, das weder Engländer noch Deutsche mit Sprachgefühl goutieren. Doch, um das Chaos zu vervollständigen, drücken die Kultusminister der Länder gegen die Bevölkerung und den Rat von Sachverständigen eine „Recht“-Schreibreform durch, die der Schriftsprache den Rest gibt. Wie diese so genannte „Neue Deutsche Rechtschreibung“ mit dem griechischen Erbe in unserer Gegenwartssprache umgeht, spricht allem, was einem Philologen heilig sein muss, Hohn29. Sie würde zum Thema passen, wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, und der Autor verzichtet demnach großräumig auf ihre Anwendung.

1Faust I, Prolog vor dem Theater

2In dem Wort Tragödie findet sich ‘ο Τράγοσ = Hó Tràgos, der Ziegen-, Schafsbock, welcher ursprünglich vor dem Theaterspiel, das Teil des Dionysoskults war, geopfert wurde.

3Tò ϕύτον es wird auch das synonymische ϕύτευμα Phyteuma, verwendet, beides sind Neutra.

5πέϕυκα

7Ein Urteil, über die Art Wissenschaft, die einer Sprache entspringt, die aus dem durchaus noch von „Genie“ durchdrungenen Ingenieur einen engineer wrtl. Maschinenbauer macht, mag sich der Leser selbst bilden, und ob dieses Sammelsurium aus germanischen und romanischen Sprachen, bereichert um alles, was sich irgendwie der englischen Sprache angleichen ließ, ähnlich erfolgreich sein wird, das heißt fast 2000 Jahre Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, steht allerdings in den Sternen – die übrigens fast alle arabische Namen haben…

8Vielleicht rührt daher die Scheu der Juden, den Namen Gottes auszusprechen, schließlich ist er ja ungeschaffen, der, der da ist…

9Johannes meint zwar etwas anderes, aber der bekannte Beginn seines Evangeliums „Im Anfang war das Wort“ ergibt so einen neuen Sinn.

10So bezeichnet es jedenfalls Carl Amery

11Neben „Werke und Tage“ Hauptwerk Hesiods (8.Jh.v.Chr.)

13Weshalb, so fragt man sich bisweilen, wird ein unschuldiger Säugling, wie das ja beim Taufritual geschieht, verdächtigt, dem Satan anzuhängen und muss ihm, noch vor Bewusstseinserlangung, abschwören?

14Man denke nur an Alberichs Tarnkappe, den Schleier der Maja oder die vor ungezügelter Phantasie nur so strotzenden Sagen und Märchen der Kelten.

15Dt. Wortwurzel: Ge-schichte, das aufeinander geschichtete, z.B. mit Hilfe der wissenschaftlichen Geologie wird die Erd-Geschichte überdeutlich vor Augen geführt, wie auch in der Wissenschaft der Archaeologie mit ihren Straten (Schichten-Definition).

16J.W:v.Goethe: Naturwissenschaftliche Schriften I, S.64ff. München, 1994

18Vorsokratischer Philosoph (577 – 485 v. Chr.) Gründer der Schule der Eleaten, erster „Einheitslehrer“.

19Richard Wagner: Oper und Drama.

20Instinktiv erfasst hat dies Adolf Hitler, der es meisterhaft verstand, je nach Publikum, den jeweils gültigen Mythos zu erspüren, um ihn dann seinen Zuhörern als „Geschichte“ oder „Politik“ zu verkaufen.

21Ganz hervorragend gemacht von Michael Köhlmeier: Telemach, Piper Verl.

22Siehe das dem Vorwort vorgestellte Motto

23Unter diesem Vorurteil hatte noch der historische Perikles zu leiden, da ein Vorfahr seiner Familie der Alkmaioniden in grauer Vorzeit einen Frevel begangen hatte.

24J.W. v. Goethe: Prometheus, in H. Hesse. Dank an Goethe, S. 42

26„Tyche kai anangke“ 2 200 Jahre vor dem gleichnamigen Buch von Jaques Monod.

28Asebieprozesse waren ein beliebtes Mittel, unliebsame Politiker zu diskreditieren. Auch Sokrates wurde wegen „Gottlosigkeit“ zum Tode verurteilt.

29Man vergegenwärtige sich folgende Reihe: Burggraf, Markgraf, Landgraf, Geograf (= ein etwas hochgestochenerer, weil gräzisierter Landgraf, oder?) Was ein Biograf oder gar ein Pornograf alles beherrscht, wollen wir besser gar nicht wissen…

Prolog: Der Zankapfel oder Paris und der Preis der Schönheit

Warum steht am Beginn eines Buches wie diesem ausgerechnet eine relativ unbekannte Pflanze, die noch dazu mit einem Zankapfel zu tun hat, oder sogar diesen verkörpert?

Zwei Gründe sprechen dafür. Erstens, schon Herakleitos von Milet, der sogenannte „dunkle“ Philosoph aus der vorsokratischen Aera behauptete, dass allem Anfang der Streit innewohne. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, wird er aus seinen Schriften gerne zitiert, und zu seiner Zeit dürften ihm nicht viele widersprochen haben30. Dem hellenischen Geist ist nämlich gewissermaßen das agonale, heute würde man sagen, „wettbewerbsorientierte“, Wesen angeboren. Nur so lässt es sich schlüssig erklären, weshalb wir so etwas wie die Olympischen Spiele und andere sportliche Wettkämpfe den Griechen zu verdanken haben.

Zweitens lässt sich am gegebenen Beispiel sehr schön erklären, was es mit den Namen der Pflanzen auf sich hat. Ehe der schwedische Wissenschaftler Linnaeus31, besser bekannt als Carl v. Linné, vor ziemlich genau zweihundertundfünfzig Jahren seine epochemachenden Werke Philosophia botanica (1751) und De species plantarum (1753), frei übersetzt „Handbuch der Botanik“ veröffentlichte, herrschte im Bereich der Namensgebung für Lebewesen aller Art gelinde gesprochen das Chaos. Im Grunde verhielt er sich nun wie ehedem die Griechengötter, indem er nichts grundlegend Neues kreierte, sondern daranging, das Bestehende neu zu ordnen, nun nicht nach phänomenologisch begründeten Ähnlichkeiten, wie es bis dato versucht worden war, sondern nach dem alleinigen Gesichtspunkt von Verwandtschaftsbeziehungen. In der Regel hatte man bis zu Linné die Pflanzen mit beschreibenden Namen bedacht, welche unter Umständen zwei Zeilen in Anspruch nehmen konnten. Darüber hinaus benützten Gelehrte verschiedener Länder, wenn sie eine bestimmte Pflanze benennen wollten, nur selten denselben Namen und so wimmelt es in alten Botanikbüchern – nicht zuletzt natürlich auch in medizinischen Schriften – vor Missverständnissen, was gerade in letzterer Hinsicht katastrophale Folgen zeitigen konnte.32 Nebenbei sei erwähnt, dass Linné auch herausfand, dass eben jene Arten und Gattungen miteinander verwandt sein müssten, welche sich miteinander kreuzen ließen, was nicht unbedingt äußere Ähnlichkeit erfordert, sondern die passenden Sexualorgane. Zugegebenermaßen leuchtet das auf den ersten Blick nicht unbedingt ein, denn noch heute bedenkt uns der eine oder die andere mit einer ungläubigen Miene, wenn wir erzählen, dass die himmelstürmende Esche mit etwas so kleinem und gemein brennenden wie den Wolfsmilchgewächsen näher verwandt ist als etwa mit der schattenspendenden Buche…

Da Linné nun endlich Ordnung schaffen wollte, dachte er an die Errichtung eines geschlossenen, allumfassenden Bauwerkes, wie er es in seinem Buch Systema naturae darstellte: ein natürliches System, das über das Wiedererkennen eines Individuums weit hinauswies, indem es der Wissenschaft ermöglichte, bis dato unbekannte Pflanzen mühelos darin einzugliedern. Wie meist, wenn es sich um einen genialen Coup handelt, erfand Linné ein absolut simples, benutzerfreundliches System. Natürlich setzte er Lateinkenntnisse, wie sie bei damaligen Gelehrten selbstverständlich waren, voraus und bedachte die Lebewesen mit lateinischen Namen. Dabei ging er vor wie heutzutage die Telefonbücher, indem er zuerst den Familienname, dann den Eigennamen anführte, an unserem Beispiel verdeutlicht: Paris (Familienname) quadrifolia (Eigenname oder Epitheton). Man spricht von einem binären Benennungssystem, was nur bedingt stimmig ist, da es häufig zu Unterarten kommt, die dann weiter klassifiziert werden, was uns hier aber nicht zu interessieren braucht. Er verfuhr anders als heutige Wissenschaftler, die ihre Entdeckungen gewöhnlich nach sich selbst benennen, was vor allem in der Medizin eine nicht mehr zu memorierende Syndromenflut nach sich gezogen hat33, und verewigte sich selbst nur als Anhängsel hinter dem eigentlichen Namen mit einem bescheidenen L34. Linné lebte also in einer Zeit, als noch das klassische Latein den Thron der Lingua franca der Wissenschaft besetzt hielt und nicht vom Englischen verdrängt worden war. Neben Kenntnissen der alten Sprachen hatten die damaligen Gelehrten quasi auch deren kulturellen Hintergrund mit der Muttermilch aufgesogen und waren absolut sattelfest in Hinsicht auf griechische und römische Geschichte und Mythologie. Linné, der vermutlich wenig von sturem Auswendiglernen abstrakter Begrifflichkeiten hielt, war sich nun der Verantwortung seiner Rolle als Taufpate des Kosmos bewusst, indem er Tiere und Pflanzen mit „sprechenden Namen“ belegte, auf diese Weise quasi Esels-Brücken zum schnelleren oder tieferen Verständnis der Artenvielfalt baute. Letzten Endes haben wir es Linné zu verdanken, wenn wir heute mit den Pflanzennamen etwas assoziieren und daraus Geschichten über sie ableiten können. Er schrieb, er sehe in der Natur eine Schaubühne, ein Theater und stelle sich Geschichten vor, welche die neubenannten Geschöpfe uns erzählen wollten. Und damit sind wir nun endlich mitten drin!

Mit dem Zankapfel hat es nämlich eine besondere Bewandtnis.

In grauer Vorzeit, als sich Götter und Menschen noch täglich begegneten und diese Begegnungen nicht ohne Folgen blieben, man denke nur an die vielen Halbgötter und Heroen, geschah es auch, dass die Götter dem frömmsten der derzeitigen Sterblichen, dem thessalischen Recken Peleus das Meermädchen Thetis versprachen, sofern er sie bezwinge. Eine Nacht lang, hieß es, rang der Held mit der Nereïde und schwängerte sie, was dazu führte, dass sie darin einwilligte, ihn zu heiraten. Später gebar sie ihm den Archetypus des antiken Helden schlechthin, den „schnellfüßigen Achilleus“. Dieser wird neuerdings verkörpert durch den waschbrettbäuchigen, dennoch aber wadengedoubelten Brad Pitt, der es offenbar, seiner Olympionikenstatur zutrotz, an Schnellfüßigkeit mit dem Homerischen Original nicht aufnehmen konnte. Am „Morgen danach“ fand die Hochzeit statt, zu der alle Olympier und Meergottheiten eingeladen waren, eines der größten Feste dieser obwohl denkwürdigen, doch weitgehend vergessenen Epoche. Als alle versammelt waren, begann das Gelage, doch ein beklommener Blick in die Runde verhieß nichts Gutes: Eris, die Göttin der Zwietracht, war nicht eingeladen worden, man möchte sagen, aus naheliegenden Gründen, doch diese Missachtung rächte sich prompt. Als die derart Brüskierte schließlich doch noch, auf dem Höhepunkt des Festes, erschien, ging ein Raunen durch den Saal. Alles reckte die Hälse, um zu sehen, was sich die Stifterin von Zank und Hader ausgedacht hatte, das Ehepaar zu blamieren. Doch anstatt die Braut mit einem geschmacklosen Hochzeitsgeschenk zu demütigen, rollte die Zornige einfach einen goldenen Apfel in den Saal, machte kehrt und ging. Einer der Götter, sagen wir, es war Hermes, hob ihn auf, um ihn der erwartungsvoll lächelnden Braut zu überreichen, doch nichts dergleichen geschah. „Hier steht“, rief er in den Saal, „kalliste“, der Schönsten!“

„Damit kann eigentlich nur ich gemeint sein“, näselte Hera und schritt majestätisch auf den Götterboten zu.

„Wie kommst du denn auf derart abwegige Gedanken?“ rief Athene und streckte ihren langen Speer verbietend der Stiefmutter entgegen. „Das kann nur auf mich gemünzt sein.“

Dass das Juwel ein Hochzeitsgeschenk sein könnte, schien inzwischen völlig ausgeschlossen, und Thetis zog sich schmollend in eine Ecke zurück. Doch bevor die eulenäugichte Pallas Athene den Apfel an sich nehmen hätte können, warf Aphrodite keck ihr Haar in den Nacken, so dass alle ihr Gesicht sehen konnten.

„Das ist doch lächerlich“, hauchte sie, „schaut mich an! Gibt es hier noch irgendeine, die mir an Schönheit gleichkommt? Kann mir hier auch nur eine das Wasser reichen? Papa“, damit war, auch wenn er im Falle der Liebesgöttin nur die Rolle eines Stiefvaters erfüllte, Zeus gemeint, „was sagst du?“

„Richtig, was ist deine Meinung dazu?“ wollten nun unisono auch Hera und Athene wissen.

Wäre Zeus nicht der Gott des Himmels gewesen, er wäre wohl am liebsten in einer Erdspalte versunken. Jetzt hieß es zunächst, einen kühlen Kopf bewahren und dann denselben aus der Schlinge zu ziehen. Momos war es schließlich, der ihm aus der Patsche half. „Das kannst doch unmöglich Du entscheiden, Du bist doch voreingenommen!“ Auch er war klug genug, nicht zu erwähnen, zu wessen Gunsten, und so entschied Zeus, ein Sterblicher sollte mit dieser Aufgabe betraut werden.

In der für Götter üblichen schwebenden Art zu reisen, machte sich die in die engere Wahl gekommene Göttinnen-Trias, begleitet von Hermes auf nach Kleinasien zu Paris. Denn der sollte in letzter Instanz entscheiden.

Nun war Paris wohl ein Königssohn, sich dieser Tatsache zur Zeit der Handlung jedoch nicht bewusst, und hütete Ziegen auf dem Berge Ida. Wie er gleich erfahren sollte, hatte ihn seine Mutter, die Königin Trojas, als Kleinkind ausgesetzt, da sie vor seiner Geburt geträumt hatte, sie genäse einer Fackel, welche die Stadt niederbrannte. Doch ein Hirte fand ihn und zog ihn auf, sodass der Prinz in Unkenntnis seiner Abstammung seine Kindheit und Adoleszenz im, idyllisierend betrachtet, beschaulich-bukolischen Rahmen des Hirtenleben zubrachte. In ihm traf also zusammen, was dringend zur Lösung des Problems benötigt wurde: Edles Blut, denn es ging – die attische Demokratie befand sich zu diesem Zeitpunkt noch weit außerhalb aller denkbaren Staatsformen – nicht an, dass hier irgendein Hirte entschied, welche die schönste Göttin sei, und völlige Ahnungslosigkeit eines Naturburschen, dessen Schönheitssinn noch durch keinerlei Fachkenntnisse oder gar ein Studium an der Kunstakademie verbildet war. Hermes gab ihm den Apfel, erklärte ihm die Spielregeln und es ging los.

Hera, als Herrin des Olymp, machte natürlich von ihrem Vorrecht Gebrauch und trat als erste an den Jüngling heran. Da sie dem guten Geschmack des Naturburschen allein nicht traute, bot sie ihm als Entscheidungshilfe an, ihn im Falle der Begünstigung zum mächtigsten Herrn Kleinasiens zu machen. Ehe er ihr den Zuschlag geben hätte können, drängelte sich Athene an der Matrone vorbei und erklärte, sie würde ihn zum weisesten Mann unter dem Himmel machen. Paris dachte, dann wollten alle seinen Rat und er würde leer ausgehen, was die geharnischte Jungfrau von vorneherein ausscheiden ließ. Aphrodite jedoch öffnete ihm die Augen. „Was nützt dir Macht und Ansehen, Bildung und Weisheit, hättest du nicht der Liebe“, zitierte sie frei aus den noch lange nicht verfassten Paulusbriefen. „Du bekommst die schönste der Sterblichen, sie wird dich lieben und du wirst sie lieben“, schloss sie ihr Plädoyer.

„Euch schwör ich zu, da weiß man wo und wie“, zitierte Paris einen anderen Klassiker und hier, nach dieser weiten Wanderung durch den griechischen Götterhimmel, schließt sich der Kreis. Paris fällt vor der Liebesgöttin in die Knie und reicht ihr auf der geöffneten, flachen Hand den goldenen Apfel der Eris.

Eine ebenso schlichte wie schöne Geste – und genau dieser Augenblick schwebte Carl von Linné vor, als er der zu Deutsch etwas langweilig benannten Einbeere ihren lateinischen Namen gab. Ein massiver Fruchtknoten, von den Staubgefäßen, gewissermaßen wie von einer Aureole umgeben, wird auf dem flachen Tellerchen der Kelchblätter dem Licht dargebracht.

Die Folgen der Apfelüberreichung waren ebenso unabsehbar wie katastrophal. Denn Aphrodite hatte einen nicht ganz unwesentlichen Tatbestand, der der Einlösung ihres Versprechens leicht im Wege stand, vorsichtshalber unerwähnt gelassen. Heute würde man sagen, sie hatte jene Klauseln ins Kleingedruckte ihres Vertrages verbannt, die dann Paris wiederum nicht oder nur oberflächlich zur Kenntnis genommen hatte: Bei der schönsten Frau unter der Sonne handelte es sich um Helena, einer Tochter des Zeus und der Sterblichen Leda, und sie war bereits mit dem König von Sparta, Menelaos mit Namen, verheiratet. Dies hinderte, wie man weiß, Paris dann aber nicht daran, die Schöne zu entführen und mit ihr nach Troja zu fliehen. Die Spartaner lebten damals noch alles andere als spartanisch, so dass ihnen die Einzelehe als heilig und unverletzlich galt,35 auch war ihr Stadtstaat militärisch noch nicht stark genug, allein gegen Troja Krieg führen zu können. Doch Menelaos war nicht der Mann, eine derartige Blamage kommentarlos auf sich sitzen zu lassen, indem er die neuerrungenen Hörner einfach als Verzierung auf seinen Helm montiert hätte. Und es kam, wie es kommen musste. Einem alten, schon fast vergilbten Vertrag folgend, versammelten sich alle Fürsten Griechenlands zum Heereszug und es gab den ersten großen Krieg des griechischen Altertums. Troja wurde letzten Endes also wegen des unversöhnlichen Zornes der Nicht-Erwählten vernichtet, Paris selbst kam zu Tode, Achilleus, der zum Zeitpunkt des Parisurteils noch nicht einmal geboren war36, ebenfalls und das Reich von Mykenai zerbrach an den Folgen des Krieges.

Frucht von Paris quadrifolia, der Zankapfel für die Schönste …

… und Trostpreise für die 2. Wahl

Nun soll mal einer sagen, die Wissenschaft der Botanik sei eine trockene Angelegenheit. Linné, der sie als die scientia amabilis – die liebenswerte Wissenschaft, titulierte, wusste am besten wovon er sprach.

Nun, da wir wissen, wie die Einbeere zu ihrem Namen kam, wollen wir sie uns doch noch ein wenig näher betrachten. Sie gehört zur Familie der Trilliaceae, ist schwach giftig und somit für den Verzehr auf keinen Fall geeignet! Auch wenn die Einbeere nicht zu den Nachtschattengewächsen gehört, hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit der Tollkirsche. Paris quadrifolia L. ist in der Medizin lediglich als homöopathisches und spagyrisches Mittel zugelassen und trägt zum häufig positiven Erfolg von Komplexmitteln gegen Migraene bei. Früher gab man das zerquetschte Kraut äußerlich bei Entzündungen der Augen und der Haut, als Homöopathikum ist sie bei Neuralgien und Kehlkopfreizungen angezeigt. An Vergiftungserscheinungen mit Einbeere wären vor allem Reizungen der Schleimhäute des Verdauungstraktes zu nennen. Erst bei hoher Dosierung kann es zur Engstellung der Pupillen und damit verbundenen Sehstörungen kommen, schlimmstenfalls zu Atemlähmung. Es sind bei den Giftzentralen Deutschlands in neuerer Zeit keine Fälle von Einbeer-Vergiftungen gemeldet worden.

30Was nun nicht dahingehend missverstanden werden soll, dass der Krieg als „normal“ galt. „Niemand ist so töricht, den Krieg dem Frieden vorzuziehen. Bestatten im Frieden die Söhne die Väter, im Krieg bestatten die Väter die Söhne.“ Herodot

31Schwedischer Naturforscher und Philosoph. Geb. 23.6.1707, gest. 10.1.1778. Für ihn gilt wie für keinen zweiten Gelehrten das Wort des Aristoteles sapientis est ordinare – frei übersetzt: Der Weise schafft Ordnung.

32Wenn z. B. von „Nieswurz“ die Rede war, meinte der eine Autor den Weißen Germer, der andere die Christrose

33Z. B. das Winniwarter-Buerger Syndrom oder den Mb. Werlhoff und wie sie alle heissen mögen.

34L für Linné als Erstbeschreiber. Dieser Brauch hat sich natürlich gehalten und auch heute darf jeder Wissenschaftler, der eine bestimmte Art zum ersten Mal beschreibt, seinen Namen hinter den binären Namenscode setzen, allerdings gilt er nur in Insiderkreisen als dazugehörig. So wie man das L. ja auch für gewöhnlich nicht mitspricht, wenn man z.B. Paris quadrifolia L. irgendwo erwähnt.

35Jene berühmte spartanische Freizügigkeit in Sachen Ehe galt erst ab dem 7. Jh. genauso wie ihre von Militarismus und Kargheit geprägte Lebensweise.

36Wie auch, schließlich heirateten seine Eltern ja an diesem denkwürdigen Tag!

Erster Besuch: Gaia, die Mutter, – oder, was den Papst erdet

Nachdem wir nun einen kleinen Einblick haben nehmen dürfen, wie es in der Welt der griechischen Götter zugeht, befolgen wir den Aufruf eines berühmten Theaterdirektors an den Poeten, mit dem wir uns allerdings nicht vermessen, verglichen zu werden, schließlich liegt uns, beim Hund!, jede Hybris fern, und wir machen uns auf den Weg:

„So schreitet in dem engen Bretterhaus

Den ganzen Kreis der Schöpfung aus

Und wandelt mit bedächtger Schnelle

Vom Himmel durch die Welt zur Hölle!“

Johann Wolfgang von Goethe37

Wir haben uns daran gewöhnt, in einem vorgeblich nur scheinbar geordneten Chaos zu leben. Die Naturwissenschaften präsentieren uns eine Welt ohne oben und unten, innen und außen, eine im wahrsten Wortsinne unorientierte38 Welt. Die Welt aber, in die wir nun eintauchen, der Kosmos des Mythos, ist klar dreigegliedert. Wie etwa auch im „Kleinen Welttheater“ in Carl Orffs „Der Mond“ ruht die Erde, deutlich abgegrenzt von Unterwelt und Himmel, unverrückbar in der Weltenmitte. Großes und kleines Himmelslicht umkreisen sie auf festen Bahnen, nach außen hin wird sie wie mit kristallenen Schalen von den Planetensphären umschlossen, die wiederum vom ewigglänzenden Aether begrenzt werden. Gott herrscht nicht als ferne, verborgene Transzendenz, sondern wirkt unmittelbar, aufgefaltet zur polytheistischen Buntheit, immanent ins Weltgeschehen hinein. Allerdings nehmen wir uns die Freiheit heraus, in den Weltenkreis des Dichters auf anderem Wege einzutreten, indem wir zuerst der Welt einen Besuch abstatten, dem Mittelpunkt des griechischen Kosmos, wie sie sich vor den Augen der Menschen und parallel dazu auch der Olympischen Götter erstreckt, als Gaia, oft auch nur Gè genannte Mutter-Erde, Grundlage allen, aber im Besonderen des pflanzlichen Lebens.

Wenn in der Bibel von Genesis39 gesprochen wird, übersetzen wir das in der Regel sehr frei mit „Schöpfungsgeschichte“. Natürlich gab es auch in der griechischen Antike Welt-Entstehungsmythen, schließlich macht sich jedes Geschlecht darüber Gedanken, wo es herkommt. Doch auch in Hinsicht auf dieses brisante Thema war die Debatte innerhalb der Welt des hellenischen Geistes von dem oben schon angesprochenen agonalen Wesen beherrscht.